Nie wieder? Schon wieder! - Michael Wolffsohn - E-Book

Nie wieder? Schon wieder! E-Book

Michael Wolffsohn

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Beschreibung

Im Chor der scheinbar Aufgeklärten heißt es »Nie wieder!«. Um die abstoßende Wirklichkeit wegzureden, verkünden politische Verantwortungsträger inbrünstig: »Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz!«. Doch Wunsch und Wille sind leider nicht gleich Wirklichkeit. Statt »Nie wieder!« erleben wir ein »Schon wieder!«. Und zunehmend ist der Antisemitismus nicht nur rechtsextrem. Heute, so Michael Wolffsohn, hat er Geschwister: bei Linksextremisten, deren linksliberalen Unterstützern sowie vor allem bei muslimischen Antisemiten. Die Reaktionen auf die Mordorgie der Hamas am 7. Oktober 2023 hat Michael Wolffsohn in mehreren sehr persönlichen Texten verarbeitet. Darunter auch in seiner aufsehenerregenden Rede vor dem Berliner Abgeordnetenhaus zum 85. Jahrestag des 9. November 1938. Eine scharfe Abrechnung des großen Historikers und Publizisten und ein leidenschaftlicher Aufruf, nicht billige Empörung zu inszenieren, sondern politische und gesellschaftliche Konsequenzen aus dem alten und neuen Antisemitismus zu ziehen.

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Michael Wolffsohn

Nie wieder?

Schon wieder!

Alter und neuer

Antisemitismus

Dieses Buch ist allen gewidmet,

die Herz und Verstand

miteinander verbinden.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Zero Media GmbH, München

EPUB-Konvertierung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

ISBN (Print): 978-3-451-07239-0

ISBN (EPUB): 978-3-451-83339-7

Inhalt

Schon wieder! ­Antisemitismus als

­Eintrittskarte in die ­europäische Gesellschaft

Die nicht gehaltene Rede:

Der deutsche ­9. November –

Gedanken zum Gedenken

Die gehaltene Rede:

85 Jahre „danach“ – ­Antisemitismus,

haus­gemacht und importiert

Was tun? Von Wut, ­Empörung

und Resignation zum

Denken und zum Handeln

Über den Autor

Schon wieder! ­Antisemitismus als ­Eintrittskarte in die ­europäische Gesellschaft

Geboren wurde ich im Mai 1947 als (Britisch-)Palästinenser in Tel Aviv. Ein Jahr später war ich Israeli. Als „Volksdeutsche“ gemäß Artikel 116 (2) Grundgesetz wurden meine Eltern 1954 wieder und ich erstmals Deutsche. Meine Eltern und Großeltern waren im März 1939 aus Hitlerdeutschland ins britische Mandats­gebiet Palästina geflohen. Anders als sechs Millionen anderer Juden konnten sie auf diese Weise ihr Leben retten. Meine väterlichen Großeltern kehrten bereits 1949 zurück. Sie wollten das ihnen von Hitler und seinen Verbrecherkollegen geraubte Eigentum nicht den Räubern überlassen, sondern gerichtlich zurückerkämpfen. Das war innerjüdisch und innerisraelisch mutig, denn: Wenn Juden damals ins „Land der Mörder“ zogen, wurden sie als Verräter geradezu verachtet. Kaum besser stand es fünf Jahre später, als mein Vater mit meiner Mutter und mir seinen Eltern nach West-Berlin folgte.

Würden meine Eltern und Großeltern, wie einst in Braun-Deutschland, den Pöbel „Juden raus!“ und „Juda verrecke!“ brüllen hören? Meinen Großeltern blieb das erspart. Damals traute man sich noch nicht wieder in Deutschland. Karrieregefährdend war es – wenn öffentlich bekannt und bekennend –, wenngleich die Netzwerke der „Alten Kämpfer“ verdeckt intakt geblieben waren.

„Opa Karl“ starb 1957 und „Sabta Recha“ 1972, mein Vater im Jahr 2000. Doch meine Mutter, die 2023 im gesegneten Alter von 100 Jahren starb, hörte diese Variante: „Tod den Juden“ und „Tod Israel!“ Schon im Juli 2014 und nicht nur auf dem Berliner Kurfürstendamm. Ich höre es seitdem in Berlin-Neukölln, Deutschland und der Welt immer wieder und besonders nach der Mord- und Blutorgie der palästinensischen Hamas aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023 in Israel und seit dem anschließenden Krieg, den Israel gegen die Terroristen führte.

Wer hätte das gedacht? Schon wieder in Deutschland. Auch in Deutschland. Sogar in Deutschland. Sogar das zentrale Holocaustmahnmal in Berlin musste von der Polizei und mit Gittern vor denen geschützt werden, die Gewalt nicht nur am Denkmal für die ermordeten Juden üben wollten, sondern, so war zu befürchten, gegen lebende Juden. Wer hätte das gedacht? Schon wieder in Deutschland. Genau dort, wo einst Hitlers megaprotzige Reichskanzlei stand.

Schon wieder? Das ist richtig und falsch. Falsch vor allem deshalb, weil der den Juden- und Israeltod brüllend fordernde Pöbel nicht – wieder wie zu „Führers Zeiten“ – aus deutschen Rechtsextremisten, sondern mehrheitlich – fast einheitlich – aus muslimischen Neudeutschen, also Neubürgern oder -einwohnern besteht. Entweder kamen sie selbst oder ihre Vorfahren als Migranten nach Deutschland. Legitimatoren der muslimischen „Tod Israel“-Denker und -Brüller sind alt-einheimisch deutsche Linksextremisten. Nicht brüllend, aber „mit dem Herzen“ und Argumenten dabei sind nicht selten auch Linksliberale. In einem Punkt sind sich die deutschen Linksextremisten mit ihren bürgerlich-linksliberalen sowie vielen anderen Landsleuten einig: Anders als ihre Vorfahren schreien sie nie wieder „Juden raus!“. Sie lassen rufen.

Damals waren die Juden dann bekanntlich wirklich raus – und meistens tot, sprich: ermordet. Durch die „Willkommenskultur“ wähnten sich ebenfalls brave Bürger und linker Bürgerschreck gleichermaßen besonders während des deutschen Supermigrationsjahres 2015/16 im siebenten geschichtsethischen Himmel. 1 (Megaverbrechen teils hingenommen, teils mitgemacht) minus 1 (an Fremden begangene gute Megatat) ist gleich 0 (also moralische Erlösung). Nach der Schuld also die Sühne; und die Sühne zugleich als naiv erhofftes demografisches Plus angesichts der dramatischen Vergreisung der deutschen Bevölkerung und als die von Linken ersehnte „Entgermanisierung“ der Deutschen sowie – ebenfalls ohne Realitätsbezug seitens der brav Bürgerlichen – als ökonomischer Gewinn durch Zuwanderung von Fachkräften. Und nicht zu vergessen der Herzenswunsch der Linken und Linksliberalen: „kulturelle Bereicherung“. Letzteres ist nach der Vertreibung und Ermordung der deutschjüdischen Kulturavantgarde von 1933 bis 1945 kaum bestreitbar nötig. Ob Massen junger, testosterongesteuerter Jungmänner aus dem In- oder Ausland die selbstverschuldete Lücke schließen können, entscheide jeder für sich.

„Schon wieder“ ist auch deshalb falsch, weil, ebenfalls anders als „zu Führers Zeiten“, der deutsche Staat die Juden diesmal schützen will. Dennoch „schon wieder“, weil unbestreitbar in Deutschland wieder den Juden als Kollektiv der Tod gewünscht wird. Wer hätte das gedacht? Meine Großeltern und mein Vater drehen sich gewiss im Grabe um (wenn an diesem Wortbild „etwas dran“ sein sollte). Sie waren aus Deutschland geflohen und kehrten trotz allem zurück nach Deutschland, weil sie an das „nie wieder“ glaubten, das meine Großeltern zwar nicht als neudeutsche Floskelformel, aber als politische Praxis dachten wahrnehmen zu können. Schon wieder: Wahrnehmung und Wirklichkeit sind selten deckungsgleich.

Auch ich glaubte daran und bezeichnete mich aufgrund dieser jahrzehntelangen Fehlwahrnehmung als einen „deutschjüdischen Patrioten kosmopolitischer Prägung“. Irren ist menschlich – aber in diesem Falle lebensgefährlich. Individuell und kollektiv.

Zum Letztgenannten ein Erlebnis aus dem November 2023. Ich hielt vor rund 400 angenehm ruhigen (!) und ernsthaften bayerischen Studenten einen Vortrag. Danach kommt ein sympathischer junger Mann auf mich zu: „Ich bin Jude. Sie haben mehr Lebenserfahrung als ich. Wie soll ich mich als Jude verhalten? Bin ich gefährdet? In dieser an sich politisch eher ruhigen Stadt, an dieser Uni?“ Wir schrieben 2023 und nicht 1933 oder 1938 oder … Die ängstliche Frage des jungen Mannes ist berechtigt, denn: Schon wieder ist Antisemitismus die Eintrittskarte in die europäische Gesellschaft. Natürlich auch in die deutsche. Machen wir uns nichts vor: Antisemitismus gehört in weiten Kreisen, freilich nicht in allen, zum guten Ton. Schon wieder.

Der auch religiös durch und durch liberale jüdische Deutsche Heinrich Heine versuchte, im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts dem Antisemitismus zu entgehen und seinen Berufsweg erfolgreich zu gestalten, indem er sich taufen ließ. Protestantisch. Das fiel ihm nicht schwer. Er war religiös indifferent, ohne seine jüdische Herkunft zu verleugnen. Kulturell bedeutete sie ihm sogar sehr viel. Sein Werk spiegelt diese Bedeutung wider. Als „Entréebillett in die europäische Gesellschaft“ bezeichnete Heinrich Heine den Taufzettel. Teile der europäischen Gesellschaft ließen ihn eintreten, größere Teile weder ihn noch gar „die“ Juden.

Die Taufe ermöglichte weder im 19. Jahrhundert noch später oder gar im „Dritten Reich“ den Eintritt in die vermeintlich feine, kultivierte oder auch nur die Gesellschaft. Die Taufe bot den Juden auch keinen Schutz. Weder vor diskriminatorischen noch liquidatorischen Antisemitismen. Im Spanien der Inquisition so wenig wie in Hitlers Deutschland. Hier wie dort zählte die „limpieza di sangre“, die „Reinheit des Blutes“. Rasse, nicht Religion.

Antisemitismus, genauer: Antisemitismen, gibt es seit 3000 Jahren. In meinem Buch „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ habe ich diese These ausführlich belegt. Daraus folgt: Unsere nun wieder auch zunehmend – freilich nicht ausschließlich – sichtbar antisemitische Gegenwart knüpft an die Vergangenheit an. Sie ist ein reaktionärer Rückfall, auch wenn einige seiner Träger sich als Vorreiter des Fortschritts verstehen und präsentieren. (Eine entscheidende Differenzierung gelte für die Gesamtheit dieses Buches: Trotz aller Verallgemeinerungen ist nie von allen die Rede, sondern von sehr vielen, zu vielen und einer leider wachsenden Zahl. Und wenn nicht Zahl, so doch einer anschwellenden antijüdischen Militanz in Wort und Tat.)

„Den“ Antisemitismus gibt es nicht. Er hat viele Erscheinungsformen.

Den einen ist die Beschneidung ein Dorn im Auge – auch wenn sie als Nichtjuden, männlich oder weiblich, überhaupt nicht davon betroffen sind. Mit geradezu manischem Interesse sorgen sich dabei Beschneidungsgegner um das Geschlechtsorgan fremder (jüdischer) Männer, verkaufen ihre Besessenheit als Empathie und fürchten um die Libido der Beschnittenen. Diese Fürsorglichkeit ist unbegründet, denn die jüdische Fortpflanzungsstatistik widerlegt jene (schein)freundschaftlichen Ängste der nichtjüdischen „Mitbürgerinnen und Mitbürger“ bzw. MitbürgerInnen, Mitbürger*innen.

Den anderen ist das Schächten ein Dorn im nichtjüdischen Auge, obwohl die üblichen Schlachthäuser wohl auch nicht dem ethischen Standard des Tierschutzes entsprechen dürften.

Beschneidung und Schächten praktizieren Muslime ebenfalls. Obwohl „etwas“ mehr Muslime als Juden in Deutschland und Europa leben, kreiste die öffentliche Diskussion eher um die Juden. Die Für und Wider zu diesen beiden Fragen wurden ein Judenthema.

Den einen haben Juden „zu viel Einfluss“ in der (Finanz-)Wirtschaft und in den Medien oder, beider Faktoren wegen, in der Politik. Wieder andere verweisen auf der Juden „Schuld“ an Epidemien, zuletzt Corona.

Die nationalistischen Rechtsextremisten stoßen sich am Universalismus, an der Weltoffenheit von Juden, am „jüdischen Kosmopolitismus“.

Kommunisten und Linksextremisten, die sich als Internationalisten verstehen (oder nur als solche darstellen?), halten „die“ Juden seither für Partikularisten und die Zionisten für die allerschlimmsten Partikularisten. Die Juden seien zudem – Grüße der Rechtsextremisten an die Linken – Kapitalisten, Herrscher der (Finanz-)Welt, als solche Imperialisten und Förderer des Kolonialismus des weißen Mannes, also Unterdrücker der entrechteten Dritten Welt, des globalen Südens. Speerspitze dieser – natürlich – kapitalistisch-weißen Kolonialisten seien die Zionisten, sei der Jüdische Staat. Was Israel den Palästinensern antue, sei schlimmer als der Holocaust, der letztlich nur eine innerweiße Angelegenheit gewesen sei. Ergo müsse man Israel an der Seite der Unterdrückten und Entrechteten (allen voran der Palästinenser) dieser Welt bekämpfen.

Besonders Deutschland müsse sich vom „Judenknax“ befreien, so schon Dieter Kunzelmann, der früh-linksextremistische Terrorist der „Tupamaros Westberlin“. Seine wort- und (noch?) nicht waffengewaltigen Epigonen der Postkolonialisten sprechen vom Holocaust als „Katechismus“ der Deutschen oder deren „Judenfimmel“. Viel Altes im Neuen.