Wir verlieren unsere Kinder! - Silke Müller - E-Book
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Wir verlieren unsere Kinder! E-Book

Silke Müller

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Beschreibung

Nicht die Dauer der digitalen Medien-Nutzung ist das Problem, sondern die Inhalte, die Kinder konsumieren. Schon Grundschüler sind Bildern von Gewalt, Pornographie und Rassismus ausgesetzt. Eine Schulleiterin schlägt Alarm! "Wissen Sie, was Ihr Kind auf seinem Smartphone sieht?" Diese Frage stellt Silke Müller ahnungslosen Eltern auf Infoveranstaltungen ihrer Schule. Die Fotos, Sticker und Videos, die sie dann zeigt, sind so verstörend, dass kaum jemand hinsehen kann. Die meisten Eltern gehen davon aus, Medien-Erziehung bedeutet, die Bildschirmzeit zu begrenzen - und haben keine Ahnung, dass schon Kinder Bilder bestialischer Tierquälereien, Kriegsverbrechen und sexueller Gewalt sehen. Verschickt im Klassenchat. Mit dramatischen Auswirkungen auf ihre Psyche. In diesem wichtigen Debattenbuch klärt Silke Müller auf über die digitalen Bedrohungen, denen Kinder ausgesetzt sind, wenn sie Zugang zu Smartphones haben. Sie appelliert an Eltern, Lehrer*innen und die Politik, nicht länger wegzusehen, sondern endlich die Grundlagen zu schaffen für eine zeitgemäße, an Werten orientierte Medien-Erziehung. Der Anstoß einer Debatte, die längst hätte geführt werden müssen. Mit wertvollen Informationen und praktischen Tipps, mit welchen technischen und pädagogischen Mitteln wir unsere Kinder schützen können.

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Silke Müller

Wir verlieren unsere Kinder!

Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Medienkompetenz ist in vielen Schulen und Familien noch immer ein Fremdwort. Doch seitdem schon Grundschüler*innen über Smartphones verfügen, hat sich eine alarmierende Dimension aufgetan: Neunjährige sehen Bilder von Suiziden, von Kriegsverbrechen oder bestialischen Tierquälereien auf ihren Handys. Verschickt im Klassen-Chat oder auf Social Media geteilt. Die Eltern: ahnungslos. Die Schulleiterin Silke Müller appelliert an Eltern und Politik, nicht länger wegzusehen, sondern endlich die Brisanz und Gefahr, die von sozialen Netzwerken für Kinder, Jugendliche und letztlich auch für die Gesellschaft ausgehen, zu erkennen. Für alle braucht es dringend eine zeitgemäße Medienkompetenz.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

1. Warum dieses Buch?

2. Schuld ist doch nur die Digitalisierung?!

Wo wollen wir eigentlich hin in der digitalen Schulentwicklung?

3. Eine Reise in den medialen Alltag von Kindern und Jugendlichen – was wir nicht sehen (wollen)

Acht Fälle aus dem Schulalltag

Fall 1: Die Dickpic-Challenge

Fall 2: »Wollen Sie mal sehen, was heute Morgen im Bus geairdroppt wurde?«

Fall 3: »Sticker sind doch keine Aufkleber«

Fall 4: »Kennen Sie eigentlich das Video mit den Welpen?«

Fall 5: »Dinge, für die ich blowen würde«

Fall 6: »Jeder verschickt doch diese Hitler-Memes«

Fall 7: »Er hat eine Bildschirmaufnahme gemacht, und jetzt kennt jeder dieses Video«

Fall 8: »Aber das Foto ist wirklich nur persönlich für dich«

Ein Fazit aus meiner täglichen Begegnung mit besorgniserregenden Fällen in sozialen Netzwerken

4. TikTok und Co. – Fluch und Segen

Schule? Kennt doch jeder!

Die Social-Media-Sprechstunde

Weil jeder Like zählt – gestörte Fremd- und Selbstwahrnehmung

Trends und Challenges

Fake, aber was soll’s – Manipulation im Netz

Cybergrooming – Alltag in Kinderzimmern

Rasante Entwicklung im Netz

Das Märchen vom heilenden Smartphone-Verbot

5. Was es jetzt braucht: Zuhören, sehen, einordnen, handeln

Ideen und Tipps für den Alltag

Interview mit dem Cyberkriminologen Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger

6. Schlussgedanken

Dank

Für Svenja und Jessica und für eine Generation, die schon bald die Verantwortung für unsere Welt übernehmen muss.

Für alle Kinder und Jugendlichen in unserer Welt. Sie haben es verdient, unbeschwert, glücklich und beschützt aufzuwachsen – im realen Leben und in der digitalen Welt.

Vorwort

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Handy? An die Zeit, in der man zum Verfassen einer Nachricht gefühlte Minuten brauchte, weil man Texte mit dem Worterkennungssystem T9 in das kleine Display eingeben musste, und in der eine Nachricht zwanzig Cent kostete?

Vor Kurzem fiel mir eines dieser Modelle durch Zufall wieder in die Hände, und prompt kehrten all diese Erinnerungen zurück – wie auch bei meinen Freunden und Kolleginnen und Kollegen, denen bei ebenjenen Gedanken ein kleines Lächeln über das Gesicht huschte. Mit diesen Geräten verbinden wir so vieles: Jugend, technische Entwicklung, cool sein und eine fantastische Vereinfachung der Kommunikation.

Ich konnte es mir nicht verkneifen und nahm dieses Handy an einem Montagmorgen mit in die Schule. Auf den Fluren in der großen Pause begegneten mir drei Achtklässlerinnen, die ich fragte, ob sie mein neues Handy sehen wollten. Ohne die Antwort abzuwarten, streckte ich ihnen das Wunder meiner Jugend entgegen. Amüsiert begannen die etwa dreizehnjährigen Mädchen zu lachen und versuchten, mir mit dem Kommentar »Richtig cool, Frau Müller« humorvoll zu schmeicheln. Wie aus einem Mund fragten die drei dann allerdings im Anschluss, wie ich denn damit nun Fotos und GIFs verschicken wolle. Meine Antwort »Na gar nicht« erntete nur ein mitleidiges »Okay, krass«.

Natürlich nahmen weder die Mädchen noch ich das Gespräch wirklich ernst, sondern machten uns einen Spaß aus der Sache. Auch wenn ich Schülerinnen und Schülern davon berichte, dass ich mein erstes Handy im Alter von siebzehn bekommen habe und mein Bruder einer der Ersten in unserer Straße war, der bei Studienbeginn einen Computer mit Internetzugang besaß, wird das mit Ungläubigkeit und Mitleid quittiert. Und das Geräusch eines quietschenden und rauschenden Modems, das uns an frühere Zeiten erinnert und sofort zwanzig Jahre zurückversetzt, kennen die Kinder heute eher nicht mehr. Eine Welt ohne dauerhaften Zugang zum Internet ist für sie schlichtweg nicht vorstellbar.

So ist es keine Überraschung, dass ich auf der Begrüßungsfeier an unserer Schule auf meine Frage, wer von den neuen Fünftklässlerinnen und Fünftklässlern ein Smartphone hat, fast durchweg erhobene Zeigefinger sehe. Im Anschluss möchte ich von den Kindern, die zehn oder elf Jahre alt sind, jeweils wissen, wer sein Smartphone denn zum Schlafengehen bei den Eltern abgeben muss. Von Jahr zu Jahr bin ich ehrlich gesagt entsetzter, weil die Zahl der Finger, die ich hier als bestätigende Antwort sehe, immer geringer wird.

Darüber, liebe Leserinnen und Leser, müssen wir ebenso ins Gespräch kommen wie über die dunklen und gefährdenden Welten, in die unsere Kinder mittels Smartphones, Tablets und Co. eintauchen. Wir müssen gemeinsam hinschauen. Wir müssen erkennen, dass wir unsere Kinder verlieren, wenn wir sie in diesen Welten weiterhin fahrlässig allein und unbeschützt lassen. Es geht mir dabei nicht um ein Verteufeln des Internets und der sogenannten sozialen Netzwerke wie WhatsApp, Instagram und Co. Es geht mir nicht um ein Verbot der Nutzung von Plattformen wie TikTok, YouTube oder ähnlichen durch Kinder und Jugendliche. Im Gegenteil: Als erste Niedersächsische Digitalbotschafterin und als Schulleiterin einer Schule, die bundesweit für ihre digitalen Schulentwicklungsprozesse bekannt und beispielgebend ist, setze ich mich täglich innerhalb der Schulfamilie und öffentlich in unserer Gesellschaft für die schnelle und gewinnbringende Fortentwicklung der Digitalisierung in allen Bereichen ein. Gleichzeitig aber kämpfe ich für Anstand, Moral und Mitmenschlichkeit, die uns zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesen Entwicklungsprozessen verloren gegangen zu sein scheinen. Vielleicht sind wir irgendwann falsch abgebogen. Es wird Zeit, dass wir auf einen guten Weg zurückfinden. Für unsere Kinder, für ihre Zukunft, für unsere Zukunft.

Dieses Buch soll dabei helfen, einen reflektierten und für unsere Kinder gesünderen und vor allem sichereren Umgang mit den digitalen Medien zu finden; durch unverstellte Blicke in eine Welt, wie sie im Netz, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Medienkompetenz vieler von uns, an vielen Stellen entstehen konnte. Durch Konfrontation mit einem Alltag, den wir nicht sehen wollen, und durch Ideen, wie wir die Kinder besser an die Hand nehmen können, damit sie diese Netzwelt in Zukunft zu einem besseren Ort machen.

1.Warum dieses Buch?

Ein Brief an alle, denen Kinder und Jugendliche wichtig sind

»Ich halte das nicht mehr aus, Frau Müller. Jeden Tag schreiben die mir Sachen wie ›Du billige Bitch, wärst du doch nur schon im Bauch deiner Mutter verreckt‹, und mein Video taucht immer wieder irgendwo auf. Keiner hilft mir. Ich will die Schule wechseln. Am liebsten wär ich tot.« (Isabell, 14 Jahre)1

Niemals wieder werde ich diesen Satz vergessen …

Sie fragen sich, welche Geschichte hinter diesem Zitat steckt? Um was es eigentlich geht? Was Isabell schildert, entspricht dem Alltag vieler Kinder und Jugendlichen, deren Welt sich so sehr von der unserer Kindheit und Jugend unterscheidet und uns große Sorgen machen sollte.

 

»Wir verlieren unsere Kinder« – ein Titel, der Angst macht? Ein Titel, um Aufmerksamkeit zu erregen? So zumindest werden möglicherweise Kritiker reagieren, denen dieses Buch in die Hände fällt. Kritiker, die den Vorwurf erheben, ich würde damit all denjenigen in die sprichwörtlichen Karten spielen, die Digitalisierungsprozesse in Schulen, aber auch gesamtgesellschaftlich als bedenklich bewerten. Es geht in diesem Buch weder um das Schüren von Ängsten noch um Kritik an Digitalisierungsprozessen. Vielmehr sollen meine Ausführungen als Unterstützung, Aufklärung, vor allem aber Weckruf verstanden werden, um unsere Kinder in einer zunehmend digitalen Welt vor Angriffen aus dem Netz und in sozialen Netzwerken besser zu schützen, als wir es bislang tun.

Liebe Eltern, Lehrkräfte, Politiker, Menschen, denen das Wohl von Kindern am Herzen liegt!

Ich bin eine Verfechterin des digitalen Arbeitens an Schulen, um Kindern die Schlüsselqualifikationen für eine digitale Welt an die Hand zu geben. Digitale Bildung, eine für mich fürchterliche Wortschöpfung, derer ich mich leider von Zeit zu Zeit selbst bediene, gibt es in meinen Augen nicht. Es gibt Bildung mit Blick auf eine immer digitaler werdende Welt. Dabei gilt es, den Fokus richtig zu setzen und eben wirklich zu bedenken, welche Schlüsselqualifikationen benötigt werden, um in dieser Welt zu bestehen. Respekt, Toleranz, Verständnis, Gemeinschaft, Courage. Nie waren diese Punkte wohl wichtiger als heute. Nie haben wir unsere Kinder damit aber auch mehr allein gelassen, weil wir tatenlos zugesehen haben, wie im Netz eine Welt entstehen konnte, die teilweise an Unmenschlichkeit, Hass, Intoleranz und Verrohung nicht zu überbieten ist. Nicht unsere Kinder tragen Schuld an dieser Entwicklung, sondern wir, die es schlicht versäumt haben, ethische Werte und Normen für einen Umgang miteinander im Netz auszuhandeln.

Es geht hier also nicht darum, Aufmerksamkeit durch Angst zu erzeugen. Es geht vielmehr darum, endlich aufzuwachen.

 

Ich fahre jeden Morgen an den schönsten Ort der Welt. Ich liebe meinen Beruf. Ich arbeite mit den wichtigsten Menschen dieser Welt. Ich arbeite an einer Schule.

Als Schulleiterin einer niedersächsischen Oberschule habe ich das große Glück, dass ich an jedem Tag etwa 850 Kindern und Jugendlichen beim Heranwachsen zuschauen und sie dabei begleiten darf. Auch wenn das System Schule in der aktuellen Zeit vielen Anstrengungen und Herausforderungen ausgesetzt ist und auch wenn der Lehrerberuf immer deutlicher an Attraktivität zu verlieren scheint, so ist Schule für mich nach wie vor der Ort, an dem wir gemeinsam Meilensteine für die Zukunft setzen. Der Ort, an dem wir all die wunderbaren und einzigartigen Jungen und Mädchen – oder wie man bei uns in Niedersachsen gern mal sagt, »Jungs und Deerns« – auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten dürfen und ihnen Kompetenzen und das Rüstzeug mitgeben, um selbstbewusst Verantwortung für die Gestaltung unserer Gesellschaft übernehmen zu können. Dafür muss sicher nicht jeder später ein politisches Amt oder die Leitung eines großen Unternehmens übernehmen, bei der Vorbereitung auf das Leben geht es doch vielmehr auch darum, Gesellschaft im Kleinen mitgestalten zu können – sei es im Freundeskreis, in der Familie, im Sportverein, im eigenen Betrieb oder in der eigenen Arbeitsstelle.

Der eigentliche Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schulen bezieht sich von jeher auf die Lebensumwelt der Kinder. Hier holen wir die Kinder ab, möchten ihnen Mut machen und ihnen zeigen, wie sie einen erfolgreichen Weg einschlagen können. Aber nicht nur wir Lehrkräfte und Schulleitungen tun das, sondern auch Elternhäuser, Erziehende, Trainerinnen und Trainer, Großeltern. Alle, die Kontakt zu Kindern haben, sollten sich als oberstes Ziel setzen, ihnen durch Vorbild, Beispiel, ein offenes Ohr, das Zusprechen von Mut und das Wecken von Neugier Flügel für die Zukunft zu verleihen.

Allerdings frage ich mich von Tag zu Tag mehr, ob wir hierbei gerade gesellschaftlich eklatant versagen und scheitern. Holen wir die Kinder noch in ihrer Lebenswelt ab? Verstehen wir diese, ihre Welt überhaupt oder vielmehr, wollen wir sie überhaupt verstehen?

Vielleicht teilen Sie meine Wahrnehmung, dass unsere Gesellschaft egoistischer und dünnhäutiger geworden und nicht mehr so resilient ist, wie sie es vielleicht einmal vor vielen Jahren war. Mindestens aber ist sehr deutlich, dass die Pandemie, der Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Klimakrise und all die aus diesen Krisen resultierenden Folgen für uns und bei uns deutliche Spuren hinterlassen.

In meinen Augen verlieren wir bei all der Ich-Zentriertheit zudem das Wichtigste aus den Augen, was wir haben: unsere Kinder! Wir beschweren uns über die »verwöhnte Jugend«, die nur noch faulenzt, neudeutsch chillt, auf dem Handy »daddelt« und scheinbar an nichts mehr interessiert ist. Aber vielleicht müssten wir uns einmal selbst fragen, wer denn die Kinder verwöhnt. Wer kauft ihnen bereits im frühkindlichen Alter das erste Smartphone, den neuesten Gaming-PC oder die aktuelle Spielekonsole? Wer lässt sie stundenlang im Kinderzimmer hocken, weil man genervt ist von endlosen Diskussionen über eine angemessene Freizeitgestaltung, hat man doch schließlich selbst täglich genug eigenen Stress? Und wer hat möglicherweise versäumt, Kindern Anreize für genau diese freie Zeitgestaltung zu geben? Die Antworten auf diese Fragen dürften auf der Hand liegen, auch wenn es unangenehm ist: Es sind wir Erwachsenen!

Die ureigenste Aufgabe von Erwachsenen ist es doch, die eigenen, aber auch die Kinder insgesamt beim Heranwachsen zu begleiten und sie vor Gefahren zu beschützen. Und genau hier versagen wir in meinen Augen. Während manche Eltern wie Helikopter um ihre Kinder kreisen, sie am liebsten mit dem Wagen in den Klassenraum fahren würden, damit auf dem Schulweg bloß nichts passiert, während nach Schuldigen gesucht wird, wenn mal ein Tag nicht so gut gelaufen ist, Ärger ins Haus steht und direkt in der Schule angerufen wird – nicht etwa, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen, sondern vielmehr, um Vorwürfe loszuwerden –, während auf dem Handy für viele Eltern eine Ortungs-App dazugehört und die neuesten Brands den Kleiderschrank der Kinder füllen, vergessen wir, die Kinder in ihrer realen Lebenswelt, die sich zu großen Teilen aus Likes, Swipen (früher sagten wir noch »wischen«), Kurznachrichten, Selfies und Ähnlichem definiert, wirklich zu begleiten und zu beschützen. Wir schicken sie sprichwörtlich mit dem Kinderfahrrad auf eine viel befahrene Autobahn und glauben, dass der TÜV-geprüfte Fahrradhelm, der teuer angeschafft wurde, sie vor Unfällen bewahrt. Die Autobahn, auf der unsere Kinder und Jugendlichen aber täglich unterwegs sind, ist gefährlicher und zerstörender, als wir erahnen. Das Verhalten von Menschen im Netz und in sozialen Netzwerken, also diese Datenautobahnen, ist ein folgenschwerer Angriff auf unsere Kinder. Und wir alle schauen noch immer nicht wirklich hin und meinen, dass eine eingeschränkte Bildschirmzeit, ein Filter auf der FritzBox oder ein Smartphone-Verbot Medienerziehung und Schutz darstellen. Selten lagen wir wohl in der Erziehung so falsch wie mit der Annahme, diese Maßnahmen würden wirklich helfen.

Inhalte bei WhatsApp, Instagram, Snapchat, TikTok und Co. interessieren uns im Grunde nicht wirklich. »So schlimm kann es ja nun auch nicht sein«, »Jeder ist ja irgendwie bei sozialen Netzwerken unterwegs«, »Ist ja das Netz, nicht das echte Leben«. Nachrichten von Hasskommentaren, die sich gegen Menschen richten, die möglicherweise offen ihre Meinung äußern, nehmen wir wahr, aber beschäftigen uns doch eigentlich nicht weiter damit. Dass sich im Sommer 2022 eine junge Ärztin aus Österreich aufgrund all des Hasses, der ihr wegen ihres Einsatzes in der Coronakrise entgegenschlug, das Leben nahm, hören wir womöglich als Randnotiz. Aber bewegt ein solches einzelnes Schicksal wirklich noch viele von uns? »Das Netz ist eben das Netz, das Leben wird immer noch analog gelebt, und da müssen wir schließlich unsere Kinder erziehen.« Wie oft höre ich täglich – auch hinter vorgehaltener Hand – diese und ähnliche Sätze.

Warum also nun dieses Buch? Gibt es nicht bereits ausreichend Literatur mit Hinweisen, Tipps und Informationen zum Aufbau von Medienkompetenz, zum Thema Medienerziehung allgemein? Berichten Medienpädagoginnen und -pädagogen und verschiedene Initiativen nicht in Vorträgen, auf ihren Blogs und auf Homepages ausführlich über das Thema Sicherheit im Netz? Doch, natürlich tun sie das. In diesem Buch aber geht es mir nicht in erster Linie darum, Tipps und Tricks zu formulieren. Es geht mir nicht um die Deutung von Statistiken und wissenschaftlichen Abhandlungen. Es geht mir um einen Weckruf. Einen Hilferuf. Darum, dass wir endlich begreifen, wie wenig wir unsere Kinder vor der täglichen Gewalt, Brutalität, dem Psychoterror und Unmenschlichen im Netz beschützen, und dass wir sie so zu verlieren drohen.

Schon in diesem Brief an Sie, die Sie mit Kindern und Jugendlichen befasst sind und denen deren Wohl am Herzen liegt, bitte ich Sie inständig, dieses Buch nicht nur zu lesen, sondern vielmehr für Ihr zukünftiges Handeln Konsequenzen daraus zu ziehen und vor allem hinzusehen. Wir müssen sehen, was die Kinder sehen.

Ich werde Sie in diesem Buch mitnehmen auf eine Reise durch den Alltag einer Schule, die bundesweit für ihre Arbeit an Digitalisierungsprozessen und insbesondere für ihren Fokus auf den Aufbau einer digitalen Ethik bekannt ist. Ich werde Ihnen alltägliche Fälle aus der Schule, aber auch aus der häuslichen Freizeit schildern, die so oder ähnlich an jeder Schule und in jeder Schulform und vor allem in jedem Kinderzimmer vorkommen. Dabei habe ich die geschilderten Fällen verfremdet und zum Schutz und zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte jedes Einzelnen die Namen verändert.

Die Bilder, die in Ihren Köpfen entstehen, dürften erschreckend genug, wenn auch im Vergleich zur Realität noch harmlos sein. Ich möchte Ihnen dringend ans Herz legen, sich parallel zur Lektüre dieses Buches ein Profil in Netzwerken wie TikTok, Instagram und Co. zuzulegen, um durch die gezielte Suche nach Trends und Schlagwörtern zu sehen, was viele unserer Kinder jeden Tag sehen, ob mit Freunden oder allein im Kinderzimmer.

Es handelt sich bei den Berichten im Buch nicht um Ausnahmen oder konstruierte Fälle, sondern um das echte, tagtägliche Leben unserer Kinder und Jugendlichen, vor dem wir allzu oft die Augen verschließen und damit in der Begleitung der Kinder, in unserer Erziehung und vor allem im Beschützen kläglich scheitern.

Unsere Kinder sind die Generation der Hoffnung – unserer Hoffnung und unserer Zukunft. Wir müssen sie gemeinsam befähigen, dieser immer mehr aus den Fugen geratenen Welt die Stirn zu bieten und vor allem in der analogen und der digitalen Welt (die man eigentlich gar nicht mehr so voneinander trennen dürfte, weil virtuelle Welten längst zum normalen Alltag menschlicher Kommunikation und auch Emotion gehören) mitmenschlich zueinander zu sein. Wir müssen ihnen dabei helfen, es gut zu machen. Besser als wir.

2.Schuld ist doch nur die Digitalisierung?!

Bevor wir gleich abtauchen in den realen Alltag der Kinder und Jugendlichen, möchte ich zunächst aufräumen mit dem altbekannten Vorwurf: »Die Digitalisierung – auch an Schulen – ist doch schuld an der Entwicklung unserer Jugend.« Das ist viel zu einfach gedacht, und so leicht können und sollten wir es uns nicht machen. Nicht, wenn uns Kinder und Jugendliche tatsächlich wichtig sind.

Wir sollten uns vielmehr die Mühe machen und vor allem die Zeit nehmen, einmal aus der Perspektive der Schulen, aber auch aus jener der Elternhäuser und der Politik darauf zu schauen, in welchem Dilemma sich unsere gegenwärtige Gesellschaft samt Bildungseinrichtungen befindet. In einem Dilemma, das möglicherweise mit dafür verantwortlich ist, dass wir Gefahr laufen, unsere Kinder im Heranwachsen zu verlieren. Zu verlieren in einem Alltag, der geprägt und durchzogen ist von einem Leben in virtuellen Welten, die längst real geworden sind. Das aber begreifen wir anscheinend nicht. Genau deswegen lohnt sich ein Blick auf uns und auf die Verantwortung, die wir selbst für das ungeschützte Abtauchen der Kinder und Jugendlichen in virtuelle Welten tragen, bevor wir allein dem Internet und der viel beschworenen Digitalisierung die Schuld dafür geben.

Wie oft höre ich nach Vorträgen oder Diskussionen den Satz, es sei doch sicher genauso wichtig oder noch wichtiger, dass die Schülerinnen und Schüler endlich mal wieder vernünftig Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Es würde einfach zu viel »herumgedaddelt«, und auch die Lehrerinnen und Lehrer würden sich nicht genug mit Technik und dem Netz auskennen.

Selbstverständlich sind die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens wichtig, vielleicht sogar wichtiger als je zuvor. Insbesondere sinnerfassendes und reflektiertes Lesen befähigt uns doch, kritisch zu hinterfragen und über Sachverhalte nachzudenken. Aber auch auf einem Tablet oder einem Laptop lesen die Kinder, sie schreiben, oftmals sogar mit einem digitalen Stift, und sie rechnen. Und natürlich müssen wir von Lehrkräften erwarten, dass sie sich stets zu neuesten inhaltlichen und technischen Erkenntnissen fort- und weiterbilden. Nur braucht es dazu Zeit, Ressourcen und Angebote, was alles noch immer zu wenig vorhanden ist.

Die Welt von heute und morgen ist digital, ob wir das nun gut finden oder nicht. Wir können das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen. Künstliche Intelligenz wird unsere Gesellschaft stärker verändern, als wir es in unserem Scheuklappenalltag wahrhaben wollen. Digitalisierungsprozesse per se infrage zu stellen und zu verteufeln, ist in meinen Augen komplett realitätsfern und nahezu fahrlässig.

Klar infrage stellen möchte ich aber, ob das bisherige Schulsystem, in dem digitale Entwicklung vielerorts noch immer nur eine unliebsame und gleichsam erzwungene Ergänzung zum normalen Schulleben und den tradierten Lehrplänen darstellt, den Herausforderungen einer sich zunehmend verändernden Gesellschaft noch gerecht wird. Und hier ist meine Antwort ein deutliches Nein.

Unser Schulsystem hat seit etwa zweihundert Jahren in seiner jetzigen Form Bestand. Es diente der Wissensvermittlung zu Zeiten der Industrialisierung und der Aneignung von Fähigkeiten, dieses Wissen umzusetzen. Auch heute noch wird Schule oft so gelebt: Lehrkräfte unterrichten Kinder in unterschiedlichen Fächern. Sie vermitteln ein bestimmtes, fachbezogenes Wissen. Interdisziplinäres Arbeiten ist noch immer außergewöhnlich. Lehrpläne geben Inhalte vor, die in Deutschland 16-mal anders gestaltet sind. Jedes Bundesland zelebriert für sich dabei den besten Lehrplan. Sechzehn Schulgesetze sind gleichzeitig Anker, Richtung und Halt für das System. Kinder verlassen die Schule mit einem mittleren Schulabschluss oder dem Abitur, sie gehen weiter zur Schule, in die duale Berufsausbildung oder an die Universität. Manche Kinder scheitern im System, müssen durch begleitende Maßnahmen einen längeren Weg bis zum Schulabschluss gehen. Eigentlich doch alles so weit, so gut, wäre da nicht die Erfindung des Internets – ein kleiner, ironischer Einschub sei mir an dieser Stelle erlaubt: Es ist ein Internet für die ganze Welt und nicht 16 Internets (vermutlich hat das Wort »Internet« nicht einmal ein grammatikalisch korrektes Plural) für ein einziges Land.

Plötzlich steht also mit der Erfindung des Internets jedem Menschen (sofern er Zugang zum Netz hat) das Wissen der Welt uneingeschränkt, aber vor allem auch ungeprüft auf einen Wahrheitsgehalt hin zur Verfügung. Und ebenso plötzlich entsteht das Phänomen einer »eigenen Wahrheit«.

Während Schulbücher oft noch einen tradierten, aber eben nicht immer aktuellen Wissensstand anbieten, so ist es nun ein Leichtes, im Netz für jedes Wissen eine entgegengesetzte Theorie zu finden. Ob diese Theorie dabei auf einer bloßen Meinung ohne stützende Fakten beruht, ist scheinbar vollkommen egal. Es geht vielmehr um die Anzahl der Unterstützer, die Vehemenz der Vertreterinnen und Vertreter dieser Theorie und die Aggressivität der Verbreitung – und schon wird aus einer bloßen Meinung vermeintliches Wissen.

Die Artikel der allseits bekannten Wissensplattform Wikipedia sind redaktionell veränderbar, mittlerweile kann jeder Mensch seine eigene Internetseite mit seinen eigenen Inhalten kreieren, und nicht zuletzt seit der Coronapandemie und dem Krieg in der Ukraine wissen wir, wie manipulierbar und steuerbar Nachrichten sind.

Soziale Netzwerke ermöglichen seit den frühen 2010er-Jahren noch dazu einen weltweiten Austausch von Meinungen, Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken. Ungefiltert, kaum reguliert, 24/7 erreichbar. Verabredungen über Messengerdienste (und ein ritualisiertes Zuspätkommen, weil man ja nur eine kurze Nachricht mit »Komme gleich« schicken muss) sind genauso selbstverständlich geworden wie das Mailen im Betrieb, das Arbeiten mit Cloud-Diensten und Online-Software und das Erstellen und Veröffentlichen von Tutorials für beinahe jedes Problem. Als ich beispielsweise einmal nicht wusste, wo ich die Batterie meines Pkws finde, konsultierte ich YouTube und hatte sofort die Antwort via Videoanleitung.

Nicht zuletzt seit Ende des Jahres 2022 stellt uns der Chatbot ChatGPT vor völlig neue Herausforderungen. Dieser Bot schreibt nach Aufforderung des Nutzers perfekte Texte, Briefe oder Gedichte, formuliert schwierige Texte in einfache Sprache um, gibt Tipps für Kochrezepte, kann ganze Unterrichtsstunden vorbereiten, Rechenaufgaben lösen und dabei den Rechenweg erklären, Exposés verfassen u.v.m. Dabei hat man das Gefühl, mit einem Menschen zu kommunizieren. Sicher ist dieser Bot noch fehleranfällig, und die Kompetenz des kritischen Hinterfragens ist hier nötiger denn je. Dennoch zeigt sich der Weg der Zukunft. Mittlerweile gelingt es ja auch, mittels KI menschliche Avatare zu erschaffen, die auf dem Bildschirm nicht von echten Menschen zu unterscheiden sind. Was also, wenn ein weiterer Schritt möglicherweise nicht mehr das Kommunizieren mit einem Bot, sondern mit einer menschlichen KI sein wird. Gruselig? Faszinierend? Befremdlich? Hilfreich? Die persönliche Antwort darauf ist meines Erachtens vollkommen irrelevant. Es wird und muss unsere Aufgabe sein, uns selbst und vor allem unsere Kinder auf diese Herausforderungen durch künstliche Intelligenz und Entwicklungen, Chancen, Grenzen des Internets moralisch, ethisch und vor allem mit einem kritischen Bewusstsein vorzubereiten.

Und natürlich dient das Netz und dienen soziale Netzwerke ebenso der alltäglichen Unterhaltung. Hier allerdings sollte uns eines sehr bewusst sein: Während wir vor den Zeiten des dauerhaft zugänglichen Internets eben nur Konsumenten von angebotenen Inhalten in den Medien waren, so ist jeder von uns mittlerweile auch zum Journalisten, Produzenten und gleichsam zum Schauspieler und Regisseur geworden. Mit jedem Klick, jedem Foto, jedem Video, das wir veröffentlichen, werden wir quasi zu ebenjenen Redakteurinnen und Redakteuren, die eine Verantwortung für den von ihnen produzierten und veröffentlichten Inhalt übernehmen müssten. Übernehmen wir aber tatsächlich Verantwortung? Machen wir uns über die Angemessenheit von Inhalten ausreichend Gedanken? Oder begnügen wir uns möglicherweise mit dem Gefühl, dass der Account ja vermeintlich nur privat zugänglich und allein für die scheinbaren Freunde und Follower einsehbar sei? Besser wir ersparen es uns an dieser Stelle, über den Sinn, den Wert und die Bedeutung von (scheinbarer) Freundschaft im Netz zu diskutieren.

Kaum jemand von uns macht sich aber hierüber wohl viele Gedanken, weil wir im Grunde nie gelernt und verstanden haben, dass es auch darum geht, Verantwortung im Netz zu übernehmen – für unsere Gemeinschaft, aber letztendlich auch für die Gesellschaft im Ganzen.

In der Netflix-Reportage Das Dilemma mit den sozialen Medien (The Social Dilemma) von Jeff Orlowski aus dem Jahr 2020 schlagen gar die Macher der sozialen Netzwerke selbst in einer packenden, phasenweise sicher bewusst zugespitzten Darstellung Alarm. Sie sprechen darüber, dass sie mit der Entwicklung dieser Netzwerke, die in erster Linie auf Profit ausgerichtet sind, die sprichwörtliche Büchse der Pandora geöffnet haben. Sie sprechen auch davon, dass die Netzwerke, die uns miteinander verbinden, uns gleichzeitig kontrollieren und manipulieren. Der Präsident von Pinterest und ehemalige Facebook-Mitarbeiter Tim Kendall berichtet davon, dass er sein Handy nicht weglegen konnte, wenn er nach Hause kam, weil er dem eigenen Geschäftsmodell des Erzeugens von Sucht und Aufmerksamkeit zum Opfer fiel. Mit Zitaten wie dem des ehemaligen Design-Ethikers bei Google, Tristan Harris: »Checkst du dein Smartphone, bevor du morgens pinkelst oder während du pinkelst? Das sind die einzigen zwei Möglichkeiten«, wird an krassen Beispielen verdeutlicht, was soziale Netzwerke mit unserer Gesellschaft und jedem von uns machen.

Haben wir eine solche Reportage gesehen, sind wir für einen Moment erschlagen. Dann aber greifen wir gewohnheitsmäßig zum Handy, schauen kurz noch in die jüngsten Posts bei Instagram, Facebook und Co., checken, wer unseren WhatsApp-Status betrachtet oder den letzten Tweet bei Twitter, LinkedIn oder Instagram geliked hat, bevor wir die Kinder in ihren Kinderzimmern auffordern, doch jetzt endlich mal »das Ding« aus der Hand zu legen, schließlich wurde schon wieder viel zu lange »gedaddelt«. Soziale Netzwerke als Mitglieder der Familie sind der normale Alltag in deutschen Haushalten. In Haushalten auf der ganzen Welt.

Und Schule? Der Ort, an dem neben fachlichen Inhalten insbesondere auch Verantwortungsübernahme beigebracht werden muss?

Das System Schule hat auf die unglaublichen Herausforderungen, die das Netz für die Gesellschaft bedeutet, ehrlich gesagt nur marginal reagiert. Zumindest nicht konsequent und nicht angemessen. Genauer gesagt hat das System Schule die Reaktion auf die Ansprüche und Herausforderungen, die die Entwicklung des Netzes mit sich bringen, vor allem aber die Aufgabe, die an uns alle hinsichtlich eines Aushandelns von Werten und Normen und moralischen Ansprüchen gestellt wird, komplett verschlafen.

Noch immer unterscheiden wir zwischen einer analogen Welt und der digitalen Welt. Wir erkennen nicht, dass beides zusammen, analog und digital, die komplexe und alltägliche Lebenswelt unserer Kinder und von uns selbst ist. Wir sind von den Entwicklungen des Netzes komplett durchdrungen, in jeder Minute unseres Alltags. Beim Kommunizieren, beim Einkaufen, beim Kochen mittels Küchenmaschine, beim Buchen von Reisen, dem Streamen von Musik oder Filmen.

Während meiner Coronainfektion bestand mein ganzer Tag aus digitalen Handlungen. Ich kommunizierte mit der Schule mittels Messenger, Videokonferenz und Mail, übermittelte meine Einkaufsliste via WhatsApp an meine Familie oder kaufte beim Supermarkt online ein, damit die Waren nur noch abgeholt werden mussten. Ich hatte das Gefühl, das Internet am Abend leer gekauft zu haben, um festzustellen, dass es am nächsten Tag doch wieder aufgefüllt worden war. Ich hörte Musik auf Streamingdiensten und schaute Serien in Mediatheken. Einzig ein Buch las ich auf herkömmlichen Papierseiten.

In Schulen wird Digitalisierung fahrlässigerweise oft noch mit Technisierung verwechselt, in der es um die richtige Technologie, die passende Software und die datenschutzrechtlichen Regelungen geht. Allenfalls werden zusätzlich zur in die Klassenräume einziehenden Technik noch passende Lehr- und Lernmethoden via App, Softwareprogramm oder Browseranwendung entwickelt.

Metaphorisch gesagt, verwalten wir mit dem bisherigen System Schule – vermutlich nicht nur in Deutschland – charmante Ruinen. Dieses Bild begreife ich dabei nicht ausschließlich zynisch. Ruinen erinnern uns an eine vergangene Zeit, sie legen mahnend den Finger auf Fehler der Vergangenheit, ermöglichen gleichzeitig Traum- und Fantasiereisen, sind beständig und überdauern über Generationen hinweg. Jeder von uns hat mit Sicherheit schon einmal eine Ruine besucht und dabei ein ganz besonderes Gefühl verspürt. Viele Gelder fließen zudem jährlich in den Denkmalschutz und die Verwaltung von Ruinen.

Verschafft uns eine Ruine aber Sicherheit bei einem starken Unwetter? Ist sie ein Ort des Komforts, des Wohlfühlens, des Ausprobierens? Und ist eine Ruine ein Ort, in dem wir wohnen wollen würden? Ruinen sind Zeugnisse der Vergangenheit. So wie unser jetziges Schulsystem, das über viele Jahre gute Dienste für die Gesellschaften der »Vor-Netz-Zeit« geleistet hat.

Es ist daher nicht die digitale Transformation der Gesellschaft, die uns im System Schule zu einem Umdenken zwingen sollte, sondern es ist ein immer mehr verrohendes Miteinander, der fehlende Wille, Verantwortung für andere oder gar eigenes Handeln zu übernehmen. Es ist eine – nicht zuletzt durch den Umgang in und mit sozialen Netzwerken – verloren gehende Empathie, auf deren Vermittlung wir aber doch gerade in der Erziehung unserer Kinder höchsten Wert legen müssten. Wert legen darauf, die Kinder und Jugendlichen zu verantwortungsvollen, selbstbewussten, vor allem aber empathischen Menschen zu erziehen, die befähigt sind, den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft mutig und entschlossen entgegenzutreten. In meinen Augen ignorieren und missachten wir als Erwachsene, gemessen an der Zeit, die wir und vor allem auch unsere Kinder in sozialen Netzwerken verbringen, diesen Auftrag jedoch zu großen Teilen.

Im Gespräch mit einer Zehntklässlerin im Jahr 2022 wurde mir unmittelbar bewusst, wie bedrohlich die gesellschaftliche Veränderung durch die Einflüsse des Netzes tatsächlich ist. Es ging in diesem Gespräch um nicht weniger als den Artikel 1 unseres Grundgesetzes, die Grundlage unserer Verfassung.

Die Worte, die das Mädchen in einem Gespräch über einen Vorfall bei Snapchat äußerte, haben sich bei mir eingebrannt:

»Wir haben im Politikunterricht über das Grundgesetz gesprochen. Im Artikel 1 steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass Menschenrechte die Basis von Gemeinschaft sind. Mag ja sein, dass das mal gestimmt hat, in sozialen Netzwerken auf jeden Fall gilt das ja wohl nicht.«

Jeden von uns dürften diese Gedanken eines fünfzehnjährigen Mädchens, das wie elf Millionen Schülerinnen und Schüler in unserem Land die Zukunft und das Leben erst noch vor sich hat, zutiefst schockieren. Wir hinterlassen den Kindern eine Welt, für die wir uns schämen müssten. Noch dazu lassen wir sie in dieser gefährdenden Netzwelt, die natürlich durchaus auch viele positive Seiten hat, vollkommen allein.

Zwar werden an deutschen Schulen immer wieder Präventionsprojekte zum sicheren Umgang im Netz durchgeführt, Schulungen zum Urheberrecht und der Veröffentlichung von Bildern angeboten, und es gibt ganz wunderbare Initiativen, die sich um genau diese Thematik der Sicherheit im Netz bemühen. Dennoch wird das Thema insgesamt in Schulen immer noch eher ausgeblendet und als nebensächlich und unwichtig betrachtet.

Es muss gefragt werden dürfen, warum das noch immer so ist und ob wir nicht auch an deutschen Schulen echte Digitalisierungsprozesse verschlafen haben und die Schulentwicklungsprozesse mit dem falschen Fokus vorantreiben. Geht es eventuell viel zu sehr um Apps, Unterrichtsmodelle, Methoden, neue Arbeitsformen? Was können wir mit all dem erreichen, wenn wir keinen moralischen Kompass mehr im Umgang miteinander haben? Wir sprechen von einer Kultur der Digitalisierung und den daraus resultierenden Herausforderungen, und der Ruf nach mehr Kreativität, Gemeinschaftlichkeit und Öffnung von Schulen wird laut. Wie aber soll das wirklich gelingen, wenn die Basis einer Kultur, in diesem Fall eben die Menschlichkeit, Empathie, Toleranz, Rücksicht und der Respekt im digitalen Raum vollkommen missachtet werden?