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Eine neue und einzigartige Perspektive: die Welt der Wale durch die Augen der Wale sehen und begreifen. Dazu die Lebensgeschichte eines Grönlandwals von 1799 bis heute: Wie er aufwächst und lebt, was sich in seiner und unserer Welt der letzten 200 Jahre verändert hat − Aufwendig gestaltet und liebevoll ausgestattet mit Zeichnungen und zahlreichen Farbfotografien des Autors
Als Säugetiere, die ihr gesamtes Leben im Meer verbringen, sind Wale und Delfine uns ähnlicher, als vielen bewusst ist. Der leidenschaftliche Walforscher und Meeresschützer Fabian Ritter wagt mit seinem Buch einen Perspektivwechsel, der uns die faszinierenden Meeressäuger − gestützt auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse − so nahe bringt wie nie zuvor: Erzählt aus ihrer Sicht, erfahren wir, wie Wale und Delfine ihre Mitwelt wahrnehmen, welche Bedeutung Licht und Schall haben, wie sie kommunizieren, spielen, lieben, Sex haben, Freude und Trauer zeigen. Zu welchen geistigen Leistungen sie fähig sind, wie sie in Gemeinschaften Wissen weitergeben und Kultur entwickeln. Auch wie sie auf uns Menschen reagieren. Wir tauchen ein in eine unglaublich reiche Welt, die wir gewollt oder ungewollt bedrohen.
Mit der faszinierenden Lebensgeschichte eines Grönlandwals, der 1799 geboren wurde und bis heute lebt. Mit zahlreichen Fotografien des Autors.
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Seitenzahl: 556
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eine neue und einzigartige Perspektive: die Welt der Wale durch die Augen der Wale sehen und begreifen
Als Säugetiere, die ihr gesamtes Leben im Meer verbringen, sind Wale und Delfine uns ähnlicher, als vielen bewusst ist. Der leidenschaftliche Walforscher und engagierte Meeresschützer Fabian Ritter wagt mit seinem Buch einen Perspektivwechsel, der uns die faszinierenden Meeressäuger – gestützt auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse – so nahe bringt wie nie zuvor: Erzählt aus ihrer Sicht, erfahren wir, wie Wale und Delfine ihre Mitwelt wahrnehmen, welche Bedeutung Licht und Schall haben, wie sie kommunizieren, spielen, lieben, Sex haben, Freude und Trauer zeigen. Zu welchen geistigen Leistungen sie fähig sind, wie sie in Gemeinschaften Wissen weitergeben und Kultur entwickeln. Und schließlich, wie sie auf uns Menschen reagieren. Wir tauchen ein in eine unglaublich reiche Welt, die wir gewollt oder ungewollt bedrohen.
Mit der faszinierenden Lebensgeschichte eines Grönlandwals, der 1799 geboren wurde und bis heute lebt. Mit zahlreichen Fotografien des Autors.
Fabian Ritter, geboren 1967, machte mit dem Biologiestudium in Bremen seine Begeisterung für Wale und Delfine zum Beruf. Er war 1998 Mitgründer des gemeinnützigen Vereins M.E.E.R., dessen Vorsitzender und wissenschaftlicher Leiter er bis heute ist. Seit 2003 ist er Mitglied im Wissenschaftsausschuss der Internationalen Walfang Kommission (IWC) und leitete zehn Jahre den Bereich Meeresschutz bei Whale and Dolphin Conservation (WDC), der weltweit führenden Organisation zum Schutz von Walen und Delfinen. Er setzt sich mit Kampagnen-, Gremien- und politischer Arbeit sowie öffentlicher Bildung auf vielfältige Weise für den Schutz des Ozeans und seiner Bewohner ein. Fabian Ritter hält regelmäßig Vorträge und leitet Workshops und Seminare. Er lebt in Berlin und in der Uckermark.
www.penguin-verlag.de
Fabian Ritter
Die Welt der Meeressäuger durch ihre Augen: Wie sie leben, lieben, lernen
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Lektorat: Christof Blome, Berlin
Karten: Peter Palm, Berlin
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagabbildungen: © Kerstin Meyer / Getty Images (Vorderseite); Fabian Ritter, Grauwale, Laguna San Ignacio, Mexico (Rückseite)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30338-9V003
www.penguin-verlag.de
Für Sibille Horst Oliver Joshua Tim Jonay
(meine Schule des Lebens)
Vorwort
Wir, die Protagonisten
Prolog
Körper
Lebensraum Ozean
Schwerelos
Von Bewegung und Rhythmus
Landschaften unter Wasser
Von Gleichgewicht und Harmonie
Sinneswelten
Licht und Dunkelheit
Sehen mit den Ohren
Nackt und empfindsam
Sex
Wachen, Schlafen, Träumen
Vielfalt des Verhaltens
Unsere Körper sprechen
Raufereien und Kämpfe
Auf Nahrungssuche
Clevere Jagdmethoden
Gefahren durch Jäger
Natürliche Katastrophen
Strandung, Verletzung und anderes Leid
Geist
Das Leben lernen
Neuankömmlinge
Schule des Lebens
Denken und Verstehen
Von Schlauheit und Intelligenz
Persönlichkeit und Charakter
Mit-Denken
Deep Listening: Kommunikation
Wir geben uns pfiffige Namen
Ein Echo, viele Zuhörer: Zusammenlauschen
Lieder mit Tiefgang
Spiel und Vergnügen
Von Orcas und Segelbooten
Neuheit und Kreativität
Seele
Emotionen
Mit-Fühlen
Freude und Leid
Von Schönheit und Liebe
Unsere Heimat: Das Wir
Niemals allein: Gruppen und Schulen
Von sozialen Gemeinschaften
Weibliche Weisheit: Familien und Matriarchate
Von Freundschaften, Cliquen und Bündnissen
Ein Bewusstsein unserer Selbst
Kulturen des Ozeans
Von Trends und Traditionen
Gemeinsam Entscheidungen finden
Wir Wale und Ihr Menschen
Kultur trifft Kultur
Zusammen auf Jagd
Gemeinsam beim Fischfang
Zu Hilfe! Gegenseitiger Beistand
Wir Beobachteten
Mit uns im Wasser
Euer spürbarer Wissensdurst
Wir Botschafter: Menschenfreundliche Einzelgänger
Wir Eingesperrten
Das triste Leben in Eurer Obhut
Wieder freigelassen
Die Lücke, die gerissen wird
Hunger auf Fisch
Konkurrenz um Nahrung
Verwüstung
Mitgefangen
Die Welt wandelt sich
Unrat und Gifte
Schiffe: Immer mehr, immer schneller
Laut und lauter
Von Waljagd und Delfinfang
Es wird wärmer und wärmer
Alles zugleich
Geschichten im Meer
Epilog: Verbundenheit
Tun oder sein lassen
Leben ist Fühlen
Vom Ozean getragen
Ökologie des Bewusstseins
Zukunftsmusik
Nachwort
Dank
Glossar
Anmerkungen
Anmerkungen zur Reise des Grönlandwals
Bildnachweis
Literatur- und Quellenverzeichnis
Wir Wale im Größenvergleich
Vom Weltall aus gesehen ist der Planet ein blauer. Vom Weltall aus gesehen ist der Planet die Welt des Wals. Und nicht des Menschen.
Heathcote Williams, Kontinent der Wale
Es ist an der Zeit, dass wir den Walen wieder zuhören – und zwar dieses Mal mit allem Einfühlungsvermögen und Einfallsreichtum, die wir aufbringen können, um sie vielleicht zu verstehen.
Roger Payne
Der Ozean ist die Seele der Erde.
Weisheit der Wale
Was würden andere Tiere über Menschen sagen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten?
Jeremy Lent
Im Grunde haben die Delfine und Wale dieses Buch geschrieben. Es handelt von Erlebnissen, Gedanken und Fantasien, wie sie von ihnen hätten erlebt, erdacht und fantasiert werden können. Sicher, die Worte habe ich ihnen in den Mund gelegt. Aber als der Autor des Buches sehe ich mich eher als ein Vermittler zwischen der aquatisch-ozeanischen Welt und der terrestrischen und nicht als der Erfinder einer Geschichte. Denn gewissermaßen haben mir die Wale und Delfine in den über dreißig Jahren, die ich sie nun schon beobachte, erforsche und studiere, tatsächlich das meiste von dem erzählt, was ich hier niedergeschrieben habe. Und natürlich nicht nur mir, sondern auch meinen vielen Kolleginnen und Kollegen in der Wal- und Delfinforschung. Mit WirWale unternehme ich den Versuch, ihre Botschaften in unsere Sprache zu übersetzen.
Während meines Biologiestudiums an der Universität Bremen ergab sich die wundervolle Gelegenheit, im Rahmen meiner Diplomarbeit die Delfine und Wale vor der Kanarischen Insel La Gomera zu erforschen. Die Datenerhebung fand Ende 1995 statt. Ich nutzte dafür kleine touristische Walbeobachtungsboote, die damals gerade erst damit begannen, Wale und Delfine vor der Insel zu (be)suchen. In meiner Arbeit ging es darum, diese faszinierenden Wesen in freier Natur zu beobachten und gleichzeitig ihr Vorkommen und Verhalten zu dokumentieren. Doch schnell wurde mir klar: Es ging um viel mehr. Es ging um das Verhältnis zwischen Menschen und Delfinen, zwischen Mensch und Wal. Denn mir fiel auf, dass oft Unerwartetes geschieht, wenn Menschen sich Walen und Delfinen nähern. Diese zeigen nicht selten ihrerseits Interesse, sind zumindest neugierig und scheinen die Situation oft sogar zu kontrollieren – und treffen die Menschen damit direkt ins Herz. Kaum ein Mensch vergisst das Erlebnis, einem Delfin in die Augen geschaut zu haben oder einem Wal begegnet zu sein, der größer als das Boot ist, von dem aus dieser beobachtet wurde. Großes Erstaunen, pure Freude, unendliche Verwunderung, Verzückung, Glück – dies sind die Begriffe, die Menschen hinterher gerne verwenden, um etwas zu beschreiben, was oft nur schwerlich in Worte zu fassen ist. Wale und Delfine berühren uns. Nicht zuletzt erging es mir selbst bei unzähligen Momenten in der Nähe von Delfinen oder Walen genau so.
Woher kommt diese spezielle Verbindung? Sie scheint in unzähligen Mythen und Sagen, in Geschichten und Erzählungen auf, spricht aus den vielfältigen Interaktionen mit diesen Wesen in der Gegenwart, zu denen auch der Walbeobachtungstourismus gehört, inzwischen eine Milliardenindustrie. Sobald sich ein Buckelwal in die Ostsee oder ein Schnabelwal in die Themse verirrt, Pottwale an den Küsten der Nordsee stranden oder sich ein paar Große Tümmler in der Eckernförder Bucht als »Spielgefährten« gebärden, strömen die Menschen von nah und fern herbei, um sich das Schauspiel anzusehen. Wale und Delfine faszinieren uns.
Aber was geht in den Delfinen und Walen vor, wenn sie uns Menschen begegnen? Wie erleben sie die Welt? Was, wenn die Meeressäuger plötzlich eine Stimme hätten und es uns beschreiben könnten? WirWale will Antworten auf diese Fragen geben. Ich habe den Delfinen und Walen in diesem Buch stets nur zuzuschreiben versucht, was entweder bereits wissenschaftlich erwiesen ist oder aber ohne Weiteres aus wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet beziehungsweise logisch gefolgert werden kann (oder bereits gefolgert wurde). Dort, wo ich über die aktuellen Forschungsergebnisse hinausgehe, mache ich das, was man im Englischen einen educated guess nennt. Alle Aussagen, auch die spekulativen, haben meiner (Experten-)Meinung nach Hand und Fuß – oder sollten wir lieber sagen: Flosse und Fluke? Insofern handelt es sich hier um science-based fiction.
Es gibt rund neunzig Arten Waltiere (latein.: cetacea, dt.: Cetaceen), die von den Zoologen in zwei sich deutlich voneinander unterscheidende (Unter-)Ordnungen einsortiert werden. Auf der einen Seite die Zahnwale, zu denen sämtliche Delfine, Schnabelwale, Schweinswale und die Pottwale gehören. Sie heißen so, weil sie Zähne besitzen. Alle Zahnwale sind Jäger. Die meisten leben in komplexen sozialen Gemeinschaften und nutzen als primären Sinn die Schallortung. Die andere Gruppe, die Bartenwale, umfasst alle Großwale (Buckelwale, Blauwale, Grauwale und so weiter) außer dem Pottwal, dem größten der Zahnwale. Bartenwale haben keine Zähne, sondern Barten, von ihren Oberkiefern herabhängende fransige Hornplatten. Sie verschlucken die Beute mit ihrem riesigen Maul und seihen sie mit den Barten aus dem Wasser. Auch Bartenwale sind sehr sozial, obwohl wir weit weniger darüber wissen als bei Zahnwalen. Wie alle Wale sind sie akustisch sehr aktiv und nutzen Schall zur Orientierung, aber üblicherweise passiver als die Zahnwale. Viele Bartenwale singen komplexe Lieder, was man von Zahnwalen wiederum nicht kennt.
Nur ein paar Delfin- und Walarten kommen im Buch direkt zu Wort. Das hat verschiedene Gründe. Erstens: Die wenigsten Cetaceenarten sind wissenschaftlich so gut erforscht, dass wir ein einigermaßen umfassendes Bild ihrer Seinsweise entwerfen können. Zu ihnen gehören zum Beispiel Große Tümmler und Orcas bei den Kleinwalen sowie Buckel- und Pottwale bei den Großwalen. Allerdings wissen wir selbst über diese Arten nur das wenigste. Ich sage immer, dass für jede Frage, die beantwortet wird, mehrere neue auftauchen. Zweitens: Es kommen diejenigen Arten ausführlicher vor, die mir persönlich besser bekannt sind und von denen ich einige selbst erforscht habe, wie Große Tümmler, Grindwale und Rauzahndelfine. Ich bilde mir nicht ein, ein vollständiges Bild ihrer Lebensweise zu zeichnen, doch bin ich der Überzeugung, die aktuellen Forschungsergebnisse ganz gut zusammenzufassen.
Der erste Teil des Buches behandelt vornehmlich die körperlichen Aspekte des Lebens von Cetaceen im Meer: die Orientierung im dreidimensionalen Raum, die physischen Sinne, die Kommunikation und wie sie mit all dem umgehen, was ihnen im Ozean so begegnen kann, von der Beute bis hin zu Jägern. Wenn Sie hier beim Lesen »ins Schwimmen« geraten, ist das durchaus beabsichtigt! Im zweiten Teil geht es um die geistigen Leistungen der Delfine und Wale, ihr Denken und die große Bedeutung des Lernens, aber auch des Spielens, und darum, was sie wissen und wie sie mit diesem Wissen umgehen – ihren Intellekt eben. Der dritte Teil befasst sich mit Emotionen, ihrem Erfühlen der Welt sowie mit ihren eng gesponnenen Gemeinschaften und deren kulturellen Eigenschaften. Im vierten Teil machen uns die Delfine und Wale deutlich, wie sie uns Menschen erleben – und dass sie uns durchaus faszinierend finden. Zugleich wird deutlich, wie sehr sie unter uns leiden können. Am Ende wird schließlich der Versuch unternommen, eine positive, durch die Verbundenheit von Menschen und Cetaceen getragene Zukunft zu zeichnen.
Wale und Delfine stellen eine der erfolgreichsten marinen Lebensformen dar. Der Journalist Hermann Sülberg hat sie einmal sehr treffend als »die Krone der Schöpfung im Meer« bezeichnet, weil sie in der Tat alle anderen Meereslebewesen in Sachen geistige Fähigkeiten, soziale Komplexität und Entwicklung von Kultur zu übertreffen scheinen. Dabei galt noch bis vor wenigen Jahrzehnten die Meinung, nichtmenschliche Tiere könnten nicht denken, hätten keine Emotionen, besäßen weder Bewusstsein noch Traditionen. Der vermeintlich einzigartige Mensch stehe deshalb über allen Wesen. Viele glauben das heute noch, doch ist dies meiner Meinung nach einer der größten Irrtümer aller Zeiten. Natürlich sind wir Menschen einzigartig. Aber wir sind es nur in dem Maße, wie jedes andere Lebewesen auf diesem Planeten ebenfalls einzigartig ist. Die Selbstverkennung des Menschen als das »am weitesten« oder »am höchsten« entwickelte Wesen sagt vor allem etwas über die Begrenztheit unseres Denkens aus. Wir haben früher einfach nicht die richtigen Fragen gestellt. Heute, da wir sie stellen, bekommen wir erstaunliche Antworten. Infolgedessen gerät das alte Weltbild mittlerweile allenthalben ins Wanken – und das ist gut so.
Die modernen Cetaceen leben bereits seit vielen Millionen Jahren auf der Erde. Gemessen daran sind wir Menschen Neuankömmlinge auf dem Planeten. Doch was haben wir in der kurzen Zeit unserer Anwesenheit mit den Meeren angestellt? Die Wale wissen buchstäblich ein Lied davon zu singen: vom Walfang und der Lebensraumzerstörung, von tödlichen Fischernetzen und Überfischung, von Unterwasserlärm und Kollisionen mit Schiffen, von Meeresverschmutzung und Klimawandel. Wale und Delfine gehen uns etwas an.
Die Meeressäuger sind mittlerweile wahre Ikonen des Umweltschutzes. »Save the Whales!« gehört zu den prominentesten Slogans der ökologischen Bewegung. Aus dem »Rettet die Wale!« ist mittlerweile ein »Rettet die Erde!« geworden. Oder auch ein durchaus nachvollziehbares »Wenn wir die Wale nicht retten, können wir auch uns selbst nicht mehr retten«. So betrachtet ist unser Schicksal aufs Engste mit dem Schicksal der Wale verbunden.
Wale werden heutzutage sogar als Partner bei der Anpassung an den Klimawandel betrachtet, ähnlich wie Mangrovensümpfe, Seegraswiesen, Regenwälder und Moore. Die Meeressäuger düngen die Meere mit ihren Ausscheidungen, transportieren Stoffe aus der Tiefe an die Oberfläche und sorgen so für gesunde Meere. Als sogenannte nature based solutions kommen sie uns zu Hilfe, wenn es darum geht, die Folgen der globalen Erhitzung abzuwenden oder zumindest abzumildern, denn obendrein speichern sie eine Menge Kohlenstoff in ihren Körpern. Lassen wir sie in Ruhe ihr Leben leben, können sie uns dabei helfen, dem Ärgsten zu entgehen.
Insofern sprechen die Wale ständig mit uns – durch die Erkenntnisse der Wissenschaft, über die unzähligen von ihnen erfüllten »Ökosystemfunktionen« oder einfach durch ihre Präsenz und die Fähigkeit, uns zum Nachdenken anzuregen. Als Wissenschaftler versuche ich hier auch, den aktuellen Stand der Forschung wiederzugeben.
Unser größtes Problem ist indes nicht der Klimawandel, das Kohlendioxid in der Atmosphäre oder unsere Gier nach immer mehr. Unser größtes Problem ist ein Mangel an Liebe. Liebe beinhaltet Mitgefühl. Mitgefühl beinhaltet Verständnis. Wie aber erzeugen wir Verständnis? Indem wir uns in andere hineinversetzen: »Wie fühlt es sich an, Du zu sein?« Wenn wir die Welt nicht mehr ausschließlich durch die eigenen Augen betrachten (und nicht mehr nur mit den eigenen Ohren lauschen), beginnen wir nachzuvollziehen, mit-zu-fühlen, wie es sich als der oder die andere lebt und aus welcher Motivation sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Das funktioniert bei unseren Mitmenschen genauso wie bei anderen Wesen, inklusive der Meeressäuger. Denn die Unterwerfung und Zerstörung des Planeten sind ja eine Konsequenz daraus, dass der Mensch sich als (einzige) Krone der Schöpfung sieht. Dass er sich nicht genügend auf die anderen Lebewesen einlässt, ihnen nicht »zuhört«. Zur ökologischen Rettung der Erde gehört eben auch, dass wir hinhören, was die Natur uns zu erzählen hat.
Und dass wir uns beispielsweise vorstellen, was in Walen und Delfinen vorgeht. Uns in sie hineinversetzen und fragen: »Wie siehst Du die Welt?« Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. Auf dass daraus größeres Verständnis für unsere Mitwelt, und vor allem die Wale und Delfine, erwächst.
Wir sind diejenigen Delfin- und Walarten, die in diesem Buch zu Wort kommen und Euch Menschen unsere Welt näherbringen wollen. Dort, wo wir mit den folgenden Abbildungen auftauchen, ergreifen wir jeweils das Wort.
Großer Tümmler
Wir sind einer der am weitesten verbreiteten Säuger des Planeten und gehören mit etwa drei Metern Körperlänge zu den größeren Delfinen. Ihr findet uns in allen Weltmeeren und in den unterschiedlichsten Lebensräumen, von flachen Küstengebieten bis zur Hohen See. Wo wir ansässig werden, interagieren wir auf äußerst anpassungsfähige Weise mit unserer Mitwelt. In unseren komplexen sozialen Gemeinschaften kennt meist jede und jeder jeden, und Ihr könnt uns getrost als ausgesprochen intelligent bezeichnen.
Buckelwal
Ihr erkennt uns an den langen Brustflossen und unserem aktiven Verhalten, denn wir springen zum Beispiel regelmäßig. Wir werden bis zu 14 Meter lang. Unsere Wanderwege verlaufen oft nahe der Küste, deswegen könnt Ihr uns manchmal auch von Land aus beobachten. Wir benutzen nicht nur Werkzeuge, sondern gehören zu den wenigen, die sie auch selbst herstellen. Unsere Gesänge sind weltberühmt.
Orca (Schwertwal)
Wir sind mit neun Metern Länge die größten Delfine und der am weitesten verbreitete Säuger der Erde. Wir leben in sehr engen Familienstrukturen, bilden Traditionen aus und entwickeln ausgesprochen vielfältige Jagdmethoden, je nachdem, ob wir Warmblüter (Robben, Wale, andere Delfine) fressen oder Fisch konsumieren. Wir mögen beeindruckend oder furchteinflößend wirken, Menschen müssen sich im Meer vor uns jedoch nicht fürchten.
Grindwal
Wir sind große Delfine der tiefen Gewässer. Wie unsere Verwandten, die Orcas, bilden wir extrem enge Beziehungen untereinander aus, zumal wir ebenfalls viele Jahrzehnte alt werden. Unsere Gruppen bestehen meistens aus Individuen mehrerer Generationen. Als Spezialisten fressen wir vorwiegend Kalmare, die wir in großen Tiefen erbeuten und bei deren Jagd wir gemeinschaftlich vorgehen.
Blauwal
Wir sind die größten aller Wale und können an die 30 Meter lang werden. Meist bevorzugen wir den offenen Ozean und suchen gezielt die Gebiete auf, wo wir uns den Bauch mit Krill oder Schwarmfischen vollschlagen können. Wir scheuen weder tropische noch polare Gewässer. In manchen Gegenden habt Ihr uns fast ausgelöscht, und wir erholen uns davon nur sehr langsam.
Pottwal
Wir sind die größten Wale mit Zähnen im Maul, Pottwal-Männer werden fast 20 Meter lang. Wir brauchen das tiefe Wasser der offenen See. Wir können extrem lange und tief tauchen und scheuen auch nicht vor Riesenkalmaren zurück. Mit unserem Acht-Kilo-Gehirn haben wir einen kolossalen Durchblick. Den brauchen wir auch, denn wir leben in sehr komplex gestalteten Gesellschaften.
Rauzahndelfin
Wir bevorzugen wärmere Gewässer, sind nicht so häufig wie andere Delfine, und üblicherweise verhalten wir uns recht scheu. Aber wir können auch anders. Wenn Ihr uns freundlich begegnet, sind wir mitunter sehr aufgeschlossen, und manchmal flippen wir geradezu aus. Wir sind ziemlich schlau und können wirklich kreativ werden. Außerdem haben wir jede Menge Humor.
Grauwal
Wir Grauwale wandern jedes Jahr mehrere Tausend Kilometer von den Nahrungsgebieten im hohen Norden zu den tropischen Lagunen, wo wir unsere Kinder gebären – und wieder zurück. Es sind die längsten Wanderungen eines Säugers. Wir durchstöbern gerne den schlammigen Meeresgrund nach Nahrung. Manchmal zeigen wir Menschen gegenüber außerordentlich neugieriges Verhalten und treiben mitunter sogar Schabernack mit Euch.
Schweinswal
Mit kaum mehr als 1,5 Metern Länge gehören wir zu den kleinsten aller Wale. Oft schwimmen wir ganz nahe dem Land. Wir sind enorm quirlig, schnelle Schwimmer und ausgesprochen effektive Jäger. Wir verbringen die meiste Zeit mit der Suche nach Fisch, was aber nicht bedeutet, dass wir uns nicht auch – wie alle unsere Verwandten – intensiv und herzlich um unseren Nachwuchs kümmern.
Fische! Ihr verwechselt uns mit Fischen!
Dabei kommen wir regelmäßig an die Wasseroberfläche, pressen die Atemluft durch unsere Blaslöcher explosionsartig aus der Lunge und saugen ebenso schnell neue Luft ein.[1] Pfffh…! Die Ausatemfontäne, der Blas, ist weithin sichtbar. Habt Ihr je einen Fisch ausblasen sehen? Fische bleiben allzeit unter Wasser. Sie atmen Wasser.
Im Grunde ist es ganz einfach: Fische sind vertikal ausgerichtet, ihre Schwanzflossen stehen aufrecht und bewegen sich von rechts nach links, also hin und her. Wir Wale sind horizontal ausgerichtet, unsere Schwanzflosse steht waagerecht, wir bewegen sie immer auf und ab. Es ist wirklich nicht schwierig. Von dieser Regel gibt es nur wenige Ausnahmen, Rochen oder Plattfische zum Beispiel. Aber wer würde uns mit einem Manta oder einer Flunder durcheinanderbringen?
Durch unsere Adern fließt außerdem warmes Blut, und wir bringen lebende Nachkommen zur Welt, um die wir uns mit außerordentlicher Fürsorge kümmern. Fische hingegen laichen, das heißt, sie legen einen Haufen Eier ab, aus denen sich die Kleinen entwickeln. Wir werden hingegen einzeln geboren und zu jeder Zeit eng umsorgt. Einsamkeit gibt es bei uns nicht. Selbst wo Ihr nur einen oder eine von uns antrefft, sind da stets diejenigen, mit denen wir unser Leben teilen. Wir sind immer ein Wir.
Und noch etwas vorweg – das ist im Grunde das Allerwichtigste: Wir Wale leben in einer Welt des Schalls. Für uns ist Hören wichtiger als Sehen. Das solltet Ihr stets bedenken.
Schließlich sei noch bemerkt, dass sich bei uns Walen die Frauen und Männer sehr ähnlich sehen. Die äußerlichen körperlichen Unterschiede sind meist marginal. Das männliche Geschlechtsteil verbirgt sich innerhalb des Körpers und tritt nur bei Gebrauch in Erscheinung. Läge es außen, würde das unsere Stromlinienform beeinträchtigen und uns beim Schwimmen behindern. Unsere Körper sind auf minimalen Wasserwiderstand getrimmt. Die Frauen sind bei vielen Walen oder Delfinen tendenziell zwar etwas größer, aber die physische Größe allein ist kaum ein verlässliches Merkmal zur Bestimmung des Geschlechts. Sicher, bei einigen – zum Beispiel Pottwalen, Grindwalen, Schwert- und Schnabelwalen – ist die Sache auf Anhieb klar, denn deren Männer werden, wenn sie ausgewachsen sind, wesentlich größer und robuster als die Frauen.[2] Ansonsten gibt es jedoch nur indirekte Hinweise: Bei einem von einem Jüngeren begleiteten Erwachsenen handelt es sich mutmaßlich um eine Mutter mit Kind. Wenn auf der Haut viele Narben zu sehen sind, ist die Wahrscheinlichkeit hingegen groß, dass es sich um Männer handelt, denn die raufen regelmäßig miteinander.
Wenn wir Blauwale ausatmen, tauschen wir ein paar Tausend Liter Luft in der Lunge aus
So, die Grundlagen haben wir damit geklärt. Jetzt können wir loslegen. Ein letzter Hinweis vorneweg: Wenn Ihr unserer wahren Natur auf den Grund gehen wollt, solltet Ihr auf jeden Fall ganz genau hinschauen. Der erste Blick, und mitunter auch der zweite, können gewaltig täuschen.
»Walfische« – pfffh! Macht Ihr Witze?
Ihr Menschen scheint zur Fortbewegung stets einen festen Boden zu benötigen. Selbst auf dem Wasser – da bringt Ihr ihn Euch mit. Bei uns verhält es sich ganz anders. Euch trägt die Erde, uns trägt der Ozean. So erleben wir Wale die Welt. Wir sind groß, aber wir fühlen uns nicht schwer. Das Gewicht behindert uns nicht, es löst sich gleichsam im Meer auf, wird freundlicherweise in Schwerelosigkeit verwandelt. Nur deswegen konnten wir überhaupt die gewaltige Körpermasse erreichen, die einige von uns haben. Ohne große Anstrengung gleiten wir durchs Wasser, drehen uns, kreisen, schlagen Haken, bewegen uns auf und ab – tanzen! Nicht unbeholfen, sondern grazil und anmutig.
Schwerkraft spielt für uns keine große Rolle. Sie zieht uns nicht in die Tiefe. Im Gegenteil, uns treibt es nach oben, zur Wasseroberfläche. Sollten wir also von Leichtkraft sprechen? Sicher, ab einer Tiefe von ein paar Körperlängen sinken wir von allein weiter nach unten. Doch können wir dieser Kraft ganz einfach widerstehen, mit ein paar Flukenschlägen geht es mühelos wieder nach oben.[1]
Nur über der Wasseroberfläche wirkt die Schwerkraft auf uns. Kaum, dass wir unsere Körper mit Schwung gen Himmel werfen, fallen wir auch schon laut klatschend wieder zurück. Was für ein herrliches Gefühl! Ein wunderbares Spiel mit der Schwerkraft, ermöglicht durch die Leichtkraft.
Wir spüren unser Gewicht also ausschließlich über der Oberfläche: wenn wir ein Neugeborenes nach der Geburt dorthin stupsen. Wenn ein verletzter oder kranker Artgenosse Unterstützung benötigt und wir ihn über Wasser halten. Oder wenn wir spielen, etwa mit einem Stück Treibgut. Oder unsere Beute in die Luft schleudern. Und, tragischerweise, wenn wir stranden. Aber davon soll vorerst nicht die Rede sein …
Was tun, wenn wir unser Gewicht spüren wollen? Springen!
Das Leben im Meer bietet die Möglichkeit, sich frei in alle Richtungen zu bewegen. Auf, ab, nach rechts, links – und alles dazwischen. Wir leben in einer drei-, vier-, multidimensionalen Welt. Die Fortbewegung in einem räumlich so offenen Feld ist der von Vögeln nicht unähnlich. Die gleiten durch die Luft wie wir durchs Wasser: Sie sind flink, flexibel und legen in kurzer Zeit große Strecken zurück. Vögel sind fast immer unterwegs. So ist das bei uns auch. Wir halten nur still, wenn wir ruhen. Oder wenn wir unsere berühmten Gesänge ertönen lassen: Dann stehen wir reglos im Wasser, sind ganz konzentriert, ganz Gesang. Abgesehen von diesen Ausnahmen sind wir Wale praktisch immer in Bewegung.
Unsere körperliche Gestalt entwickelte sich über Millionen von Jahren im Einklang mit dem Meer. Wir Wale und Delfine sind die Form gewordene größtmögliche Annäherung an das Element, welches uns umgibt. Unsere Art der Fortbewegung braucht wenig Energie, weil wir dem Wasser nur wenig Widerstand bieten.[2] Unsere Schwimmbewegungen sind gleichsam Schwingung, so fließend wie das Wasser: Wellen gehen durch unseren Körper. Wer im Wasser lebt, muss so werden wie Wasser. Die Form bestimmt die Bewegung. Das gilt für uns wie für alle anderen Wesen der Meere: Fische, Robben, Seekühe, Meeresschildkröten.
Unsere Bewegungen sind so fließend wie das Meer selbst
Wir leben nicht im Meer, wir sind das Meer. Das eine bedingt das andere. Das eine bewegt das andere.
Unsere Umwelt, wir wollen sie lieber unsere Mitwelt nennen, ändert sich immerzu. Alles ist Bewegung, es herrscht ein Fließen ohnegleichen. Selbst die Meeresoberfläche als unsere wichtigste räumliche Bezugsfläche ist fast immer in Aufruhr. Nichts ist beständig: Temperatur, Färbung und Trübung des Wassers, sein Geschmack, sein Salzgehalt und die Schichtung, seine Strömungen und die Anwesenheit von kleinen oder großen Lebewesen – Mitwesen. Die Veränderlichkeit des Lebensraumes macht es notwendig, dass wir selbst genauso flexibel sind. Wir nutzen den Raum so dynamisch, wie es das Meer vorgibt. Wasser bewegt sich, mäandriert, wirbelt, steigt auf, fällt in die Tiefe. Wir schwimmen-schwingen, immer zwischen unten und oben pendelnd. Wir bewegen das Wasser, und das Wasser bewegt uns. Wir tanzen.
Tatsächlich ist die Welt für uns Takt, Frequenz, Rhythmus – im Kleinen wie im Großen. Das Licht folgt dem Rhythmus der Sonne. Die Wellen folgen dem Rhythmus des Windes. Gezeiten und Strömungen folgen dem Rhythmus des Mondes. Viele Wesen des Meeres, so auch wir, bewegen sich im Gleichklang mit den Mondphasen.[3] Die Temperaturen folgen dem Rhythmus der Jahreszeiten. Der jahreszeitliche Takt hat Einfluss auf unsere Streifzüge und Wanderungen.
Tiefseefische, Kalmare und Kleinkrebse bewegen sich im Rhythmus von Tag und Nacht. Steigen nachts in Richtung Oberfläche – manchmal mehrere Hundert Meter! –, sinken tags wieder hinab: Die größte Massenbewegung von Lebewesen im Ozean, und sie findet zweimal täglich statt! Dagegen verblassen sogar die gigantischen Sardinenschwärme, die – ihrem eigenen Rhythmus folgend – jedes Jahr zur selben Zeit auftreten, um das Meer zum Brodeln zu bringen.
Unsere Lieder und Gesänge folgen ebenfalls einem eigenen Takt. Blauwale senden höchst gleichmäßige Impulse aus und halten den Rhythmus über viele Stunden ganz exakt. Finnwale verwenden ihr eigenes, typisches Gleichmaß. Der Gesang von Buckel- und Grönlandwalen ist außerordentlich komplex und reich strukturiert. So unterscheiden sich alle Wale voneinander, und so (er)kennen wir uns gegenseitig akustisch. Jeder Wal weiß auf Anhieb, wen er hört, wenn er einen anderen hört.
Auch innerhalb von Körpern pulsiert es. Herzen pochen, Lungen weiten sich beim Ein- und Ausatmen. Flossen schlagen, die Leiber von Krebsen zucken, und Mäuler öffnen und schließen sich immerfort im Takt des Lebens. Die Qualle stülpt sich nach außen und ist im nächsten Moment wieder ganz bei sich. So strebt sie durch die Welt. Die Qualle bleibt ihrem Pulsieren treu, auch wenn sie von der Strömung fortgetragen wird. Sie kann nicht anders, als sie selbst sein – und gibt sich gleichzeitig einer Kraft hin, die viel größer ist als sie selbst.
Der Ozean ist eine riesige, zusammenhängende und praktisch grenzenlose Welt. Durch das Medium Wasser ist alles mit allem verbunden, im Außen wie im Innern. Der Ozean ist unendlich weit, selbst die größten und schnellsten Wale brauchen viele Tagesreisen, um ihn von einem Ende zum anderen zu durchqueren. Unsere Wanderungen dauern mitunter Monate. An vielen Stellen ist der Ozean auch unendlich tief. Viele weitab der Küsten lebende Delfine und Wale sehen ihr gesamtes Leben kaum je Grund unter sich. Für sie gibt es nur das unendlich erscheinende Blau der lichten Zonen. Und das Schwarz – da unten, wo kein Sonnenstrahl hinfällt.
Das Meer sieht aus Eurem Blickwinkel wahrscheinlich recht einförmig aus. Es mag Euch sogar so vorkommen, als wäre es in der scheinbaren Endlosigkeit schwierig, sich zurechtzufinden. Aber Euch bleiben die Strömungen und Wirbel, die Fronten und Schichtungen verborgen, die für uns sichtbar beziehungsweise hörbar sind.
Unsere Bewegungen im Raum sind nicht nur stetig, sondern auch gerichtet. Ständig navigieren wir, kleinräumig wie großräumig. Wer schwimmt schon ziellos durch die Gegend. Der wichtigste Bezugspunkt unseres Lebensraumes ist dabei immer die Meeresoberfläche – das Portal zum Atem, der uns am Leben hält. Die Bewegungen sind letztlich immer ein Streben hin zur Luft. Wir müssen zu jedem Zeitpunkt wissen, wo sich die Oberfläche befindet. Dabei hilft auch der Druck, der auf unseren Körpern lastet. Beim Abtauchen nimmt er innerhalb der ersten Körperlängen stark zu. Wenn wir nach oben streben, nimmt er wieder ab. Deswegen ist es nahe der Oberfläche ein Leichtes, sich mithilfe des Drucks zu orientieren. Tauchen wir allerdings tiefer, wird der Anstieg des Druckes immer kleiner. In großer Tiefe ist er keine verlässliche Größe mehr, da benötigen wir andere Orientierungshilfen.[4]
Eine davon ist die Temperatur, die wir mit unserer Haut, der Zunge oder an unseren empfindlichen Blaslöchern erspüren. Jedes Lebewesen im Meer toleriert nur einen bestimmten Temperaturbereich, der seinen Lebensraum definiert und seine Wanderungen bestimmt. Grundsätzlich gilt: Warmes Wasser legt sich über kälteres. Dadurch können wir erkennen, in welcher Richtung es zur Oberfläche geht: Wärmer bedeutet oben, kälter unten. In manchen Gegenden des Meeres ist der Übergang von kalt zu warm oder andersherum nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft. Schichtungen, Einströme und Übergänge bilden genauso Unterwasserlandschaften wie der Meeresgrund selbst. Aus der Temperatur des Wassers lässt sich also einiges darüber folgern, wo wir uns gerade befinden, ob wir auf dem richtigen Weg sind oder in welcher Richtung es weitergeht.
Tags hilft uns bei der Orientierung überdies die Sonne, ihr Licht dringt in klaren Gewässern auch bis in größere Tiefen vor. Die Trübung des Meeres gibt uns zudem Hinweise auf dessen Lebendigkeit. Klares Wasser ist zwar schön anzusehen, aber meist nicht besonders nahrungsreich. Im trüben Wasser lässt sich oft besser fischen! Des Nachts können wir uns außerdem am Licht des Mondes orientieren (sofern er denn hell genug scheint).
Nicht zuletzt erkennen wir die Richtung an den Geräuschen der Wellen oder des Regens, der auf die Oberfläche fällt. Und wenn das alles nicht ausreicht, haben wir ja auch noch unseren ganz speziellen Sinn: die eigenen Laute, die wir einsetzen, um unsere Umgebung zu erkunden.
Obwohl sich die Bedingungen stetig wandeln, erzeugen die Strukturen unter Wasser wiederkehrende oder gar konstante Eigenschaften, die wir Wale ohne Weiteres zu interpretieren in der Lage sind. Unterseeische Berge zum Beispiel erzeugen Auftrieb von kaltem Wasser. Inseln verursachen mächtige Wirbel. Von Steilküsten prallen Wellen in ganz bestimmter Art und Weise zurück. Dieses Zusammenspiel »lesen« zu können, dürft Ihr gerne als spezielle ökologische Intelligenz betrachten. Für uns ist es unser Ursprungswissen.
Wasser kennt keine Grenzen, nur Hindernisse
In kälteren Gegenden gibt es weniger stabile »Stockwerke« unterschiedlicher Wassermassen, während sich in tropischen Gewässern die oberen hundert Meter deutlich vom Rest darunter absetzen. Gezeitenströmungen sind dort am stärksten, wo sich Wasser um ein Kap herumwindet oder durch eine Enge zwängt – und wir wissen auch, zu welchem Zeitpunkt solche Schnellen besonders fischreich sind. Inwieweit lohnt es sich, einen bestimmten Bereich besonders unter die Lupe zu nehmen? Zu welcher Jahreszeit und wo genau taucht unsere Nahrung auf? Welche Lebewesen treten gemeinsam auf, und wer folgt dabei wem? Wie muss die Gestalt des Meeres beschaffen sein, damit wir unsere Kinder sorgenlos zur Welt bringen können? Das Ursprungswissen liefert die Antworten auf solche Fragen.
Der Meeresboden zeigt ebenso physische Landschaften wie an Land – deshalb müssten sie eigentlich Seeschaften heißen.[5] Es gibt sandigen Grund oder steinigen, gleichförmigen oder reich mit Steinen und Felsen strukturierten. Es gibt vielgestaltige Riffe, Wälder aus Seetang oder Seegraswiesen, die vor Lebewesen nur so strotzen. Es gibt Lagunen und Einströme vom süßen Wasser der Flüsse. Es gibt Hügel und Täler, Berge und Schluchten, ausgedehnte Sandbänke und enge Passagen, Sunde und Fjorde, rauschende Steilküsten und weite Kiesstrände, deren dumpfes Grollen bei hohem Wellengang weithin hörbar ist. Inselarchipele wechseln sich mit Tiefseeplateaus ab.
Sie alle unterscheiden sich durch ihre Strömungsverhältnisse, die Wassertemperatur, Salz- und Nährstoffgehalt sowie durch die Arten, die hier typischerweise anzutreffen sind – von den kleinsten Algen bis zu uns Walen. All diese Eigenschaften und die daraus resultierenden speziellen Dynamiken machen den Charakter einer unterseeischen Landschaft aus, ihr Wesen. Archipele haben ein anderes Wesen als Flachmeere oder die Hohe See, eisbedeckte Fjorde ein anderes als tropische Korallenriffe. Wir könnten auch sagen, dass die Landschaften im Grunde eigene Wesen sind. Da sie jeweils auf allen Ebenen, von der Oberfläche bis in die Tiefe, mit unzähligen Wesen bevölkert sind, sind sie durch und durch lebendig, also in gewisser Hinsicht eigenständige Lebewesen, Superorganismen.
Weil unterseeische Landschaften oft ineinander übergehen und durch eine Vielfalt von Prozessen miteinander verbunden sind, ist oft nicht klar: Wo hört die eine auf, und wo fängt die andere an? Inseln zum Beispiel lenken Wassermassen sehr effektiv um und erzeugen auf diese Weise ihre eigenen Strömungsmuster, die weit in die Umgebung hineinwirken, manchmal über enorme Distanzen. Wir Wale kennen die Meereslandschaften außerordentlich genau. Dabei hilft uns, dass wir mit den uns gegebenen Sinnen sehr viele Eigenschaften der Umgebung erfassen. Gleichzeitig können wir die vielgestaltigen Zeichen, die uns das Meer präsentiert, ohne Weiteres miteinander verknüpfen. Unsere Fähigkeit, assoziativ zu denken, ermöglicht es, anhand von Geräuschen, Tiefenprofil, Schichtung, Strömungen sowie der Struktur des Meeresgrundes einzuschätzen, wo die Jagd erfolgversprechend ist – weil wir genau wissen, welche Kombination von Gestalt, Beschaffenheit oder Neigung des Untergrundes unsere Beute bevorzugt.
Die Charakteristika von Unterwasserlandschaften gehen uns in Fleisch und Blut über. Nehmen wir einmal die unterseeischen Berge. Sie stellen nicht nur markante Merkmale der Unterwasserlandschaften dar, an denen wir uns manchmal links, manchmal rechts halten. Sie beherbergen auch eine Vielzahl von Mitwesen, die sich hier versammeln, weil es viel zu fressen gibt. An ihren Flanken wird kaltes Wasser aus der Tiefe nach oben gelenkt, und damit werden reichlich Nährstoffe in Richtung Oberfläche befördert. Über den Gipfeln solcher Berge bilden sich gigantische Wirbel. Hier tobt das Leben, es sind Oasen im Ozean mit weitreichender Bedeutung. Fische, Robben, Haie oder Schwertfische kommen hierher, um zu jagen oder sich zu paaren. Große Delfinschulen finden sich ein, treiben die üppigen Fischschwärme zusammen und machen sie sich zur Beute. Nicht selten jagen Thunfische, Delfine, Haie und Robben sogar gemeinsam. An diesen speziellen Gebieten machen wir nur allzu gerne Stopp auf unseren langen Wanderungen, um uns den Magen vollzuschlagen.[6]
Aus der Integration aller Informationen gewinnen wir ein Gesamtbild, das uns sagt, wo wir Nahrung finden oder Partner, oder beides. Die Gesamtheit unserer Sinneseindrücke, zusammen mit unserer Erfahrung, erschafft ein Bild der äußeren Welt, gleichsam eine interne Seekarte des Lebensraums.
Für manche Delfine und Wale deckt diese Karte nur die Gewässer eines Küstenabschnitts ab, wo sie dauerhaft ansässig sind und den sie kaum je verlassen. Für die Arten, die fernab des Landes leben, wie die meisten Großwale, Pottwale, Schnabelwale und so weiter, kann sie ein Ausmaß umfassen, dessen eines Ende eine wochenlange Wanderung vom anderen entfernt ist. Die innere Seekarte hilft uns nicht nur, uns zu verorten, sondern auch, uns so zu bewegen, dass unseren jeweiligen Bedürfnissen entsprochen wird. Durch die Erkundung des Meeres in all seinen Facetten erzeugen wir Halt selbst dort, wo es weit und breit keine festen Strukturen gibt. In der grenzenlosen Hohen See sind wir in besonderer Weise auf alle Informationen, die sich aus den Eigenschaften des Wassers ableiten lassen, angewiesen. Schon allein, weil im offenen Wasser aus allen Richtungen und im Nullkommanichts Jäger wie Haie auftauchen können.
Wir Buckelwale kennen uns in den verschiedensten Gegenden der Meere aus. Die Hohe See ist genauso unser Zuhause wie seichtere Gewässer. Für diejenigen Wale oder Delfine, die ihr Leben auf der Hohen See verbringen, löst flaches Wasser vielleicht Unruhe oder gar Angst aus: Pott- oder Blauwale, Grind- oder Schnabelwale brauchen große Tiefe unter sich, um sich wohlzufühlen. Wir Buckelwale hingegen bekommen trotz unserer Größe kein Engegefühl, wenn wir den Grund unter uns sehen – so seicht es eben sein darf bei einer Körperlänge von rund 15 Metern.
Flaches Wasser mag als Beschränkung erscheinen, aber es bietet gleichzeitig Sicherheit: Hier können wir uns ausruhen, weil alles überschaubar bleibt, Jäger leichter zu entdecken beziehungsweise zu hören sind und auch die Beute nicht einfach in alle Richtungen entkommen kann. Deswegen könnt Ihr uns nicht selten von Land aus beobachten, wie wir aus dem Wasser springen, mit unseren langen Flippern winken oder mit der Schwanzflosse aufs Wasser schlagen.
Wie die meisten anderen Bartenwale sind wir Buckelwale Migranten zwischen den Welten – zwischen den kalten und den warmen Gewässern genauso wie zwischen oben und unten. Im Jahresrhythmus versammeln wir uns in denselben Gegenden. In den Gewässern um die Inselgruppe, die Ihr die Hawaii-Inseln nennt, findet zum Beispiel jeden Winter ein riesiges Rendezvous der Buckelwale statt. Dorthin wandern wir Tausende Kilometer weit, nachdem wir uns in den kalten Wassern der Arktis eine dicke Speckschicht angefressen haben.
Wir Buckelwale springen gerne und machen damit über und unter Wasser auf uns aufmerksam
Auf unserem Weg nutzen wir großräumig Orientierungshilfen wie Strömungsmuster, die sich über Strecken von Hunderten oder Tausenden Kilometern – von einem Ende des Ozeans bis zum anderen – fortsetzen können. Sie werden von uns als Wegweiser beziehungsweise Wegbegleiter verwendet, genauso wie die weiten Ebenen, die zu durchstreifen Tage dauern kann. Sanft geschwungene Hügelketten, Gebirge, tiefe Gräben, steile Schluchten, Verwerfungen, Brüche und Spalten: alles Landmarken, die uns helfen, während der Wanderungen zu den Versammlungsstätten das Ziel zu finden. Die Flanken der Berge oder die Ausrichtung von Tiefseegräben loten wir mit unserem Schall aus.[7] Unsere inneren Seekarten integrieren alle Informationen und werden mit jedem Mal genauer, da wir an bestimmten Stellen vorbeikommen oder uns an bevorzugten Plätzen aufhalten. Die Erfahrungen aus Jahren und Jahrzehnten machen jede folgende Wanderung einfacher. Dieses Wissen geben wir an die Jungen weiter, genauso wie wir es von den Älteren übernehmen. Wir kennen die großflächigen Strukturen des Meeres besser als alle anderen Mitwesen. Wir Großwale erfahren den Ozean als Ganzes.
Wir Wale nutzen einerseits die Lebensräume und was sie uns bieten, andererseits hegen wir sie im selben Moment. Allein durch das beständige Auf- und Abtauchen bewegen und durchmischen wir das Wasser. Das hat Auswirkungen auf andere Lebewesen, denn so verteilen wir in der oberen Zone des Meeres Nährstoffe und Sauerstoff. Obendrein sorgen wir für den Stofftransport im Meer: Viele von uns fressen in der Tiefe und bringen etwa die dort unten erbeuteten Kalmare in ihrem Magen nach oben. Es ist schwierig oder gar unmöglich, sich gegen den großen Wasserdruck in der Tiefe zu entleeren. Deswegen entledigen wir uns unserer Ausscheidungen in aller Regel nahe der Oberfläche, hinterlassen eine »Wolke« aus dem, was von unserem Mahl in der Tiefsee übrig geblieben ist. So bringen wir wertvolle Nährstoffe, von denen manche sonst nur selten im Meer vorkommen, in die lichtvollen Zonen und machen sie für andere Organismen verfügbar. Bei den tagesrhythmischen Bewegungen von Delfinen oder den langen Wanderungen vieler Walarten verfrachten wir diese Stoffe auch horizontal über weite Strecken.[8]
Wir düngen also die Meere! Das lässt die kleinsten Organismen im Wasser gedeihen. Diese wiederum sind wertvolle Nahrung für Fische und Krebse. Die Fische und Krebse werden ihrerseits gefressen, und so geht es in einem fort. Was der eine hinterlässt, wird von anderen genutzt. Wo die eine vergeht, wächst die andere.
Eine Spur von Ausscheidungen düngt gleichzeitig den Ozean
Delfine und Wale sind dabei sowohl Beutemacher als auch Nahrungsquelle. Wir verleiben uns jede Menge Meeresgetier ein. Andersherum werden wir von Jägern erlegt. Alles ist ein großer Kreislauf, und jedes Lebewesen spielt eine spezielle Rolle darin, trägt bestimmte Funktionen zum Wirken des Ganzen bei. Nichts geht verloren – nicht einmal, wenn es in die unendlichen Tiefen hinabsinkt. Wenn wir Wale sterben, treiben unsere toten Körper mitunter noch eine Weile an der Meeresoberfläche. Haie, Seevögel und andere Aasfresser tun sich nur allzu gerne gütlich an ihnen. Früher oder später aber sinken sie auf den Grund – und werden zu wahren Oasen der Tiefsee. Da unten sind solch fette Mahlzeiten eine große Seltenheit, denn meist rieseln allenfalls kleine Stückchen von oben herab. Davon werden nur die wenigsten satt. Was für ein Überfluss, wenn auf einmal der Körper eines gestorbenen Wals dort unten ankommt! Eine ganze Armada von Lebewesen stürzt sich sogleich darauf: Würmer, Krebse, Fische, Oktopusse, Tiefseehaie und viele andere fressen sich voll bis zum Gehtnichtmehr. Bis so ein Kadaver vollständig verwertet ist, vergehen viele Jahre, oft Jahrzehnte.[9] Da sag noch mal einer, dass nicht jeder Wal und Delfin nach seinem Tod zum Spender von Leben wird! Im Übrigen dürften tote Wale oder Delfine, deren Körper an Land gespült werden, dort genauso gerne gesehen sein. So ein riesiger Haufen Fleisch und Fett kann eine Menge Mitwesen ernähren.[10]
Aber auch zu Lebzeiten setzt sich eine Menge kleiner Organismen auf unseren Körpern fest und nutzt sie als Lebensraum. Manch ein Großwal ist von Seepocken geradezu übersät. Das kann mitunter ganz schön lästig werden! »Walläuse«, hoch spezialisierte kleine Krebse, verstecken sich in Hautfalten oder den Furchen der Blau-, Finn- und anderen Bartenwale. Sie krabbeln fleißig auf uns herum, ernähren sich von Hautfetzen oder ergattern Stückchen von dem, was vorbeitreibt, während wir fressen. Entenmuscheln heften sich an unsere Flipper und Fluken und lassen sich durchs Meer transportieren. Schiffshalterfische (die in Wirklichkeit »Walhalterfische« sind, denn was sollen die gemacht haben, bevor es Schiffe gab?) saugen sich an uns fest und bekommen eine energiesparende Mitschwimmgelegenheit. So gesehen ist jeder von uns ein kleines Ökosystem für sich. Durch all diese zusätzlichen Funktionen tragen wir zur Gesundheit der Meere bei.
Zudem verhelfen wir anderen auch direkt zu einem Mahl. Etwa, indem wir Fische an die Wasseroberfläche scheuchen und sie so für Seevögel erreichbar machen.[11] Buckelwale mischen das Wasser ordentlich durch, treiben ganze Schwärme von Krebsen oder Fischen nach oben. Wir Grauwale wühlen immer wieder das Sediment auf, weil wir uns von den Kleintieren darin ernähren. Schwertwale verspeisen von einem erlegten Wal häufig nur einen Teil – der restliche Kadaver wird zum Festschmaus für Fische, Seevögel und viele andere.
Unsere Körper bieten Lebensraum für andere, etwa Seepocken
Werden und Vergehen befinden sich immer in einem harmonischen Gleichgewicht. Was dem einen nicht mehr dient, wird dem anderen zur Nahrung. Es ist ein großes Geben und Nehmen. Dabei strapazieren wir unseren Lebensraum nicht über die Maßen. Das ist auch gar nicht möglich, solange das Netzwerk, das alle Organismen miteinander verbindet, intakt bleibt. Denn das Meer strebt stets nach Ausgleich, und es ist stark darin, sich selbst in Balance zu halten (oder wieder ins Gleichgewicht zu bringen). Daran sind wir Wale seit jeher beteiligt, einfach weil wir ein integraler Teil des Ozeans sind und so viele lebenspendende Aufgaben erfüllen. Ihr habt uns Wale und Delfine wegen unserer Beiträge zum ökologischen Gleichgewicht schon als »Gärtner der Meere« bezeichnet.[12] Da ist was dran.
Die meisten unserer Sinne sind bereits von Beginn an voll ausgeprägt. Zwar schärfen sich Hören, Sehen, Tastsinn und Geschmack mit der Zeit erheblich, aber sie sind bereits im Einsatz, noch bevor das Baby den Bauch der Mutter verlässt.
Dunkelheit bei Nacht, Finsternis in der Tiefe, trübes Wasser: Den Augen bleibt im Ozean vieles verborgen. Selbst bei noch so klarem Wasser reicht die Sicht kaum weiter als ein paar Körperlängen. Für diejenigen, die sich ständig im trüben Wasser aufhalten, wo man den eigenen Flipper nicht vor den Augen sieht, ist der Sehsinn sogar weitgehend unbedeutend. Trotzdem sind wir Delfine und Wale mit einem sehr guten Sehvermögen ausgestattet. Unsere Augen liegen an der Seite des Kopfes, damit deckt unser Sehfeld alle Richtungen ab, sowohl nach vorne und hinten als auch nach oben und unten: ein echter Weitwinkel-Blick![1] Das ist wichtig, weil ja jederzeit Jäger aus allen möglichen Richtungen auftauchen können.
Das rechte und das linke Auge decken verschiedene Sehbereiche ab, lediglich in einem kleinen Bereich direkt vor uns überlagern sie sich und ermöglichen die Abschätzung von Entfernungen. Über Wasser scharf zu sehen, stellt uns übrigens vor keine Probleme. Unsere Augenmuskeln sind so stark, dass wir auch an der Luft gut scharf stellen können. Nicht selten schauen wir uns interessiert an, was dort oben so los ist. Dabei legen wir uns auf die Seite, sodass ein Auge über Wasser ist, oder wir stellen uns senkrecht und heben beide Augen über die Wasseroberfläche.
Wir können auch über Wasser gut sehen
Wir beobachten beispielsweise Vögel, die uns unter Umständen den Weg zu guten Nahrungsgründen weisen oder die Präsenz von Land ankündigen. Und wenn es drauf ankommt, können wir auch einen fliegenden Fisch aus der Luft schnappen! Tags sehen wir die Wolken, die vom Wind in eine bestimmte Richtung getrieben werden, und der Lauf der Sonne hilft uns bei der Orientierung. Und nachts, oh, wie funkelt da der Himmel! Glaubt nicht, dass uns dieses Schauspiel entgeht. Die Sterne sind nicht nur schön anzusehen, sondern bieten uns ebenfalls Orientierung auf den ausgedehnten Wanderungen.
Sehen ist also wichtig für uns, aber oft eben nur in sehr beschränktem Umfang möglich. Außerdem dringt Licht kaum je in die Dinge hinein, es liefert also nur Informationen über die Form, nicht über die Beschaffenheit des Gesehenen. Das macht aber alles nichts, denn die Augen werden allzeit unterstützt durch unser exzellentes Gehör, welches uns noch viel tiefer gehende Informationen liefert – und das ist buchstäblich gemeint.
Die Reise des Grönlandwals
Es gibt kein größeres Gefühl des Erstaunens, als wenn man ein Unterwassermikrofon in eine im Frühjahr auftretende Rinne im arktischen Eis taucht und von einer Kakophonie der Rufe von Grönlandwalen und ihren komplexen, zweistimmigen Gesängen begrüßt wird.
Cathleen Stafford & Christopher Clark
Der Grönlandwal ist eines der wunderbarsten Tiere der Erde …
Charles Darwin
Der Wal wurde nur zehn Jahre nach der Französischen Revolution geboren und 42 Jahre, nachdem seine Art von Linné ihren auch heute noch gültigen lateinischen Namen bekommen hatte – Balaena mysticetus. Bei seiner Geburt maß der Wal gut vier Meter in der Länge und wog rund eine Tonne. Das ist fast nichts im Vergleich zu dem Gewicht, das ein ausgewachsener Grönlandwal erreichen kann: Mit bis zu über 150 Tonnen Körpermasse werden Grönlandwale in dieser Hinsicht nur von Blauwalen übertroffen.
Der Kopf machte etwa ein Drittel der Körperlänge des kleinen Wals aus. Seine Körperkerntemperatur lag zwischen 33 und 34 Grad Celsius – für ein Säugetier ein ziemlich niedriger Wert. Diese Anpassung an die kalte Umgebung, genauso wie seine niedrige Stoffwechselrate, trug jedoch dazu bei, dass der Wal ein hohes Alter würde erreichen können. Ein sehr hohes Alter.
1799 – 1800
Die Welt ist Klang. Wie der Wal von den Geräuschen der Welt überrascht wurde, wie er sie zur Orientierung nutzte und warum er schließlich jede Form von Eis an der Klangfarbe erkannte
1799 Alexander von Humboldt tritt seine berühmte Südamerikareise an.
1800 Napoleon Bonaparte bringt mit Angriffen und Feldzügen weiter Krieg über Europa.
Als die Mutter des Wals gemerkt hatte, dass sie in die Wehen kam, sonderte sie sich etwas von ihren Artgenossinnen ab. Über mehrere Stunden spürte sie die starken Kontraktionen, die das Kleine immer mehr in Richtung Ausgang drückten. Der Schmerz übertraf dabei noch ihre Vorfreude, denn so eine Walgeburt ist eine äußerst anstrengende Sache. Schließlich aber war es geschafft, und der kleine Wal kam im Hornsund von Spitzbergen, einer zu Norwegen gehörenden Inselgruppe am Polarkreis, zur Welt. Es war September im Jahre 1799.
Das Neugeborene überraschten in der neuen Freiheit zwei Dinge besonders: die Kälte und die Klänge. Nachdem es die ersten knapp 14 Monate seines Lebens im rund 34 Grad Celsius warmen Fruchtwasser verbracht hatte, war das nur wenige Grad kalte Meerwasser des Nordatlantiks geradezu ein Schock. Doch noch bevor der kleine Wal sich richtig gefasst hatte, registrierte er ebenso verblüfft wie fasziniert, welche Vielheit von Geräuschen zu hören war. Da war ein Knistern, Knacken, Rauschen, Krachen, Pfeifen, Zwitschern, Flöten oder Grunzen – und alles gleichzeitig. Er wurde regelrecht bestürmt von neuen Höreindrücken. Das war am Anfang verwirrend, weil einfach alles und nichts eine Bedeutung haben konnte. Einzig das sanfte Grummeln seiner Mutter war ihm aus der Zeit im Mutterleib bekannt, und es verströmte ein wohliges Geborgenheitsgefühl. Für die kommenden Monate würde es den akustischen Ankerpunkt darstellen, den der kleine Wal als Basis für seine Entwicklung brauchte.
Alles war neu, alles passierte zum ersten Mal. Während er an jedem neuen Lebenstag den eigenen Körper besser kennenlernte, blieben seine Bewegungen zunächst recht unbeholfen. Seine noch runzelige Schwanzflosse brauchte ein paar Tage, um sich vollständig zu »entfalten«. Oft verlor er sogar die Orientierung, wo unten und oben war, weswegen er sich bevorzugt an der Oberfläche aufhielt, dort, wo er zum Luftholen immer wieder hinmusste. Nur gut, dass seine Mutter ihm zu keinem Zeitpunkt von der Seite wich. Das gab ihm Sicherheit, vor allem weil sie ihn ganz oft berührte, indem sie ihre breiten Flipper an ihm rieb oder ihren Kopf sanft gegen seinen drückte. Auch schob sie sich immer wieder behutsam unter ihn und sorgte so zu seinem großen Vergnügen dafür, dass er gleichsam auf ihrem Rücken ritt.
Der kleine Wal begriff schnell, dass Schall für ihn, seine Mutter und die anderen Wale wichtiger war als Licht, gerade auch bei Nacht oder in der Tiefe, wo das einzige Licht von Organismen stammt, die dort unten selbst leuchten. Sein Gehör war auf sehr tiefe Töne bis etwa 25 Hz ausgerichtet, was einem sonoren Brummen gleichkommt. Die obere Hörgrenze lag bei 3500 Hz. Zum Vergleich: Beim Menschen sind es etwa 15 000 Hz, bei einigen Delfinen bis zu 150 000 Hz. Grönlandwale leben also im Wesentlichen in einer Welt der tiefen Töne.
Es würde eine Zeit lang dauern, bis der Kleine lernte, all die Geräusche des ihn umgebenden Klang-Spektakels zu unterscheiden, zuzuordnen und zu interpretieren. Welche Laute waren dauerhaft zu hören, welche nur ab und zu? Was davon kam von Wasser und Eis, was von anderen Lebewesen, von Fischen, Krebsen oder Robben? Und was von Walen, vor allem von den Grönlandwalen, also von seinesgleichen? Bevor der kleine Wal all die unterschiedlichen Lebewesen erblickte, hatte er sie bereits gehört.
Tagsüber nahm er seine Augen zu Hilfe, um die Klänge mit der sichtbaren Umgebung, den verschiedenen Formen von Eis etwa oder anderen Lebewesen, in Beziehung zu setzen. Nachts riefen die Laute die Bilder wieder hervor, und er wusste, was er da vernahm. Wie spannend! Fantasie fügte dem Ganzen so einiges hinzu, was ihn manchmal erschauern, manchmal aber auch innerlich kichern ließ. So verbanden sich visuelle und akustische Bilder und erschufen langsam sein kleines Weltbild.
Neugierig lauschte er den Gesängen der Älteren. Er hörte das Gezwitscher und Geschnatter der anderen Meeresbewohner, das Klicken und Knacksen von Wesen am Meeresgrund. Allseits durchdrangen sie die anderen Laute des Meeres und wurden von ihnen durchdrungen.
Sobald die Meeresoberfläche in Bewegung geriet, gab sie schon Geräusche von sich. Selbst die kleinsten Rippel erzeugten ein leises Sirren, das mit zunehmendem Wind zu einem deutlichen Glucksen und Plätschern wurde und sich bis zu dem mächtigen Rauschen von Stürmen auswachsen konnte. Der kleine Grönlandwal mochte den Klang von Wasser, das vom Himmel tropfte, wenngleich es ihn jedes Mal erstaunte, wie geräuschvoll schon Nieseln war, ganz zu schweigen von stärkerem Regen. Wenn Blitze über den Himmel zuckten, kam ein mächtiges Donnergrollen hinzu, das ihn jedes Mal gehörig erschaudern ließ. Für seine Grönlandwal-Ohren war der Donner mit seinen tiefen Frequenzen besonders interessant – denn er hörte sich ein bisschen wie die Gesänge der Älteren an. Mitunter war ihm, als ob so manch ein Grönlandwal das Donnergrollen sogar in seinen Gesang einfließen ließ.
Und schließlich das gefrorene Wasser! Im Polarmeer hoch im Norden, dem Lebensraum der Grönlandwale, konnte er jede erdenkliche Form von Eis erleben, von hauchzart bis groß und mächtig. Wenn das Meer zuzufrieren begann, legte sich eine feine Eisschicht auf die Oberfläche, die langsam dicker wurde. Dem kleinen Wal machte das zuerst ein wenig Angst, drohte dadurch doch der lebenswichtige Zugang zur Atemluft versperrt zu werden. Seine Mutter wurde jedoch niemals unruhig, und schnell begriff er, dass sie ausreichend Kraft besaß, auch dickeres Eis ohne Mühe zu durchbrechen. Als er das zum ersten Mal selbst probierte, bemerkte er, dass die scharfen Kanten seine empfindliche Haut verletzen konnten. Eine gewisse Vorsicht war also ebenso angebracht wie regelmäßiges Üben. Seine Kraft reichte aber noch nicht aus, so dicke Schollen zu durchbrechen, wie seine Mutter es schaffte.
Durch Wind und Wellen war das Meereis ständig in Bewegung, was ein sanftes Knirschen zur Folge hatte. Bekam das Eis Risse oder brach, ertönte dabei ein Krachen, das weithin zu hören war und nicht selten von einem hohen Summen begleitet wurde. Dem kleinen Wal erschien dieses Summen ganz wunderbar. Das Eis sang geradezu, beizeiten sang es sogar ohne ersichtliche Ursache. Es hörte sich ein wenig traurig an. Dies war die erste Musik des Meeres, die er vernahm – so wunderschön, dass sie seine Fantasie beflügelte und sich manchmal sogar in seine Träume schlich.
Immer deutlicher wurde ihm, dass er dem Eis ansehen und anhören konnte, wie es beschaffen war. Menschen beschreiben vielleicht zahllose Nuancen der Formen von Eis, Wale kennen unendlich viele Nuancen der Geräusche, die Eis erzeugt. Wenn die Wellen gegen das Eis plätscherten oder wenn Wasser vom Eis ins Meer troff, erklangen Töne in unbeschreiblicher Vielfalt. Kleine Eisschollen rieben sich aneinander und erzeugten dabei ein typisches Knistern. Größere Schollen stießen zusammen, schoben sich übereinander und verursachten ein Brechen und Knacken.
All das verblasste jedoch gegenüber dem, was die Eisberge von sich gaben. Diese riesigen Skulpturen, die mitunter tiefer ins Meer ragten, als der Wal tauchen konnte, flößten ihm gehörigen Respekt ein. Eisberge knackten und knarzten fast ständig. Bekam einer einen Riss, erschallte ein dumpfer Donnerschlag weithin in alle Richtungen. Es war, als entlade sich blitzartig eine enorme Spannung. Einmal, bei einem Sturm, krachten mächtige Wogen lautstark gegen die Eismassen und brachten alles ins Schwanken. Der kleine Wal schwamm gerade an der Seite seiner Mutter durch eine Meerenge, als in der Nähe ein Eisberg ins Wanken geriet, kippte und schließlich ganz auseinanderfiel. Dabei entstand ein so ohrenbetäubender Tumult, dass er kaum noch wusste, wo oben und unten war. Seine Mutter gab ein warnendes Grummeln von sich und schob den kleinen Wal mit aller Macht weg vom Geschehen. Warum, erfuhr er nur Sekunden später: Das Auseinanderbrechen des Eisberges hatte eine mächtige Welle erzeugt, die seine Mutter und ihn erfasste. Beide wurden durcheinandergewirbelt und sogar ein Stück in die Tiefe gerissen. Nur mühsam fand er wieder die Orientierung, schwamm sofort zu seiner Mutter und suchte engen Hautkontakt, um sich von dem Schock zu erholen.
Mit der Zeit gewöhnte er sich nicht nur an die vielfältige Welt des Schalls, er wuchs gleichsam in sie hinein. Er nahm alle Laute in sich auf und nutzte sie, um sich immer besser zurechtzufinden. Als er etwa ein halbes Jahr alt war, konnte er die meisten Geräusche schon recht genau zuordnen. Klacksen und Knacken wurden zu unten, dort, wo die Krebse, Seesterne und Seeigel zwischen den Felsen hausten. Zischen und Rauschen wurden zu oben – die Geräusche der Wellen und des Meereises zeigten ihm, wo er den nächsten Atemzug tun konnte. Laute – auch die leisen! – waren nun eine genauso wichtige und richtungsweisende Orientierungshilfe wie seine Mutter.
Klick.
Klick. Klick. Klick.
Klick, klick, klick, klick, klick, klick …!
Kli-kli-kli-kli-kli-kli-kli-kli-kli-kli-kli-klick …!
K-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-k-klick …!
Für die Orientierung in der Tiefe, bei Nacht oder im trüben Wasser haben wir Zahnwale einen ganz speziellen »sechsten Sinn«: die Echolokation. Wo das Auge nicht sieht, reicht Schall umso weiter und tiefer, denn Wasser ist weitgehend transparent für Schall. Der gehörte Raum ist im Meer stets viel größer als der gesehene. Vor allem liefert Schall eine Menge zusätzlicher Informationen und ist darüber hinaus ausgesprochen exakt.
Unsere Umgebung, unsere Artgenossen, unsere Nahrung – im Grunde tasten wir die gesamte Mitwelt mit Schallimpulsen ab, die wir selbst erzeugen und die sich wie »Klicks« anhören. Diese Klicks werden mithilfe der Strukturen unterhalb des Blasloches erzeugt, wobei Gewebe in Schwingung gebracht wird. Form, Beschaffenheit, Bewegung, Geschwindigkeit: Das Echo der Klicks transportiert eine Menge an Informationen, unser Gehör nimmt sie auf, und unser Gehirn analysiert sie. Wobei »analysieren« nicht der richtige Ausdruck ist, denn wir zerlegen das Wahrgenommene nicht, sondern führen es zusammen und bilden uns ein umfassendes Bild dessen, was uns umgibt.[2] Unsere Wahrnehmung ist also mehr Synthese als Analyse. Wir »sehen« gleichsam mit den Ohren. Als Zahnwale können wir ohne Weiteres einige Hundert Klicks pro Sekunde erzeugen, und wenn es sein muss, auch bis zu zweitausend! Dadurch lassen sich selbst extrem schnelle Bewegungen erkennen.
Viele andere Meereslebewesen geben ebenfalls Laute von sich. Jedoch haben wir die Kunst der Lautäußerung und des Hinhörens am weitesten entwickelt. Denn durch die Echolokation wird Hören zu einem aktiven und gerichteten Vorgang: Hin-Hören. Im Gegensatz zum Zu-Hören richten wir den Schall gezielt auf unsere Umgebung, bestimmte Objekte, unsere potenzielle Beute oder die Artgenossinnen. Information wird aktiv erzeugt und nicht nur passiv empfangen. Im Gegensatz zum Auge mit seinem Weitwinkelblick strahlt der von uns selbst erzeugte Schall sehr fokussiert nach vorne ab.
Es bereitet uns zum Beispiel keine Schwierigkeiten, einen Fischschwarm aus Hunderten Metern Distanz auszumachen.[3] Bereits aus großer Entfernung können wir erkennen, was ein Fisch ist und was Delfin, Robbe, Mensch oder Seekuh. Oder Schildkröte. Deren Panzer sind für Schall allerdings gänzlich undurchdringlich: »Klonk!«
Aber die Sache geht wie gesagt noch tiefer. Jeder Schallimpuls besteht aus vielen verschiedenen Frequenzen, die unterschiedlich stark von Materialien oder Geweben zurückgeworfen werden beziehungsweise verschieden tief in sie eindringen. Mithilfe der Echolokation können wir auch ins Innere blicken und die Dinge buchstäblich durchschauen. Wir »sehen« hörend die Knochen in Körpern, die Rippen, den Schädel, die Eingeweide. Wenn wir beispielsweise einen Menschen per Schall abscannen, erzeugt die Luft in der Lunge (ähnlich wie die Luft in der Schwimmblase von Fischen) ein starkes Echo, ebenso die Knochen, im Vergleich etwa zu den weicheren Organen.[4] Es bereitet uns kaum Schwierigkeiten, ein Herz schlagen zu sehen oder die Ausdehnung der Lungen beim Einatmen zu erkennen. Ja, wir können daraus sogar weitere Folgerungen ziehen, denn ein schnell schlagendes Herz etwa steht mit Anstrengung oder Aufregung (oder beidem) in Verbindung.
Habt Ihr Euch je gefragt, warum uns Schwangere so neugierig machen, wenn wir ihnen im Wasser begegnen? Wir erkennen den ungeborenen Nachwuchs in ihrem Bauch! Das funktioniert sowohl bei anderen Walen, Delfinen und Robben als auch bei Euch. Es entgeht uns also nicht, dass Ihr uns körperlich ähnlich seid. Die Rippen, die Lunge, die Finger, die im Körper der Frauen heranwachsenden Babys, all das kennen wir von uns selbst, und es fasziniert uns!
Unser Gehör ist auch im sozialen Miteinander der wichtigste Sinn, denn unsere Laute sorgen zusätzlich für Kommunikation, Koordination und Zusammenhalt. Wir hören, was die anderen hören, und teilen mit den anderen, was wir hören. Ein ständiger Transfer von Sinneseindrücken, die sich gegenseitig durchdringen und ergänzen. Ohne die Echos aus der Welt um uns herum wären wir hilflos, sie sind überlebenswichtig. Wenn unser Gehör Verletzungen davonträgt, können wir uns kaum mehr im Raum orientieren. Noch schwerer aber wiegt, dass wir unseren sozialen Raum verlieren, wenn uns der akustische Austausch und die Abstimmung mit anderen abhandenkommen.Dann sind wir wirklich verloren.
Ach, die Delfine mit ihrem Gefiepse. Sie glauben sich dadurch im Meer gut auszukennen. Dabei weiß doch jeder, dass ihr Gezwitscher ein paar kräftige Schwanzflossenschläge weiter kaum noch zu hören ist. Wer den Ozean wirklich kennenlernen will, der verwendet nicht nur laute, sondern gleichzeitig tiefe Töne, weil sich tiefe Frequenzen im Wasser über viel weitere Strecken fortpflanzen können. Unsere Wahrnehmung ist nicht auf die unmittelbare Umgebung begrenzt, sie reicht viel weiter – und manchmal von einem Ende des Ozeans zum anderen. Gesang verbindet Individuen und Gemeinschaften miteinander, selbst wenn sie viele Tagesreisen voneinander entfernt sind. Wir füllen die Meere akustisch mit Schall.[5]
Wir Blauwale geben Laute von uns, die mächtiger sind als alle anderen von Lebewesen erzeugten Geräusche, einmal abgesehen von Euch Menschen
Wir Blauwale wandern derart weite Strecken, da sollten wir uns schon großräumig auskennen. Deswegen müssen die Laute, die wir von uns geben, möglichst weit reichen und entsprechend laut sein.[6] Ihre Echos hallen vom Meeresboden wider, von den Hängen der unterseeischen Berge, von den Schluchten in derTiefe, von den Flanken der Kontinentalschelfe. So verorten wir uns. Die Seekarte in unserem Kopf kann sich vom hohen Norden bis zum Äquator erstrecken. Da unsere Rufe und Gesänge so weit tragen, können sie auch von weit entfernten Gefährten gehört werden, denen wir vielleicht vor ein paar Stunden begegnet sind. Oder gestern. Oder vorgestern. Oder vor einigen Tagen. So bleiben wir trotz riesiger Entfernungen in Kontakt miteinander. So verabreden und so finden wir uns. Versucht nicht, Eure eigenen Maßstäbe auf uns zu übertragen. Wir kommunizieren über Dimensionen, die Ihr Euch kaum vorzustellen vermögt. Der gesamte Ozean ist unser Lebensraum, physisch wie akustisch.