Friedenskanzler? - Michael Wolffsohn - E-Book

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Michael Wolffsohn

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Beschreibung

Die Nahostpolitik der Ära Brandt und ihre Folgen Der Willy Brandt verliehene Friedensnobelpreis und die mit seiner Ostpolitik verbundene Aura wirken bis heute nach. Der Kniefall in Warschau ist legendär. Die bundesdeutsche Nahostpolitik verlief weniger glücklich. Hier hat die damalige Bundesregierung schwere Fehler begangen und große Risiken in Kauf genommen. Das wird aufgezeigt auf der Basis erstmals zugänglicher Dokumente. Im Fokus stehen das Olympia-Attentat 1972 auf israelische Sportler in München, die Freipressung der Terroristen im Oktober 1972, der Versuch von Israels Ministerpräsidentin Golda Meir, 1973 den Genossen Willy Brandt für die Friedensvermittlung zu gewinnen, und die Krise zwischen Bonn und Washington während des Yom-Kippur-Krieges 1973, als ein atomarer Weltkrieg drohte.

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Michael Wolffsohn

Friedenskanzler?

Willy Brandt zwischen Krieg und Terror

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Mit Beiträgen von Thomas Brechenmacher, Lisa Wreschniok und Till Rüger

Inhaltsverzeichnis

Ouvertüre 1: Sozialdemokratische Judenbilder in der NS-ZeitOuvertüre 2: Friedens- und Ostpolitik versus NahostpolitikDie Jahrhundert-Geste: Brandts KniefallDie Entjudaisierung und Polonisierung der jüdischen OpferSo war’sOstpolitik zerschlägt deutsch-jüdisches Porzellan»Israel-Politik ohne Komplexe«Komplexe DeutschlandpolitikLegenden und TatsachenDer Blick von heute auf Brandts KniefallTerror in München: Olympia 1972Weiches Deutschland, weicher Kanzler – Eine historische Ortung»Jad Waschem«Vorgeschichte(n)Das Terror-Ereignis als EreignisketteTerror in MünchenNachgeben, freilassen, belohnen, ermutigen: Anti-Terror-Strategie?Der mentale Abgrund als historischer Ort von Deutschen, Juden und IsraelisUnterlassungsschuld? Willy Brandt und der Nahostkrieg, Oktober 1973Brandts Nahost-StrategieDie Ouvertüre 1971/72VorbereitungenKrieg in SichtEin Fenster zum Frieden? Brandts BesuchVon der Friedensinitiative zum KriegIsrael-Stimmungen und -Schwingungen im Auswärtigen AmtVerpatztKrieg und AtomalarmKanzler Brandt an die Leine – Das Opfer als TäterKrieg in Nahost: Israel am Ende?Rettung: die US-LuftbrückeBündnistreue im Atomkrieg?Superman KissingerKönig Salomon in Bonn und WashingtonWilly Brandt taucht aufFazitVon Vorbildern und DenkmalenPersonenregister

Ouvertüre 1: Sozialdemokratische Judenbilder in der NS-Zeit

Ja: Die SPD war 1933 das letzte parlamentarische Bollwerk gegen die NS-Diktatur.

Nur sie hatte damals im Reichstag gegen das NS-Diktaturermöglichungs- bzw. Ermächtigungsgesetz gestimmt. Darum wird auch heute noch zu Recht das Hohelied auf die politische Moral der SPD angestimmt. Ja: Sozialdemokraten wurden im Dritten Reich von Anfang an verfolgt. Nach dem Dritten Reich, besonders jetzt, da der Nationalsozialismus (von der großen Mehrheit) der Deutschen geächtet wird, ist diese Geschichtsüberlieferung verständlicherweise ein moral- und geschichtspolitischer Joker.

Es ist ein unter Sozialdemokraten beliebtes Argument – um nicht zu sagen, eine »Waffe«. Ein Beispiel: Im Frühjahr 2017 geriet der damalige Bundesaußenminister Sigmar GabrielGabriel, Sigmar wegen seiner Israel gegenüber nicht unbedingt sonnenheiteren Politik ins Fadenkreuz israelischer sowie diasporajüdischer Kritik. Er wusste sich zu helfen. Er griff ins Schatzkästlein der SPD-Geschichte: Sozialdemokraten seien wie Juden die ersten Opfer des Holocaust gewesen. Ein Sturm der Entrüstung folgte, dann produzierte GabrielGabriel, Sigmar eine quasi historische Entschuldigung. Natürlich ist ein Opfer-»Narrativ« politisch alles andere als schädlich, auch wenn die Opferproportionen bei Vergleichen oder Gleichsetzungen missraten. So oder so: Die SPD galt und gilt bezogen aufs Dritte Reich – zu Recht! – als Partei der anständigen Deutschen. Davon profitiert sie gegenwärtig. Zu Recht. Davon wird sie künftig dauerhaft profitieren. Auch zu Recht.

Nein: Deutsche Sozialdemokraten waren keinesfalls frei von antisemitischen Klischees.

Trotz ihrer Anständigkeit und wegen ihrer ideologischen Scheuklappen hegten deutsche Sozialdemokraten (im Rückblick) ganz erstaunliche Antisemiten-Klischees. Vielleicht liegt hier eine Erklärung für, sagen wir, Befangenheiten, Seltsamkeiten, Peinlichkeiten und Ärgerlichkeiten sozialdemokratischer Politik gegenüber Juden und Israel sowie, daraus abgeleitet, sozialdemokratischer Juden-, Israel-, Nahost-, Ost- und, jawohl, ganz allgemein sozialdemokratischer Friedenspolitik in der Willy-Brandt-Ära. In diesem Buch wird dokumentiert, dass auch Moral- bzw. Friedenspolitik moralisch gespalten sein kann – und in den hier vorgelegten Fallstudien tatsächlich gespalten war.

Aktionen und Reaktionen der Akteure im weichenstellenden Jahr 1933 sind von größter faktischer, geschichtswissenschaftlicher und -ethischer Bedeutung. Folglich finden sie in Forschung und Politik der und zur SPD weite Beachtung. Doch bekanntlich folgten dem NS-Jahr 1933 die Schreckensjahre bis 1945. Sie wurden deutlich seltener und weniger intensiv untersucht. Es gibt Ausnahmen von dieser Regel. Eine ist der israelische Historiker David BankierBankier, David (1947–2010). Seine Forschungsergebnisse seien hier als Vorgeschichte unserer Geschichte zusammenfassend vorgestellt.[1]

Werfen wir zunächst einen Blick zurück auf die Zeit bis 1938. im (gedämpften) Zorn auf antisemitische Klischees von Sozialdemokraten in der frühen NS-Zeit, als diese, wie die Juden, die vermeintlich »ersten Opfer« nicht des Holocaust, wohl aber der Machtergreifungsperiode gewesen sein sollen – und waren.

David BankiersBankier, David Fazit: »Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass die deutsche Linke die antisemitische Bewegung als ideologischen und politischen Feind betrachtete und sporadischen Antisemitismus in ihren Reihen als missverstandenen Antikapitalismus verurteilte.«

»Zusammen mit anderen Bewegungen hielt die Sozialdemokratie somit an einer vereinfachten Sicht der Dinge fest und erlag schließlich einer krassen Fehleinschätzung der ideologischen Entschlossenheit der Antisemiten und der Ernsthaftigkeit der Absichten HitlersHitler, Adolf und seiner Bewegung.«

»Die sozialistische Theorie spielte den Antisemitismus bekanntlich herunter und stufte ihn als Unterkategorie eines breiteren Problems, d. h. der Sozialen Frage bzw. des Klassenkampfs ein. Gemäß dieser Sichtweise wurde der moderne Judenhass in den Zusammenhang der wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums gestellt. Die Linke machte für die Judenhetze den Kapitalismus verantwortlich, dem sie den Missbrauch latenter judenfeindlicher Gefühle in der Bevölkerung als Versuch der Ablenkung von den eigentlichen Problemen zur Last legte. Dasselbe Erklärungsmodell diente den Sozialdemokraten bei der Analyse des nationalsozialistischen Antisemitismus.«

Trotz diverser Nuancen kam die Sozialdemokratie zu diesem Schluss: »Der Antisemitismus sei ein künstliches Phänomen zur Ablenkung allein und das Wesen des Nationalsozialismus nicht die Judenausrottung, sondern die Unterdrückung der Arbeiterklasse.«

»Bis November 1938 beschäftigte sich von Hunderten Veröffentlichungen des sozialdemokratischen Untergrundes keine einzige mit der Judenverfolgung.« Das änderte sich erst 1938 nach der Welle von Angriffen und nach der »Reichskristallnacht«. Unzweideutig könne man feststellen, dass sich die Sozialdemokratie nun »öffentlich klar vom nationalsozialistischen Antisemitismus distanzierte und alles in ihrer Macht Stehende unternahm, um die Not der Verfolgten zu lindern. Ebenso klar zeigt sich jedoch, dass die neue Realität die grundsätzlichen ideologischen Standpunkte der Sozialdemokratie zum Wesen der ›Judenfrage‹ nicht verändert hat.«

»Ein deutliches Beispiel solcher Duplizität findet sich in den Tagebüchern von Alfred KantorowiczKantorowicz, Alfred, selbst jüdischer Abstammung und Mitautor einer Propagandaschrift gegen die Nazis, des sogenannten ›Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror‹, das von deutschen Exilpolitikern in Paris verbreitet wurde. In seinem Beitrag über die Judenverfolgung in Deutschland zählt KantorowiczKantorowicz, Alfred die Übergriffe gegen die Juden auf und verurteilt sie scharf. Dazu im Widerspruch scheint jedoch sein eigenes Verhältnis zu den Juden zu stehen. In seinem Tagebuch beschreibt er die Juden als ›fast so verabscheuenswürdig, wie der Stürmer sie darstellt. Geduckte Frechheit, Rohheit (nur gemildert durch körperliche Kleinheit), plump, plattfüßig, watschelnd, lärmend, gemein.‹ Es handelt sich gewiss um einen extremen Fall nicht ohne gewisse Elemente von Selbsthass. Er bildet jedoch im Hinblick auf das linke Judenbild keine Ausnahme. In der sozialdemokratischen Literatur und Presse finden sich zwar keine vulgären Ausfälle dieser Art, wohl aber ausdrückliche oder implizite Distanzierungen von den Juden als ›bürgerliche Gruppe‹ … Nur mittellose Juden hätten die Sozialdemokratie unterstützt. Das jüdische Bürgertum sei dem Sozialismus gegenüber reserviert oder im besten Fall gleichgültig geblieben.«

»Der Vorwurf der konservativen Identität und mangelnden Loyalität der Juden gegenüber dem Sozialismus klingt auch im Schreiben des Vorsitzenden des SPD-Vorstandes im Exil, Hans VogelVogel, Hans, an Leon KubowitzkiKubowitzki, Leon vom Jüdischen Weltkongress an. Im November 1943 [wer 1943 wissen wollte, was 1943 judenmörderisch geschah, konnte es wissen; MW] hatte sich KubowitzkiKubowitzki, Leon bei VogelVogel, Hans über die Haltung der SPD gegenüber potenziellen jüdischen Rückkehrern nach Deutschland nach dem Sturz HitlersHitler, Adolf erkundigt. In seiner Antwort stellte sich VogelVogel, Hans gegen Diskriminierung jeder Art und versprach die volle Wiederherstellung der Bürgerrechte für Juden. Einschränkend fügte er jedoch Folgendes hinzu: ›Der Erfolg dieser Politik wird nicht allein von der Stärke der kommenden deutschen Arbeiterbewegung und der übrigen Kräfte der deutschen Demokratie, sondern auch von dem Verhalten der deutschen Juden selbst mit abhängen. Die deutschen Juden, die nach Deutschland zurückkehren, müssen durch ihre politische Haltung und durch ihr praktisches Verhalten erkennen lassen, dass sie sich allein verbunden fühlen mit den fortschrittlichen und demokratischen Kräften des deutschen Volkes.‹ … Damit deutete VogelVogel, Hans an, dass die Gleichberechtigung an gewisse Bedingungen geknüpft ist. Zuerst müssten sich die Juden von den Rechtsparteien distanzieren. Erst dann könnten sie Rechte einfordern … Neben dem bürgerlichen Image der Juden führte auch der Alleinanspruch auf den Status des Opfers zu ständigen Spannungen zwischen Juden und Sozialdemokraten. Dieser Anspruch wurde sowohl von sozialdemokratischer als auch von jüdischer Seite erhoben. Insofern legte die Sozialdemokratie großen Wert darauf zu betonen, dass sich die Hitler-Diktatur auch gegen Nichtjuden richtete.« Darauf hat Sigmar GabrielGabriel, Sigmar ja auch hingewiesen.

»Ein weiterer, nicht weniger bedeutender Streitpunkt, der das jüdisch-sozialdemokratische Verhältnis belastete, war die Debatte über das ›andere Deutschland‹ bzw. die Frage des allgemeinen Konsenses über Hitler und der Unterstützung des NS-Regimes in der deutschen Bevölkerung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen versuchten die linken Exilpolitiker mit allen Mitteln zu beweisen, dass viele Deutsche sich mit den sozialistischen Ideen identifizierten und somit nicht antisemitisch sein konnten. Demgegenüber betrachtete die jüdische Presse die Behauptung, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen nichts mit dem Antisemitismus zu tun hatte, als reine Schutzbehauptung.«

»Der Vorwurf der Überbetonung des jüdischen Themas in der Anti-Nazipropaganda bildete einen weiteren Reibungspunkt zwischen Juden und der deutschen Linken. Er ging weit über die sozialdemokratischen Kreise hinaus. Intellektuelle und politische Aktivisten unterschiedlicher Ausrichtung bezeichneten die jüdische Thematik wiederholt als zweitrangiges Thema, das völlig übertrieben zur Geltung gebracht werde. Sogar der Humanist und entschiedene Antisemitismusbekämpfer Heinrich MannMann, Heinrich brachte diese vorherrschende Meinung in einer Streitschrift zum Ausdruck: Die Propaganda der Emigration richte sich noch immer fast allein gegen die Judenverfolgungen. … Ein Fehler sei doch vielleicht, dass in den Riesenversammlungen mehrerer Kontinente nur oder hauptsächlich die Klagen der Juden erschallen würden. Sein Neffe, Klaus MannMann, Klaus, wurde noch deutlicher. In einer Filmkritik zu ChaplinsChaplin, Charlie ›Großem Diktator‹, schrieb er unter anderem: ›Nichts ist falscher als die Nazitortur als unangenehme Erfahrung nur der Juden darzustellen. Hitlers schändlicher Antisemitismus hat in unserer Propaganda bereits eine zu große Rolle gespielt. Ich habe es immer für einen schweren Fehler gehalten, diesen Blickwinkel überzubetonen … Was der Führer den Polen und Griechen angetan hat, ist mindestens so schlimm wie was er den Juden antut.‹ Auch die große Zahl von Exilanten jüdischer Abstammung an vorderster Front im antifaschistischen Lager wurde von vielen Sozialdemokraten als hinderlich oder sogar als schädlich für die eigenen Ziele empfunden.«

»Zwischen März und Juni 1933 wurde deutlich, dass verschiedene Teile der deutschen Sozialdemokratie, vor allem in Gewerkschaftskreisen, beschlossen hatten, sich dem neuen Regime anzupassen. Darunter befanden sich einige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete unter Führung des ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul LöbeLöbe, Paul und des Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Theodor LeipartLeipart, Theodor. Nicht zufällig war Siegfried AufhäuserAufhäuser, Siegfried, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände (AfA) und einziger jüdischer Gewerkschaftsvertreter, nicht bereit, diesen Kurs mitzutragen, und erklärte auf einer Gewerkschaftskonferenz im April 1933 seinen Rücktritt. In den Beratungen erkannten die Befürworter des Anpassungskurses bald, dass ein Arrangement mit den Nazis zunächst die Entfernung sämtlicher jüdischer Mitglieder aus der Partei erfordern würde. Kurz darauf erfolgten erste Schritte in diese Richtung.«

»In Briefen an Mitglieder des Parteivorstands im Prager Exil erhob der ehemalige SPD-Politiker Fritz NaphtaliNaphtali, Fritz schwere Vorwürfe gegen seine ehemaligen Parteikollegen. Die SPD, so Naphtali, habe sich einen judenfeindlichen Stil angeeignet, der bis zur Parteispitze vorgedrungen sei. Erich OllenhauerOllenhauer, Erich schrieb er Folgendes: ›Denn seien wir doch ehrlich. Nicht nur Mitgliedschaft, sondern auch Bekleidung führender Stellen in der SPD und Antisemitismus haben sich nicht ausgeschlossen, dafür haben wir von März bis Juli oben und unten in der Partei zu viele Beispiele erlebt, die mir schmerzlicher waren als die Schmähungen der Nazis …‹ Paul HertzHertz, Paul, Mitglied der Parteizentrale und ehemaliger Fraktionsvorsitzender der SPD im Reichstag, auch er jüdischer Abstammung, räumte einige Jahre später ein, dass in der hitzig geführten Parteidebatte im Frühling 1933 latente antijüdische Gefühle zum Leben erwachten.«

»Den Erinnerungen der SPD-Vorstandsmitglieder Friedrich StampferStampfer, Friedrich und Gustav NoskeNoske, Gustav entnehmen wir, dass die Entfremdung der SPD von ihren jüdischen Mitgliedern nicht erst auf die Ereignisse von 1933 zurückzuführen war. Diese war schon vorher erfolgt und nur aus Gründen der politischen Korrektheit nicht an die Oberfläche getreten.«

»Bei NoskeNoske, Gustav und anderen SPD-Vertretern ging die Wertschätzung für einzelne Juden einher mit dem verinnerlichten negativen Judenbild und der Stigmatisierung von jüdischen Parteimitgliedern osteuropäischer Herkunft als ›ausländische Juden‹. Diese entwurzelten Intellektuellen, die ihre jüdische Identität gegen den Internationalismus eingetauscht hatten, betitelte er pauschal als übersensible, pessimistische, arrogante und aggressive ›Ausländerei‹, die bei jeder Erwähnung des jüdischen Themas gereizt und überempfindlich reagierten. Doch mehr als an ihren persönlichen Merkmalen stieß sich NoskeNoske, Gustav an ihrem angeblich schädlichen Einfluss auf die Arbeiterbewegung: ›Eine gewisse Ausländerei in der sozialdemokratischen Partei ging einer Anzahl von Mitgliedern je länger je mehr auf die Nerven … Es hat mit Antisemitismus nichts zu tun, wenn festgestellt wird, dass die ostjüdischen ›Marxisten‹ eine besondere Veranlagung dafür besaßen, den Sozialismus zu einem Dogma auszubilden und Gemeinplätze in Glaubensbekenntnisse zu verwandeln.‹«

»Nicht selten paarte sich auch unter Sozialdemokraten Entsetzen über die brutalen Methoden der Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft mit der Genugtuung über den Schritt an sich. Die Vorwürfe gegen die Juden reflektierten offensichtlich Standpunkte, die in der Sozialdemokratie stets latent vorhanden gewesen waren und nun von jenen vorgebracht wurden, die unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit judenfeindlich eingestellt waren.«

BankiersBankier, David Fazit: »Zusammenfassend und zur Vermeidung von Missverständnissen sei betont, dass hier nicht behauptet wird, die deutsche Sozialdemokratie habe in einer antisemitischen Tradition gestanden. Sie war vielmehr weit vom politischen Antisemitismus entfernt. Jedenfalls gingen von ihr keine judenfeindlichen politischen Impulse aus. Im Gegenteil: Sie verurteilte solche Politik. Andererseits ist der Kampf gegen den Antisemitismus nur ein, wenn auch wichtiger Aspekt des Verhältnisses der SPD zur ›Judenfrage‹, der sich nicht mit dem damaligen Judenbild der Partei zu decken braucht. Hat doch die deutsche politische Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts offensichtlich Judenbilder genährt, die sowohl von der Rechten als auch von der Linken absorbiert wurden. Teile der Linken waren mit einer Einstellung behaftet, die als passiver kultureller Antisemitismus bezeichnet werden könnte, mit denselben antijüdischen Vorurteilen, wie sie auch bei den anderen Parteien verwurzelt waren. Jenseits der politischen Rivalität und sämtlicher ideologischer und politischer Trennlinien wurden die Juden übereinstimmend als Fremde betrachtet. Die vulgären Stereotypen der antisemitischen Bewegungen – die Ausgrenzung der Juden aus der Nation oder gar aus der Menschheit – wurden von den Sozialdemokraten nie übernommen, doch spöttische Bemerkungen über ›jüdische Charaktereigenschaften‹ oder Verachtung der Juden als bürgerliche Gruppe waren ihnen nicht fremd. Gleichgültig für wie fortschrittlich sie sich hielten, wie viele jüdische Freunde sie hatten oder wie groß der Anteil der Juden im eigenen politischen Lager war, bei vielen Sozialdemokraten war das Verhältnis zu Juden von der charakteristischen Dichotomie geprägt, wie sie etwa in dem apologetischen Satz ›einige meiner besten Freunde sind Juden‹ zum Ausdruck kommt.«

Was ergab David BankiersBankier, DavidSPD-Forschung für die Zeit des sechsmillionenfachen NS-Judenmordens bis 1945?[2] Sein für ihn selbst offenbar völlig überraschendes Fazit: Die systematische Judenverfolgung habe, wenn überhaupt, auch unter den geflüchteten Sozialdemokraten kaum Beachtung gefunden. Bezogen auf die »Anhänger der Linken« insgesamt zitiert Bankier Franz NeumannsNeumann, Franz Diktum gegenüber Theodor W. AdornoAdorno, Theodor W.: Man könne den Nationalsozialismus durchaus beschreiben, ohne der Judenfrage zentrale Bedeutung beizumessen.

Auch nachdem sie Informationen über das Judenmorden erhalten hatten, konnten es viele der führenden Sozialdemokraten, die Hitler und Konsorten hassten, nicht fassen, dass die Berichte über diese Verbrechen den Tatsachen entsprachen. Zu ungeheuerlich, ja, eben unvorstellbar, jenseits aller menschlichen Vorstellungen, schien die Dimension des Grauens. Keiner wollte es verheimlichen oder verniedlichen, doch ein solcher Völkermord schien absurd. Zweifel überwogen an der verzweifelten Lage der Juden Europas.

In diese Richtung weist auch eine Tagebucheintragung Willy BrandtsBrandt, Willy aus seiner Zeit in Schweden, 1942.[3] Dabei hatten so manche Exildemokraten, denen schließlich die Flucht aus NS-Deutschland gelang, zuvor seit 1933 am eigenen Leibe Gewalt, Folter und Morde erlebt. Keiner, der den frühen KZs entkommen war, habe viel Fantasie gebraucht, um sich die mögliche Morddynamik vorstellen zu können. Andere arbeiteten im Exil an Stellen, die über zuverlässige Geheiminformationen verfügten, und jüdische Personen sowie Organisationen, allesamt Sozialdemokraten und Sozialisten nahe oder auch direkt verbunden, hätten hierzu auch diverse Kundgebungen veranstaltet. Wer wissen wollte, habe wissen können. Man habe die Augen verschlossen, verschließen wollen. Interne Gremien deutscher Sozialdemokraten und Sozialisten in Großbritannien hätten sich mit dem Thema Judenmord bis April 1944 kein einziges Mal beschäftigt. Ganz anders britische Gewerkschaftler: Auch sie hatten 1942 unbezweifelbare Informationen über die Judenvernichtung. Sie protestierten öffentlich.

Am 17. Dezember 1942 habe die Dachvereinigung deutscher Exil-Sozialisten jüdischen Genossen eine öffentliche Erklärung übermittelt, in der das Los der Juden beklagt wurde. Ebenso beklagt wie das Leid der Arbeiter unter dem NS-Joch. Woanders hätten sozialdemokratische Exilanten auch das Schicksal der politischen Gefangenen in gleichem Atemzug genannt. Absichtlich oder unabsichtlich unerwähnt, unerkannt, verkannt blieb darin der spezifisch antijüdische Charakter der NS-Judenpolitik. Alles und jedes wurde durch die klassenspezifische Brille gesehen. Eine »rassenspezifische« setzte sich keiner auf. Damit, so BankierBankier, David, hätte die deutsche Exillinke im zunehmend pauschal-antideutschen Britannien die wie die meisten Deutschen mitlaufende und mitmachende Arbeiterschaft, also ihre eigene Klientel, kontrafaktisch, als das »Andere Deutschland« darstellen wollen. Bis zum Kriegsende erfolgte keine weitere öffentliche Stellungnahme.

Ein kaum anderes Bild ergaben BankiersBankier, David Untersuchungen der deutschen Sozialdemokraten im US-Exil. Die Auslöschung der Juden wäre Teil des Versuchs der Nationalsozialisten gewesen, den Widerstand gegen ihr Regime an sich zu brechen. Gerade in den USA seien die SPD-Exilanten seit 1942 besonders von jüdischen Organisationen ständig mit Informationen über den Fortgang der Judenermordungen versorgt worden. Auf diese Weise, so die jüdische Hoffnung, könnten linke Deutsche die US-Öffentlichkeit und -Politik gegen NS-Deutschland mobilisieren. Keine Reaktion war die Reaktion der SPD-Exilanten. Manche seien auch in Veröffentlichungen so weit gegangen, das von den Nationalsozialisten »den« Deutschen angetane Leid mit dem der Juden gleichzusetzen oder gar stärker zu gewichten. Reinwaschungen der Wehrmacht seien bis 1945 [auch danach, MW] keine Seltenheit gewesen. Kaum zu fassen, diese Absurdität: Deutsche Soldaten hätten beispielsweise beim Warschauer Ghettoaufstand Seit’ an Seit’ mit Juden gegen die SS gekämpft.

 

Und die Moral von der Geschichte? Sie sagt viel aus über das Verhältnis zwischen jeglicher Geschichte, Tradition, Herkunft, Person, Institution. Durch freiwillige ebenso wie unfreiwillige Zugehörigkeit zu jedweder Gruppe übernimmt die einzelne Person, zunächst ohne individuelles Zutun, die Vor- und Nachteile der selbst- oder fremdbestimmten Tradition der jeweiligen Institution. Auf diese Weise steht Sigmar GabrielGabriel, Sigmar, schuldloser Sohn eines bis ans Lebesende bekennenden Nazis, als Sozialdemokrat in der Tradition der Antinazis und sogar der Naziopfer. Das klingt polemisch, ist es aber nicht. Ich beschreibe Mechanismen, ich bewerte sie nicht. Hier ist nicht von »Sippenhaft« die Rede, sondern von politischer Mechanik bzw. politischer Funktion. Juden- und moralpolitisch ist, das lernen wir von David BankierBankier, David, auch diese Tradition freilich alles andere als faktisch und ethisch makellos. Sie ist, wie so oft, wenn es um Menschen gleich welcher Weltanschauung oder Herkunft geht, mehrschichtig und bezogen auf Braunes nicht durchweg blütenweiß. Weder schwarz noch weiß, grau eben. Wie im wirklichen Leben. Gerade bei Denkmälern empfiehlt es sich, über sie nachzudenken.

 

Ein deutsches Denkmal ist Willy BrandtBrandt, Willy. Sowohl generationell als auch ideell und real, denn als Exilant hatte er tatsächlich gegen Braun-Deutschland gekämpft. Als Person gehörte er zur Anti-Nazi-Tradition der SPD. Mehr noch: Nicht zuletzt seine Person gehört zu den Mitbegründern dieser Tradition der SPD als Institution. Ein etwas genauerer Blick ist, wie bei jedem und überall, nötig, um ein genaueres Bild zu bekommen.

Am 1. Januar 1939 veröffentliche Willy Brandt im norwegischen ›Telegraf og Telefon‹ einen recht aufschlussreichen Artikel. Ausführlich und voller Empathie für die verfolgten, misshandelten, gefangenen, entwürdigten und enteigneten deutschen Juden schildert er deren Leidenserfahrungen. »Man könnte viel mehr Beispiele für diese Barbarei nennen.«[4] Richtig. Dann fragt er, was denn, aus Sicht der »Nazisten«[5], der »Sinn« dieser Grausamkeiten sei. »Vieles ist widersinnig in der Politik des Nazismus – hier, wie auf anderen Gebieten. Teils sind die Pogrome nur Ausdruck für den rücksichtslosen Kampf des Nazismus gegen alles, was Humanität heißt, und für seinen Marsch hin zu einer neuen barbarischen Religion. Judenverfolgungen sind im Verlauf der Geschichte oft als Blitzableiter benutzt worden. So ist es auch dieses Mal. Der Kampf gegen die jüdischen Kapitalisten ist das Einzige, was vom antikapitalistischen Programm des Nazismus übrig geblieben ist.«[6] Woraus wir – leider und falsch – lernen, dass »die« Juden – offenbar alle – »Kapitalisten« waren. Eigentlich, so muss man aus Ton und Inhalt des Textes schließen, sei ja das Vorgehen gegen »die« Kapitalisten richtig, doch eben nicht so. Ja, aber. Hier schrieb jemand, der über die tatsächlich erheblich differenziertere Sozialstruktur »der« Juden nichts oder wenig wusste. Judenanalyse nicht aus der Sicht der »Rasse«, sondern der Klasse. Heute liest sich das peinlich. Damals, 1939, war es der herrschende Zeitgeist unter Sozialdemokraten und Sozialisten. David BankierBankier, David hat uns das dokumentiert.

Die Selbstaufgabe des Jüdischen der Juden war und wäre Willy Brandts Ziel gewesen. »Die Assimilierung der Juden, ihr Zusammenschmelzen mit der übrigen deutschen Bevölkerung, war bereits sehr weit gediehen, als die Nazisten an die Macht kamen. Das Naziregime hat diese Entwicklung weit zurückgeworfen. Im Zuge der demokratischen Entwicklung war die Judenfrage im Begriff, auf natürlichem Wege zu verschwinden.« Ebenso die »anormale Sozialstruktur der Juden«, also ihr lupenreiner Kapitalismus.[7]

Was sollte der NS-Terror bewirken? Die »deutsche Bevölkerung einschüchtern.«[8] War das also der eigentliche Skandal NS-deutscher Judenpolitik? Als Teil eins der NS-Strategie.Teil zwei: »Die Expropriation« der deutschen Juden sollte die »deutschen Finanzierungsprobleme« lösen.[9] Teil drei: »Der antisemitische Kurs wird zu Propagandazwecken unter den arabischen Völkern und im Fernen Osten ebenso ausgenutzt, wie er benutzt wird, um reaktionäre Kräfte in Ost- und Südosteuropa zu unterstützen.«[10]

Ein Fortschrittler wäre kein solcher – und Brandt war einer – böte er nicht auch (s)eine Lösung an, die »nur in einer neuen europäischen Ordnung« liege, »wo die Minderheit, die sich eine neue jüdische Nation schaffen will, dazu volle Gelegenheit erhalten muss. Palästina ist genau der Ausweg.«[11]

Wir erkennen: Willy Brandts Denken passte ins allgemeine judenpolitische Bild der sozialdemokratischen Exilanten. Sein Bild von »den« Deutschen ebenfalls. »Es muss zur Ehre des deutschen Volkes gesagt werden, dass es sich nicht aktiv an den Verfolgungen beteiligt hat. Die Opposition war so stark, dass die Sturmtruppen viele Arbeiter und andere verhaftet haben, die gegen den Terror protestiert haben. Es ist eine Solidaritätsbewegung mit den Juden entstanden, die vielleicht ebenso stark ist wie die Opposition des deutschen Volkes gegen den Krieg in diesem Herbst«, womit die Annexion des Sudetenlandes gemeint war.[12] Oh hätte der Fortgang der Geschichte Willy Brandt doch recht gegeben. Wie die allgemein falsche Diagnose der Exil-SPD führte auch seine eben nicht zur Therapie.

Wir springen von der unmittelbaren Vorkriegszeit in die Endphase des Krieges, als die NS-deutsche Niederlage absehbar war. Willy Brandt formulierte am 9. Februar 1945 auf der Mitgliederversammlung der SPD-Ortsgruppe Stockholm seine Vorstellungen über »Deutschlands außenpolitische Stellung nach dem Kriege«. »Deutschland darf sich nicht der Forderung nach Wiedergutmachung widersetzen. Im Gegenteil.«[13] Man ist erleichtert, weil man den späteren bundesdeutschen SPD-»Willy« wiedererkennt.

Er wurde genauer. »Was in Deutschland noch an gestohlenen Sachwerten und vor allem auch an Kunstgegenständen aufzutreiben ist, muss unverzüglich zurückerstattet werden.«[14] Hier war er seiner Zeit weit voraus. Man fühlt sich an die Raubkunstdebatte des frühen 21. Jahrhunderts erinnert. Wie in dieser, ist erstaunlicherweise nur von Kunstgegenständen die Rede, nicht von anderen Raubgütern. Von Immobilien, Unternehmen, Mobiliar, Geschirr und, und, und war und ist auch heute nicht die Rede. Gesundheitsschäden und manch anderes fehlte ebenfalls auf Brandts Liste. Nun gut, eine programmatische Rede soll und muss die großen Linien zeichnen, kein Kleinklein, auch wenn dieses scheinbar Kleine den Betroffenen großen Kummer bereitet hatte.

Vom Allgemeinen zum Besonderen: »Besondere Aufmerksamkeit verdient die Frage der Wiedergutmachung gegenüber den deutschen Bürgern jüdischer Herkunft und [der] zu großem Teil ausgerotteten jüdischen Bevölkerung in anderen Ländern. Was die Bürger jüdischer Herkunft betrifft, die – hoffentlich in nennenswerter Zahl – nach Deutschland zurückkehren, so sind sie – auch in Bezug auf Entschädigungsfragen – gleichzustellen mit allen übrigen von den Nazis verfolgten Deutschen. Im Übrigen ist auch ernsthaft zu erwägen, ob ein nennenswerter Beitrag aus dem Fond, der aus den beschlagnahmten Nazivermögen zu bilden ist, für das Aufbauwerk jenes Teils der Juden zur Verfügung gestellt werden könnte [im Text: »konnte«], die entschlossen sind, in Palästina ein Nationalheim auf- und auszubauen.«[15]

Juden und Nichtjuden wollte Willy Brandt bei der Wiedergutmachung gleichstellen. Kein Wunder, denn aus seiner und der SPD-Exilsicht, waren sowohl das deutsche Volk als auch die Juden Opfer der NS-Politik. Gewiss, es gab unter »den« Deutschen zahlreiche schuldlose Opfer, doch die Gleichsetzung der Unschuld bzw. Opferrolle war eigentlich schon damals starker Tobak, besser: Geschichtsblindheit. Oder gar Schlimmeres? Ich überlasse anderen die wirklich post-, also nachfaktische Analyse.[16]

Mein Fazit bezüglich des späteren »Friedenskanzlers«: Ein »Antisemit« war Willy Brandt nicht, aber auch er war keineswegs frei von antisemitischen Klischees. Er tolerierte, ja, er akzeptierte die zionistisch-jüdische Option, seiner Zielsetzung entsprach diese Judenversion aber ganz und gar nicht. Er hielt sie für einen Rückschritt, weil das Jüdische nicht im Deutschtum aufging. Fortschritt wäre demnach die Auflösung des Judentums im Deutschtum gewesen. Ganz frei von Völkischem war dieser Gedanke nicht.

Ouvertüre 2: Friedens- und Ostpolitik versus Nahostpolitik

… aber er verkörperte das gute Deutschland, die Moral in der Politik. So beurteilen wohl die meisten Willy Brandt. Und wiederum die meisten lassen dabei das Aber weg. Ja, seine Entspannungs- und Ostpolitik bewies Weitsicht und Mut. Brandts Ostpolitik war weit mehr als nur Politik in der Gegenwart für die Zukunft. Sie war nicht zuletzt überzeugende Real-, Moral- und Geschichtspolitik. Das bedeutet, dass die bundesdeutsche Ostpolitik nicht nur rein politische Züge trug, sondern zugleich historische und ethische Dimensionen aufwies. Sie wurde durch die ungeheuren Lasten der NS-Vergangenheit erschwert. Die Lasten trafen besonders die Sowjetunion, Polen und andere Staaten Osteuropas. Womit wir bereits beim elementaren Konflikt, jawohl, Konflikt bundesdeutscher Geschichtspolitik wären.

Bundesdeutsche Geschichtspolitik nach 1945 betraf nämlich nicht nur die Sowjetunion, Polen und Osteuropa, sondern mindestens ebenso sehr, eher mehr »die« Juden. Das wiederum hieß auf die politischen Wirklichkeiten nach 1945/48 übertragen: Bundesdeutsche Geschichtspolitik betraf »die« Juden Israels sowie der Diaspora.

Hauptadressat bundesdeutscher Ost- und Entspannungspolitik war die Sowjetunion. Mit ihr und über sie sollten (und konnten) auch Widerstände bei den anderen ostpolitischen Adressaten überwunden werden: Polen, die DDR und die (damals noch bestehende) Tschechoslowakei. Der Schlüssel zum »Ostblock« lag in Moskau. Das war die Realität.

Die Sowjetunion und mit ihr der gesamte Ostblock befanden sich, mit Ausnahme Rumäniens unter Diktator CeausescuCeausescu, Nicolae, seit 1967 unsichtbar-faktisch und seit 1970 sichtbar-faktisch im Kriegszustand mit dem Jüdischen Staat, Israel.

Vor und nach dem Sechstagekrieg vom Juni 1967, in dem NasserNasser, Gamal Abdels Ägypten, die Diktatur Syriens sowie das Königreich Jordanien große Gebiete an Israel verloren hatten, belieferte die Sowjetunion Kairo und Damaskus massiv mit neuen Waffen. Sie hatte auch Militärberater an die altneuen nahöstlichen Fronten am Suezkanal und auf die Golanhöhen entsandt. Moskau unterstützte gemeinsam mit den verbündeten Marionettenstaaten, allen voran der DDR, die diversen palästinensischen Terrorgruppen gegen Israel. Diese operierten aus und auch gegen Jordanien, genauer: gegen das prowestliche und nahostpolitisch gemäßigte Königshaus. Im September 1970 standen die Palästinensergruppen und -truppen unmittelbar vor der gewaltsamen Machtübernahme in Jordanien.

Reaktionen Israels und der jüdischen Diaspora-Welt auf die sowjetischen Aktionen ließen nicht auf sich warten. Den politischen Hebel setzten sie in der sowjetischen Innenpolitik an. Dass nicht nur die Sowjetjuden, sondern auch andere Sowjetbürger sich aus politischen, wirtschaftlichen und religiösen Gründen in der Sowjetunion nicht gerade wohl fühlten, war 1967 sogar der Außenwelt hinlänglich bekannt. Zu den innersowjetischen Dissidenten zählten nicht wenige jüdische Aktivisten, die lieber vorgestern als gestern ihre Heimat verlassen wollten.

Israel und zahlreiche jüdische Organisationen außerhalb Israels gossen Öl ins innersowjetische Feuer. Sie forderten lauthals und in Anlehnung an das alttestamentliche Buch Exodus (9, 1) sowie den durch Louis ArmstrongArmstrong, Louis weltberühmten Song: »Let my people go!« Anfänglich schien dieser Druck lächerlich. Er glich dem Piepsen von Mäusen gegenüber Elefanten, bewirkte aber schließlich doch seit den frühen 1970er-Jahren allmählich eine Menge. Um die Wirtschaftslage zu verbessern und im Rahmen der amerikanisch-sowjetischen Entspannungspolitik strebte Moskau Handelsvergünstigungen seitens der USA an. Diese machte der US-Kongress 1974 unter anderem von Ausreiseerleichterungen für Sowjetjuden abhängig. Im Parlament durchgebracht hatten dieses Gesetz die beiden proisraelischen Senatoren Henry JacksonJackson, Henry und Charles VanikVanik, Charles. Beide gehörten zur Fraktion der Demokraten. Wir erkennen das Gemisch aus weltweiter Entspannungs-, Wirtschafts-, Nahost- und Judenpolitik, also Geschichtspolitik.

Trotz des erheblichen Einsatzes der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zugunsten ihrer arabischen Nahost-Klientel von 1955 bis 1967 und danach verlief gerade das Jahr 1970, also der Schlüsselzeitraum bundesdeutscher Ostpolitik, für den Ostblock nahostpolitisch geradezu desaströs.

Zur Jahreswende 1969/70 hatte sich Israel im Abnutzungskrieg, den Ägypten im Herbst 1967 (andere rechnen ab Juni 1968) begonnen hatte, die fast absolute Lufthoheit über dem Nil-Staat erkämpft. Jedes beliebige ägyptische Ziel konnten sich Israels Kampfpiloten nach Vorgaben der Politik auswählen. Wie 1967 drohte NasserNasser, Gamal Abdels Truppen eine totale militärische Niederlage. Nun zog die Kremlführung unter BreschnewBreschnew, Leonid Iljitsch die Notbremse zugunsten ihres ägyptischen Politik-Kunden. Sowjetische Piloten griffen ein. Auch sie stießen auf unerwarteten Widerstand der israelischen Luftwaffe. Am 30. Juli 1970 wurden fünf MIG21 Kampfflugzeuge von israelischen Jagdbombern abgeschossen. Vier sowjetische Piloten verloren dabei ihr Leben. Eine Ausweitung des ägyptisch-israelischen Krieges zu einem sowjetisch-israelischen und damit möglicherweise, sozusagen aus Versehen, zu einem sowjetisch-amerikanischen schien plötzlich alles andere als unwahrscheinlich.

In dieser prekären Lage schaltete sich die NixonNixon, Richard-KissingerKissinger, Henry-Administration ein, also die USA. Es ging blitzschnell. Anfang August 1970 wurden Ägypten und Israel von ihren jeweiligen Schutzmächten »überzeugt«, einem Waffenstillstad zuzustimmen. Israel wurde dabei von den USA so sehr an die Kandare genommen, dass es nicht reagieren durfte, als Ägypten nach Eintritt des Waffenstillstands vertragswidrig die damals wirksamsten sowjetischen Luftabwehrraketen am Suezkanal aufstellte. Im Jom-Kippur-Krieg, Oktober 1973, haben diese Geschosse die israelische Luftwaffe beinahe lahmgelegt. Sie erlitt schwerste Verluste.

Was hat diese Nahostpolitik mit Willy Brandts Ostpolitik zu tun? Sehr viel, denn 1970 war, wie gesagt, das Schlüsseljahr bundesdeutscher Ostpolitik, die zugleich Geschichtspolitik war.

1970 waren der Moskauer und der Warschauer Vertrag geschlossen worden, zur Normalisierung der Beziehungen und zur Förderung des Entspannungsprozesses mit der Sowjetunion und Polen. Das bedeutete, dass Bonn seit diesem Zeitpunkt, aber auch bis zum Jom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973, eigentlich bis in die GorbatschowGorbatschow, Michail-Ära, als Moskau seine antiisraelische Politik aufgab, einen Drahtseilakt vollführen musste: Geschichtspolitik 1 gegenüber Osteuropa oder Geschichtspolitik 2 gegenüber Israel und, damit verknüpft, gegenüber »den« Juden. Das ist eine offensichtliche, empirisch belegbare Tatsache, die von den Chronisten bisher nicht wirklich erkannt, benannt und beschrieben wurde.

Es mag einem gefallen oder nicht: Die Bonner Realpolitik entschied über die nur scheinbar zweitrangige moral- bzw. geschichtspolitische Frage, die da lautete: Wem gegenüber trägt Deutschland aufgrund von Weltkrieg und Holocaust größere Schuld: gegenüber »den« Juden oder »den« Völkern Osteuropas, allen voran »den« Sowjetbürgern und Polen?

Jede Antwort auf diese moral- und geschichtspolitische Elementarfrage würde zur zynischen Aufrechnung deutsch-nationalsozialistischer Gräueltaten führen. Eine solch unmoralische Buchführung wird hier kategorisch zurückgewiesen. Realpolitisch, national- und kontinentalpolitisch war Ostpolitik als deutsche und westeuropäische Interessenpolitik in erster Linie Realpolitik. Punkt. Freilich, der Brandt’schen Realpolitik wurden, durchaus ehrlich gemeinte, größere Portionen Moral- und Geschichtspolitik hinzugefügt. Die Prioritäten waren jedoch eindeutig: Vorrang der Ostpolitik vor der Nahostpolitik und damit Vorrang der Geschichts- und Realpolitik gegenüber »den« Osteuropäern«, nicht »den« Juden.

War das nicht verständlich? Der eigentlich nahe Osten Deutschlands ist Osteuropa, und die dominante Macht Osteuropas war die Sowjetunion, ist seit 1991 Russland. Der Nahe Osten, der Vordere Orient, ist nun einmal weiter von Deutschland entfernt. Warschau und Moskau waren und sind Deutschland nicht nur geografisch näher als Kairo, Damaskus, Amman oder Tel Aviv. Folgerichtig mussten Willy Brandt und seine Partner von 1970 bis 1974 ihre geschichts- und erst recht ihre realpolitischen Prioritäten zugunsten der Ost- und nicht der Nahost-, Israel- und Judenpolitik setzen. Dass sie sich hierfür tatsächlich entschieden, ohne darüber lange nachzudenken oder gar an Seelenschmerzen zu leiden, wird in den folgenden Kapiteln anhand verschiedener Fallbeispiele erläutert.

Nebenbei und wenn man den Blick über Willy Brandt hinaus richtet: Willy Brandts Nachfolger, Bundeskanzler Helmut SchmidtSchmidt, Helmut, hat Brandts immerhin noch eher sanften Kurs geradezu zackig vertreten, umgesetzt und nahost- sowie interessenpolitisch (aber auch moralisch?) verständlich zugunsten der Arabisch-Islamischen Welt und gegen Israel ausgerichtet, das er im Herbst 1980 als »größte Gefahr für den Weltfrieden« bezeichnete. Es sei auch an Helmut SchmidtSchmidt, Helmuts ARD-Fernsehinterview vom 30. April 1981 erinnert. Ausgerechnet im unmittelbaren Anschluss an seinen Besuch in Saudi-Arabien verkündete er, dass deutsche Politik nicht länger von Auschwitz überschattet sein solle. Er nannte zudem ausdrücklich die Namen einiger Völker Osteuropas, an denen Hitler-Deutschland unglaubliche Verbrechen begangen habe, und fasste die übrigen unter »et cetera et cetera« zusammen. Kein Wort von den Juden. Die durfte, sollte oder konnte man unter »et cetera et cetera« vermuten.[17] Angesichts der Massenmord-Dimensionen des Holocaust waren diese Worte, zumindest deutschamtlich und erst recht von einem Sozialdemokraten (mit einem jüdischen Großvater), sagen wir, recht ungewöhnlich.