Wir sollten dringend weniger zusammen unternehmen - Robert Polzar - E-Book

Wir sollten dringend weniger zusammen unternehmen E-Book

Robert Polzar

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Beschreibung

Robert Polzar legt mit "Wir sollten dringend weniger zusammen machen" ein absolut unterhaltsames Buch vor. Zwei Freunde begeben sich auf eine Reise und wenn zwei eine Reise tun, ja, da kann man was erzählen, zumindest wenn man auf sprechende Hunde, die Kelly Family und diverse andere abstrakte Gestalten jenseits der üblichen Reiserouten trifft. Was tut man nicht alles um zum Mirjam Weichselbraun zu gelangen.

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Seitenzahl: 240

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Robert Polzar

Wir sollten dringend weniger zusammen unternehmen!

Impressum

1. Auflage Juni 2011

©opyright 2011 by Autor

Titelbild: Artur Fast

Lektorat: Christoph Strasser

Satz: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)

ISBN: 978-3-942920-03-2

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

Hat Dir das Buch gefallen? Schreib uns Deine Meinung unter: [email protected]

Mehr Infos jederzeit im Web unter www.unsichtbar-verlag.de

Unsichtbar Verlag | Wellenburger Str. 1 | 86420 Diedorf

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Robert Polzar

Wir sollten dringend weniger zusammen unternehmen!

Dank

Dank geht an Jerry, meinen unermüdlichen Begleiter,

und ganz besonders an Verena für ihre Unterstützung

(Tadelung …) in Bezug auf Tirolerisch und Italienisch.

Außerdem an Dirk und Andreas vom Unsichtbar Verlag

und natürlich alle meine Lieben,

allen voran Sandy, meine Muse.

Prolog

Morgengrauen ist ein Wort, das von Menschen bewusst erfunden wurde. Für gewöhnlich nimmt man an, es wurde von jemandem erdacht, der die ganze Nacht durchgefeiert, gesoffen und getanzt hat und mit der aufgehenden Sonne und den ebenfalls aufgehenden Kopfschmerzen und Übelkeitsgefühlen plötzlich merkt, wie grausam Alkohol und andere Drogen nach ihrem Genuss sein können.

Aber das ist nicht wahr.

Morgengrauen wurde von ganz normalen Menschen erfunden. Menschen, die ein geregeltes und vielleicht glückliches Leben führen, die früh aufstehen, sich duschen, rasieren, parfümieren, mit ihrer Familie frühstücken und sich dann auf den Weg zu einer vielleicht erfüllenden Arbeit begeben.

Manchmal begegnen sie auf diesem Weg jemandem, der die ganze Nacht durchgefeiert, gesoffen und getanzt hat, und mit der aufgehenden Sonne und den ebenfalls aufgehenden Kopfschmerzen und Übelkeitsgefühlen plötzlich merkt, wie grausam Alkohol und andere Drogen nach ihrem Genuss sein können und dieser Jemand oder was von ihm übrig ist, ist dann das Morgengrauen.

John Carpenter verarbeitete eine dieser Begegnungen 1980 in seinem Film »Nebel des Grauens«. Aus Höflichkeit gegenüber der doch beträchtlichen Masse an Morgengrauen verzichtete er auf den Titel »Morgen des Grauens«, vielleicht auch, um seine traumatischen Erfahrungen während der Dreharbeiten nicht zu sehr wieder aufleben zu lassen.

In »Nebel des Grauens« erscheint ein mysteriöser selbiger und mit ihm kommen humpelnde, sabbernde Gestalten, fallen alle nüchternen Menschen an, brabbeln sie mit unverständlichen Lauten voll und hauchen sie mit ihrem verwesenden Atem an, bis es den Menschen entweder gelingt zu fliehen oder zu sterben.

Damals ein großer Erfolg an den Kinokassen, seit Urzeiten ein Klassiker am Sonntagmorgen oder wahlweise auch unter der Woche, Hauptsache, eine Kneipe ist in der Nähe.

1

In dem Tom und Jerry (TJ) erwachen und sich verlieben.

Tom wachte auf, weil die Pfütze, in der er lag, nicht mehr ausschließlich nach Erbrochenem roch. Außerdem schien es zu regnen. Er richtete sich auf und suchte im Himmel nach der Wolke, die ihn voll regnete, aber da war keine. Die Sonne stach fast boshaft hell durch den gleißenden Himmel und lachte ihm fies ins Gesicht.

»Gott, was für ein grauenhafter Morgen«, dachte er.

Es konnte noch nicht allzu spät sein, die Sonne hing gerade über dem Rand des Berges und die Farbe des Himmels konnte man weiß mit Abstufungen nennen.

Tom blickte sich um, um herauszufinden, wo er eigentlich war, warum und wie es Jerry ging.

Jerry lag einen Meter weiter, am westlichen Ende von Lake Kotz, wie Tom geistesgegenwärtig vor der Bewusstlosigkeit die immer noch nach Alkohol stinkende Pfütze Erbrochenes, die Jerry und er gemeinsam fabriziert hatten, genannt hatte.

Auf Lake Kotz war er gekommen, weil Jerrys Speiseröhre ein Stückchen Wurst beigesteuert hatte, dessen Pelle sich von den erfolglosen Bemühungen der Magensäure gelöst hatte und wie ein kleines Segel nach oben abstand, während der Rumpf, also der Rest Fleisch, gemächlich auf der dicken Brühe trieb.

»Ausflug am Sonntag an den See, nach Lake Kotz«, hatte Tom lachend gerufen und sich dabei ein weiteres mal übergeben, bevor bei ihm die Lichter ausgingen.

Über Jerry beendete gerade ein Hund seine Markierungsarbeiten. Damit wäre auch der mysteriöse Regen geklärt, dachte Tom.

Der Hund lief schwanzwedelnd und hechelnd zu seinem Herrchen, einem schon fast unverschämt gerade stehenden Menschen zwei Meter weiter mit bereits angegrautem Haar, der seinen Hund mit einem Tätschler auf den Kopf empfing und dabei sagte: »Feiner Hund, hast du fein gemacht.«

Als er sah, dass Tom ihn ansah, hob er die Augenbrauen und sah mit einem »Ist was?«-Blick zurück, ehe er sich umdrehte und seinen Hund in Richtung Burg wegführte.

»Feiner Hund, ein ganz feiner bist Du«, hörte Tom ihn noch und bemerkte dabei, dass das kleine Segelschiff auf dem See verschwunden war.

Jerry begann sich zu rühren. Tom wusste nicht, ob es ein Stöhnen war, ein Signal für das Ableben oder ob Jerry in den Falten seiner Magenwand noch etwas Erbrechbares gefunden hatte.

Normalerweise hätte er sich um seinen Freund gekümmert, hätte ihm die langen Haare aus dem Gesicht gehalten, obwohl das wiederum nicht mehr als eine Geste gewesen wäre, denn die Haare hatten ebenfalls die Nacht am See verbracht, aber im Moment drangen Jerrys schwache Lebenszeichen nur von fern an sein Ohr.

Es lag an der Sonne. Nicht an der Gasexplosion irgendwo weit entfernt im Weltraum. Direkt vor ihm hing in drei Meter Höhe eine zweite Sonne.

Ein überirdisches Wesen. Ein Gesicht wie ein zweiter Sonnenaufgang.

Tom und Jerry lagen vor einem großen Werbeplakat. Auf dem Plakat sah man eine Frau, die aus Honig, Milch und Weizen gemacht schien. Sie trug ein rostbraunes T-Shirt und jonglierte vor einem Milkahimmel mit einem Apfel.

Tom befand sich noch nicht in der Verfassung, den Text zu lesen. Selbst nüchtern hätte er das nicht gekonnt. Das Wesen vor ihm war die perfekte Frau. Das perfekte Lächeln. Sie strahlte Gesundheit und Reinheit aus, zwei Eigenschaften, nach denen er sich in diesem Moment mehr sehnte, als je zuvor.

Neben ihm grummelte und bewegte sich der sauer riechende Berg aus Kleidung, Haaren und Kruste. Jerry setzte sich auf, hielt sich den Kopf, schaute Tom an und dann, wohin dieser blickte.

Er sagte nichts, verharrte nur wie Tom vor dem Bildnis der schönsten Frau der Welt in andächtigem Schweigen.

Als der Mann und sein Hund zurückkamen, meinte Tom: »Lass uns gehen.«

»Wohin?«, fragte Jerry.

»Keine Ahnung, egal.«

»Komm, wir fahrn zu Mirjam.«, sagte Jerry

»Zu wem?«

Statt einer Antwort zeigte Jerry auf das große Plakat.

Auf dem unteren Bildrand stand »Mirjam Weichelsbraun«.

»Mirjam Weichselbraun. Wer ist denn das?«

»Das ist eine Moderatorin im Fernsehen. Glaube ich.«

Jerry war Österreicher. Wenigstens auf dem Papier. Seine Eltern waren, als sie gerade volljährig waren, nach Deutschland ausgewandert und seitdem dort geblieben.

Jerry hatte also österreichisches Blut, eine unbestimmte Sehnsucht nach Bergen und frischem Gras und einen großen Traum, einen nicht gigantischen, aber bisher unerfüllten Traum, der ihn gleichzeitig irgendwie liebenswürdig und zum Ziel generellen Spotts machte: Jerry war noch nie in Wien gewesen.

Bezeichnete man ihn seit seiner Kindheit liebevoll als Quotenösterreicher oder Schluchtenkacker, kratzten alle diese Beleidigungen an seinem ausgeglichenen Wesen kein bisschen, aber der Schmerz, noch nie Wien gesehen zu haben, saß tief.

Auch wenn die Österreicher sagen, dass Wien nicht Österreich ist, ist man kein Österreicher, wenn man noch nie in Wien war.

Genauso zerrissen wie dieser Widerspruch war Jerry. Wenn er in Österreich war, versuchte er mit oberösterreichischem Akzent zu sprechen, aber der hessische Einschlag in seiner Sprache war meistens stärker.

In Deutschland haben die Österreicher nicht die stärkste Lobby, bei den meisten Bewohnern aus Austria hört die geographische Kenntnis ihres nördlichen Nachbarlandes bei München auf, und man findet mehr Bergbewohner auf Schiffen oder in der Karibik als Radtourguides, als bei den Piefkes, wie die Schluchties uns hin und wieder nennen.

Aber fangen wir vorne an. Ich bin Deutscher. Ich bin Tom. Ich erzähle gerne von mir und damit man es nicht so merkt, erzähle ich meistens in der dritten Person, dann wirkt das wie: Boah, der ist ja bescheiden, aber der hat Freunde, die so coole Sachen erleben, also muss er selbst total cool sein, auch wenn er das nicht raushängen lässt, mit dem will ich ins Bett.

Jerry ist mein bester Kumpel. Wir sind nicht zusammen aufgewachsen, wie das in so Geschichten üblich ist, und bezeichnenderweise haben wir uns auf so was ähnlichem wie dem, was wir gerade machen, kennen gelernt.

Damals nannte man das Jugendfreizeit. Jerry kam aus dem Norden, ich aus dem Süden derselben Stadt. Wir trafen uns in der Mitte und verließen das Land. So könnte man das am einfachsten beschreiben. Wir und 49 andere, aber eigentlich gab es immer nur uns. Mädchen kamen und gingen, manche Freundschaften von solchen Fahrten hielten ein paar Wochen, die Feindschaften meistens auch nicht länger, aber am Ende des Tages saßen Jerry und ich zusammen und genossen schweigend die Gegenwart des Anderen und die Abwesenheit des Restes. Wir mussten uns nicht absprechen, um gemeinsam im Jahr darauf wieder auf dieselbe Freizeit zu fahren. Und die Jahre danach auch. Vielleicht lag es an der Leere, die jeder von uns in sich fühlte, oder an dem Gefühl, dass es etwas gab, das ein Leben ohne jegliche Leere versprach, ohne zu wissen, was genau das war. Vielleicht suchten wir danach im Nachhall des Tages, wenn wir abends beieinander saßen und unsere Eindrücke sortierten. Vielleicht siebten wir in unserem Gedächtnis danach wie Goldsucher im Schlamm nach Goldkrümeln. Vielleicht haben wir es auch gefunden und uns nicht eingestanden, dass die Suche das ist, was alles lebenswert macht. Vielleicht passte Tom und Jerry auch einfach zu gut zusammen, um das zu trennen. Jedenfalls fahren wir immer wieder auf Freizeit, pardon, ich korrigiere mich, wir sind eigentlich nie wieder heimgefahren.

Wir sind unterwegs. Das ist so was wie eine Mischung aus Hobby und Lebensinhalt. Ich befürchte, der Hauptantrieb geht von mir aus und ich ziehe Jerry gerne mit rein, denn er traut sich zwar nicht so richtig, wäre aber auch gerne noch mehr unterwegs. Paradoxerweise sucht er die Frau fürs Leben. Er möchte unterwegs sein, um sesshaft zu werden, um die eine Liebe zu finden, die für ihn bestimmt ist. Daran glaubt er; dass es für jeden den perfekten Partner gibt. Wenn sie nicht nebenan wohnt, muss man sie halt suchen. Deswegen ist er unterwegs. Deswegen, und weil er eine unbestimmte Sehnsucht nach Bergen und frischem Gras hat, denn davon gibt’s in Deutschland ja nicht mehr so viel.

Der letzte Ort, an den ich ihn geschleppt habe, war ein Hotel in den Bergen in Österreich. Da hatte er eigentlich alles, eben Berge und unter der Schneedecke frisches Gras. Tiefgefroren, aber sozusagen sonnengereift frisch.

Wir arbeiteten als Skilehrer in einem Kurhotel und verbrachten die Hälfte des Frühlings auch dort, denn unser Märchenparadies aus Schnee und Eis weigerte sich beharrlich zu tauen.

Die Geschichte beginnt an dem Tag nach unserem letzten Tag im Hotel.

Am letzten Tag fuhren wir mit der Bahn und unseren Sachen, also den Skiern, Jerry hatte zwei Paar, den Skistiefeln, den Stöcken, unserer Kleidung, Verpflegung für drei Tage, zwei Flaschen Whiskey, einer Ansichtskarte von Wien aus dem Jahr 1989, einem Stoffmurmeltier und einem Koffer guter Laune ins Tal, nach Salzburg.

Salzburg ist die Geburtsstadt Mozarts, ehemals ein wichtiger Handelsknotenpunkt am Eingang der Alpen, hat eine gut erhaltene Altstadt, die fast nur aus Kirchen und Klöstern besteht, schöne Cafés, schöne Frauen und eine Kneipenzeile am Ufer der Salzach.

Tom und Jerrys Zug fuhr nachmittags in den Salzburger Hauptbahnhof ein, sie schulterten, zogen und schleppten ihr Gepäck in Richtung der Innenstadt, besetzten ein Café und beschlossen, dort erst mal zu bleiben.

Der herbeigeeilte Kellner zeigte sich am Anfang etwas irritiert, denn die beiden Helden und ihr Gepäck nahmen zusammen drei der kleinen runden Tische und beistehenden Stühle ein, aber als kultivierter Salzburger mit einer gesunden Portion Deutschenverachtung behandelte er sie einfach genauso herablassend wie alle anderen Ausländer und hoffte, sie würden bald gehen.

In der zweiten Stunde ihres Aufenthalts übersahen Tom und Jerry eine kaum wahrnehmbare Veränderung seines Tonfalls, als er seine Taktik änderte und begann, den Herren zu schmeicheln und durch höfliches Befragen über ihren geplanten Aufenthalt und weiteres Ziel versuchte, sie subtil zum Aufbruch dorthin zu bewegen.

Unseren Helden entging diese Feinheit grundlegend, sie waren beschäftigt mit planen, diskutieren, rekapitulieren und mit dem feinen Salzburger Kaffee mit dem doppelten Schuss Mozartlikör, denn ein wenig Sahne und Likör schmieren bekanntlich die Gehirnwindungen und führen zu tollen Einfällen und die beiden hatten noch keinen Schimmer, wohin sie weiter ziehen sollten.

In der dritten Stunde versuchte der Kellner, den Tisch unserer jungen Recken zu meiden und sie durch pure Ignoranz zum Gehen zu bewegen. In der vierten zeigte er selbst für unsere jungen Abenteurer sichtliche Zeichen von Nervosität, hatten die beiden doch bis dahin jeder acht Kaffees mit Likör und fünf Kurze eingenommen, und wusste er nicht, ob sie nicht vielleicht bei präsentieren der Rechnung randalieren, den Tisch umschmeißen, sich über ihr Gepäck erbrechen und zu allem Unglück das Café und somit ihn dafür verantwortlich machen würden. In der fünften Stunde begann sein Auge zu zucken und sein Chef schickte ihn nach Hause, denn er schwitzte, roch sauer und murmelte unentwegt vor sich hin, weswegen er Rechnungen falsch abschloss, seine Kollegen erschreckte und die Gäste verunsicherte.

In der sechsten Stunde bat der Chef höchst persönlich nach eingehender Beratung mit seinem Koch und zwei der Fräulein unsere beiden Streiter, das Café zu verlassen, man schließe jetzt und wolle sich um den verletzten Kellner kümmern, der bei dem Versuch, nach Hause zu gehen, über eine Stufe und mit dem Kopf in einen Pferdearsch gefallen war, und unsere beiden mutigen Forscher bezahlten ihre Rechnung, schulterten, zogen und schleppten ihr Gepäck nach draußen vor die von einem sichtlich erleichterten und leicht beschämten Chef geschlossene Tür und wussten immer noch nicht, wohin.

Jerry hatte vorgeschlagen nach Italien zu reisen, dort sei es schon wärmer, man könne sich nach den Bergen erholen, am Strand Baden gehen, den Frauen nachsehen und vielleicht auf einem Campingplatz arbeiten.

Tom hatte das Standardargument Skier angeführt, zusammen mit dem unwiderlegbaren Argument, der erste Weg müsse nach Deutschland führen, um das Gepäck und die Skikleidung loszuwerden, und wenn man da war, konnte man doch in Richtung Norden weiter, erst nach Holland, die Küste bei Den Haag soll im Frühjahr lieblich sein, und dann war da ja auch noch Amsterdam, und dann könnte man weiter nach Schweden, alle erzählten doch immer wie schön und willig die Frauen dort seien, und schwedisch war als Sprache dem Deutschen ja nun mal näher als Italienisch und Konsorten.

Schließlich hatten sie sich auf nichts geeignet und einfach getrunken und über die vergangenen Monate geredet, gelacht und gerätselt. Über die unzähligen Menschen, die sie, teils von Innen und Außen, kennen, hassen und lieben gelernt hatten, die seltsamen Wege und Gebärden eines Hotelbetriebs, die Eigenart der Bergvölker und ob man das, was sie von sich gaben, schon Sprache oder noch eine Vorstufe davon nennen konnte.

Als sie das Café verließen, es war schon dunkel, standen sie eine Weile vor der Tür und wussten nicht wohin.

»Folgen wir dem Wind«, meinte Tom poetisch und Jerry sagte: »Ich spüre keinen. Ich glaube, es ist windstill«, und sie waren wieder so weit wie vorher.

Zu ihrem Glück waren sie bereits angetrunken, und Alkohol schmiert wirklich einige besondere Windungen im Gehirn, alkoholisierte Menschen finden viel leichter mit anderen alkoholisierten Menschen zusammen als nichtalkoholisierte mit nichtalkoholisierten, und so betraten sie schon bald eine der urigen Kneipen an der früheren Stadtmauer am Rand der Innenstadt an der Salzach, stellten ihr Gepäck, das sie geschultert, geschleppt und gezogen hatten, in einer Ecke ab und begaben sich zur Bar, um endlich den Durst zu löschen, den der ganze süße Likör ihnen verursacht hatte.

Als sie an der ersten Bar jeder zwei Liter Bier getrunken und durch regelmäßige Toilettengänge den Körper wieder richtig schön durchgespült und gereinigt hatten, zogen sie eine Tür weiter in die nächste Bar, denn jetzt waren sie in der Laune, wieder mal richtig etwas zu bewegen, sich zu verändern und im Leben voran zu kommen.

Ihr Gepäck ließen sie stehen, die Menschen in Österreich sind per se anständig und herzlich, man duzt sich in den Cafés, in den Supermärkten und sogar beim Arzt, einem solchen Volk konnte man das bisschen Habe bedenkenlos anvertrauen, was sollte auch ein Österreicher mit einem Paar von Deutschen krumm gefahrenen Skiern, hatte er doch selber seit seiner Kindheit immer ein makelloses Paar im Schrank stehen, für den Österreicher an sich ein Grundausstattungselement, wichtiger noch als der Eimer mit dem geschnitzten Familienwappen zum Kühe melken oder das gerahmte Bild eines der letzten Kaiser, von Zeit zu Zeit wehmütig betrachtet, an der Wand.

Nun, Pub folgte auf Pub, Begegnung auf Begegnung. So lernten unsere Verständigungsbeamten Namibische Austauschstudenten im Irish Pub kennen, kalifornische Austauschstudenten in der Blues Bar, Deutsche Austauschstudenten in der Kellerklause, aber mit denen pflegte man kein langes Gespräch, man war ja auf Kulturaustausch, wollte in die einheimische Mentalität sich einarbeiten, am besten einziehen, denn eine Lösung für das Übernachtungsproblem war noch nicht gefunden, zwei junge Polinnen, die es geschafft hatten, noch betrunkener zu werden als unsere beiden Vorreiter im Disco Stadl und die immerhin mit sich tanzen und sich, zumindest von Tom, auch hin und wieder küssen ließen, bevor ein paar österreichische Jungs mit marokkanischer Abstammung und Wiener Dialekt ihr Recht an den Damen forderten und Tom und Jerry alleine und zu betrunken für ein neues Projekt zurück ließen, so dass diese beschlossen, ihr Gepäck zu holen und sich in der nicht allzu weit entfernten Jugendherberge in den Essenssaal oder wenigstens in den Vorgarten zu legen.

Das Gepäck war nun ebenfalls mit jemand anderem nach Hause gegangen, was unseren beiden Pionieren immerhin das Schultern, Schleppen und Ziehen ersparte, ausgenommen in Betracht auf ihre eigenen Körper, versteht sich, und so kam es, dass sie vor einem Plakat mit der schönsten Frau der Welt einen kleinen See anlegten, sich an dessen Ufern und zum Teil in dessen Wassern niederlegten und am folgenden Morgen eine Weile nach Sonnenaufgang von einem Hund wachgepinkelt wurden.

»Hey Schluchti«, rief Tom und zwinkerte, »vielleicht wohnt sie ja in Wien.«

»Ja vielleicht«, antwortete Jerry und schwieg wieder glasig. Tom räusperte sich.

»Hey Jerry, vielleicht wohnt Mirjam Weichselbraun ja in Wihien.«

»Hast du das nicht gerade schon mal gesagt?«

»Ja, aber wir sitzen immer noch hier rum in deiner und meiner Kotze. Wenn wir Fräulein Tausendschön finden wollen, brauchen wir erst mal eine Dusche und etwas anzuziehen.«

Er hielt kurz inne und brummte dann: »Und wo zur Hölle sind wir eigentlich?«

Sie blickten sich um. Zu ihrer Rechten erhob sich die Festung Hohensalzburg auf einem gewaltigen Felsendorn. Vor ihnen erhob sich ein Werbeplakat einer bekannten Supermarktkette mit Mirjam Weichselbraun darauf, aber das hatten wir ja schon.

Eine erste Standortsanalyse ergab, dass Tom und Jerry sich nicht weit, ja nicht einmal hundert Meter, von der Jugendherberge entfernt befanden. Fünfzig Meter weiter und sie hätten es geschafft, dort in den Vorgarten zu kotzen.

Sie schleppten sich auf den Eingang zu und warteten, bis eine schnatternde und unruhige Gruppe Asiaten auf ihrem ersten Europatrip die Rezeption belagerte und in Schach hielt. Sie stahlen sich am Empfangstresen vorbei, folgten den Schildern in Richtung Wohntrakt, klauten Handseife in den Klos und nahmen sie mit in die Gemeinschaftsduschräume, wo sie zumindest ihre Körper von Schmutz, Staub und Essensresten befreien konnten.

Als sie ihre Klamotten wieder anzogen, erschienen sie ihnen doppelt so widerlich wie davor.

»Warmes Bier riecht einfach eklig«, kommentierte Jerry.

»Ich finde auch, dass der Kaffee, als ich ihn das erste Mal im Mund hatte, besser geschmeckt hat als beim zweiten Mal.«, antwortete Tom.

»Hättest du es lieber, wenn Kotze einfach nur nach Kotze schmeckt, oder bist du der Meinung, dass ein wenig Geschmack den Ekel davor lindert und durchaus zu begrüßen ist?«

»Ich sage es mal so:«, sagte Tom, »das kommt unter anderem auf die Zeitspanne zwischen Einnahme und Auswurf an. Wenn du zum Beispiel am nächsten Morgen dein Abendessen auskotzt, weil du beim Frühstück so müde warst, dass du erst beim letzten Löffel gemerkt hast, dass die Milch in deinen Cornflakes schon längst verdorben und sauer war, und dann kommt durch den Cornflakesbrei so eine warme Note von Salamipizza durch, das hat irgendwie was heimisches, was vertrautes, so als würde die Salami dir zulächeln, dich in den Arm nehmen und dir sagen: ›Nicht so schlimm, ich bin’s nur.‹ Auf der anderen Seite habe ich mal Joghurt ausgekotzt, nachdem ich ihn gerade gegessen hatte, und er kam in einem langen festen Band raus und schmeckte beinahe genauso wie vorher, nur ein bisschen saurer, das war schon ziemlich eklig, und danach hatte ich eine Weile keine Lust mehr auf Joghurt.«

»Vielleicht könnte man etwas erfinden, das man zu jedem Essen einnimmt, und wenn man dann kotzt, dann schmeckt die Kotze nach einem Geschmack eigener Wahl, vielleicht macht kotzen dann ja Spaß und man kann mehr Bier trinken und trotzdem schlank bleiben.«

»Vielleicht muss man sich einfach angewöhnen, direkt nach jedem Bier aufs Klo kotzen zu gehen, dann kann man auch mehr trinken und …«

»Sag mal, könnt ihr Schweine nicht mal damit aufhören?«, meldete sich ihr Duschnachbar, der sich ebenfalls im Vorraum abtrocknete, kein Asiat und während des Gesprächs immer bleicher geworden war.

»Wieso?«, grinste Jerry ihn an. »Bist du anderer Meinung?«

»Genau«, legte Tom nach, »wonach hast du eigentlich geschmeckt als man dich ausgekotzt hat?«

Der Duschnachbar lief rot an, trocknete dabei sofort, nahm – obwohl noch nicht fertig angezogen – seine Sachen und verließ die Dusche.

»Auf jeden Fall sauer«, sagte Jerry.

2

In dem TJ auf Kurs gehen.

Frühstück ist die am leichtesten zu organisierende Mahlzeit, wenn man auf Reisen ist. In Hotels kann man bedenkenlos sein Gepäck in der Nähe des Tisches abstellen und damit signalisieren, man sei ein neuer Gast und könne noch nicht einchecken, die antrainierte Höflichkeit jedes Restaurantmitarbeiters wird ihn davon abhalten, nachzufragen.

Ebenso verhält es sich in Jugendherbergen, Hostels und anderen low-Budget Einrichtungen.

Wenn man sowieso kein eingetragener Gast ist, kann man sich in den Etablissements, die kein Frühstück dabei haben, auch mal am Gemeinschaftskühlschrank bedienen, und wenn man erwischt wird immer noch etwas stammeln wie: »Oh, hey, du das tut mir echt leid; der Paul aus Zimmer 53 hat gesagt, das sei seine Butter und ich könne mir ruhig etwas nehmen, schließlich hat er gestern mein Portemonnaie verloren, als ich ihn gebeten hatte, kurz auf meinen Rucksack aufzupassen, weil wir in die Kathedrale wollten, und die sehen das nicht so gerne, wenn man mit Taschen reinkommt, und da haben wir ihn draußen getroffen und verabredet, in Gruppen reinzugehen, aber als wir rauskamen war irgendwie nur mein Rucksack weg und Paul meinte, er hätte nur kurz mit einer von den Chicas geflirtet, und jetzt muss ich heute aufs Konsulat und bin deswegen früher als er aufgestanden, und draußen wartet mein Freund Kalle und …«.

Spätestens an dieser Stelle gibt das Gegenüber auf.

Wenn man Glück hat, ist er oder sie einer von diesen sozialen Menschen und leiht einem noch etwas Geld, das man hoch und heilig verspricht am Abend zurück zu geben.

In großen Herbergs- oder Hostelbetrieben ist das mit dem Frühstück viel einfacher. In den meisten von ihnen gibt es ein Buffet ohne Schlüsselkontrolle.

Man muss einfach etwas zerknautscht und nach wilder Partytour am Vorabend aussehen, dann schauen die Menschen hinter dem Tresen geübt angeekelt, damit man auch nicht vergisst, dass man zum Abschaum der Welt gehört, und sind froh, wenn das Gesicht mit dem Teller sich mit ein paar Brotscheiben und etwas Rührei wieder verzieht.

Der andere Vorteil an diesen Betrieben ist, dass sie jeglicher Sorge über die Wahl des Lebensmittels entheben.

»Was hast du dir genommen?«, fragte Tom Jerry.

»Ich glaube, das soll Brot sein, dunkelgelbe Butter oder vielleicht auch Schweinefett, Marmeladenersatz, und diese Birne wollte eigentlich ein Apfel werden und ist über die nicht statt gefundene Verwandlung extrem verbittert. Und du?«

»Rührei aus Eiersatz, oder vielleicht haben sie gestern den Abzug gereinigt und das ist, was dabei raus kam. Und diese Cornflakes … ich weiß nicht … ich glaub, das sind Zombies. Zombieflakes. Trocken, staubig und leblos.«

»Lass mal probieren.«

Tom reichte ihm einen Löffel.

»Hm, schmeckt ein bisschen wie mein Brot. Oder was immer es vor seinem Tod war.«

Tom und Jerry aßen weiter und machten Scherze über ihr Essen.

Sie saßen an einem der Fenster, durch die Sonnenlicht in den Innenraum und auf ihr Zombieessen fiel. Über ihnen hingen Bildschirme, auf denen die nervtötenden Schnitte von MTV Clips und anderen hippen Sendern liefen. Zu viele Farben für einen solchen Morgen.

Tom bemühte sich dennoch, immer aufmerksam zu verfolgen, was gerade auf den Bildschirmen geschah. Vielleicht sah er ja Mirjam.

»Sag mal Schluchti«, setzte er an, »bei welchem Sender arbeitet unsere Prinzessin eigentlich?«

»Keine Ahnung.«

»Gut, das ist schon mal ein Anfang. Hattest du dein Geld eigentlich im Gepäck oder ist es noch da?

»Das meiste im Gepäck. Und du?«

»Versoffen.« Jerry erstarrte. »Du hast den ganzen Lohn eines halben Jahres an einem Abend versoffen?«

»Nein, nein«, beruhigte Tom ihn, Jerry entspannte sich wieder, »das meiste habe ich schon im Hotel ausgegeben.«

Jerry hatte erleichtert von seinem Brot abgebissen. Er wollte gerade schlucken, aber der Bissen schaffte es nur bis kurz hinter den Rachen.

Während er erst rot anlief und dann blau und wild um sich schlagend den Bissen wieder hochwürgte, trank Tom seinen Tee und fragte sich, warum Jerry so einen Aufstand machte.

Als er das Gefühl hatte, dass der andere wieder Aufmerksamkeit für ihn übrig hatte, sagte er: »Mensch, kannst du nicht vielleicht ein bisschen weniger dramatisch sein? Ich würde gerne nicht so sehr auffallen.«

»Weniger dramatisch?!«, Jerry schrie fast und hustete noch ein bisschen nach. »Ich ersticke hier und du gibst mehrere tausend Euro aus, um dir die Birne zuzuballern, und jetzt sitzen wir hier und haben kein Geld mehr übrig und alles was du sagen kannst ist, ich soll weniger dramatisch sein.« Tom sah ihn an. »Sag mal, red ich chinesisch? Du schreist schon wieder.«

Jerry ließ sich in seinem Plastikstuhl gegen die Lehne sinken.

Mittlerweile schauten die Bewohner an den anderen Tischen zum Teil verstohlen, zum Teil unverhohlen zu ihnen herüber.

Ein Koreaner machte ein Foto von ihnen und beriet sich danach mit seinen Tischkollegen, was er eigentlich abgelichtet hatte.

»Jetzt reg dich ab«, lenkte Tom ein, »da war letzte Woche diese Aerobicgruppe, Tigerobics oder so, irgendwie musste ich die Mädels ja bei Laune halten. Und dann noch der Ausflug mit Jenny aus der Küche und die beiden Holländerinnen…«

Jerry hörte nur mit einem Ohr zu. Er kannte Toms Frauengeschichten.

»Bist du wenigstens zum Stich gekommen?«, fragte er.

»Na ja, … zum Teil …«

»Kerle noch eins, ich sag’s dir immer wieder: Zuerst muss die Frau dir was geben, dann lädst du sie ein!«

Sagt Mr. Sexless, dachte Tom, sagte aber nichts. Dass Jerry ziemlich undersexed war, lag nicht daran, dass er nicht gekonnt hätte, wenn er denn mal gewöllte. Aber er wollte nicht oder nicht mit jeder. Oder nicht mit jeder, die nicht perfekt war. Na ja, jetzt war da ja Mirjam. Ein Hoch auf computerbearbeitete Bilder.

»Egal«, Jerry beschloss, das Thema zu wechseln, »wie viel haben wir noch?«

»Ich hab vielleicht noch fünfzig Euro. Und du?«

Jerry kramte die letzten Scheine und Münzen in seinen Taschen zusammen. »Siebenundneunzig Euro dreiundfünfzig und etwas Kopfweh.«, sagte er.

»Hey, Kopfweh hab ich auch, wenn wir zusammenlegen sind wir reich«, raunte Tom zurück.

Jerry musste grinsen, auch wenn’s weh tat.

Sie verließen die Herberge und fragten sich zur lokalen Touristeninformation durch. Jerry trug ein buntes T-Shirt, auf dem die Kotzflecken der vergangenen Nacht weniger auffielen, daher einigten sich die beiden darauf, dass er hineingehen und fragen sollte. Außerdem sprach er ja die Landessprache.

Als er an der Reihe war und an den Tisch, hinter dem eine korrekt gekleidete Dame in ihren frühen Fünfzigern saß, trat, warf er ihr ein alpenhaft-joviales »Ja Servus« zu, worauf sie ein förmliches »Guten Tag« zurückschlug.

Dadurch aus dem Konzept gebracht stammelte er: »Ja, mei, was für a schönes Wetter da draußen«, was sie nur mit einem schrägen Blick quittierte und keinerlei Antwort für würdig hielt.

Vor seinem inneren Auge sah Jerry das gesamte Taktikgebäude zusammen brechen, das Tom und er entwickelt hatten.

»Wir gehen – also, du gehst einfach rein und fragst direkt, ob man das Haus von Mirjam Weichselbraun in der Stadt besichtigen kann. Dabei musst du ihr Gesicht genau beobachten. Wenn sie leicht zuckt und dann sagt, sie wisse nicht, wo das ist, lügt sie und weiß genau, wo es steht, will es dir aber nicht verraten. Dann musst du ihr weiter zusetzen und sagen, du wüsstest aus vertraulicher Quelle, dass ihr Haus in Salzburg sei, aus sehr vertraulicher Quelle, das musst du betonen, und wenn sie dann schluckt, dann hast du sie. Dann legst du einen Arm auf ihren Tresen, damit signalisierst du ihr unterbewusst, dass du bereit bist, in ihren Bereich einzudringen, hab ich mal in einem Buch über Körpersprache gelesen, und schaust ihr tief in die Augen, dann fängt sie an zu schwitzen und spätestens nach zehn Sekunden bricht sie zusammen und verrät dir alles was du willst.« Jerry fragte sich, an welcher Stelle seines Lebens Tom seine großen geistigen Schäden erlitten hatte.

»Ich geh einfach rein und frag sie.«