Wir waren Glückskinder – trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte - Michael Wolffsohn - E-Book

Wir waren Glückskinder – trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte E-Book

Michael Wolffsohn

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Beschreibung

Einmal Tel Aviv und zurück: Die Geschichte einer Emigration Thea Saalheimer war siebzehn, als sie Anfang 1939 vor dem Naziterror nach Tel Aviv floh, wo sie sich in Max Wolffsohn verliebte. Fünfzehn Jahre später kehrten die beiden mit ihrem siebenjährigen Sohn, dem Historiker und Nahostexperten Michael Wolffsohn, nach Deutschland zurück. Wie erlebten Thea und ihre Familie den Nationalsozialismus und die Emigration – in ein Land, das ihnen in jeder Hinsicht fremd war? Wieso zogen sie ins Land der Täter zurück? Die Geschichte seiner Mutter und die seiner Kindheit erzählt Michael Wolffsohn in dieser Jugendbuchversion seiner ›Deutschjüdischen Glückskinder‹ unterhaltsam, voller erzählerischer Kraft und mit vielen Fakten über den Nationalsozialismus und die Geschichte der Juden.

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Wolffsohn Michael

Wir waren Glückskinder – trotz allem

Eine deutschjüdische Familiengeschichte

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoVorwortKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Schluss in drei Teilen: Judenhass heute – Es ist nicht vorbei – Stinken Juden?ZeittafelQuellenverzeichnis

Dieses Buch widme ich meinen lieben Enkeln Anna, Noah, Talina, Eva und Jonathan.

Der damals siebenjährige Noah hat gesagt, er wolle »mehr über Juden und Hitler wissen«. Diesen Wunsch versuche ich ihm, all meinen Enkeln und vielleicht auch anderen mit diesem Buch zu erfüllen.

Dass Juden nicht anders als andere Menschen waren, sind und bleiben, hat ein längst verstorbener, doch unsterblicher Dichter namens William Shakespeare in seinem Theaterstück »Der Kaufmann von Venedig« so wunderbar beschrieben wie kein anderer. Gewiss kann ich es nicht so gut wie er.

»Ich bin ein Jud. Hat nicht ein Jud auch Augen? Hat nicht ein Jud auch Hände, Glieder, Körper, Sinne, Sehnsucht, Leidenschaft? genährt von gleicher Nahrung, verletzt von gleichen Waffen, anfällig gleichen Leiden, geheilt durch gleiche Mittel, fühlt er warm und kalt und fühlt er kalt vom gleichen Winter wie vom gleichen Sommer ganz wie ein Christ? – wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Und wenn ihr uns Unrecht tut, solln wir uns dann nicht rächen?«

William Shakespeare,

Der Kaufmann von Venedig.

Akt III, Szene 1

Vorwort

Ima statt Mama, Aba statt Papa

Ich lebe in Deutschland. Geboren bin ich 1947 in Israel, das damals noch Britisch-Palästina hieß. Nach Hitler. Meine Mutter heißt Thea, mein Vater hieß Max. Meine Eltern sind in Deutschland geboren. Vor Hitler. Sie mussten aus Deutschland fliehen, um ihr Leben zu retten. Wegen Hitler. Sie lebten lange in Israel. Das ist der Jüdische Staat. Man kann auch sagen »der Staat der Juden«. Dort verbrachte ich meine ersten Lebensjahre.

Wir alle sprechen fließend Deutsch. Anders als ihr nenne ich meine Mutter aber nicht »Mama« oder »Mutti«, sondern »Ima«. Mein Vater ist nicht der »Papa« oder »Vati«, sondern »Aba«. Aba und Ima, das ist Hebräisch. Hebräisch spricht man in Israel. Dort verbrachte ich die ersten sieben Jahre meiner Kindheit, bevor wir 1954 nach Berlin – genauer: nach West-Berlin – zogen. Einer meiner Groß­väter war Opa Karl, den anderen nannte ich nur »Opa«. Das war, um genau zu sein, Opa Justus, der Vater meiner Ima Thea. Die Mutter meiner Ima war ganz einfach meine »Oma«. Sie hieß Gretl. Die Mutter meines Aba nannte ich »Sabta Recha«. Sabta heißt auf Hebräisch »Großmutter«.

Thea Saalheimer mit ihren Eltern, den Großeltern und Alfred Bickart, ca. 1927

Max Wolffsohn und sein Bruder Willi, ca. 1925

Man sieht schon: Wir sprechen zu Hause ein seltsames Sprachgemisch aus Deutsch und Hebräisch. Das hat eine Geschichte, und diese Geschichte will ich euch anhand der Geschichten meiner Familie erzählen. Sie fanden in Deutschland, Israel (bis 1948 Britisch-Palästina) und dann wieder in Deutschland statt.

Meine Erzählung dauert länger als eine Schulstunde, ein Fernsehfilm oder ein Fußballspiel, aber keine Angst, meine Geschichte ist kürzer als das lange Leben meiner Ima oder meines Aba. Ima ist 98, Aba wurde 80, und jetzt, während ich das schreibe, bin ich 73 Jahre alt.

Es waren 73 wunderbare Jahre, sowohl in Deutschland als auch in Israel. Opa Karl und Sabta Recha, Opa Justus und Oma Gretl, Aba Max und Ima Thea haben ihr jeweils langes Leben ebenfalls in Deutschland und Israel verbracht. Für sie waren es aber keineswegs nur wunderbare Jahre, denn als sie jung waren, wurden sie in Deutschland von dem damaligen »Führer« Adolf Hitler und seiner Nationalsozialistischen Partei verfolgt. Und trotzdem hatten sie Glück, denn anders als sechs Millionen andere Juden überlebten sie. Sie hatten also Glück im Unglück. Deshalb sagt Ima von sich selbst: »Ich war ein Glückskind.« Trotz Hitler. Ich bin erst recht ein Glückskind, denn ich habe kein einziges Unglück erlebt und anders als die meisten Juden meines Alters kannte ich alle vier Großeltern. Ich bin daher ein doppeltes Glückskind – trotz und nach Hitler.

Meine Erzählung ist zwar vergleichsweise lang, sie kreist aber vor allem um zwei kurze Wörter, um zwei Namen. Einen Gruppennamen und einen Personennamen. Name eins: Juden. Name Nummer zwei: Hitler.

Wer war dieser Hitler?

Nun, Adolf Hitler war der Chef einer Partei, die sich »Nationalsozialisten« nannte. Hitler und seine Leute, die auch »Nazis« genannt wurden, wollten, dass in Deutschland keine Juden mehr lebten.

Im Jahre 1933 war Thea noch lange nicht meine Ima. Das wurde sie erst 14 Jahre später. Damals war sie ein Mädchen von zehn Jahren, und da sie ein jüdisches Mädchen war, hatte sie eine große Angst. Diese Angst hatte zwei Namen, einen Vornamen und einen Nachnamen: Adolf Hitler. Er war gerade Reichskanzler geworden und war jetzt der mächtigste Mann in Deutschland.

»Führer, Führer, Führer!«, brüllten Millionen Deutscher begeistert und bekamen Kulleraugen, wenn sie ihn sahen oder hörten. Dabei brüllte er eigentlich nur ins Mikrofon und fuchtelte mit den Armen in der Luft, wenn er sprach.

Habt ihr mal ein Video von Adolf Hitler gesehen? Dann werdet ihr mir recht geben: Sprechen konnte man das eigentlich nicht nennen. Es hörte sich ungefähr so an: »A-icken, ocken, acken, zacken, macken, Juden, die Juden sind unser Unglück, Juda verrecke, Deutschland, Deutschland, Deutschland, Sieg, Sieg, Sieg, heil, heil, heil.« Diesem Granatenblödsinn jubelten Deutsche massenhaft zu und brüllten ihrerseits: »Heil, heil, heil, Heil Hitler, mein Führer.« Heil war allerdings gar nix, nachdem Hitler an die Macht gekommen war.

Adolf Hitler bei seiner Lieblings­beschäftigung: Reden

Von einer unheilbaren Krankheit schienen damals die meisten Deutschen befallen zu sein. Hitler begann 1939 einen Riesenkrieg, einen Krieg, der fast überall auf der Welt tobte. Es war der Zweite Weltkrieg. An dessen Ende, 1945, war die Erde verbrannt, Dörfer und Städte zerstört, unendliche viele Juden, viele Deutsche und noch mehr Nichtdeutsche waren tot. Nun brüllte niemand mehr in Deutschland »Sieg Heil, mein Führer!«. Der Führer hatte die Welt, die Juden und auch die Deutschen in die Kata­strophe geführt. Und deshalb sagen wir heute: »Nie wieder! Nie wieder Hitler! Nie wieder Nazis!«.

Hier sind meine Geschichten von Thea, meiner Familie, meiner Kindheit, den Juden, Hitler und anderen Nazis.

Obwohl es in diesen Geschichten auch um schlimme Dinge geht, sind sie lustig und traurig, erfreulich und unerfreulich. Wie das richtige Leben. Wie das Leben meiner Familie, mein eigenes Leben und das aller Menschen, überall und immer. Mal Sonnenschein, mal Regen.

Kapitel 1

Die Welt meiner Mutter:Juden, Nazis, Katholiken

Die Rohrstock-Nonne als Judenfreundin

Vor fast einhundert Jahren ist meine Ima Thea geboren: im Jahr 1922, in Deutschland, in der wunderschönen Stadt Bamberg.

Thea Saalheimer und ihre Schwestern um 1930

Da, wo der herrliche Dom steht, in dem die damals meistens sehr frommen Bamberger mindestens jeden Sonntag beteten. Wenn sie nicht in der Kirche oder überhaupt nicht beteten, schimpfte der Pfarrer. Die Abwesenden und Nicht-Betenden hatten ein schlechtes Gewissen. Sie fragten sich ängstlich: »Stimmt es, was der Pfarrer sagt? Komme ich, wenn ich nicht bete, in die Hölle, zu den Teufeln, die mich packen, backen oder grillen?« Heute reden Pfarrer anders. Fast jeder weiß nämlich, dass keiner weiß, ob es eine Hölle oder den Teufel überhaupt gibt. Damals waren die meisten Bamberger sehr fromm, viel frommer als heute. Damals gingen fast alle katho­lischen Bamberger jeden Sonntag in die Kirche. Natürlich auch an Weihnachten – und das nicht nur an Heiligabend. Auch Ostern, Pfingsten und an den übrigen christlichen Festtagen waren Bambergs Kirchen rappelvoll. Nicht nur der Dom.

Einen Steinwurf vom Bamberger Dom entfernt, etwas unterhalb des Dombergs, ging meine Ima Thea zur Grundschule der Englischen Fräuleins. Die Englischen Fräuleins sind Nonnen, also unverheiratete katholische Frauen, die ihr Leben Gott widmen, nicht ihrer Familie. Sie leben im Kloster, beten viel und tun meistens viel Gutes.

Die Grundschule der Englischen Fräuleins in Bamberg. Heute heißt sie Maria-Ward-Schule.

Auch Schwester Martha Margarita, Theas Klassenlehrerin, war eine Nonne. Als Nonne war sie natürlich sehr, sehr fromm. Anders als viele andere strenge Katholiken glaubte sie aber nicht an den Vorwurf, den Christen lange gegen »die« Juden erhoben. Der Vorwurf besagte: »Die« Juden, also alle Juden, hätten den Gottessohn Jesus Christus getötet. Knapp zweitausend Jahre lang haben christ­liche Kirchen die Juden deshalb »Gottesmörder« genannt. Sie haben sie verfolgt und beschimpft.

Schwester Martha Margarita glaubte daran nicht und sie hatte auch nichts gegen jüdische Kinder. Sie mochte ihre Schüler, allerdings auf eine Art und Weise, die uns heute seltsam vorkommen würde. Sie war sehr, sehr streng. »Ruhe«, befahl sie (sie bat nicht), wenn ein Kind im Unterricht schwatzte. Thea war sehr geschwätzig. (Bitte nicht verraten: Auch ich war in der Schule ein Schwätzer.)

Wenn Thea nicht aufhörte zu reden, passierte Folgendes: Sie musste zu einer anderen Nonnen-Lehrerin in eine andere Klasse gehen. Zum Beispiel zu Schwester Benedicta. Sie klopfte an die Klassentür, »Herrrrrrein!«, befahl Schwester Benedicta und unterbrach den Unterricht, Thea machte einen Knicks. Früher machte jedes Mädchen bei der Begrüßung von Erwachsenen einen Knicks, heute lacht man darüber. Thea war aber nicht zum Lachen zumute. »Schwester Benedicta, ich war frech und habe im Unterricht geschwatzt. Schwester Martha Margarita muss mich deshalb bestrafen. Sie wird mir fünf Schläge auf die Hand geben, und dafür erbitte ich von Ihnen den Rohrstock.«

Heute ist Schlagen in der Schule verboten. Heute würde wohl jeder der Lehrerin eher sagen; »Bei Ihnen piept’s wohl.« Damals, noch vor Hitler und auch während seiner Zeit, war es nicht ungewöhnlich, dass Thea zu Schwester Benedicta sagte, ihre Lehrerin müsse sie bestrafen.

 

Ein Rohrstock ist ein kurzer Bambus-, also ein leichter Holzstock, mit dem man früher Kinder schlug. Thea bekam den Rohrstock von Schwester Benedicta, sagte artig »Danke«, ging zurück in ihre Klasse und übergab Schwester Martha Margarita den Rohrstock, die ihr fünf Tatzen verpasste. Thea musste dann den Rohrstock Schwester Benedicta zurückbringen und sich vor deren Schülern nochmals bedanken.

»Tatze«, wie die Tatze von Tieren, hieß diese Strafe. Bei den Jungen wurde der Rohrstock anders eingesetzt. Sie mussten ihre Hose bis zu den Knien runterziehen, sich bäuchlings aufs Lehrerpult legen, und dann machte ihr Popo Bekanntschaft mit der Härte des Rohrstocks.

Obwohl Schwester Martha Margarita so streng war und Judenkindern mit dem Rohrstock Tatzen verpasste, habe ich sie in der Überschrift als »Judenfreundin« bezeichnet. Warum?

Erstens hat Schwester Martha Margarita jüdischen ebenso wie nichtjüdischen Kindern Tatzen verpasst. Genau wie ihre nichtjüdischen Mitschüler bekam Thea die Schläge nicht, weil sie Jüdin war, sondern wenn sie den Unterricht gestört hatte. Bei den Nazis war das später ganz anders. Für die Nazis waren »die« Juden, also alle Juden, schuldig, egal, was sie taten und wie sie lebten, und zwar einfach deshalb, weil sie Juden waren. Man stelle sich umgekehrt vor: Ein deutsches Kind wäre schuldig, nur weil es zufällig in Deutschland geboren wurde!

Jetzt wird es noch komplizierter: Theas Schule war zwar sehr katholisch und streng, für die damalige Zeit aber zugleich auch sehr modern. An dieser Schule lernten nämlich Mädchen und Jungs zusammen. Das war damals nur in wenigen Schulen erlaubt. Meistens besuchten Jungs und Mädchen getrennte Schulen. Ungewöhnlich war an Ima Theas Schule außerdem Folgendes: Nicht nur Lehrerinnen, sondern auch die männlichen Lehrer durften die Mädchen unterrichten, und Lehrerinnen die Jungs.

Noch etwas für die damalige Zeit Neues gab es an Theas katholischer Schule: Auch evangelische Kinder durften auf diese katholische Schule. Vor hundert Jahren waren die meisten Menschen in Bamberg katholisch, und viele von ihnen fanden, dass evangelisch sein »richtig schlimm« war. Zwar mochten viele Katholiken damals auch keine Juden, sie trösteten sich aber, indem sie zu sich selbst sagten: »Auch unser Herr Jesus Christus war Jude.« Aber evangelisch, das fanden sie schlimm, denn die Evangelischen, so schimpften Bamberger Katholiken, »haben sich von unserer heiligen Katholischen Kirche getrennt, und das tut man nicht.«

Etwas Strafe gegen »die Evangelischen« müsse dennoch sein, meinten die Lehrer von Theas katholischer Grundschule. Deshalb beschlossen sie, dass evangelische Kinder nicht neben katholischen sitzen durften. Jüdische Kinder durften das, denn, so dachte Schwester Martha Margarita ebenso wie Theas Schuldirektorin: »Evangelisch ist schlimmer als jüdisch.«

Eine Freundschaft zwischen Juden und Katholiken?

Sie besuchten alle dieselbe Klasse, die Katholiken, Juden und Evangelischen. Zum Teil saßen sie sogar nebeneinander, doch wirklich zusammen waren sie nur von 8 Uhr früh bis 14 Uhr. Danach gingen sie getrennte Wege und blieben weitgehend unter sich. Luden sie sich zu Kindergeburtstagen ein? Ja, die Katholiken luden Katholiken ein, die Juden Juden, die Evangelischen Evange­lische.

Thea fand das nicht nur blöd, sondern saublöd. Sie mochte Clara gerne, ihre Banknachbarin, die aus einer katholischen Familie stammte. Mit der verstand sie sich in der Schule bestens. In den Pausen standen sie meist zusammen, redeten oder blödelten. Nachmittags trafen sie sich aber nie. Bis zu Theas Geburtstag:

»Ich lade zu meinem Geburtstag die Clara ein«, verkündete Thea ein paar Tage vorher ihren Eltern. Gesagt, getan. Clara wurde zum Geburtstag eingeladen und sie kam. Sie war erkennbar gehemmt und eingeschüchtert und vieles schien ihr bei Saalheimers fremd, selbst die Sachen, die gar nicht so viel anders waren als bei ihr zu Hause. Der Kakao, zum Beispiel, schmeckte bei Theas jüdischer Familie genau wie bei den Katholiken. Kein Wunder, denn es war dieselbe Marke. Doch nein, meinte Clara plötzlich, er schmeckt anders. Irgendwie. Oma Gretls Kuchen schmeckte allerdings sogar besser als bei Claras Mutter, die ihre Kuchen meistens anbrennen ließ. Gretl konnte nämlich bayerische Spezialitäten backen und kochen, wie man sie sonst nur in den besten bayerischen Bäckereien und Gasthöfen bekam.

Zum Abendessen gab es eine regionale Spezialität: Fränkische Blauzipfel. Theas Lieblingsspeise, die auch Clara mochte. Dazu wurde Milch getrunken. Clara wunderte sich. »Blauzipfel sind doch aus Schweinefleisch.«

»Ja, und?«, fragte Thea.

»Ich dachte, Juden dürfen kein Schweinefleisch essen.«

»Wir sind Juden, die Schweinefleisch essen. Manche Juden essen es, andere tun es nicht. Jeder, wie er oder sie will.«

»Und was sagt euer Gott dazu?«

Clara wusste eine ganze Menge über das Judentum. Sie wusste zum Beispiel, dass Juden kein Schweinefleisch essen und dass sie nicht gleichzeitig Fleisch essen und Milch trinken dürfen. Egal, ob Schweinefleisch oder anderes Fleisch. Auf ihre Frage antwortete Thea: »Nur sehr fromme Juden essen kein Schweinefleisch. Die meisten tun es. Aber der liebe Gott ist ja kein Buchhalter, er führt darüber bestimmt keine Strichliste. Ihm ist wich­tiger, dass wir anständige Menschen sind, egal ob mit oder ohne Schweinefleisch. Es ist ihm auch schnuppe, ob Fleisch und Milch zusammen verzehrt werden oder nicht.«

»Dann leben und essen und trinken die Juden ja wie wir Christen«, stellte Clara fest.

»Wir essen und leben und sind wie alle Menschen«, stellte Thea richtig. »Verschiedene Menschen haben verschiedene Gewohnheiten, verschiedene Juden haben verschiedene Gewohnheiten, und so ist es auch bei den Christen und überhaupt bei allen Menschen.«

Aber auch wenn Thea und ihre Familie eigentlich nicht anders lebten als Claras Familie – trotzdem, so bildete sich Clara ein, war es bei den Juden irgendwie anders. Irgendwie fühlte sie sich bei den Saalheimers fremd. Das entsprach zwar nicht der Realität, sondern war pure Einbildung – aber für Clara fühlte sich das echter an als die Wirklichkeit.

So oder so: Eine Gegeneinladung von Thea zu Claras Geburtstag folgte nicht. Ob bei Kindern oder Erwach­senen – Katholiken, Juden und Evangelische blieben meistens unter sich. Und das war fast überall so: Bamberg war und ist eine kleine Stadt, doch auch in den deutschen Großstädten gab es diese Abgrenzung zwischen den Menschen verschiedener Religionen. Die war in den Großstädten zwar weniger stark als in den Kleinstädten, doch eindeutig erkennbar und fühlbar war sie überall. Ein paarmal unternahm Opa Justus, Theas Vater, den Versuch, nette Bekannte einzuladen, mit denen er bestens zusammenarbeitete. Zum Beispiel seinen Rechtsanwalt. Dessen Antwort war kurz, knapp und klar: »Gemeinsame Geschäfte ja, Freundschaft nein.«

Das alles mag uns heute wundern, doch damals war das so üblich. Man lebte mehr nebeneinander als miteinander, aber bis Hitler kam, lebte man eben auch nicht gegen­einander. Die meisten Juden wären, wie Thea und ihre Familie, gerne mehr mit Katholiken und Evangelischen zusammengekommen, doch die wollten das nicht. Immerhin, in Theas Schule durften sie befreundet sein – zumindest während der Schulzeit.

Judenbeschimpfungen lange vor Hitler

Thea, ihre Eltern, ihre beiden jüngeren Schwestern Edith und Ruth, also die ganze Familie Saalheimer, waren Juden. Juden beten nicht in der Kirche, sondern in der Synagoge. Was den Christen Kirchen, sind den Juden Synagogen. Beten sie zu einem anderen Gott? Nein, wenn sie an Gott glauben, dann beten sie zum selben Gott, auch wenn sie ihm, anders als die Christen, keinen Namen geben. Und genauso, wie manche Christen an den lieben Gott glauben, andere nicht, war und ist es bei Juden: Manche Juden glauben an den lieben Gott, andere Juden nicht.

Die Bamberger Synagoge, die 1938 von der SA in Brand gesetzt wurde

Die Saalheimers glaubten an den lieben Gott, und als Juden gingen sie zum Beten in die Synagoge. Da in Bamberg nur wenige Juden lebten, gab es nur eine Synagoge. Für Bamberger Katholiken war das anders: Es gab in der Stadt viele Katholiken und daher auch viele Kirchen. Die größte und schönste war und ist der Dom, der vor über tausend Jahren gebaut wurde. Er ist so wunderschön, dass ihn heute noch Juden und andere Nichtchristen, Muslime zum Beispiel, besuchen, selbst wenn sie dort nicht beten. Auch Theas Familie schaute ihn immer wieder an.

Obwohl sie Jüdin war, ging Thea manchmal sogar zum Gottesdienst in den Dom. Opa Justus und Oma Gretl fanden es, wie viele andere Juden, richtig und wichtig, dass jüdische Kinder wissen, was das Christentum ist. Opa Justus sagte: »Wir Juden leben gut und friedlich mit den Christen zusammen, da gehört es sich ganz einfach, dass wir wissen, woran die Christen glauben. Jeder kann und soll leben, wie er oder sie will, aber es gehört sich, dass auch wir Juden wissen, wie eine katholische Messe verläuft. Das gebietet der Respekt unserer Minderheit der Mehrheit gegenüber. Wir Juden sind eine Minderheit, wir sollen und wollen frei leben, aber wir können der Mehrheit nicht diktieren, was sie zu tun oder zu lassen hat.«

 

Opa Justus fand es auch ganz normal, dass in Theas Klassenzimmer ein Kruzifix hing. »Du bist auf einer katholischen Schule, und deshalb hängt in jedem Klassenzimmer ein Kruzifix«, sagte er, als sie einmal danach fragte.

»Was ist ein Kruzifix?«, wollte Ruth, Theas jüngste Schwester, wissen.

»Jesus am Kreuz, das ist ein Kruzifix«, erklärte Opa Justus.

»Aber Vati«, protestierte Ruth (sie sagte Vati, nicht Aba), »Vati, du sagst doch, wir Juden glauben nicht an Jesus.«

»Stimmt, für uns Juden ist Jesus nicht der Erretter der Welt.«

»Warum hängt dann in Theas Klasse ein Kruzifix, wenn wir Juden nicht glauben, dass Jesus der Retter der Welt ist?«

»Weil die Christen es glauben. Die Katholiken haben nichts dagegen, dass wir Juden ihre Schule besuchen – da ist es umgekehrt selbstverständlich, dass wir ihnen nicht vorschreiben, ob sie an Jesus als den Retter der Welt glauben oder nicht oder ob sie ein Kruzifix aufhängen oder nicht. Das ist wie bei mir und Herrn Levi: Ich rauche gerne Zigarre, der Herr Levi aber nicht. Und deshalb rauche ich nicht, wenn ich Herrn Levi zu Hause besuche. So ähnlich ist das mit jüdischen Kindern und dem Kruzifix im Klassenzimmer einer katholischen Schule: Wenn die Katholiken ein Kruzifix aufhängen möchten, dann tun sie es, und damit gut. Niemand zwingt uns, unsere Kinder auf eine gute katholische Schule zu schicken. Und wenn wir das tun, weil wir diese Schule besser finden als die anderen, dann meckern wir nicht wegen des Kruzi­fixes.«

Der Bamberger Dom

Opa Justus und Oma Gretl fanden es deshalb richtig, dass Thea und ihre Schwestern ab und zu den katho­lischen Gottesdienst im Dom besuchten. Allerdings waren die Predigten der Pfarrer manchmal ganz schön lang­weilig. Viele Katholiken schliefen dabei ein. Wer nicht einschlief oder zuhörte, konnte im Dom wunderschöne Steinfiguren bewundern. Thea war immer hellwach und ungeheuer neugierig. Sie hörte zu und schaute gleich­zeitig alles an. Dabei bemerkte sie etwas Verwunder­liches:

Nahe beim berühmten Bamberger Reiter – das ist ein junger König auf einem Pferd – fiel ihr eine wunderschöne junge Frauenfigur aus Stein auf. Ihr Name: Ecclesia. Thea wusste: Ecclesia bedeutet auf Latein Kirche. Die Kirche eine Frau? Aber warum lächelt sie wie eine Siegerin? Sie freute sich erkennbar über einen Sieg.

Über welchen Sieg sich die Figur der Ecclesia freute, beantwortete gerade der Pfarrer in seiner Predigt: »… neben der Ecclesia, liebe Gemeinde, sehen Sie die Frauen­figur der Synagoga aus Stein. Sie trägt eine Binde, sie kann also nichts sehen. Was erkennt sie nicht? Die Synagoga, die jüdische Figur, erkennt nicht, dass Jesus der Retter der Welt, der Retter aller Menschen ist. Wir sehen außerdem, dass die Synagoga in einer Hand einen gebrochenen Stab hält. Mit diesem kaputten Stab kann sie nicht schlagen. Die jüdische Figur ist besiegt von der Ecclesia, der christlichen Kirche, und deshalb lächelt die Ecclesia siegesfroh.«

Die Plastiken der Ecclesia (oben) und die Plastiken der Synagoga (unten) im Bamberger Dom

Die beiden Frauen aus Stein mögen zwar schön anzu­sehen sein, dachte Thea, aber uns Juden gegenüber ist das wirklich nicht nett.

Auf ihrer katholischen Schule hatte Thea einen sehr anständigen Lehrer, Bruder Konrad, den sie sehr mochte und der sie sehr mochte.[1] Ihn fragte Thea, warum die jüdische Synagoga im Dom von der Kirche besiegt wurde. »Das ist doch uns Juden gegenüber nicht nett.«

»Da hast du recht, Thea. Vergiss nicht, dass diese Steinfiguren, wie der Dom, sehr alt sind. Früher, im Mittelalter, hat die Kirche die Juden bekämpft und ganz gemein beschimpft. Heutzutage gibt es das aber nur noch selten. Ich hoffe das wenigstens! Aber hast du bemerkt, dass zwar beide Figuren, die der Ecclesia und die der Synagoga, sehr schön sind – die Synagoga aber noch schöner?«

»Ja, das hab ich gesehen, aber warum ist das so?«

»Nun, ich vermute, dass der Künstler auf diese Weise der Kirche ein Schnippchen schlagen und damit sagen wollte: Es stimmt nicht, dass die Juden gemein oder hässlich sind. In Wirklichkeit ist das Judentum mindestens so schön wie das Christentum.«

»Bruder Konrad, gab es damals denn auch andere Arten der Judenbeschimpfung?«

Bruder Konrad schaute Thea traurig an. »Ja, leider. Im Mittelalter, vor ungefähr achthundert Jahren, haben Christen damit angefangen. Da haben sie das Judenschwein oder die Judensau draußen vor oder drinnen in Kirchen angebracht.«

Mittelalterliches Judensau-Relief, hier an der Stadtkirche Wittenberg (von Luther gepriesen)

»Aber Juden sind doch Menschen und keine Schweine. Wie kann es dann Judenschweine geben?«

»Du hast recht, das ist unmöglich. Juden als Schwein oder Sau zu bezeichnen, das war und ist nicht nur falsch, sondern gemein – eine echte Schweinerei von der Kirche gegen Juden.«

»Macht das die Kirche heute auch noch?«

»Nein. Die Kirche hat gemerkt, dass das nicht nur hundsgemein war, sondern dumm.«

»Warum dumm?«

»Weil Jesus, der für uns Christen der Retter der Welt und der Menschheit ist, selber Jude war. Jesus ist als Jude geboren und als Jude gestorben.«

»Und was hat Jesus mit dem Judenschwein zu tun?«

»Ganz einfach: Die Kirche hat damals Steinfiguren des Judenschweins an den Kirchen anbringen lassen, um zu verkünden, dass alle Juden Schweine wären. Wenn aber alle Juden Lügner und Schweine wären, dann auch Jesus selbst. Kannst du dir vorstellen, dass die Kirche sagt: Jesus Christus war ein Schwein?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Genau. Irgendwann hat auch die Kirche erkannt, dass das Judenschwein oder die Judensau Blödsinn war. Wer Blödsinn macht, wird ausgelacht. Damit das nicht passiert, hat die Kirche mit diesem Blödsinn aufgehört. Alle Christen sollten damit endlich aufhören.«

»Bruder Konrad, es gibt bei uns doch die SA, die zu diesem Hitler gehört. Die habe ich schon öfter rufen hören: ›Juden sind Schweine! Judenschweine, raus aus Deutschland!‹ Sind denn die Nazis keine Christen, Bruder Konrad?«

 

»Nein, die sind keine wahren Christen. Wer ›Judenschweine‹ ruft und sich aufs Christentum beruft, hat das Gebot der Nächstenliebe von Jesus Christus nicht verstanden. Und außerdem ist er dumm, weil er nicht weiß, dass Jesus Christus selbst Jude war, und zwar von seiner Geburt bis zur Kreuzigung.«

Gott, Kirche, Synagoge und Feiertage

Alle Religionen haben ihre Zeichen. Man nennt sie auch Symbole. Das Symbol der Christen ist das Kreuz. Was das Kreuz den Christen, ist der Davidstern den Juden und der Halbmond den Muslimen. Die Religion der Muslime heißt Islam und das Zeichen des Islam ist der Halbmond. Ihn sieht man auf den Moscheen, den Gotteshäusern der Muslime.

Religiöse Symbole: Halbmond (Islam), Kreuz (Christentum), Davidstern (Judentum)

Den Halbmond sieht man in Bamberg auch heute noch eher selten. Den »typisch jüdischen« Davidstern sah man zu Theas Bamberg-Zeit nur an der Synagoge, auf Grabsteinen von Juden und – ja, an einem Ort, wo es keiner erwartet: am wohl berühmtesten Gasthaus Bambergs, dem »Schlenkerla«. Das gibt es seit ungefähr 500