Wir sind nicht hier, um Spaß zu haben - Nina Lykke - E-Book

Wir sind nicht hier, um Spaß zu haben E-Book

Nina Lykke

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Beschreibung

»Ein weißer, frustrierter Mann dreht durch ... grell, witzig und weise erzählt.« Aftenposten

Knut ist ein Schriftsteller in mittleren Jahren, dessen erfolgreichste Publikation bereits zwei Jahrzehnte zurückliegt. Er fühlt sich seit langem erschöpft. In seinem aktuellen Romanentwurf versucht er, der sich hartnäckig haltenden Kritik, er sei nur ein weiterer Vertreter des alten weißen Mannes, etwas Signifikantes entgegenzusetzten. Sein Lektor ist allerdings wenig begeistert. Doch jetzt sieht Knut die Chance gekommen, sich endlich aus der Bedeutungslosigkeit zu befreien: Er ist zu einem renommierten Literaturfestival eingeladen – kurzfristig und als Ersatz. Zur Unterstützung plant er, seinen Freund und Nachbarn Frank mitzunehmen, der an gebrochenem Herzen leidet. Und Knut kann wirklich jeden Beistand brauchen. Seine Co-Redner*innen auf dem Podium sind der neue Ehemann seiner Ex-Frau und eine junge Schriftstellerin, die Knut mit der Schilderung eines Me-too-Moments in ihrem autofiktionalen Erfolgsroman bloßgestellt hat.

Nina Lykke zeichnet in ihrem neuen Roman ein scharf beobachtetes, höchst unterhaltsames Porträt einer Gesellschaft, in der alles erlaubt ist – solange man sich an die Regeln hält. Denn jetzt mal ehrlich: Wir sind nicht hier, um Spaß zu haben.

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Seitenzahl: 360

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Buch

Knut ist ein Schriftsteller in mittleren Jahren, dessen erfolgreichste Publikation bereits zwei Jahrzehnte zurückliegt. Er fühlt sich seit Langem erschöpft. In seinem aktuellen Romanentwurf versucht er, der sich hartnäckig haltenden Kritik, er sei nur ein weiterer Vertreter des alten weißen Mannes, etwas Signifikantes entgegenzusetzen. Sein Lektor ist allerdings wenig begeistert. Doch jetzt sieht Knut die Chance gekommen, sich endlich aus der Bedeutungslosigkeit zu befreien: Er ist zu einem renommierten Literaturfestival eingeladen – kurzfristig und als Ersatz. Zur Unterstützung plant er, seinen Freund und Nachbarn Frank mitzunehmen, der an gebrochenem Herzen leidet. Und Knut kann wirklich jeden Beistand brauchen. Seine Co-Redner*innen auf dem Podium sind der neue Ehemann seiner Ex-Frau und eine junge Schriftstellerin, die Knut mit der Schilderung eines MeToo-Moments in ihrem autofiktionalen Erfolgsroman bloßgestellt hat.

Nina Lykke zeichnet in ihrem neuen Roman ein scharf beobachtetes, höchst unterhaltsames Porträt einer Gesellschaft, in der alles erlaubt ist – solange man sich an die Regeln hält. Denn jetzt mal ehrlich: Wir sind nicht hier, um Spaß zu haben.

Autorin

NINALYKKE, geboren 1965 in Trondheim, Norwegen, wuchs in Oslo auf. Ihren Durchbruch als Schriftstellerin hatte Lykke mit ihrem Roman »Aufruhr in mittleren Jahren«, der in Norwegen eines der am meisten besprochenen Bücher des Jahres war. Für »Alles wird gut« wurde sie mit dem Brage-Preis, dem bedeutendsten norwegischen Literaturpreis, ausgezeichnet, das Buch stand monatelang auf der Bestsellerliste und wurde in 15 Länder verkauft.

Nina Lykke

Wir sind nicht hier, um Spaß zu haben

Roman

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Sylvia Kall

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Vi er ikke her for å ha det morsomt« bei Forlaget Oktober AS, Oslo. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2024,

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, München

Copyright © 2022 by Nina Lykke

Published in agreement with Oslo Literary Agency

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: ©Shutterstock/CaptainMCity

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-31034-9V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für meine Kernfamilie:Heidi, Ivar und Nils

There is no such thing as inner peace.There is only nervousness or death.

FRANLEBOWITZ

1

Am späten Nachmittag, einer Tageszeit, zu der Knut längst alle Schreibversuche aufgegeben hat, sitzt er stattdessen da und schaut sich ein YouTube-Video über Hodenkrebs an. Den Clip hat er deshalb gewählt, weil das davon ausgelöste Unbehagen ein wenig an das Unbehagen und die Mühsal des Schreibens erinnert und Knut so das Gefühl hat, etwas Produktives zu tun. Doch gerade als er sich nach Geschwulsten abtasten will, plingt eine E-Mail herein.

Einladung zum Podiumsgespräch steht in der Betreffzeile, Absender ist das Literaturfestival in Lillehammer.

Wir sind zwar sehr spät dran, hoffen aber trotzdem, dass Sie die Möglichkeit zur Teilnahme haben. Thema des Podiumsgesprächs ist »Untreue im Leben und in der Literatur«, ein Thema, das Sie ja in mehreren Büchern behandelt haben. Neben dem Mindesthonorarsatz des Schriftstellerverbands werden die Fahrtkosten übernommen sowie Kost und Logis gewährt.

Das Literaturfestival beginnt bereits in einer Woche, demnach ist er nur Ersatz für jemand anderen. Irgendein Autor hat im letzten Moment abgesagt, was Knut zu seinen besten Zeiten durchaus auch gern getan hat. Danke, ich freue mich über die Einladung und komme gern, hatte er zum Beispiel geantwortet, um dann wenige Tage vorher »akut erkrankt« zu sein. Weil er keine Lust mehr hatte oder lieber etwas anderes machen wollte.

Mittlerweile ist es allerdings lange her, dass Knut zu etwas eingeladen wurde, das er hätte absagen können. Das letzte Mal, dass er unter Leuten war, falls dieser Ausdruck überhaupt angemessen ist, war im Winter, als er im Umland von Oslo eine Schulklasse träger, desinteressierter Jugendlicher an einer weiterführenden Schule besucht hatte.

In Lillehammer wird das Publikum aus Erwachsenen bestehen, die nicht nur freiwillig da sind, sondern auch für den Einlass bezahlt und möglicherweise sogar mindestens eins seiner Bücher gelesen haben. In Lillehammer wird es außerdem jede Menge Gratismahlzeiten und Alkohol bis zum Abwinken geben, und Knut, der dieses Jahr kein Stipendium erhalten und die letzten Monate von Knäckebrot, Eiern und Sardinen gelebt hat, macht sich daran, die Mail zu beantworten, noch bevor er sie zu Ende gelesen hat.

Vielen Dank für die Einladung! Gern nehme ich …

Doch dann lehnt er sich auf dem Bürostuhl zurück. Jetzt mal ganz ruhig.

Knut, der Ende fünfzig ist, hat in letzter Zeit angefangen, mit sich wie mit den Bewohnern des Seniorenheims zu sprechen, in dem er hin und wieder Schichten übernimmt. Jetzt stehen wir auf. Jetzt trinken wir Kaffee. Jetzt müssen wir uns ein wenig ausruhen.

Er liest weiter, um herauszufinden, wer sonst noch an dem Podiumsgespräch teilnehmen wird, dann starrt er aus dem Fenster auf den weißen Himmel und die Bäume im Hinterhof, und zur Sicherheit liest er die Mail noch einmal. Er könnte sich ja verlesen haben – aber nein. Dort steht ihr Name, klar und deutlich.

Sie ist eine der drei Autorinnen und Autoren, die über »Untreue im Leben und in der Literatur« sprechen sollen. Ausgerechnet.

Als wäre das noch nicht genug, ist der dritte Teilnehmer Terje, der mit Knuts Ex-Frau verheiratet ist, und Knut geht in die Küche und füllt Wasser in ein großes Glas. Er weiß, dass er nicht die erste Wahl ist, auch nicht die zweite oder dritte. Vermutlich ist er irgendeinem Assistenten in letzter Sekunde eingefallen. Wie wär’s mit dem Typen, der dieses Buch geschrieben hat … du weißt schon, über seine Scheidung …

Ich habe nicht über meine Scheidung geschrieben, sagt Knut laut. Er atmet durch die Nase ein und durch den Mund aus, wie er es in einem Film auf YouTube gelernt hat.

Dann leert er das Wasserglas, stellt es in die Spüle und zieht die Schublade mit den Plastiktüten auf. Letzten Herbst, als in seinem Leben die Hölle losgebrochen ist, hat er angefangen, sich solche kurzen Filmchen mit Tipps und Tricks für ein besseres Leben anzuschauen. In den Filmen ging es um alles Mögliche, von Atemübungen und der Aufbewahrung von Trockennahrungsmitteln bis hin zu Faltanleitungen für Kleidungsstücke und andere Dinge, damit sie möglichst wenig Platz beanspruchen. Zum Beispiel hat er gelernt, Plastiktüten in kleine, dekorative Dreiecke zu verwandeln, und manchmal zieht er einfach nur die Schublade auf und betrachtet die Tüten, die dort fein säuberlich in einer Reihe liegen.

Aber heute hilft ihm das nicht, und er knallt die Schublade zu, tapert ziellos durch die Wohnung.

Kriegen die da in Lillehammer denn gar nichts mit? Und vor allem: Lesen die keine Bücher?

Aber vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen, dass sie den Zusammenhang nicht sehen. War nicht genau das das Ziel seiner Never-complain-never-explain-Taktik gewesen: dass niemandem sein völlig fiktiver Auftritt in der die Wirklichkeit abbildenden sogenannten autofiktionalen Erzählung auffiel, verfasst von ebenjener Person, neben der Knut alsbald in Lillehammer sitzen würde, um über »Untreue im Leben und in der Literatur« zu sprechen.

Knut ist am Wohnzimmerfenster stehen geblieben. Unten auf der Straße gehen Menschen vorbei. Er steht oft hier und sieht ihnen zu, fragt sich, wo sie hinwollen, was so wichtig für sie ist. Jeder Einzelne sieht aus, als würde er schwer an etwas tragen. Gesichter in konzentrierte und sorgenvolle Falten gelegt.

Knut ist genauso ein Schräubchen im Getriebe wie alle anderen. Aber ein altes Gefühl, außerhalb der Menschheit zu stehen, hat sich verfestigt und will ihn nicht loslassen. Er kennt diesen Zustand seit seiner Kindheit, und im Herbst war es wieder zurück: das Gefühl, dass alle anderen etwas begriffen haben, das er nicht begriffen hat. Dass es dort draußen irgendein großes, grundlegendes Geheimnis gibt, das alle kennen außer ihm.

In der letzten Zeit hat er eingesehen, dass er bald wieder dort hinausmuss, dass kein Weg daran vorbeiführt. Sein Sparkonto ist leer, er hat sogar angefangen, seine Kreditkarte einzusetzen.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er im Seniorenheim anrufen und seine Dienste anbieten muss.

Nach jeder Schicht denkt er: nie wieder. Aber stets kehrt er zurück. Das letzte Mal vorigen Sommer, und wie üblich hatte unter den Bewohnern eine hohe Fluktuation stattgefunden. Einer der Neuen war ein Mann mit früher Demenz, nur ein Jahr älter als Knut. Im Pausenraum hatten sie darüber gewitzelt, dass es bald auch an Knut wäre, Windeln zu tragen.

Knut hatte mitgelacht. Bei der Morgentoilette betrachtete er sich gern im Spiegel, während er den Bewohnern in die Kleider half, um insgeheim den Unterschied zwischen ihnen und sich festzustellen: er selbst groß gewachsen, in weißer Kleidung und daneben das graue, gebeugte Wesen, dem er gerade half.

Aber als er letzten Sommer eines Nachmittags wie üblich durch die Flure lief, hörte er Musik. Er blieb stehen, denn es war die gleiche Siebziger- und Achtzigerjahremusik, die er selbst hörte, und nachdem ihm klar geworden war, dass die Klänge aus dem Zimmer des Mannes mit früher Demenz kamen, wurde Knut zum ersten Mal wirklich bewusst, dass er selbst dort sitzen könnte.

Er hatte einen guten Draht zu dem Mann gehabt, der in klaren Phasen über Gott und die Welt sprechen konnte wie jeder andere Mensch. Um die Illusion von Ebenbürtigkeit zu wahren, hatte Knut sogar gewitzelt, dass er als abgebrannter Autor gewisse Menschen, die von der Kommune versorgt würden und ihre Mahlzeiten serviert bekämen, beneide.

Natürlich beneidete er mitnichten diesen Mann, der nachts auf der Suche nach seinem alten Leben durch die Gänge irrte. Auch sah er sie beide nicht als ebenbürtig an. Bis zu dem Tag, als er im Korridor stand und aus dem Zimmer des Mannes »Enjoy the Silence« von Depeche Mode hörte.

Knut beendete noch die Schichten, für die er sich bereits verpflichtet hatte, aber seither nahm er den Hörer nicht mehr ab, wenn das Seniorenheim anrief.

Bald muss er sich dort melden, das weiß er seit Mitte März, als klar wurde, dass er dieses Jahr kein Stipendium bekommen würde. Aber er sträubt sich dagegen, und das Honorar aus Lillehammer würde ihm noch eine gute Woche Aufschub gewähren.

In Lillehammer könnte er überdies das Gefühl haben, wieder zum Kulturbetrieb zu gehören, er könnte wieder in den Flow kommen und neue Kraft zum Schreiben schöpfen.

Dass ein neues Buch von ihm angenommen würde und er in der Folge den Verlag um einen Vorschuss bitten könnte, ist seine größte Hoffnung. Denn auch wenn seine Bücher nicht mehr so gut laufen, werden sie jedes Mal vom Kulturrat für Bibliotheken angekauft, und was noch wichtiger ist: Ein neues Buch wäre ein Signal an sämtliche Stipendienkomitees, dass Knut A. Pettersen wieder an etwas sitzt, Knut A. Pettersen ist immer noch aktiv, er ist noch nicht dement, noch nicht tot.

Normalerweise würde er zu diesem Zeitpunkt zu Frank hinübergehen. Aber Frank, Knuts direkter Nachbar und Freund, ist gerade in einer On-Phase mit M, seinem heimlichen On-off-Liebhaber, und deshalb nicht ansprechbar.

Knut geht wieder in die Küche und bleibt vor dem kleinen Weinregal stehen. Wenn Franks heimliches Verhältnis mit M, einem verheirateten pakistanischen Vater von drei Kindern, wieder läuft, hört Frank stets auf zu trinken und »verschenkt« sein Weinregal an Knut. Knut bietet an, es bis zum nächsten Mal aufzubewahren, und Frank antwortet wie immer, dass es kein nächstes Mal geben werde, aber sobald M sich wieder zu seiner Familie in Lørenskog zurückzieht – die er übrigens nie verlassen hat –, ist Frank jedes Mal gleichermaßen erleichtert, das Weinregal zurückzubekommen, auch wenn selten viele Flaschen übrig sind.

Franks und Ms verbotenes und heimliches Verhältnis besteht schon seit vielen Jahren und hat längst seinen Rhythmus gefunden: zwei, drei Wochen on, drei, vier Wochen off. Und da es erst vor einer Woche wieder eingesetzt hat, kann er mit Frank frühestens in ein oder zwei Wochen rechnen.

Knut erwägt, eine Flasche aufzumachen. Aber er trinkt nicht gern allein. Dann gerät er schnell in Schwierigkeiten, entweder er bricht auf Facebook einen Streit vom Zaun, oder er nimmt Kontakt zu jemandem auf, zu dem er besser keinen Kontakt aufnehmen sollte.

Es ist ein Jahr her, seit Hanne – und ihr Töchterchen Selma – ausgezogen sind, und damals hatte Knut sich geschworen, nie wieder mit einem Menschen zusammenzuwohnen. Und immer, wenn er hört, wie der ältere Mann im Stockwerk über ihm seinen fetten, alten Golden Retriever die Treppe runterschleppt, denkt er: und auch nicht mit einem Tier.

Er schaut in den Hinterhof auf der Suche nach etwas, das ihm Halt geben könnte, aber das Einzige, was er sieht, ist eine Elster auf einem Baum, die ungerührt zurückglotzt.

Seit letztem Herbst ist er im Großen und Ganzen zu Hause gewesen, wenn er nicht gerade bei Frank war. Es scheint, als hätte er mit jedem Tag ein Stück mehr an Toleranz eingebüßt, die er früher offenbar noch hatte. Er hat angefangen, sich in einem Maße über das Aussehen und Verhalten anderer Leute aufzuregen, das es ihm schwer macht, nach draußen zu gehen. Zum Beispiel geht es ihm auf die Nerven, dass die Leute auf dem Bürgersteig so langsam vor sich hin trotten. War das schon immer so? Oder dass ganze Fußgängergruppen zu viert nebeneinanderlaufen und sich weigern, Platz für andere (Knut) zu machen, die daraufhin auf die Straße ausweichen müssen.

Vermutlich wird er einfach nur alt. Möglicherweise ist es etwas Hormonelles. Aber warum laufen Leute zu viert nebeneinander und beanspruchen den ganzen Bürgersteig? Und warum tragen erwachsene Menschen Hosen, in die zuvor große Löcher hineingeschnitten wurden? Keine Hosen mit normalen natürlichen Rissen, verursacht von ehrlicher, rechtschaffener Maschinenwäsche und Abnutzung, wie in den Achtzigern, als Knut selbst jung war, sondern große, viereckige Löcher, die sie absichtlich hineingeschnitten haben, mit der Schere; und warum ziehen sich die Leute nicht mehr richtig an, sondern sind im öffentlichen Raum mit Klamotten unterwegs, die wie Schlafanzüge aussehen – diese Fragen geraten zu einer Sackgasse, in die Knut sich mehrmals täglich verirrt. Alles, woran er denkt, gerät zurzeit zur Sackgasse, und in diesen Sackgassen schwirrt er herum wie eine wild gewordene Biene.

Knut macht nun doch eine Flasche Rotwein auf. Um sich an Frank und seinem Weinsnobismus zu rächen, nimmt er das Wasserglas, aus dem er gerade getrunken hat, und schenkt es bis zum Rand voll. Anschließend trinkt er den Inhalt in vier, fünf großen Schlucken, als wäre dieser teure Rotwein eine Arznei, die es schnell runterzuschlucken gilt. Dann schenkt er sich noch einmal nach, und schon ist die Flasche leer.

Nach Hannes und Selmas Auszug ist Frank sein einziger Kontakt zur Umwelt. Knut hat den Verdacht, dass ihre Freundschaft sich auf Faulheit gründet, da Frank nur drei Schritte entfernt wohnt, und jedes Mal, wenn Frank in sein heimliches Verhältnis entschwindet, sagt sich Knut, dass er alte Verbindungen aufwärmen sollte, damit er das nächste Mal, wenn Frank sich entzieht, ein Sicherheitsnetz hat. Doch bevor er es geschafft hat, jemanden zu kontaktieren, ist sein Nachbar in der Regel wieder verfügbar.

Er könnte ausgehen, einfach die Wohnung verlassen wie jeder normale Mensch, und sich in ein Café oder eine Kneipe setzen. Mit jemandem ins Gespräch kommen, ein normaler Mensch in der Öffentlichkeit sein. Aber man weiß nie, wen man trifft. Knut sollte es außerdem vermeiden, überhaupt den Mund aufzumachen, da das Einzige, worüber er reden will, das Einzige ist, worüber er nicht reden kann. Ständig muss er vorsichtig sein, wohin er tritt, als hätte sich die Welt da draußen in einen riesigen Ballon voller Scheiße verwandelt, der jederzeit platzen kann.

Mit dem Glas in der Hand geht er in den Flur und klopft an Franks Tür, aber natürlich macht niemand auf. Wenn Frank mit M zugange ist, wirkt es, als hätte er sich einer Sekte angeschlossen. Dann kann man mit ihm nicht mehr reden und auch sonst nichts mit ihm anfangen.

Knut klappt den Laptop auf und surft ein bisschen, um zu sehen, wer sonst noch in Lillehammer ist. Er hat mehrere Jahrzehnte in der norwegischen Kulturszene verbracht und sieht überall bekannte Namen und Gesichter.

Wann war er zuletzt dort? Das muss nach Erscheinen seines letzten Buchs gewesen sein – vor fast sieben Jahren. Die Reaktionen darauf fielen verhalten aus, genau wie bei den zwei Vorgängerbüchern, die er nach dem Erfolgsbuch veröffentlicht hatte.

Das Erfolgsbuch – das nicht Das Erfolgsbuch heißt, so nennt es nur Knut – war sein drittes Buch. Es ist vor mehr als zwanzig Jahren erschienen und war sein Durchbruch. Das Buch hat sich so gut verkauft, dass er seine Teilzeitstelle als Korrekturleser bei einer Zeitung aufgeben und sich außerdem diese Wohnung kaufen konnte.

Im Programm steht, dass seine Ex-Frau Lene bei einer Veranstaltung im Park aus ihrem letzten Buch lesen soll. Neben Frank ist Lene die Einzige, mit der er sich im Moment vorstellen kann zu reden. Das Problem ist, sie allein zu erwischen. Wenn er anruft, ist Terje – den Knut nach wie vor als Lenes neuen Mann betrachtet, obwohl sie seit mehr als zehn Jahren verheiratet sind – nie weit weg, und darum kann er nur über Dinge reden, die mit Lukas, ihrem Sohn, zu tun haben, und das alles möglichst neutral und unangreifbar.

Im Herbst war Frank auch schon mit M zugange gewesen. Verzweifelt auf der Suche nach jemandem, mit dem er sprechen konnte, dem er vertrauen konnte, hatte Knut sich in der Gegend, in der Lenes Gemeinschaftsbüro liegt, herumgetrieben, und als er ihr beim zweiten oder dritten Versuch begegnet ist, gab er vor, rein zufällig dort zu sein. Er hatte sie zu einem gemeinsamen Kneipenbesuch überredet und ihr nach ein paar Bierchen die ganze Geschichte erzählt. Zunächst hatte er es nur in einem Nebensatz erwähnt, als sie sich über etwas anderes unterhielten. Ja, apropos, hast du das letzte Buch von […] gelesen? Dort erzählt sie eine völlig abstruse Geschichte über mich. Anschließend hatte er den Kopf geschüttelt und gegrinst, als stünde er über diesen Dingen. Aber Lene, die das Buch noch nicht gelesen hatte, fragte und hakte nach, wie er es sich erhofft hatte, und sie regte sich auf, was er sich ebenfalls erhofft hatte, und er saß dort in der Kneipe und bekam feuchte Augen.

Du musst doch etwas unternehmen, sagte Lene. Du kannst doch nicht zulassen, dass sie damit weitermacht. Was soll ich denn tun, fragte Knut. Egal, was ich mache, es wird die Situation nur verschlimmern. Sie wird noch mehr Bücher verkaufen, und ich werde für immer als übergriffig abgestempelt werden. Genau das wird passieren.

Du bist so weit von einem übergriffigen Menschen entfernt, wie es nur möglich ist, sagte Lene.

Bist du so gut und erzählst Terje nichts davon, hatte er gefragt, als sie sich verabschiedeten. Lene versprach es, aber bei Ehepartnern weiß man nie. Und jetzt soll er mit Terje und der Wirklichkeitsbeschreiberin, wie er sie insgeheim nennt, auf einer Bühne sitzen.

Aber sollte er das überhaupt? Er muss nicht auf die Mail antworten. Ein weiterer Kniff, den er früher auch schon angewandt hat: einfach nicht antworten.

Knut ist ratlos. Er braucht einen guten Zuhörer. Bei Frank in der Wohnung kann er lange Vorträge halten, während Frank, der als Grafikdesigner im Homeoffice arbeitet, am Computer sitzt und Websites, Plakate oder Buchumschläge entwirft.

Wie gern würde er zu Frank gehen und ein weiteres Mal seine Version erzählen, ein weiteres Mal den gleichen Refrain singen, den er schon den ganzen Winter über gesungen hat, über das, was auf einer gewissen Mitgliederversammlung des norwegischen Schriftstellerverbands vor ziemlich genau zweieinhalb Jahren passiert war.

Wohlgemerkt, was wirklich passiert war, anders als das, was im Buch der Wirklichkeitsbeschreiberin steht, einem Buch, das nach Aussage der Autorin die Wirklichkeit schildert, und zwar unbeschönigt. Aber wie kann man behaupten, die Wirklichkeit zu schildern, und dabei gleichzeitig über andere reine Lügen verbreiten? Unter Nennung von Namen? Für andere hat sie Pseudonyme verwendet, sogar für ihre eigenen Kinder.

Meinen Namen hingegen hat sie voll ausgeschrieben, mit Nachnamen und allem Drum und Dran. Als hätte ich keine Gefühle. Als wäre ich eine Pappfigur, ein Clown, jemand, mit dem man machen kann, was man will, ohne dass es Folgen hat.

Knut sitzt an seinem Schreibtisch und murmelt vor sich hin.

In letzter Zeit hat er nicht mehr so viel an die Geschichte gedacht. Mit der Zeit war sie in seinem Kopf nur noch zwanzig, dreißig Mal am Tag aufgetaucht – im Gegensatz zu den anfangs mehreren Hundert Malen. Aber jetzt ist sie zurück, und zwar mit voller Wucht.

Bisher hatte dieser Freitag aus Kaffeekochen, Fenster auf- und zumachen und sich selbst googeln bestanden, sich über einen Artikel aufregen, dessen Thema er vergessen hat, auf Facebook irgendeinen Streit verfolgen, den er ebenfalls vergessen hat, ein paar Scheiben Knäckebrot essen und noch mehr Kaffee trinken, und dann diese Angst vor Krebs, denn nachmittags pirscht sie sich heran, die Tagesvariante des Satzes, der ihn jede Nacht gegen drei Uhr weckt: Hier liegen wir allein, und bald ist alles vorbei. Früher konnte er aus solchen Sätzen, die die Angewohnheit haben, sich in seinem Gehirn festzusetzen, Nutzen ziehen – sie waren der Ausgangspunkt für mehrere seiner Bücher –, aber jetzt rauben sie ihm nur den Schlaf.

Er hat heute noch nichts Handfestes unternommen, außer loszuheulen, als ihm im Laufe des Vormittags ein Videoclip über einen Hund mit drei Beinen untergekommen war. Die Art, wie der Hund humpelte, so unbeirrt und ohne jegliches Selbstmitleid, trieb ihm die Tränen in die Augen, und dadurch hatte Knut das Gefühl, ebenso wie bei dem Clip über Hodenkrebs, wenigstens ein klein wenig zu arbeiten, vielleicht auch noch dadurch bestätigt, dass er gelesen hatte, einige seiner männlichen Kollegen hätten die Angewohnheit, während des Schreibprozesses heulend vor dem Bildschirm zu sitzen, sodass die Tränen auf die Tastatur tropfen.

Sein Glas ist schon fast leer. Innerhalb kürzester Zeit hat er eine ganze Flasche getrunken. Aber er merkt nichts davon, außer vielleicht, dass seine Knie etwas taub geworden sind.

Er geht in die Küche und erwägt, eine zweite Flasche aufzumachen. Da hört er Geräusche aus Franks Küche, die Wand an Wand an seine grenzt. Das Haus ist so hellhörig, dass er hören kann, wie Frank seufzt und was er gerade tut, und Knut steht da und lauscht den Seufzern und Franks Schlurfschritten, und er lächelt, denn er weiß, was das bedeutet.

Die Phasen in Franks Verhältnis mit M werden zunehmend kürzer. Letztes Mal dauerte es nur zehn Tage und diesmal also nicht mehr als eine Woche. Oft schafft Frank es nicht, viele Flaschen zu kaufen, bevor das Verhältnis wieder startet. Ebenso wenig gelingt es Knut, sie leer zu trinken, bevor es wieder vorbei ist.

Es sind noch fünf Flaschen im Regal, und Knut trägt es in den Flur.

Er klopft an die Tür, aber Frank macht auch diesmal nicht auf.

»Hallo«, ruft Knut durch den Briefschlitz. »Ich weiß, dass du da bist.«

Keine Reaktion. Da er keine Lust hat, das Regal wieder zurückzutragen, setzt er sich auf die Fußmatte mit dem Rücken an Franks Tür.

Dass Knut zuletzt so etwas wie ein Sozialleben hatte, war zu der Zeit, als Hanne und Selma noch hier wohnten. Damals gab es Abendessen und Partys am laufenden Band, aber dann stellte sich heraus, dass es einzig und allein Hannes Freunde waren, denn sie verschwanden mit ihr. Knut hat sich auch schon auf Facebook umgeschaut, um sich in Erinnerung zu rufen, wen er kennt, alte Freundschaften aus der Zeit vor Hanne, aber bisher hat er niemanden gefunden, mit dem er sich gern treffen würde. Er begnügt sich mit einem hochgereckten Daumen oder einem wütenden oder weinenden Gesicht als Reaktion auf etwas, das der andere gepostet hat. Ein paar Leuten hat er tatsächlich versucht, eine persönliche Nachricht zu schicken, aber dann passiert, was auch passiert, wenn er versucht, etwas Belletristisches zu schreiben: Er schreibt und streicht, redigiert und streicht und flickt, und bald zerrinnt ihm alles zwischen den Fingern. Zurzeit kommt es ihm vor, als würde alles, was er schreibt, zu einer Lüge werden, sobald er es in die Tastatur hämmert. Als wäre er im Begriff, die Sprache zu verlieren.

Er weiß noch, dass er sich einmal, jedenfalls bis letzten Herbst, in der Welt bewegt hat, sich geäußert und auch geschrieben hat, also musste er etwas zu sagen gehabt haben, aber er kann sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was so wichtig gewesen war, dass er es von sich geben musste, und er findet auch nicht zurück zu dem Engagement, das dahintergesteckt haben musste, dem Drang, sich mitzuteilen, wie auch dem Drang, sich in der Welt zu bewegen.

»Ich bin nach Lillehammer eingeladen«, sagt er durch den Briefschlitz. »Und rate mal, mit wem ich auf die Bühne soll!«

Endlich kommt Frank an die Tür. Knut kann nur seine Beine sehen, und wie üblich hat Frank eine Anzughose mit messerscharfen Bügelfalten an. Obwohl er im Homeoffice arbeitet, trägt Frank immer Anzughosen und ein weißes Hemd, niemals Jeans und niemals T-Shirts. Sein Bauch ist überdies flach und fest, und unter dem weißen Hemd wölben sich die Oberarmmuskeln. Hin und wieder versucht Knut, sich vorzustellen, wie es wohl ist, schwul zu sein. Vielleicht wäre dann alles einfacher, sagt er gern zu Frank, um ihn zu foppen. Frauen sind ja so schwierig. Dann würdest du nur was anderes finden, worüber du jammern kannst, kommt es regelmäßig von Frank zurück.

»Mit wem sollst du auf die Bühne?«

»Lass mich rein.«

»Nein. M hat wieder meinen Kontakt blockiert, und jetzt will ich nicht mehr. Verschwindet, alle miteinander.«

»Dann wäre ein Gläschen doch perfekt. Ich habe dein Weinregal dabei. Es sind noch ein paar Flaschen übrig. Diesmal ging es ja schnell, noch schneller als sonst.«

Frank antwortet nicht, aber er bleibt stehen, und Knut unternimmt einen neuen Versuch.

»Aha. Er hat dich also blockiert. Am Donnerstag ist er wieder zurück. Oder am Donnerstag in einer Woche.«

»Mit wem sollst du denn auf die Bühne?«

»Ich soll auf die Bühne mit …«

Knut bringt es nicht über sich, ihren Namen auszusprechen.

Frank kommt ein paar Schritte näher.

»Der Frau, die über dich geschrieben hat?«

»Ja.«

Endlich öffnet Frank die Tür.

»Fünf Minuten. Dann bist du wieder draußen.«

2

»Ich glaube, da muss ich einfach dabei sein.«

Frank sitzt im Sessel, Knut auf dem Sofa, einen halben Barolo haben sie schon intus.

»Du willst mit nach Lillehammer?«

Frank, jetzt schon besser gelaunt, grinst.

»Ja, das kann ich mir doch nicht entgehen lassen.«

»Aber ich weiß ja noch gar nicht, ob ich selbst hinfahre. Ich habe mich noch nicht entschieden. Außerdem bin ich nur Ersatz.«

»Ersatz, wen interessiert das schon? Die Hauptsache ist, du bist eingeladen. Du sollst auf einer Bühne sitzen und über Gott und die Welt reden, und dafür kriegst du – wie viel noch mal?«

»Fünftausend Kronen.«

Frank lacht erneut.

»Mein Gott. Was seid ihr alle für verwöhnte Gockel.«

Zu Franks Dauerthemen gehört der Kulturbetrieb und alles, was dort vor sich geht. Er selbst vertritt die einfachen Leute und den kleinen Mann auf der Straße, woraufhin Knut in der Regel darauf verweist, dass Frank in teuren Klamotten dasitzt und Barolo trinkt und dass er, wenn er will, mit seinem Laptop nach Thailand fliegen und von dort aus arbeiten kann, und dann sagt Frank, das könne Knut im Prinzip auch, und außerdem seien guter Wein und teure Klamotten eine Frage der Prioritäten, denn Frank hat kein Auto und isst nur zwei Mahlzeiten am Tag und niemals Fleisch, woraufhin Knut antwortet, er selbst esse nur Knäckebrot mit Sardinen und Eiern, und ein Auto habe er nie besessen, es sei typisch für die Reichen, dass sie behaupten, es ginge um Prioritäten. Franks Replik darauf lautet wiederum, wenn Knut arm ist, dann sei das selbst gewählt, er bräuchte sich ja bloß eine Stelle zu suchen wie andere Leute auch, du könntest zum Beispiel im Seniorenheim anrufen. Aber wenn ich dort anfange zu arbeiten, fehlt mir die Kraft zum Schreiben, wendet Knut ein, woraufhin Frank die ganze Unterhaltung mit den Worten beendet: Schreiben? Das tust du doch sowieso nicht!

»Ich weiß nicht, ob ich mir ihre Visage antun kann«, sagt Knut. »Ich weiß nicht, wie ich darauf reagiere. Ich traue mir nicht.«

»Aber dann hätte sie ja gewonnen. Dann kriegt sie ihre Version bestätigt, denn dann kann die Tatsache, dass du nicht erscheinst, so gedeutet werden, dass du dich schämst, dass also wahr ist, was sie schreibt.«

»Und wenn ich hinfahre, kann es so gedeutet werden, als wäre ich genau der rücksichtslose Dreckskerl, als den sie mich beschreibt. Einer, der null Gespür für die Situation hat und deshalb glaubt, alles sei in bester Ordnung.«

»Du kannst doch so tun, als hättest du ihr Buch nicht gelesen, so wie du es immer machst, wenn dir ein Buch nicht gefällt.«

»Wäre das denn glaubwürdig? Alle haben doch ihre Bücher gelesen. Sogar du hast sie gelesen. Obwohl das, was sie schreibt, nichts als Klatsch und Tratsch aus dem Kulturbetrieb ist, hat sie es zumindest geschafft, Leute wieder zum Lesen zu animieren, das muss man ihr lassen.«

Frank antwortet nicht, aber seine Wangen sind gerötet, er kichert dauernd vor sich hin, und Knut will nach Hause. Doch dann stellt er sich vor, wie er allein durch seine Wohnung tigert, und bleibt sitzen.

»Vielleicht laden sie mich genau deswegen ein, um eine Schlägerei zu provozieren. Vielleicht wissen sie ganz genau, was sie tun. Was für blutrünstige Ärsche.«

Frank nickt.

»Stimmt schon. Es ist fantastisch zu sehen, wie sie alle dazu bringt, in der Öffentlichkeit zu springen und zu tanzen.«

»Fantastisch?! Eine Lügnerin von ihrem Kaliber wird mich nicht daran hindern, mich frei zu bewegen. Und ob ich hinfahre.«

»Und was willst du sagen, wenn du dort sitzt?« Frank beginnt zu glucksen. »Wenn das Thema lautet … was hast du noch mal gesagt? ›Untreue im Leben und in der Literatur‹?«

»Ich habe schon an vielen solchen Gesprächen teilgenommen, und man kann sich da durchlavieren, ohne großartig was zu sagen. Schalt einfach auf Autopilot, mit Floskeln und Binsenweisheiten. Lass die anderen reden.«

»Darauf stoßen wir an!«

Knut hebt das Glas.

»M ist bald wieder da.«

»Das glaube ich nicht.«

»Das sagst du jedes Mal.«

»Nein, dieses Mal ist es definitiv vorbei. Ich habe einfach keine Reserven mehr.«

»Auch das sagst du jedes Mal. Mit genau denselben Worten.«

»Du hast ihn verschreckt. Du kannst nicht so im Leben anderer Menschen herumwühlen, ohne dass es Konsequenzen hat.«

»Ihr habt euch seitdem unzählige Male getrennt und wieder zusammengefunden, das Argument kannst du dir also schenken. Ich habe lediglich versucht, ein Buch über ihn zu schreiben, aus dem nichts geworden ist, mehr nicht. Genau wie bei allen anderen Schreibversuchen der letzten Jahre. Hast du das vergessen? Und so sah es bei euch schon immer aus, lange bevor ich …«

»Schreib über Scheidungen und Untreue, wie auch immer. Schreib über Mittelschichtsuntreue in mittleren Jahren. Schreib, was du willst, aber denk dir selbst was aus. Wo du so gegen die sogenannte Wirklichkeitsliteratur bist, solltest du es besser wissen.«

»Ich habe alle Beteiligten anonymisiert.«

»Halt die Klappe.«

Frank nuschelt. Aber er sitzt in einem Sessel, der mindestens zehnmal so teuer ist wie irgendein Möbelstück, das Knut je besessen hat. Frank ist glattrasiert und hat etwas mit seinen Haaren gemacht, damit sie genau richtig liegen. Knuts dunkelblonde, aber zunehmend graue Haare stehen vom Kopf ab, als hätte er zwei Finger in die Steckdose gesteckt. Er sollte zum Friseur gehen, jetzt wo er unter Leute soll. In Grønland kann man sich für wenig Geld die Haare schneiden lassen. Knut schaut an sich herunter. Auf dem T-Shirt hat er einen gelben Fleck von den zwei weichgekochten Eiern, die er zu Mittag gegessen hat, denn obwohl er mit seiner Aufräum- und Sortierbesessenheit in mancherlei Hinsicht genau und pedantisch ist, ist er in anderer Hinsicht völlig nachlässig, und da er nicht länger mit jemandem zusammenwohnt, hat er auch niemanden, für den er sich täglich herrichten könnte. Er ist groß und schlaksig, hat in der letzten Zeit aber einen leichten Bauch bekommen. Über der Levis 501 in Größe 34, die er trägt, seit er als Sechzehnjähriger seine erste gekauft hat, hängt ein, wenn auch kleines, Speckröllchen. Vielleicht sollte er Franks Beispiel folgen und anfangen zu fasten. Das Problem ist nur, dass Fasten nervig und unangenehm ist, das weiß er, obwohl er es noch nicht ausprobiert hat, und auch Klamotten zu waschen und zu duschen, ist nervig. Jedes Mal, wenn er die Dusche aufdreht oder unten im Waschkeller steht und Kleidung in die alte Waschmaschine stopft, die er als Einziger im ganzen Haus noch benutzt, taucht die Frage auf: Was ist der Sinn des Ganzen, wenn ich es morgen schon wieder machen muss, oder in ein paar Tagen? Er muss sich immer wieder aufraffen, um gegen derlei Gedanken anzukämpfen, die sich einschleichen und alles, was er tut, herabwürdigen; so geht es nun schon, seit letzten Herbst das Buch der Wirklichkeitsbeschreiberin erschienen ist.

Aber er tut, was er kann. Er wäscht sich und hält sich aufrecht und versucht, in ganzen Sätzen zu reden. Hoch mit dir, sagt er zu sich, wenn er morgens aufwacht und ihn die übliche Schwermut niederdrücken will. Hoch mit dir.

Dann heißt es, die Kaffeemaschine anwerfen und alles in greifbarer Nähe haben. In einem Behältnis an der Wand hängen die Kaffeefilter, und auf der Küchenzeile steht die Dose mit dem guten schwedischen Kaffee, von dem er dreißig Kilo gekauft hat, als dieser im Angebot war. Er hat ausgerechnet, dass er es schafft, ihn vor Ablauf des Verfallsdatums aufzubrauchen. Derlei Tätigkeiten und Aufgaben können einen ganzen Tag ausfüllen. Billigen Kaffee, Knäckebrot, Käse auftreiben, und wenn er wieder zu Hause ist, alles an seinen Platz geräumt hat – ein Platz für alles und alles an seinem Platz – und sich endlich hinsetzen kann, um etwas zu schaffen, ist er so erschöpft von all den Geräuschen draußen in der Welt, den Gesichtern und Häusern und Autos, dass er sich kurz hinlegen muss, damit die Augen zur Ruhe kommen, sich seine alten, steifen Muskeln entspannen, und wenn er zwei Stunden später aufwacht, ist es zu spät, um noch etwas Vernünftiges zustande zu bringen, und dann geht er in der Regel in den Flur und klopft an Franks Tür.

Frank macht noch eine Flasche auf, und Knut redet über die Person, die er in Lillehammer treffen soll. Er erzählt die alte Geschichte, die Frank schon tausendmal gehört hat, weshalb Frank die Augen schließt und sicherlich auch die Ohren, und doch redet Knut weiter, denn er kann und will nicht aufhören. Sie sind zwei alte Kerle mit jeweils eigenem Refrain, und beide verspüren eine gewisse Linderung, wenn sie ihn anstimmen.

Franks Refrain handelt von M, dass entweder der ganze Quatsch ein Ende haben oder M seine Frau verlassen muss, die zugleich seine Cousine ist, sowie seine Eltern, mit denen er zusammenwohnt, sowie seine drei Kinder. Alle diese Menschen muss M auf Franks Geheiß hin verlassen, um stattdessen zu Frank in die Zweizimmerwohnung zu ziehen, sonst gibt es kein nächstes Mal, das kannst du knicken, schreit Frank, und Knut schreit A-MEN und Darauf stoßen wir an, aber sie wissen beide, dass nichts davon passieren wird. Was passieren wird, ist, dass Frank und M ihre heimliche On-off-Beziehung fortführen, in der M in regelmäßigen Abständen kalte Füße bekommt oder Frank sich entzieht, um von M eine Entscheidung zu erzwingen, sein Outing zu erzwingen, was in M nur noch mehr Panik und Widerstand auslöst, und so machen sie immer weiter. Frank hat versucht, seine Besessenheit zu überwinden, unter anderem durch Hypnose, damit er das nächste Mal standhaft bleibt, wenn M mitten in der Nacht eine Nachricht aus seinem Doppelbett schickt, in dem er neben seiner Cousine im Mehrgenerationenhaus in Lørenskog wachliegt, aber nichts hilft.

Frank, der sich früher bei Knut über die neue Bürgerlichkeit im Schwulenmilieu beklagt hat, die an Fahrt aufgenommen hat, nachdem die gleichgeschlechtliche Ehe zugelassen wurde – diese Reihenhausbesessenheit, wie er es nennt –, derselbe Frank ist jetzt selbst davon besessen, zu heiraten und in ein Reihenhaus zu ziehen. Oder in eine Wohnung, eine Hütte, ein Zelt, egal was. Er will Ms Eltern kennenlernen, er will sogar Kinder haben, und wenn Frank davon anfängt, fällt es Knut schwer, ernst zu bleiben, weil er weiß, dass gerade das Verbotene und Heimliche rund um M Franks Begehren weckt.

Zu später Stunde hat Frank schon einmal eingeräumt, dass er das Drama und den Zusammenhalt und all die starken Gefühle von früher vermisst, bei einer Gelegenheit rutschte ihm sogar heraus, dass er Aids vermisse, aber zum einen war er zu dem Zeitpunkt betrunken, und zum anderen nahm er es sofort wieder zurück. Vielleicht vermisse ich nur all die unendlich traurigen, aber auch unendlich schönen Begräbnisse, hatte Frank hinzugefügt und dann angefangen zu weinen. Vielleicht wirst du einfach alt, sagte Knut. Vielleicht vermisst du einfach nur dich selbst in jung. Vielleicht bin ich auch nur besoffen, sagte Frank.

Knut schenkt sich mehr Wein nach. Franks Glas ist immer noch voll.

»Was ich nicht verstehe, ist, dass sie meinen Namen verwendet hat. Na ja, das eine ist, was sie geschrieben hat, aber dass der Verlag das hat durchgehen lassen? Das verstehe ich nicht.«

Und Frank lässt Knut reden. Die meiste Zeit redet Knut. Es kommt vor, dass Knut auf Franks Sofa liegt, ohne etwas zu sagen, um dann aufzustehen und in seine Wohnung zurückzukehren, weil ihm gerade ein Satz eingefallen ist, den er aufschreiben muss. Oder er bleibt auf Franks Sofa liegen und tippt etwas in die Notiz-App im Handy. Einmal hat er stundenlang auf dem Handy herumgetippt, sodass ihm hinterher die Hände wehtaten.

Logischer wäre es gewesen, in die eigene Wohnung zu gehen, sich an den Schreibtisch zu setzen und normal zu schreiben, auf dem Laptop, was in jeder Hinsicht praktischer und logischer ist, als bei Frank auf dem Sofa zu liegen und auf dem kleinen iPhone herumzutippen. Das er im Übrigen von Frank geerbt hat, genau wie einen Anzug und mehrere Hemden und eine ganze Menge anderer Dinge. Aber wenn er in seine eigene Wohnung geht, hat er in den wenigen Sekunden, die es dauert, dorthin zu gelangen, oft vergessen, was er schreiben wollte, und außerdem, und das ist das Wichtigste: Wenn er sich an den Schreibtisch setzt, werden sein Nervensystem oder sein Gehirn oder die Gedärme oder was immer bei ihm das letzte Wort hat, feststellen, was er da treibt, und augenblicklich alle Versuche, ein gutes, produktives Leben zu führen, unterbinden.

Manchmal, wenn er mitten am Tag an seinem Schreibtisch sitzt, tut er so, als würde er aufgeben. Er setzt sich aufs Sofa und schaltet den Fernseher ein. Wie zufällig nimmt er den Laptop mit, für den Fall, dass mir etwas einfällt, das ich unbedingt kaufen muss, denkt er fromm, und dann kommt es vor, dass er mehrere Seiten vollschreibt, in rasendem Tempo, bevor das Nervensystem/das Unterbewusstsein/die Gedärme begreifen, was vor sich geht, und die Konzentration im selben Augenblick verfliegt.

»Sie hat unter meinem vollen, im Melderegister aufgeführten Namen über mich geschrieben«, wiederholt Knut, und Frank, der morgen einen Abgabetermin hat und deshalb am Schreibtisch sitzt, schüttelt folgsam den Kopf.

»Sie hat mich nicht vorab informiert und mir das Manuskript nicht zum Lesen gegeben, sondern ihre eigene zu 99,99 Prozent erfundene Version aufgeschrieben.«

Frank starrt auf den Bildschirm und bewegt die Maus. Er sitzt an der Website für ein Tanzensemble.

»Hat sie nicht auch über viele andere geschrieben?«

»Sie hat alles über alle geschrieben, wie sie in ihrer ganzen Verlogenheit behauptet, und demnach ist es also in Ordnung. ›Es sind schließlich Romane‹, antwortet sie herablassend, wenn jemand fragt, weshalb sie es komisch findet, dass Leute negativ auf das reagieren, was sie über sie schreibt, oder wenn sie private Nachrichten zitiert, die sie so anpasst, dass sie sich in die Geschichte fügen.«

Knut tippt bei jedem Wort mit dem Zeigefinger aufs Sofakissen.

»›Es sind schließlich Romane‹, sagt sie dann. ›Es ist schließlich Kunst.‹ –›Schonungslos gegenüber nahestehenden Menschen, vor allem aber gegenüber sich selbst‹, schreiben sie dort draußen über sie.«

Darauf antwortet Frank nicht, und es gibt auch nichts zu antworten. Und während Frank arbeitet, legt Knut sich aufs Sofa, schließt die Augen und versucht, an etwas anderes zu denken. Was zum absoluten Gegenteil führt, und bald kreisen Knuts Gedanken allesamt um diese Frau, mit der er demnächst auf einer Bühne auf Norwegens größtem Literaturfestival sitzen wird.

Bis jetzt hat sie fünf Bücher geschrieben, und jedes neue Buch ist eine Sensation im Kulturbetrieb, da alle lesen wollen, ob und wenn ja, was sie über sie geschrieben hat. Die letzten drei handeln überwiegend von Leuten, die sich aufgeregt haben über etwas, das sie in den ersten beiden Büchern geschrieben hat. Und so erschafft sie sich mit der Zeit ihre eigene »Wirklichkeit«, von der jedes neue Buch erzählt, und das Letzte, wozu Knut beitragen will, ist diese Form der Geldmehrung. Darum hält er die Füße still, und zwar seit dem Tag, an dem er sich dank des Tipps eines Kollegen, den er insgeheim nur »Großgesicht« nennt, einem der vielen Gerüchteköche des Kulturbetriebs, das Buch beschafft und es gelesen hat.

Schon das letzte Buch von […] gelesen?, hatte Großgesicht ihm geschrieben, und da Großgesicht sehen konnte, dass er die Nachricht gelesen hatte (Knut hat bislang noch nicht herausgefunden, wie man diese Funktion ausschalten kann), hatte er als Erwiderung ein Fragezeichen geschickt, woraufhin Großgesicht mit einem Seitenverweis und einer Lach-Hieroglyphe, einer Wut-Hieroglyphe und einer Affen-Hieroglyphe, die sich den Mund zuhält, geantwortet hatte.

Leider musste Knut das Buch kaufen, da in der Bibliothek mehr als fünfhundert Leute auf der Warteliste standen. Aber er begnügte sich zumindest mit einer elektronischen Ausgabe, die im E-Book-Reader versteckt ist und ihn nicht aus seinem Bücherregal heraus angrinst, und so konnte er etwas über seine eigene Person lesen, besser gesagt: eine erfundene Geschichte über seine Person.

Anschließend hatte er der Reihe nach die anderen angerufen, die an besagtem Abend zugegen gewesen waren. Er hütete sich davor, sich schriftlich an jemanden zu wenden, so paranoid war er von Anfang an gewesen, und darüber ist er jetzt froh. Du hast doch gesehen, wie sie sich auf meinen Schoß gesetzt und mich am Hemdkragen gepackt hat, hatte er gesagt. Du hast doch gesehen, dass sie auf mich zugekommen ist? Dass sie ein Bier für mich gekauft hat, dass sie die Initiative ergriffen hat? An dieser Stelle hasste Knut sich selbst dafür, dass er gezwungen war, sich auf dieses Kindergartenniveau hinabzubegeben, wer dies oder das gesagt hatte und zu wem, aber noch mehr hasste er sie dafür, dass sie ihn dazu gebracht hatte, herumzutelefonieren, sich auf diese Weise zu beklagen und so gewissermaßen zu dem Mann zu werden, als den sie ihn beschrieben hatte; denn zu denen, die er angerufen hatte – bevor ihm klar wurde, dass er sich still verhalten musste und mit niemandem sprechen durfte –, hatte er den Satz Sie hat angefangen gesagt, und zu spät dämmerte ihm, dass das alle Vergewaltiger sagen, sogar Pädophile.

Nein, niemandem war aufgefallen, dass sie sich auf seinen Schoß gesetzt hatte. Alle waren betrunken gewesen, konnten sich nicht erinnern. Es war dunkel gewesen und die Musik sehr laut, und jede Geschichte hat zwei Seiten. Alle, mit denen er sprach – und wir reden hier von Menschen, die normalerweise kein Problem damit haben, sich zu äußern –, blieben seltsam vage und vorsichtig, und einer von ihnen sagte geradeheraus, dass er nicht auf »der falschen Seite« stehen wollte.

Kurz zusammengefasst schreibt sie in ihrem Buch, dass der große Knut A. Pettersen