Israel - Michael Wolffsohn - E-Book

Israel E-Book

Michael Wolffsohn

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Beschreibung

Bei diesem E-Book handelt es sich um die erweiterte Version der Paperback-Variante. Dieses Überblickswerk zur Geschichte, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Israels versammelt komprimiert die wichtigsten Informationen über das Land. Der Band ist ideal geeignet als Einführung, Nachschlagewerk und Lehrbuch. Unverzichtbar für alle, die sich mit Israel beschäftigen.

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[2]Israel

[3]Michael WolffsohnTobias Grill

Israel

Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft

8. Auflage

Unter Mitarbeit von:Anette Bauer, Maximilian Beenisch und Michael Hellstern

Verlag Barbara BudrichOpladen • Berlin • Toronto 2016

[4]Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Michael Wolffsohn

Alle Rechte vorbehalten.© 2016 Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin & Torontowww.budrich-verlag.de

ISBN      978-3-8474-0044-8 (Paperback)eISBN    978-3-86649-515-9 (PDF)eISBN    978-3-8474-1076-8 (EPUB)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal – disegno-kommunikation.deSatz: Ulrike Weingärtner, GründauTitelbildnachweis: amorfati.art/Fotolia.com

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]Vorwort

Dieses Buch will grundlegende Daten und Informationen über wichtige ausgewählte Bereiche der Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Israels auf knappem Raum darstellen. Es versteht sich als Einführung und Nachschlagewerk, das Daten sowie Informationen leicht und schnell abrufbar vorlegt. Abbildungen und Tabellen sollen die Arbeit mit diesem Buch erleichtern. Literaturverweise und -verzeichnisse wurden auf ein Mindestmaß beschränkt.

Soweit wie möglich werden Materialien für den Zeitraum von 1882, dem Beginn der zionistisch motivierten Einwanderung nach Palästina, bis 2014 vorgelegt. Die amtlichen Statistiken liefern zwar die besten, doch nicht immer die aktuellen Daten.

Hinter der Masse unpersönlicher Daten darf der Mensch nicht vergessen werden, sie sollen ihn nicht „abschaffen“, vielmehr als Kürzel andeuten, wieviel Leistung er erbracht, Leid ertragen, Hoffnungen verwirklicht oder begraben hat. Ein Beispiel: Die Zahlen zeigen uns für die Jahre von 1932 bis 1938 einen dramatischen Anstieg der jüdischen Einwanderung nach Palästina. Dass sich dahinter der Aufstieg des Nationalsozialismus verbirgt, muss jedermann mitbedenken. Oder: Zwischen 1947 und 1948 wurden die Araber Palästinas aus einer Mehrheit zu einer Minderheit. Hier muss man sich des erbarmenswerten Schicksals der Flüchtlinge und Vertriebenen bewusst sein. Wegen des begrenzten Umfangs dieses Buches bleiben diese Aspekte weitgehend unerwähnt, doch fehlt es wahrhaftig nicht an qualitativ und normativ höchst unterschiedlichen Veröffentlichungen zu diesen Themen.

Daten schaffen also den Menschen nicht ab, sondern zeichnen seine Existenz nach.

Wer Bekenntnisse zu oder über Israel sucht, möge dieses Buch beiseite legen. Wer sich jedoch um eigene Erkenntnisse durch das Sammeln von Kenntnissen bemüht, könnte Starthilfen erhalten.

Bei der bewertenden Urteilsbildung lassen wir die Leser absichtlich allein. Unsere Einstellungen und Meinungen halten wir nicht für bedeutsam genug, um sie den Lesern direkt oder indirekt aufzudrängen. Aus den Tatsachen mögen sie sich ein eigenes Urteil bilden.

Wir vertrauen weiterhin dem mündigen Leser und möchten eher informieren als diskutieren, denn Information ist die Grundlage der Diskussion. Gelegentlich jedoch haben wir gegen den selbstgestellten Anspruch absichtlich verstoßen, wo es notwendig schien und die Aufrichtigkeit es gebot.

Es wurde in den meisten Abschnitten versucht, nicht nur die Handlungen der Politiker, sondern auch die Einstellungen der Bürger zu den jeweiligen Problemen wiederzugeben. Deshalb sind Umfrageergebnisse zu den jeweiligen Themenbereichen häufig zitiert und interpretiert worden.

In der vorliegenden achten Auflage dieses Buches wurden viele neue Daten ergänzt, viele alte gestrichen. Interessierte können für ältere Zusatzdaten die früheren Ausgaben nutzen, auch das Urbuch dieses Buches: „Politik in Israel“. Dank Edmund Budrich erschien es 1983 – im Leske und Budrich-Verlag. Edmund Budrich, der mich sozusagen entdeckte, sei dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet.

München, Januar 2016

[6][7]Inhalt

Vorwort

A Geschichte

1. Israel als Parteienstaat

2. Politische Geografie

3. Die in der Gegenwart wirksame Vergangenheit: Historische Grundlagen

4. Jüdisch-israelische Identität

B Politik

I. Das Regierungssystem

1. Vom Osmanischen Reich zum unabhängigen Staat

2. „Verfassung“, Rechtswesen, Staatsbürgerschaft

3. Die Knesset (Das Parlament)

4. Der Staatskontrolleur

5. Die Regierung

6. Der Staatspräsident

7. Kommunalpolitik

II. Die Parteien

1. Geschichte

2. Organisation und Entscheidungsfindung

3. Finanzierung

4. Inhaltliche und strukturelle Merkmale

III. Das Militär

IV. Die Medien

V. Außenpolitik

1. Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika

2. Die Beziehungen zur Sowjetunion, Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion

3. Das Verhältnis zu Großbritannien

4. Das Verhältnis zu Frankreich

5. Die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland

6. Die Beziehungen zu Europa

7. Israel und die restliche Welt

[8]C Gesellschaft

VI. Die Bevölkerung

1. Bevölkerungsentwicklung und -struktur

2. Das „Zweite Israel“: Juden orientalischer Herkunft

3. Das „Dritte Israel“: Die Araber

VII. Religion

1. Die verschiedenen Glaubensrichtungen

2. Die politische Funktion der jüdischen Religion

3. Die religiösen Institutionen

4. Religiöse Strömungen im Judentum

VIII. Interessengruppen

1. Gewerkschaften

2. Arbeitgeberorganisationen

3. Handwerk und Einzelhandel

4. Kibbutzim

5. Moschawim

6. Die Vereinigung der Landwirte

IX. Erziehungswesen, Freizeit und Literatur

1. Schulen

2. Universitäten

3. Jugendorganisationen, Sportvereine

4. Literatur

X. Israel und das „Weltjudentum“

D Wirtschaft

XI. Rahmenbedingungen

XII. Wirtschaftspolitik in ihrer gesellschaftlichen und politischen Verflechtung

1. Parteien und Wirtschaft

2. Die Histadrut-Wirtschaft

3. Der staatliche Wirtschaftssektor

4. Wirtschaftsordnung und Ideologie

5. Wirtschaftspolitische Etappen (Wirtschaftsgeschichte Israels)

6. Zufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik

XIII. Ausgewählte volkswirtschaftliche Daten

1. Bruttosozialprodukt

2. Preisentwicklung

3. Löhne und Gehälter

4. Arbeitslosigkeit

[9]XIV. Die Wirtschaftsbereiche

1. Netto-Inlandsprodukt zu Faktorkosten (Wer produziert wie viel?)

2. Beschäftigung: Wirtschaftliche und nationale Aspekte

3. Landwirtschaft

4. Industrie

XV. Haushalt und Steuern

1. Defizite

2. Die Einnahmen der Regierung

3. Die Ausgaben der Regierung

XVI. Außenhandel

1. Außenhandelsbilanz

2. Exportstruktur nach Wirtschaftsbereichen

3. Importstruktur

4. Ein- und Ausfuhren nach Regionen

XVII. Außenwirtschaftliche Abhängigkeiten

1. Kapitalimporte und regionale Abhängigkeiten

2. Auslandsschulden

3. Tourismus

Ausblick: Der Weg des Zionismus von der Utopie zur Wirklichkeit

Zeittafel

Literaturverzeichnis und Quellen

Verzeichnis der Abbildungen

Verzeichnis der Tabellen

Abkürzungen

[10][11]A Geschichte

 

[12]1. Israel als Parteienstaat

Am Anfang war die Organisation der Parteien (vgl. Abbildung 1). Im Jischuw, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina vor der Staatsgründung, existierten Parteien, bevor es eine jüdische Gesellschaft, geschweige denn eine funktionierende Wirtschaft gab. Bevor die Mehrheit der Bevölkerung ins Land kam, hatten die wenigen Einwanderer, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nach Palästina eingewandert waren, politische Institutionen gegründet, kurzum die Rahmenbedingungen für ein Parteiensystem und darüber hinaus für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen geschaffen. Das Dach wurde vor dem Haus gebaut. Die Parteien, besonders die sozialistischen, begnügten sich nicht mit der Errichtung von Organisationen, sie bauten ein Netzwerk auf, das ihre Mitglieder und Anhänger „von der Wiege bis zur Bahre“ versorgen sollte. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, ja auch der militärische Bereich, waren mit der Parteipolitik von Anfang an nicht nur verflochten, sie wurden durch sie bedingt. Eine Darstellung Israels muss daher lange vor der Staatsgründung von 1948 und zwar mit dem politischen Bereich beginnen und dabei gleichzeitig Kontinuität und Wandel verdeutlichen.

Da Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Militär, also fast alle Bereiche des öffentlichen, ja sogar des privaten Lebens, auch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit mit Parteipolitik zusammenhängen, wird in diesem Buch immer wieder auf die Rolle der Parteien hingewiesen. Israel konnte lange als Musterbeispiel eines „Parteienstaates“ gelten. Nicht einmal Sportvereine waren unpolitisch: Die Anhänger der Arbeiterparteien fanden sich im Hapoel-Verein zusammen, Liberal-Bürgerliche im Makkabi, reine Nationalisten, besonders Sympathisanten der Cherut Begins, im Beitar, Nationalreligiöse im Elizur. Noch heute tragen Fußballspiele zwischen Hapoel- und Beitar-Mannschaften manchmal Züge politischer Ersatzhandlungen.

Abbildung 1: Entwicklungsschema des zionistischen Aufbauwerkes

Die politischen Strukturen, vor allem die Parteien, entstanden vor Wirtschaft und Gesellschaft. Die jüdische Gesellschaft wurde importiert; sie entstand durch Einwanderung, als die politischwirtschaftlichen Institutionen schon existierten.

[13]2. Politische Geografie

Politische Geografie kann normativ sowie historisch-politisch sein. Weder die eine noch die andere ist eindeutig bestimmt, und feststehend ist keine von beiden. Voraussetzung sowohl der normativen als auch der historisch-politischen Geografie ist die natürliche, da sie beide sozusagen dynamisiert, politisch-militärische Offensiven oder Defensiven programmiert, wie beispielsweise der Rhein in der französischen oder der Jordan in der zionistischen Geschichte.

Die wichtigste Grundlage der normativen, politischen Geografie des Zionismus ist das Alte Testament. Aber selbst diese normative Grundlage ist keineswegs eindeutig, da auch die „von Gott verheißenen“ Landesgrenzen, die in der Bibel genannt werden, höchst unterschiedlich sind. Auch im Talmud, der Fixierung und Kommentierung der zunächst nur mündlich überlieferten Gesetze, gibt es zahlreiche abweichende Schilderungen der Grenzen des „Landes Israel“ (Eretz Israel).

In Genesis (15:18) versprach Gott Abraham das Land „vom Nil bis zum Euphrat“, das später vor allem die Untergrundarmee Lehi beanspruchen sollte (vgl. Deuteronomium 1:7 und 11:24). In Numeri (34:3–15), ähnlich auch in Jehezkel (47:15–20), ist das Gebiet schon wesentlich kleiner, ohne dass es heute genau rekonstruierbar wäre. Es umfasst zumindest Teile des nördlichen Negev, das Westjordanland und Galiläa. Wesentlich expansiver ist das in den Psalmen (72:8–11) dem künftigen Messiaskönig versprochene Reich, das vom Nil, dem Mittelmeer, Euphrat, Persischen Golf und Roten Meer umgrenzt werden sollte.

Die Formel vom „gelobten Land“ bezieht sich auf die Juden. Diese normative Grundlage der politischen Geografie beinhaltet also jüdisch-arabischen Sprengstoff. Die Verheißung für den einen wird zum Schrecken des anderen.

Paradoxerweise könnte man jedoch sogar den Koran als historisch-politischen Atlas zugunsten der jüdischen Seite zitieren. Das ist nicht verwunderlich, denn der Koran stellte sich unzweideutig in die Tradition des Alten Testamentes. Man schlage folgende Suren auf: 10/94, 14/14–16, 17/105, 21/72–76, 24/56, 26/58 und 26/59. Wie für die jüdischen Propheten ist für den Koran Zion das Gelobte Land der Juden, aus dem sie ihrer Sünden wegen von Gott ins Exil geschickt wurden. Demzufolge hinge eine Rückkehr der Juden ins Gelobte Land von ihrer religiösen Umkehr ab. Diese Umkehr müsste, aus islamischer Sicht, dann freilich die Abkehr vom Judentum bedeuten. Mit anderen Worten bietet die jeweilige Heilige Schrift eine zumindest problematische Rechtfertigungsgrundlage für politisch-geografische Ansprüche – der einen und anderen Seite.

Orte und Ortsnamen können Symbole sein und der normativen politischen Geografie zugeordnet werden. Auschwitz wäre ein Beispiel aus der Zeitgeschichte der jüdischen Diaspora. Die Umwandlung arabisch-palästinensischer Orte und Ortsnamen in israelisch-hebräische wäre in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. Das oberhalb und westlich des Sees Genezareth gelegene Plätzchen Karnei Chittin ist besonders am 4. Juli ein Ort der politischen Wallfahrt israelischer Araber mit ausgeprägt palästinensischer Identität geworden. Warum? Weil hier am 4. Juli 1187 die Schlacht von Hattin stattfand: Die Kreuzfahrer wurden von Saladin entscheidend geschlagen. Es war der Anfang vom Ende einer Fremdherrschaft in Palästina. Und als Fremdherrschaft empfinden Palästinenser den jüdischen Staat.

Die Dynamik der historisch-politischen Geografie veranschaulichen die folgenden Abbildungen.

[14]a) Das Staatsgebiet

In der Unabhängigkeitserklärung Israels werden die Grenzen des Jüdischen Staates nicht genannt, da sich Maximalisten und Minimalisten nicht einigen konnten. Art. 1 des am 16. September 1948 vom Provisorischen Staatsrat verabschiedeten „Gesetzes über den räumlichen Rechts- und Zuständigkeitsbereich“ besagt: „Jedes im gesamten Staat Israel angewandte Gesetz wird als gültig angesehen in Bezug auf das gesamte Gebiet, das den Staat Israel sowie alle Teile von Eretz Israel umfasst, die der Verteidigungsminister als von Tzahal [israelische Verteidigungsarmee] gehalten erklärt.“ (zit. aus: Rubinstein 1974: 60).

Abbildung 2: Historisch-politische Geografie

[15]

[16]

[17]

[18]

[19]

[20]Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 hatte man sich mit den Grenzen abgefunden, sie jedoch nicht gesetzlich verankert. Am 27. Juni 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, ergänzte die Knesset, Israels Parlament, das Neuordnungsgesetz „Law und Administration Ordinance“ (LAO) vom 19. Mai 1948, um Art. 11b, der besagt: „Recht, Gerichtsbarkeit und Verwaltung des Staates werden auf das Gebiet von Eretz Israel angewandt, welches die Regierung durch eine Verordnung festsetzt“ (zit. aus: Rubinstein 1974: 63). Am 28. Juni 1967 wurde israelisches Recht auf Ost-Jerusalem übertragen, es wurde annektiert. Am 30. Juli 1980 verabschiedete die Knesset ein „Grundgesetz“, das Jerusalem zu Israels „unteilbarer“ Hauptstadt bestimmte.

Die Einverleibung Ost-Jerusalems führte keineswegs zu einem jüdisch-arabischen Miteinander. Nur das geografische Nebeneinander war aufgehoben worden. Im Herbst 1987, noch vor dem „Aufstand der Palästinenser in den besetzten Gebieten“, also vor der „Intifada“, ergab eine Umfrage bei den jüdischen Bürgern der Stadt, dass zwei Drittel seltener als früher in Ost-Jerusalem einkauften. Ebenfalls zwei Drittel lehnten eine Beteiligung der arabischen Jerusalemer an der Verwaltung der Stadt ab, und ein Drittel wollte ihnen das Wahlrecht verweigern. „Mit harter Faust“ müsse man sie beherrschen, meinten 52% (Smith-Institut, N. Schragai, Ha-Aretz, 21.3.1988).

Am 14. Dezember 1981 wurden die wasserreichen Golan-Höhen durch Beschluss des Parlamentes israelisches Rechtsgebiet. Mit 53 zu 30 Stimmen beschloss die Knesset am 26. Januar 1999, die Rückgabe des Golan und Ost-Jerusalems sei nur durch absolute Mehrheit der Parlamentarier sowie durch eine Volksabstimmung möglich.

Von 1978 bzw. 1982/1985 bis zum Sommer 2000 kontrollierte Israel mit Hilfe der „Südlibanesischen Armee“ Teile des südlichen Libanon, den die Zionistische Weltorganisation schon 1919 für den künftigen jüdischen Staat beansprucht hatte. Der Grund hierfür war der Wasserreichtum des Südlibanon. Auch die Geografie zwischen diesen beiden Staaten war selten unpolitisch. Man muss sie im geografisch-politischen Zusammenhang mit der Wasserscheide der Golan-Höhen und Nord-Galiläas, also den Quellflüssen des Jordan, sehen. Kontrolle über die Wasservorräte bedeutet eben auch politisch-militärische und nicht zuletzt wirtschaftliche Sicherheit.

Syrien und Jordanien möchten das Wasser des Jarmuk zumindest teilweise in eigene Bewässerungssysteme ableiten.

Seit 1967 trinken die Israelis Wasser, das ihnen eigentlich gar nicht gehört. Es kommt aus dem besetzten Westjordanland. Im Wasserhaushalt Israels wird nicht mehr zwischen dem Kernland und den besetzten Gebieten unterschieden. Ein Viertel der Wasserreserven Israels lagern unter dem Westjordanland. Achtzig bis neunzig Prozent behält Israel für die jüdische Bevölkerung. Umgekehrt liefert Israel aus eigenen Quellen Wasser in den Gaza-Streifen.

Schon heute kann man daher sagen, dass eine Lösung der Gebietsfrage keineswegs nur durch Ideologien oder militärische Denkmuster erschwert wird. Es geht darum, dass keine Seite der anderen „das Wasser abgräbt“ – im wörtlichen Sinne.

Am 17. April 2000 beschloss das israelische Kabinett Meerwasserentsalzungsanlagen zu errichten. Inzwischen ist Israels Wasserproblem dadurch erheblich entschärft.

Die legalistischen, „völkerrechtlichen“ Diskussionen über die Grenzen Israels oder Palästinas, auch Jordaniens und des Libanon, verfehlen das eigentliche Problem. Weder israelisches noch jordanisches, osmanisches oder durch Völkerbund und Vereinte Nationen gesetztes „Recht“ ist in diesem Konflikt unumstritten beziehungsweise überparteilich. Alle diese Ausprägungen des stets parteilichen Rechts betreffen das zweitrangige Problem der Legalität. Von erstrangiger Bedeutung ist die Legitimität, das heißt das Problem der inneren[21] und dann geäußerten Zustimmung der Betroffenen, aller Betroffenen, zu den jeweiligen Grenzen. Die bisherigen legalen Grenzen entbehren der Legitimität.

Literaturhinweise

— Efrat 1996

— Gila 2003

— Karmon 1983

— Kimmerling 1983a

— Morag 2001

b)Die Siedlungspolitik

Die israelische Siedlungspolitik erhitzt die Gemüter national und international. Hier einige der wichtigeren Daten und Zusammenhänge:

Die meisten Siedlungen haben zunächst Mitglieder der religiösen, extrem nationalistischen Gruppe Gusch Emunim gegründet. Rund ein Viertel aller jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten wurde von diesen Falken errichtet. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Männer und Frauen des Gusch Emunim fast ausschließlich europäischer und weit häufiger noch amerikanischer Herkunft sind.

Die Siedlungsaktivisten unter den Falken, diejenigen also, die ihren harten Worten auch Taten folgen lassen, sind entgegen dem weit verbreiteten Denkmuster nicht afro-asiatischer beziehungsweise orientalischer Herkunft. Dies wird uns noch mehrfach im Zusammenhang mit dem „zweiten Israel“, den Israelis orientalischer Herkunft, beschäftigen.

Von der Spaltung der israelischen Gesellschaft in der Religionspolitik blieb die Siedlerbewegung nicht verschont. Immer häufiger wurden getrennte Siedlungen für Religiöse und Nichtreligiöse geplant.

Die Bevölkerungsentwicklung der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten zeigen die folgenden Tabellen.

Tabelle 1: Jüdische Siedler im Gaza-Streifen

1972

1977

1981

1983

1989

1992

1996

2000

2005

700

3.500

5.300

700

2.300

4.000

5.200

6.500

8.200

Tabelle 2: Jüdische Siedler auf den Golan-Höhen

1972

1977

1983

1989

1993

1996

1999

2006

2010

2012

2013

600

3.000

6.800

9.400

12.600

14.000

15.000

16.100

18.000

18.900

19.400

Tabelle 3: Jüdische Siedler im Westjordanland

1972

1977

1981

1984

1989

1993

1996

1999

2001

2006

2012

2013

2014

800

4.400

16.200

42.600

85.000

130.000

134.000

166.100

199.400

250.000

334.200

349.100

356.000

Oft wird bei den Zahlenangaben übersehen, dass außer den jüdischen Siedlern im Westjordanland viele jüdische Israelis im 1967 einverleibten Ost-Jerusalem leben. Im Jahre 2014 waren es rund 200.000, gegenüber ca. 250.000 Ost-Jerusalemer Palästinensern. Vor dem [22]SechsTage-Krieg von 1967 war Ost-Jerusalem eine ausschließlich arabische Stadt. Freilich war sie 1947/48 von den Jordaniern sozusagen „judenrein“ gemacht worden.

Der vom Likud geführten Regierung ist es zwischen 1977 und 1992 zweifellos gelungen, die Siedlungspolitik im Westjordanland bzw. „Judäa und Samaria“, so auch die Sprachregelung unter nicht wenigen der Tauben, zu intensivieren.

Von 1984 bis 1990, als der Likud nicht mehr die Regierung alleine, sondern mit der Arbeitspartei gemeinsam führte, hat sich die Zuwachsrate der jüdischen Siedler im Westjordanland nur geringfügig verändert. In der Siedlungspolitik bedeutete demnach der Wechsel der Koalition an der Regierungsspitze keine Wende. Auch während der friedenspolitischen Offensive unter Rabin und Peres stieg die Zahl der Siedler in den Jahren 1992 bis 1996 nicht unerheblich. Die Regierung Netanjahu förderte die Siedler wieder massiv.

Die meisten Siedler, nämlich rund drei Viertel, haben sich in unmittelbarer Nähe, das heißt rund dreißig Autominuten von Jerusalem (45%) oder Tel Aviv (30%) entfernt, niedergelassen. Sie leben vor allem in fünfzehn Großsiedlungen. Allein in Ma’ale Adumim, östlich von Jerusalem, lebt rund ein Viertel aller jüdischen Siedler im Westjordanland.

Als weitere wichtige eher städtische Ballungsräume der jüdischen Siedler wären zu nennen: Ariel, Kirjat-Arba bei Hebron, Ma’ale Ephrajim, El Kana und Emanuel.

In rund zwei Drittel der 144 Siedlungen leben nur ungefähr 200 Menschen, manchmal sogar noch weniger.

Abbildung 3: Jüdische Siedler im Westjordanland, 1972–2014

Daten: Statistical Abstract of Israel

Das strategisch-politische Ziel liegt bei diesem Siedlungsmuster auf der Hand: Mit vergleichsweise wenig Siedlern sollten arabische Städte und Dörfer umzingelt, ja voneinander abgeschnitten werden. Die geringe Quantität der jüdischen Siedler erhält auf diese Weise eine bedeutsame strategisch-bevölkerungspolitische Qualität im Westjordanland.

Von 1967 bis 1977 hat die von der Arbeitspartei geführte Koalition ein anderes Siedlungsmuster bevorzugt: Sie errichtete die meisten bevölkerungs- und militärpolitischen „Stützpunkte“ in Form von Siedlungen vornehmlich in der Jordansenke, auf den Höhenzügen des Westjordanlandes, in der Gusch-Etzion-Region (zwischen Jerusalem und Hebron), im Großraum Jerusalem, auch auf den Golan-Höhen.

[23]Seit 1977 gab der Likud in der Regierung auch siedlungspolitisch den Ton an. Er bevorzugte das „Streuungsmuster“ – mit dem Ergebnis, dass die der Arbeitspartei nahestehenden Siedlungen in der Jordansenke finanziell und siedlungspolitisch in eine Krise gerieten. Auftrieb bekamen die Siedlungen der extrem nationalistischen und religiösen Gruppierungen.

Die scheinbar trockenen Zahlen bergen Zündstoff in sich. Je mehr Siedlungen nämlich bestehen, desto mehr müssten im Falle eines territorialpolitischen Kompromisses geräumt werden.

Die meisten jüdischen Siedler im Westjordanland ziehen es vor, in städtischen, nicht-landwirtschaftlichen Ortschaften zu leben, die man bequem, d.h. in etwa 30 Autominuten von Jerusalem oder der Küstenebene aus (Großraum Tel Aviv), erreicht.

Abbildung 4: Israelische Siedlungen im Westjordanland 1994

Diese Tatsache ist sowohl geografisch als auch ideologisch bedeutsam, zeigt sie doch, dass diese Siedler mit dem traditionellen zionistischen Chalutz-Ideal des landwirtschaftlichen Pioniers gebrochen haben. Der Chalutz wurde offensichtlich vom bürgerlichen Pendler ersetzt.

[24]Abbildung 5a: Siedlungsstrategie der Arbeitspartei (IAP) bis 1977 (Allon-Plan)

Abbildung 5b: Siedlungsstrategie des Likud seit 1977

Andererseits leben nicht wenige der motivierteren Siedler (andere würden sie „Fanatiker“ nennen) in kleineren landwirtschaftlichen Gemeinschaften, in denen hart gearbeitet und nicht gependelt wird. So gesehen sind sie es, die das chalutzische Erbe des Zionismus fortsetzen, eine Tradition, die ursprünglich von der Arbeiterbewegung begründet worden war.

[25]Die Siedlungen im Westjordanland üben darüber hinaus noch eine andere Anziehungskraft aus. Wohnungen sind in den eher städtischen Ortschaften weit billiger zu erwerben als im israelischen Kernland. Außerdem liegen sie in landschaftlich wunderschönen Gegenden, wo die Luft noch gut und die Umwelt unzerstört ist.

Mit dem Durchschneiden oder Umzingeln arabischer Ortschaften mögen die Siedler das Problem der geringeren Zahl technisch-militärisch, nicht jedoch politisch, ideologisch oder demografisch gelöst haben.

So sehr sich die Siedler, zum Teil durchaus chalutzisch, abmühten, so wenig konnten sie das demografische Ungleichgewicht zwischen Arabern und Juden grundsätzlich, vor allem gewaltlos, verändern. Je mehr das Westjordanland ein Teil des jüdischen Staates wurde, desto gewichtiger war der Anteil von Arabern in diesem Gemeinwesen.

In Zahlen ausgedrückt: Im israelischen Kernland lebten im Jahre 2014 rund 1,46 Millionen Araber. Die Zahl der Palästinenser im Gaza-Streifen und Westjordanland: etwa 4,62 Millionen. Basierend auf den Zahlen von 2014 stünden im Falle einer Annexion rund 6,2 Millionen Juden rund 6,1 Millionen Palästinensern gegenüber.

Die Bemühungen, das Westjordanland zu judaisieren, müssen paradoxerweise zur Entjudaisierung des jüdischen Staates führen, dessen jüdische Substanz verwässern oder gar auflösen. Ungewollt schafften die Super-Falken das Traumziel der Super-Tauben: den binationalen, das heißt den jüdisch-arabischen, Staat – anstelle des rein jüdisch bestimmten Gemeinwesens. Nur eine Alternative wäre denkbar: Die Abschaffung der Demokratie. Warum? Die Antwort ist einfach: weil die Integration von weiteren Millionen Arabern aus den Gebieten neue politische Grundentscheidungen notwendig machte. Entschieden werden müsste, ob man dieser großen Minderheit aus dem Kernland und den Gebieten das gleiche Wahlrecht auf Dauer verweigern könnte (Die Araber im Kernland haben das gleiche Wahlrecht). Verweigerte man Millionen Arabern das gleiche Wahlrecht, würde man zwar Israels zionistische Strukturen erhalten, das heißt den jüdisch bestimmten Charakter bewahren, gleichzeitig aber die demokratische Tradition des Zionismus aufgeben. Räumte man diesen Arabern das gleiche Wahlrecht ein, verlöre der jüdische Staat seinen zionistischen, rein jüdischen Charakter. Mit anderen Worten: Die Alternative hieße „Zionismus oder Demokratie“.

Literaturhinweise

—Statistiken: Statistical Abstract, Stichworte: Bevölkerung sowie „Judäa, Samaria, Gaza-Streifen“. In diesem Buch vgl. die Abschnitte B/II/4a (Tauben und Falken), C/VI/3 (Araber in der israelischen Gesellschaft), D/XV/3 (Ausgaben der Regierung)

—Efrat 2006 und 1988, bester allgemeiner Überblick

—Eldar/Zertal 2007

 

3. Die in der Gegenwart wirksame Vergangenheit: Historische Grundlagen

Die in der israelischen Politik wirksame Vergangenheit äußert sich vor allem im Holocaust-Syndrom sowie in der Kontinuitätsthese und, abgeleitet aus dem Holocaust-Syndrom, dem Einsamkeitsgefühl. Hinzu kommt bei den religiösen Israelis das Bewusstsein der Auserwähltheit des jüdischen Volkes, bei den weltlichen Israelis die Überzeugung, Zionismus und [26]Israel verkörperten (im Sinne Rousseaus) den „allgemeinen Willen“ des jüdischen Volkes (vgl. C/X). Der allgemeine Wille kann bei Rousseau bekanntlich nicht irren.

Unter dem Holocaust-Syndrom wird das aus der Geschichte des jüdischen Volkes überlieferte Gefühl verstanden, ständig von anderen verfolgt zu werden. Die Kontinuitätsthese hebt die kontinuierliche Verbindung zwischen dem Volk und seinem Land hervor. Dass diese nicht im Land bestand, wird auf den Gang der Geschichte zurückgeführt, nicht auf den Willen des Volkes.

Anhand der Zahlen über die Herkunftsländer der Einwanderer vor und nach der Staatsgründung kann mühelos abgelesen werden, wo und wann Judenverfolgungen stattfanden (vgl. C/VI/1a-d). Aus den Staaten, in denen Juden nicht verfolgt wurden und wo sie außerdem günstige materielle Lebensbedingungen fanden, kamen, wenn überhaupt, nur wenige Einwanderer.

Das Holocaust-Syndrom bezieht sich keineswegs nur auf Deutschland und das deutsch-jüdische bzw. deutsch-israelische Verhältnis. Deutschland symbolisiert den Holocaust, der wiederum ein allgemeines Kennzeichen für die in der Gegenwart Israels wirksame Vergangenheit ist. Dies ist sozusagen der Wahrnehmungsfilter, durch den die Betroffenen ihre Umwelt sehen.

In einer im Dezember 1999 im Auftrag von Jad Vaschem durchgeführten Umfrage sagten 87% der Israelis, dass der Holocaust der „zentrale Faktor [ihrer] kollektiven Identität“ sei (Avner Schalev, Ha-Aretz, 2.5.2000).

Das Holocaust-Syndrom ist damit nicht nur auf die Israelis euro-amerikanischer Herkunft beschränkt. Die in den arabischen Staaten lebenden Juden erlebten andere, aber doch psychologisch und politisch vergleichbare Ängste. So wurden zum Beispiel 1941 im Irak Juden während eines prodeutschen Aufstandsversuches verfolgt und ermordet, weil sie als Zionisten verdächtigt wurden. Wäre der Putschversuch gelungen, hätten weitere Drangsalierungen nicht auf sich warten lassen. Rommels Wüstenfeldzug hätte der Anfang der „Endlösung“ des nordafrikanischen Judentums werden können.

Für einige nordafrikanische Juden war dieser Anfang bereits das Ende. Sie wurden in die Vernichtungslager Osteuropas verschleppt und dann ermordet. Im von Deutschen besetzten Libyen kamen 600 Juden um, in Tunesien 200. Tausende wurden in Konzentrationslager deportiert, von denen es in Tunesien 32 gab (Jad Vaschem-Studie, Irit Abramski-Blei, Ha-Aretz, 22.9.1997. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in Tunesien und Libyen vgl. Pinkas Kehilot, Band 16, Jerusalem: Jad Vaschem 1997, bes. Matthäus/Mallmann; Mallmann/Cüppers).

In Äthiopien wurden die dort lebenden Juden, Falaschas genannt, ebenfalls verfolgt. Deshalb unternahm Israel zu Beginn der 1980er Jahre eine Rettungsaktion für diese Juden. Sie wurden mit amerikanischer und – jawohl – sudanesischer Hilfe nach Israel ausgeflogen. Das war die „Operation Moses“ (Parfitt 1985). Ab Januar 1990, nach der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Äthiopien und Israel, wurde sie öffentlich fortgesetzt. Die Falaschas wollten dem Bürgerkrieg entkommen. Im Mai 1991 wurden im Rahmen der „Operation Salomon“ fast alle verbliebenen Falaschas in wenigen Tagen nach Israel gebracht.

Das Holocaust-Syndrom ist ein nicht nur historisch bedingter Wahrnehmungsfilter, er dient auch als politisches Argument. So wurde beispielsweise die PLO oft mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt. Dass zudem der historische Führer der palästinensischen Nationalbewegung, Amin el-Husseini (der „Großmufti“ von Jerusalem), Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg versprach, sich aktiv an der „Endlösung“ der Judenfrage zu beteiligen, festigt Wahrnehmungsmuster dieser Art zusätzlich. Am 6. November 1941 wurde hierüber eine deutsch-italienisch-palästinensische Vereinbarung getroffen. Dokumente im Kriegsverbrecherarchiv der UNO belegen dies. Ende November 1941 empfing Hitler den Mufti in Berlin.

[27]Die Blockade der Meerenge von Tiran durch Ägyptens Staatspräsident Nasser in den Jahren 1956 und 1967 wurde ebenfalls als Versuch interpretiert, einen neuen Holocaust zu inszenieren.

Die Zabarim (die im Lande Geborenen) oder die Kinder derjenigen, die „ihren“ Holocaust erlebt hatten, lernten in Palästina, dann auch im Staate Israel, was es bedeutet, um seine Existenz kämpfen zu müssen: 1929 (Massaker), 1936–1939 (Arabische Revolte), 1944–1947 (Kampf gegen die Mandatsmacht), 1948/49 (Unabhängigkeitskrieg), 1956 (Sinai-Kampagne), 1967 (Sechs-Tage-Krieg), 1969/70 (Abnutzungskrieg am Suez-Kanal sowie verstärkte militärische Auseinandersetzungen mit palästinensischen Freischärlern), 1973 (Jom-Kippur-Krieg, Krieg gegen die PLO). Das Gefühl, dass Juden bzw. Israelis von anderen Völkern verfolgt werden, verstärkte sich. Der Libanon-Krieg des Jahres 1982 (mit seinen Folgen bis in die unmittelbare Gegenwart) wurde erstmals von weiten Teilen der israelischen Öffentlichkeit als Angriffskrieg empfunden und dürfte nicht zuletzt deswegen im Bewusstsein der Israelis als Einschnitt empfunden worden sein.

Aus dem Holocaust-Syndrom resultiert ein Einsamkeitsgefühl, das auch durch die politische Geografie bedingt wird. Israels Nachbarn sah man, jedenfalls bis zum Abschluss des Friedensvertrages mit Ägypten (26. März 1979), als Feinde; die Freunde des Staates waren auch geografisch weit entfernt. „Vor dem Hintergrund der Massenvernichtung in der Nazizeit und deren unmittelbaren Nebenwirkungen hat sich die Wirkung der Isolierung vervielfacht und einen Pessimismus, ein Gefühl des ‚völligen Alleinseins in der Welt‘ hervorgebracht“ (Elon 1972: 214). Ähnlich reagierte die israelische Öffentlichkeit am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges nach der Schließung der Straße von Tiran durch Nasser. Vergleichbare Gefühle löste auch die Nahost-Erklärung der Außenminister der EG vom 6. November 1973, nach dem Jom-Kippur-Krieg, aus.

„Die ganze Welt gegen uns“. Das war schon Ende der 60er Jahre ein Erfolgsschlager in der Pop-Hitparade Israels und ein Indikator für die Einsamkeitsgefühle der Israelis.

Kritik an Israel wurde – kein historischer Zufall! – im Januar 1986 von rund 60% der jüdischen Israelis als „Antisemitismus“ bezeichnet (a.a.O.: 110), mit der Schlussfolgerung: „Bei der Gestaltung seiner Politik sollte sich Israel nicht um die Meinung der Nicht-Juden“ kümmern. Das meinten ebenfalls im Januar 1986 immerhin 55% der Israelis (ebd.). Inzwischen ist man gelassener. Dass man die Nationalgeschichte, sogar die Gründerzeit, „kritisch“ darstellen könne, meinten Ende April 1998 70% der jüdischen Israelis. Nur 21% sahen es anders (Friedensindex, Universität Tel Aviv, Ha-Aretz, 3.5.1998).

Holocaust- und Einsamkeitssyndrom haben das Gefühl in Israel aufkommen lassen, dass man die einstige gesellschaftliche Isolation der Juden in den verschiedenen nationalen politischen Systemen, ihre Ghetto-Existenz, mit der heutigen politischen Vereinzelung des jüdischen Staates im internationalen System vergleichen könne. Israel sei – tragische Ironie der Geschichte des Zionismus – so etwas wie ein neues Ghetto in der heutigen Staatenwelt. Erträglicher wird das Einsamkeitsgefühl freilich durch ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Bei den weltlichen Israelis bezieht es sich auf die Leistungen des zionistischen Aufbauwerks, bei den Religiösen wird es durch das Bewusstsein der Auserwähltheit gestärkt.

Die Kontinuitätsthese stellt den Zusammenhang zwischen Volk und Land her. Es ist kein Zufall, dass in Israel die Archäologie so etwas wie ein Volkssport geworden ist. Es ist eine „patriotische Archäologie“ (Elon 1972: 307). Die „alten Steine“ besitzen politische Symbolkraft. Die „Klagemauer“ in Jerusalem und die Festung Massada belegen dies besonders überzeugend (Wolffsohn 1983: 326f.). Massada symbolisiert die physische und psychische Kontinuität zwischen Volk und Land. Physisch, weil damals und heute Juden in Eretz Israel lebten und leben; psychisch, weil der Geist von Massada das genaue Gegenteil der Diaspora-Juden[28] darstellt: den wehrhaften Juden, der sich nicht einfach zur Schlachtbank führen lässt. Deshalb wählen noch heute viele Israelis Vor- oder bei Hebraisierungen auch Familiennamen, die Festigkeit, Mut oder Kraft ausdrücken.

Auch die Faszination von Massada verblasst inzwischen, nachdem bekannt wurde, dass 1965 in den Gräbern der jüdischen Helden ganz unkoschere Schweineknochen gefunden wurden (Fuld 1999: 170f). Sollten die jüdischen Heroen Frevler gewesen sein? „Mörder und Räuber“ seien sie gewesen, meinten 1997 zwei Jerusalemer Schuldirektoren (Merav Nescher, Ha-Aretz, 25.3.1997). Man lese den „Jüdischen Krieg“ von Flavius Josephus und bilde sich ein eigenes Urteil. Einige Historiker gaben zu bedenken, dass man Jugendliche nicht zum Selbstmord erziehen sollte, sondern zum Leben, auch unter einer Besatzung (ebd.).

Als Vorbilder gelten die Widerstandskämpfer, die im Frühjahr 1943 den Aufstand im Warschauer Ghetto gegen die Deutschen entfachten. Die „Judenräte“, die im Allgemeinen das Schlimmste verhüten wollten, doch passiv blieben, oder gar die Diasporajuden, die sich „wie Lämmer zur Schlachtbank“, also in die Vernichtungslager, führen ließen, stießen lange auf Unverständnis.

Im Sommer 1989 begann gerade hierüber eine heftige innerisraelische Diskussion. Ausgelöst wurde sie durch die Tagebuchnotizen des 1970 verstorbenen Dichterfürsten Nathan Alterman. Nicht nur der bewaffnete Widerstand, auch die Tätigkeit der Judenräte müsse anerkannt werden, schrieb Alterman. Ähnliches hatte er schon 1954 veröffentlicht. Denkmalstürzlerisch war jedoch seine bis 1989 unveröffentlichte Tagebuchnotiz, in der er dem jüdischen Widerstand unterstellte, mehr am antifaschistischen Kampf als an der Rettung von Juden interessiert gewesen zu sein. Das freilich ist eine unzutreffende, geradezu böswillige Unterstellung.

Zur Verherrlichung des jüdischen Widerstandes greifen manche auf die Alte Geschichte zurück, zum Beispiel auf die Makkabäer. Sie hatten im zweiten vorchristlichen Jahrhundert die hellenistisch-seleukidischen Syrer geschlagen und ein jüdisches Staatswesen errichtet.

Den Typ des wehrhaften Juden personifiziert eine andere historische Gestalt: Simon Bar Kochba, der in den Jahren 132 bis 135 n. Chr. in Judäa den letzten vergeblichen Aufstand der Juden gegen die römischen Eroberer anführte (vgl. zum Gegenwartsbezug auch Aronoff 1986). In der „amtlichen“ Geschichtsschreibung in den Schulbüchern Israels gilt Bar Kochba als „Held“. Jehoschafat Harkabi, ehemals Professor für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem, davor Chef des militärischen Nachrichtendienstes, hielt eben diesen Bar Kochba für einen Irrationalisten, der sein Volk in einen sinnlosen, selbstmörderischen, weil aussichtslosen Kampf führte. Harkabi (1983) schlug daher eine „Revision“ des Geschichtsbildes über Bar Kochba vor, um aus den Fehlern von gestern vor den Gefahren irrationaler Politik heute und morgen zu warnen. „Eine Nation, die ihr Bild über die eigene Vergangenheit ändert, wird auch ihre Zukunft verändern“, meinte Harkabi. Kein Zweifel: Geschichte als politisches Argument ist wirksamer Bestandteil der politischen Kontroversen der Gegenwart. 1997 verlangten jüdische Veteranen aus Russland, der 8. Mai solle offizieller Gedenktag werden. Immerhin hätten in der Roten Armee rund 500.000 Juden gegen Hitler gekämpft, wobei 200.000 ihr Leben verloren (vgl. Joseph Croitoru, FAZ, 8.1.1997).

Für die in und um Palästina lebenden Araber sind die Ereignisse der Jahre 1947/48 sicherlich ein Trauma, dessen Fernwirkungen politisch bedeutsam wurden – wie auch das Massaker von Beirut (16./17. September 1982). In der politischen Psychologie der palästinensischen Araber haben Dir Jassin und die Massenflucht (andere sagen: Vertreibung) arabischer Palästinenser im Jahre 1948/49 sowie 1967 und 1982 sicherlich den gleichen Stellenwert wie Auschwitz für die jüdischen Israelis. Hier geht es nicht um die Vergleichbarkeit der tatsächlichen Dimensionen, den Unterschied zwischen wehrlosen KZ-Insassen[29] und Zivilisten, die zumindest teilweise bewaffnet waren, es geht nicht nur um die objektive historische Wahrheit (gibt es die?), sondern um die kollektiv-subjektiv empfundene Wahrnehmung der Geschichte.

Die im Staatsgebiet Israels lebenden Araber haben sich gewiss ebenfalls einsam gefühlt, besonders solange sie nicht den Kontakt zur arabischen Welt, d.h. zur Bevölkerung im Westjordanland, im Gaza-Streifen und durch die Politik der offenen Brücken zu den Nachbarstaaten hatten. Und als Nicht-Juden im jüdischen Staat sind sie zwar zu Hause, aber heimisch fühlen können sie sich schwerlich.

Für das Bewusstsein der Kontinuität, d.h. die Verbindung von Arabern und Palästina, brauchen sie zudem keine archäologischen Beweise, da ihre Vorfahren seit Jahrhunderten hier gelebt haben.

Die in der israelischen Gegenwart wirksame Vergangenheit gilt also unter verschiedenen Vorzeichen für beide Seiten, sowohl Juden als auch Araber. Ja, auch das Gefühl der Auserwähltheit, im Positiven als Modernisierungsvorsprung verstanden, im Negativen als vermehrtes Leid, kann bei den Palästinensern anderen Arabern gegenüber beobachtet werden.

Literaturhinweise

—Dokumentarfilme zur Geschichte des Zionismus: Pillar of Fire (42 Videos); http://www.youtube.com/watch?v=ftOTyHgJfo8&list=PL2B5EB31873FÜ39F5; (Bis 1987) „Nahost“ von Friedrich Schreiber und Michael Wolffsohn, 3 Teile, Bayerisches Fernsehen 1987 und „Wem gehört das Heilige Land?“, Bayerisches Fernsehen, Schulfernsehen, 2 Teile, 1993

—Shapira 2012

—Wolffsohn 2011

—Gutman/Saf 1996

—Harkabi 1983

—Elon 1972

—Zum Zionismus: Handelman 2004; Segev 2004; Bregman 2003; Brenner 2002; Morris 2001; Sternhell 1998; Vital 1982 und 1975; Laqueur 1975

—Zum Trauma der Araber: Pappé 1999

 

4. Jüdisch-israelische Identität

Die Nation und ihre Geschichte, die Religion, Kultur und biologische Herkunft kennzeichnen vor allem die Identität einer Gemeinschaft. Identität kennzeichnet das Wesen, das Wesentliche der Gemeinschaft.

Mit diesen Bestandteilen der Identität identifizieren sich die Mitglieder der Gemeinschaft unterschiedlich stark. Identifikation drückt daher die durchaus unterschiedlichen Einstellungen zu den Bestandteilen der Identität aus. Aussagen über die Identität müssen also Probleme der Identifikation beinhalten.

Anders als für das alte biblische waren für das neue Israel Kultur und Religion der alteingesessenen Bevölkerung weder Verlockung noch Versuchung. Die andere, die arabische Seite blieb dem modernen Israel fremd und bedrohlich, und diese Bedrohung schweißte die jüdischen Bürger des jungen Staates, die aus den verschiedensten Weltteilen und Zivilisationen kamen, zu einer neuen Gemeinschaft zusammen. Das neuisraelische Wir-Gefühl wird deshalb unter anderem durch die äußere Bedrohung und die beachtlichen Aufbauleistungen geprägt, die sowohl trotz als auch wegen dieser Bedrohung erbracht wurden.

[30]Die Bedrohung wirkte integrierend, motivierend und mobilisierend. Wie in den altisraelischen Zeiten Ezras und Nehemias vor rund 2500 Jahren „arbeiteten sie mit der einen Hand, und die andere hielt die Waffe“. Dieser Satz aus dem Alten Testament (Nehemia, 4/11) wird im neuen Israel immer wieder zitiert, und zwar keineswegs nur als Schlager aus der Sammlung historisch-politischer Schallplatten, über die Israel (wie jeder andere Staat) verfügt. Dieses Zitat schlägt bewusst eine gefühlsgeladene gedankliche Brücke zwischen dem neuen und dem alten Israel, schafft ein Bewusstsein jüdisch-historischer Kontinuität in Zion und stiftet Legitimität.

Anders als vor rund 2500 Jahren empfindet man heute die Welt der nichtjüdischen Nachbarn nur als äußere Gefahr einer möglichen Vernichtung, nicht als innere Versuchung.

Für geschichtsbewusste Juden hat der neue jüdische Staat einen historisch-geografischen Geburtsfehler: Israel entstand nicht im einstigen biblischen Kernland, Judäa und Samaria, sondern hatte sein Zentrum in der Küstenebene, wo einst die Philister gelebt, und in Galiläa, wo Jesus gewirkt hatte. Die Eroberungen des Sechs-Tage-Krieges machten im Juni 1967 aus Israel auch geografisch einen jüdischen, demografisch einen jüdisch-arabischen Staat. Der historisch-geografische Geburtsfehler wurde getilgt, der moralische gleichzeitig verschärft – obwohl Israel auch 1967 schuldlos schuldig wurde und aus der Verteidigung angriff, eine im klassischen Sinne tragische Situation.

Der 1967 erreichte Höhepunkt der Rückkehr nach Zion wurde damit moralischer und demografischer Wendepunkt in der Geschichte des jüdischen Staates. Moralisch, weil man in die Rolle des Besatzers schlüpfte, die über kurz oder lang immer hässlich ist, demografisch, weil die arabische Minderheit im jüdischen Staat erheblich größer wurde. Langfristig stellte sich die Frage nach ihrer politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Integration. Damals begriffen es wenige, heute ist es das Hauptproblem Israels.

Das Wir-Gefühl des neuen, 1948 gegründeten Staates Israel beruht, ähnlich wie im alten biblischen Israel, keineswegs nur auf der jüdischen Religion, sondern auch auf der Leidensgeschichte des Volkes. Das vorangegangene Leid bindet und verbindet die jüdischen Bürger Israels – heute ebenso wie damals. Je blasser die Erinnerung an das vorangegangene Schicksal, desto poröser wird das israelische Wir-Gefühl, und nicht zuletzt deswegen wird in Israel die Erinnerung an den Holocaust aufrechterhalten.

Waren einst das pharaonische Ägypten oder das Volk der Amalekiter historisch-ideologisch-gesellschaftliches Bindemittel und weltlich-politische Identitätsstifter, so ist es heute der Holocaust und damit Deutschland. Hierzulande hält man diesen Gebrauch des Holocaust oft für Antigermanismus, übersieht jedoch die politische Mechanik der innerisraelischen Identitäts- und Identifikationsstiftung.

Die Israelis orientalischer Herkunft – und das sind inzwischen rund die Hälfte der jüdischen Bürger – waren im Gegensatz zu ihren aus Europa stammenden Landsleuten vom Holocaust kaum betroffen. Die prägende Verfolgung ereignete sich für die orientalischen Juden in den nordafrikanischen und westasiatischen Gesellschaften in dem Maße, wie der Konflikt zwischen Zionisten und Palästinensern auf die gesamte arabische Welt übergriff und dort besonders in den 1940er Jahren zu Judenverfolgungen führte. Weil der zionistisch-arabische Gegensatz nach der Staatsgründung Israels eher zu- als abnahm, blieb bei den orientalischen Juden Israels nicht nur das alte Feindbild erhalten, sondern auch der unbedingte Wille zur Abgrenzung gegenüber der einstigen Heimat, sei es die eigene oder die der Eltern und Großeltern.

Die aus Europa und Amerika stammenden „aschkenasischen“ Israelis betrachten ihre einstige Heimat nicht oder nicht mehr feindselig; ja, sie wird durchaus als alt-neue Alternative[31] zur Existenz im jüdischen Staat gesehen. Das gilt inzwischen auch in Bezug auf Deutschland oder die ehemalige Sowjetunion.

Diese Tatsache erklärt zumindest teilweise die im Vergleich zu den euro-amerikanischen Israelis ausgeprägtere Bereitschaft der Juden afro-asiatischer Herkunft, auch in schwierigeren Zeiten eher im Land zu bleiben und nicht auszuwandern, obwohl sie im Allgemeinen wirtschaftlich schlechter gestellt sind als die Juden euro-amerikanischer Herkunft.

Das Verhältnis zur Diaspora stellt sich daher für die orientalischen Israelis ganz anders dar als für ihre aschkenasischen Landsleute. Nach Europa und Amerika können aschkenasische Israelis jederzeit zurück; in den Irak, Jemen oder nach Syrien, sogar in das inzwischen wieder wesentlich tolerantere Marokko und Tunesien empfiehlt es sich weniger, zumal die islamische Radikalisierung in der gesamten Region des Vorderen Orients nicht zur jüdisch-arabischen Entspannung beiträgt. Die Alternative zum Leben in Israel wäre für die orientalischen Juden die Lebensgefahr in der alten Heimat der arabischen Staaten.

Die zionistischen Gründungsväter gingen zunächst ebenso wie später viele Israelis zur Diaspora bewusst auf Distanz. Das neue jüdische Gemeinwesen in Zion sollte in allem anders als die Diaspora sein, ein „neuer jüdischer Mensch“ sollte geschaffen, eine „neue jüdische Gesellschaft“ errichtet werden. Mit der Diaspora verband man Schwäche, Wehrlosigkeit und Verfolgung. Nun demonstrierte man Stärke und Wehrhaftigkeit.

Im Laufe der Jahre erkannten jedoch Israels Politiker und Gesellschaft, dass die Diaspora, besonders in den USA, die zuverlässigste und unverzichtbare ausländische Stütze des jüdischen Staates ist.

Zwischen Israel und der Diaspora hat sich in den vergangenen vierzig Jahren eine Schere aufgetan: Israel hat sich der Diaspora genähert, während diese sich von Israel entfernte. Die Schere wird – unabhängig von der Politik des jüdischen Staates – mit Sicherheit noch größer werden, weil die Diaspora vornehmlich euro-amerikanisch ist, Israels Gesellschaft innerjüdisch gesehen zunehmend orientalisch und insgesamt jüdisch-arabisch wird – mit oder ohne die besetzten Gebiete.

Jeder Staat verfügt über Symbole, Riten, Mythen und weltliche Glaubensbekenntnisse. Sie dienen der Rechtfertigung der jeweiligen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ordnung. Man könnte sie als weltliche Staatsreligion bezeichnen. Ihr weltlicher Charakter ist offenkundig, und man könnte daher die zentralen Bezugspunkte dieser Staatsreligion weltliche Heiligtümer nennen. Wie alle Religionen weckt die Staatsreligion nicht nur die Kräfte des Verstandes, sondern auch die des Gefühls, nicht zuletzt durch ihre weltlichen Quasi-Heiligtümer.

Das bedeutendste weltliche Heiligtum Israels ist die Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem. Diese Gedenkstätte, die zugleich eine Dokumentationsstätte ist, steht in ihrer Heiligkeit lediglich der „Klagemauer“ im Ostteil Jerusalems nach. Die Heiligkeit dieser einstigen Tempelwand widerspricht übrigens ebenfalls dem religiösen Selbstverständnis des Judentums, das außer dem heiligen Innenteil des einstigen Tempels kein Heiligtum im engeren christlichen Sinne kennt. So gesehen bedeutet die Historisierung des jüdischen Volkes eine Entleerung der religiös-jüdischen Inhalte.

Der symbolisch-sakrale Charakter des Holocaust wird am „Tag des Holocaust“ (Jom Ha-Schoa) erkennbar, der jedes Jahr genau eine Woche vor dem Unabhängigkeitstag begangen wird. Holocaust und staatliche Unabhängigkeit, Vernichtung und weltliche Auferstehung werden in einen unmittelbaren zeitlichen und damit inhaltlichen Zusammenhang gebracht. Am eindrucksvollsten ist das Zeremoniell dieses Gedenktages, wenn zwei Minuten lang im ganzen Land die Sirenen ertönen, der Verkehr zum Stillstand kommt und sich die Menschen[32] von ihren Sitzen erheben. Das sonst so laute Israel schweigt in diesen Minuten, vereint im Gedenken an die Opfer des Holocaust.

Der Holocaust summiert und symbolisiert das gesamte Leid der langen und leidensvollen Geschichte des jüdischen Volkes; er wurde zum Kürzel jüdischer Geschichte. Dabei geschah etwas ebenso Merkwürdiges wie Typisches für alle Gruppen, die sich von ihrer religiösen Tradition lösen und zunehmend verweltlichen: Im Zuge dieser „Säkularisierung“ wird Leid nicht mehr wie im religiös bestimmten Zeitalter als göttlich vorbestimmt verstanden, sondern als rein diesseitige Geschichte erfahren, das heißt als Menschenwerk und nicht als Gotteswerk.

Die gewiss nicht harmlose Verfolgung der Kinder Israels durch Pharao und die Ägypter in biblischen Zeiten wurde von den Juden über Jahrtausende als gottgewolltes Leid verstanden, dem später die Offenbarung am Sinai sowie die Eroberung des „Landes der Väter“ folgte – ebenfalls gottgewollt. Auch die zwischenzeitlichen Siege der Philister, Ammoniter, Amalekiter, Edomiter oder Moabiter waren „Strafen Gottes“ für die „Sünden Israels“. Die Vernichtung des Königreiches Israel durch die Assyrer im Jahre 721 vor Christus galt wie die Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier (586 vor Christus) und des zweiten Tempels durch die Römer (70 nach Christus) oder spätere Drangsalierungen in der Diaspora als „Strafe“ Gottes. Und die Diaspora selbst war ja von den biblischen Propheten als Folge der jüdischen Sünden vorhergesagt worden.

Erst die Säkularisierung der Juden – und als Folge dieser Verweltlichung der Zionismus – brachen diese Tradition. Judenverfolgungen, so die neue Weltsicht, seien Menschenwerk der nichtjüdischen Umwelt und könnten nur durch die politische Tat der Juden im Hier und Heute verhindert werden, zum Beispiel durch die Gründung eines jüdischen Staates.

Der Holocaust wurde daher natürlich vom Zionismus, von Israel und von der verweltlichten Mehrheit des jüdischen Volkes nicht als Gottes Strafe, sondern als Hitlers Teufelswerk interpretiert. Eine kleine orthodox-jüdische Minderheit sah es anders: Glaubwürdigen Quellen zufolge bezeichnete ein ungarischer Rabbiner kurz vor seiner Ermordung in einer Gaskammer des Vernichtungslagers Auschwitz seinen unmittelbar bevorstehenden Tod als „Gottes Strafe“ dafür, dass er den gotteslästerlichen Zionismus nicht energischer bekämpft habe; eine für die meisten von uns ebenso erschütternde wie nicht nachvollziehbare, jedoch religiös schlüssige Auffassung.

Im gleichen Maße, wie die religiöse Entleerung des Judentums innerhalb und außerhalb Israels zunahm, jüdische Identität eher durch die jüdische Geschichte und den jüdischen Staat als durch die jüdische Religion gestiftet wurde, beschäftigten sich Israelis und Diasporajuden immer mehr mit dem Überleben der Juden als mit dem Überleben des Judentums. Anders formuliert: Die Geschichte der Juden und Israels wurde zum Judentum schlechthin verkürzt. Der Zionismus wollte einen „neuen jüdischen Menschen“ schaffen. Das Ziel wurde erreicht. Um den Preis des Judentums?

Die Dejudaisierung des Judentums durch die Historisierung des jüdischen Leids und die religiöse Entleerung bewirken, dass die jüdische Geschichte und Israel, das heißt die jüdische Situation und nicht mehr die Religion, jüdische Identität stiften. Israel und die Juden brauchen daher den Holocaust als allgemeines und Deutschland als besonderes Symbol. Sie sind an Deutschland gekettet, um jüdische Identität zu bewahren.

Die Identifizierung mit dem Holocaust stärkt, wie Umfragen bei erwachsenen und jugendlichen Israelis mehrfach bewiesen haben, die jüdische Identität der Bürger.

Israel wird, wie auch die Juden der Diaspora, immer mehr „wie alle anderen Völker“. Die Besonderheit der jüdischen Geschichte, doch nicht jüdische Inhalte, prägen die Identität. Über die Notwendigkeit oder Richtigkeit dieser Entwicklung kann man streiten, nicht aber[33] über die Tatsache, dass diese Art der jüdisch-nichtjüdischen Angleichung dem traditionellen jüdischen Selbstverständnis widerspricht: Das „auserwählte Volk“, das „Volk des Buches“ sollte nicht „wie alle anderen Völker“, sondern „Licht der Völker“ sein, eine Vision verkünden.

Wenn die Juden und Israel „wie alle anderen Völker“ werden, müssen zwangsläufig zwei Entwicklungen eintreten: Zum einen wird die jüdische Diaspora ihre jüdische Substanz verlieren und sich assimilieren, zum anderen verliert Israel innerjüdische Anziehungskraft, wenn – was gleichzeitig am stärksten zu hoffen ist – die Verfolgung und Ermordung von Juden endgültig der Vergangenheit angehören wird. Der jüdische Staat ist kein Notanker mehr und angesichts der schwierigen materiellen Lebensverhältnisse, der militärischen Gefahren sowie der ideell-jüdischen Entleerung ist dieses Land nicht mehr lebenswichtiges Einwanderungsziel von Juden aus der Diaspora. Mehr noch: Die Attraktivität Israels sinkt für euro-amerikanische Juden nicht nur wegen der gesellschaftlichen „Orientalisierung“, dem zunehmenden Gewicht der Juden aus afro-asiatischen Staaten, sondern vor allem deswegen, weil jüdische Substanz in Israel nur noch bei der extremen Orthodoxie zu finden ist. Da es kaum einen Mittelweg gibt, bleiben sie in der Diaspora.

Der Israelismus, das heißt ein nur auf den Errungenschaften Israels aufbauender und jüdisch-religiös entleerter Nationalismus, ist kein Ausweg aus dieser Situation. Er ist eine Fortentwicklung des Zionismus, der im verweltlichten Zeitalter der Nationalstaaten Gott zum Teil durch die Götzen der Nation und des Nationalstaates ersetzte. In der historisch wahrlich verständlichen und durch den Holocaust leidenschaftlichen Sehnsucht nach Erlösung trat ein großer Teil des verweltlichten Judentums, „von Obertönen des Messianismus begleitet“, den „utopischen Rückzug auf Zion“ an (Scholem 1968: 74).

Die messianischen Obertöne des Zionismus zeigen, dass israelischer Nationalismus beziehungsweise Israelismus kein Nationalismus wie viele andere sein darf und noch nie sein durfte; er würde sich dann selbst in Frage stellen.

„Nie wieder Opfer!“ war eine der Lehren, die Israelis aus der jüdischen Geschichte und dem Holocaust zogen. „Haben wir inzwischen nicht vielleicht überzogen?“ fragen viele Israelis. Sie sorgen sich wegen der oft übertriebenen Härte israelischer Soldaten und Siedler, die man nach dem Ausbruch der Intifada beobachten konnte. Sie sind bekümmert, weil das Ideal israelischer Identität an der israelischen Realität zerschellt. Das ehrt die Sorgenvollen.

Um „nie wieder Opfer zu sein“, wollten die zionistischen Gründungsväter eine kraftvolle, bodenständige und bodenverbundene, den Boden landwirtschaftlich bearbeitende Gemeinschaft in Zion aufbauen. Das landwirtschaftliche Pionierideal (Chalutziut) sollte israelische Identität, „Israelismus“ schaffen. Das wollten vor allem die Pioniere der zweiten Einwanderungswelle. Tatsächlich entstand in Israel keine Gesellschaft der landwirtschaftlichen Pioniere (Chalutzim), sondern ein sehr bürgerlich-städtisches Gemeinwesen. Man betrachte die berufliche Zusammensetzung des Parlamentes oder lese das Kapitel über die Wirtschaftspolitik Israels in diesem Buch. Bewusst Jüdisches und typisch Chalutzisch-Israelisches fehlen also dem Israelismus.

Gleicht Israelismus jetzt dem Nationalismus der unzähligen anderen Staaten? Ist Israel „wie alle anderen Völker“ geworden? Diese Gleichheit oder Ähnlichkeit wäre für einen weltlich orientierten Staat kein Problem, müsste Israel seinen Einwohnern und den möglichen Einwanderern nicht mehr bieten, weil es von ihnen mehr verlangt und verlangen muss, um allein schon das militärische Überleben zu sichern. Wenn der Staat Israel „wie alle anderen Völker“ eine Konsumgesellschaft „wie alle anderen“ wird, aber ohne zusätzliche Verlockungen zu bieten Opfer verlangt, sinkt die Einwanderungsbereitschaft der Diasporajuden und steigt die Auswanderungsbereitschaft der in Israel lebenden Juden. Für die Besonderheit[34] der zusätzlichen Opfer und Gefahren bleiben nur Idealisten oder diejenigen im Land, die keine andere Wahl haben. Konsumgesellschaften, in denen es sich leichter und ungefährlicher leben lässt, finden viele Israelis in den USA oder in Westeuropa, wo sie sich mit Hilfe der Diasporajuden sowie der Unterstützung von Landsleuten, die vor ihnen ausgewandert sind, relativ mühelos eingliedern können. Die Zahl der in den USA ständig lebenden Ex-Israelis wird auf drei- bis fünfhunderttausend geschätzt. Diese Zahl belegt die selbstverschuldeten, doch eigentlich unvermeidlichen Folgen der Historisierung, die wiederum Teil der Säkularisierung ist. Die Alternative zu ihr scheint nur im religiösen Fundamentalismus zu liegen, den man nicht nur bei den Moslems im Iran, sondern auch bei den Orthodoxen in Israel beobachten kann – für die Lenker jüdischer und israelischer Politik eine Wahl zwischen Teufel und Beelzebub.

Die Historisierung hat darüber hinaus noch eine weitreichende Folge: Sie zerstört letztlich auch die Daseinsberechtigung des jüdischen Staates. In dem Maße, wie das Volk der Bibel nicht mehr zur Bibel hält, verliert es seinen Anspruch auf das biblische Land, wird der jüdische Anspruch historisch und wie alles Historische nicht mehr absolut, sondern relativ. Dies ist der Grund für die zunehmende Selbstkritik vieler Israelis am jüdischen Staat: Sie wollen lieber mehr jüdische Inhalte als jüdisches Land, haben aber zwischen fundamentalistischer Orthodoxie und totaler Verweltlichung noch keinen für die Mehrheit gangbaren Weg gefunden. Dass die Israelis es leicht haben oder sich selbst das Leben leicht machen, kann man wahrhaftig nicht behaupten.

Die Historisierung schafft zwar Identität, sie führt aber über kurz oder lang auch in die Auseinandersetzungen über und mit Geschichte. Auf diese Weise trennt Identität die Israelis, sie verbindet nicht. Es klingt paradox, trifft aber zu: Die Identifizierung mit der Identität nimmt ab, indem Geschichte Identität stiftet.

Kontrovers diskutiert man nämlich inzwischen zum Beispiel die Frage, ob die zionistische Führung in Palästina wirklich alles unternahm, um die von der „Endlösung“ bedrohten Juden zu retten.

Welchen messbaren Niederschlag finden Israelismus und jüdische Identität in der israelischen öffentlichen Meinung? Eine Umfrage der Jewish Agency (April bis Juni 1995) ergab folgendes Bild: 58% der Israelis betrachteten sich „zuerst als Juden und nicht zuerst als Israelis“. Für 75% der Israelis ist „das Judentum“ der zentrale Faktor ihrer Identität.

Literaturhinweise

—Dieckhoff 2013

—Shapira 2012

—Shindler 2008

—Steininger 2008

[35]B Politik

[36]I. Das Regierungssystem

1. Vom Osmanischen Reich zum unabhängigen Staat

Als die zionistisch motivierte Einwanderung im ausgehenden 19. Jahrhundert begann, war Palästina Teil des Osmanischen Reiches. Von Oktober 1917 bis September 1918 eroberten britische Truppen das Gebiet. Am 19. April 1920 übertrug der Völkerbund den Briten das Mandat für Palästina, am 24. Juli 1922 bestätigte der Rat des Völkerbundes die Statuten des Mandats, im September 1923 traten sie in Kraft.

Am 23. August 1903 tagte erstmals die Versammlung des Jischuv (Knessiat Ha-Jischuv) in Zichron Ja‘akov. Mehr als sieben Sitzungen wurden nicht einberufen. Obwohl es seit 1902 im Rahmen der Zionistischen Weltorganisation und seit 1905 in Palästina Parteien gab, schlugen erneute Versuche in den Jahren 1908, 1910 und 1911 fehl, eine „alljüdische“ Institution zu gründen, zumal die osmanischen Behörden nach 1908 eine systematische und dauerhafte politische Organisierung des Jischuv erschwerten. Die Eroberung Palästinas durch Großbritannien weckte die Hoffnung auf die in der Balfour-Erklärung vom 2. November 1917 zugesagte „Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das Jüdische Volk“, die „Seiner Majestät Regierung mit Wohlwollen“ betrachtete und daher „die größten Anstrengungen machen“ wollte, „um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern“.

Am 2. Januar 1918 trat die erste Vorbereitende Versammlung in Jaffo zusammen. Es war eine Konferenz führender Parteipolitiker und „Honoratioren“. Ihre Mitglieder waren eingeladen, nicht gewählt worden. Die Versammlung wählte einen 36-köpfigen Provisorischen Rat der Juden Eretz Israels in den (von Großbritannien) eroberten Gebieten. Im Juli 1918 fand die zweite Vorbereitende Versammlung statt, welche die Rechtsbestimmungen für die Wahlen zur Delegiertenversammlung festsetzte. Sie wurden am 19. April 1920 durchgeführt.

Die Gestaltung der Politik des Jischuv übernahm der von der Delegiertenversammlung (Asefat Ha-Nivcharim) gewählte Nationalrat (Va‘ad Le’umi), dessen Mitgliederzahl von 1920 bis 1948 zwischen 23 und 42 schwankte. Der Nationalrat erfüllte in zunehmendem Maße die der Delegiertenversammlung zugedachten parlamentarischen Funktionen und tagte mehrmals im Jahr.

Ausführendes Organ des Nationalrates war der 6- bis 14-köpfige Vorstand des Nationalrates (Hanhalat Ha-Vaad Ha-Le’umi), den die Mitglieder des Nationalrates aus ihrer Mitte wählten. Die Vorstandsmitglieder leiteten folgende Abteilungen: Politik, Lokalpolitik, Rabbinatsfragen, Erziehung, Kultur, Gesundheit, Soziales, Sport, Information. Finanziert wurde die Arbeit des Nationalrates durch die Zionistische Weltorganisation (WZO) sowie durch Jischuv-Steuern. Politisch gewichtiger war die Exekutive der Jewish Agency in Eretz Israel. Sie setzte sich aus Vertretern der WZO und anderer jüdischer Organisationen der Diaspora zusammen.

Von der Mandatsregierung anerkannt und rechtlich verankert wurden die Institutionen der jüdischen Selbstverwaltung durch die „Regulations of the Organization of the Jewish Community in Palestine“ (1. Januar 1928). Sie ermächtigten die offiziell eingeschriebenen Mitglieder (Mindestalter 18 Jahre) der jüdischen Gemeinschaft in Palästina (Knesset Israel) im Abstand von drei Jahren (danach abgeändert auf vier, auch dieser Zeitabstand wurde nicht eingehalten) eine 71-köpfige Delegiertenversammlung zu wählen. Sie sollte den Haushalt der weltlichen und religiösen Institutionen der Knesset Israel verabschieden und die Steuern für ihre Institutionen festsetzen. Die orthodoxe Partei Agudat Israel (AI) boykottierte[37] die ihrer Meinung nach „gotteslästerliche“, weil nicht auf den Grundsätzen der Bibel basierende, Knesset Israel. Grundsätzlich bekämpften zahlreiche streng religiöse Juden den Zionismus, da dessen Anhänger in „Gottes Werk“, d.h. in den Gang der Geschichte eingriffen, indem Menschen (und nicht Gott) das Exil der „Kinder Israels“ durch die Gründung eines neuen jüdischen Staates beenden wollten.

Die UN-Entschließung vom 29. November 1947, welche die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat sowie die Internationalisierung Jerusalems vorsah, bestimmte u.a., dass in jedem der beiden Staaten bis zum 1. Oktober 1948 Wahlen zu je einer verfassungsgebenden Versammlung erfolgt sein mussten. Dieser Versammlung, die zugleich eine „Provisorische Regierung“ einsetzen sollte, war die Aufgabe zugedacht, eine Verfassung auszuarbeiten, die eine parlamentarische Regierungsform sicherte und eine Legislative vorsah, die durch allgemeine und geheime Wahlen auf der Grundlage der verhältnismäßigen Repräsentation bestimmt werden sollte. Während der Übergangsphase vom November 1947 bis zum Oktober 1948 sollte ein „Provisorischer Regierungsrat“ – eine Kommission hatte ihn spätestens bis zum 1. April 1948 einzusetzen – allmählich die administrative Verantwortung sowie die Polizeigewalt erhalten. Der Provisorische Regierungsrat hatte außerdem Wahlen vorzubereiten, die innerhalb von zwei Monaten nach dem Abzug der Mandatstruppen (für den 1. August 1948 vorgesehen) abzuhalten waren.

Da die britische Regierung die Ausführung der Entschließung verhinderte – sie ließ die UN-Kommission erst kurz vor Ablauf des Mandats nach Palästina und zog ihre Truppen zurück, ohne die Staatsgeschäfte den vorgesehenen Selbstverwaltungskörperschaften ordnungsgemäß zu übergeben – beschloss der Nationalrat, gemeinsam mit der Palästinensischen Exekutive der Jewish Agency (JA) in Eretz Israel, im März 1948 selbst die Initiative zu übernehmen und den vorgesehenen „Provisorischen Regierungsrat“, den Volksrat (Mo‘etzet Ha-Am), zu bilden. Dieser bestand aus dem Vorstand des Nationalrates (14 Mitglieder), der elfköpfigen Exekutive der JA in Eretz Israel sowie zwölf Delegierten, die in keinem der beiden Gremien vertreten waren: Sefardim (langeingesessene Juden orientalischer Herkunft), Revisionisten, die man zuvor ausgeschlossen hatte, Orthodoxe der Agudat Israel, die sich selbst den jüdischen Organisationen der Selbstverwaltung entzogen hatten, und Kommunisten.

Tabelle 4: Vorläufer von Regierung und Parlament

Regierung

Parlament

1903

Versammlung des Jischuv

1918

Provisorischer Rat

1918

Vorbereitende Versammlung

1920

Vorstand des Nationalrats (+ Exekutive der JA in Eretz Israel)

1920

Delegiertenversammlung wählt Nationalrat

1948

MärzVolksdirektorium

1948

MärzVolksrat (Vorstand des Nationalrats und Exekutive der JA in Eretz Israel)

14.5.1948:

Provisorische Regierung

14.5.1948:

Provisorischer Staatsrat

8.3.1949:

Regierung

14.2.1949:

Verfassungsgebende Versammlung wird Knesset

[38]Dieses Gremium wählte einen 13-köpfigen Exekutivausschuss, das Volksdirektorium (Minhelet Ha-Am). Am 29. April 1948 nahm das britische Parlament den „Palestine Act“ an, der das Ende des Mandats auf den 15. Mai jenes Jahres festlegte. Der Volksrat trat am 14. Mai 1948 in Tel Aviv zusammen und verkündete die Unabhängigkeit des jüdischen Staates „Israel“, die einen Tag danach in Kraft treten sollte. Der Volksrat hieß nun Provisorischer Staatsrat (Mo‘etzet Ha-Medina Ha-Zmanit), und das Volksdirektorium wurde zur Provisorischen Regierung (Ha-Memschala Ha-Zmanit). Vor allem wegen des Kriegsausbruchs unmittelbar nach der Verkündung der Unabhängigkeit konnten die Wahlen nicht wie vorgesehen bis zum 10. Oktober 1948, sondern erst am 25. Januar 1949 durchgeführt werden.

Die Verfassungsgebende Versammlung (Ha-Asefa Ha-Mechonenet) trat am 14. Februar 1949 zusammen und verabschiedete zwei Tage danach das „Übergangsgesetz“ (Transition Act, Chok Ha-Ma’avar), das dem israelischen Parlament den Namen „Knesset“ (Versammlung) gab und mit dem sich die verfassungsgebende Versammlung als erste Knesset konstituierte. Zugleich wurden Bestimmungen über das Amt des Staatspräsidenten, die Regierung sowie über das Verhältnis zwischen Knesset und Regierung verabschiedet.

2. „Verfassung“, Rechtswesen, Staatsbürgerschaft

a)„Verfassung“

In Israel gibt es keine geschriebene Verfassung. Die Unabhängigkeitserklärung sowie „Grundgesetze“ (GG) erfüllen weitgehend die Funktion einer Verfassung. Die Grundgesetze sind Ergebnis einer Kompromissentschließung vom 13. Juni 1950, auf die sich die Mitglieder der ersten Knesset einigten. Umstritten war zwischen den Parteien vor allem die Wirkungsbreite religiöser Vorschriften. Die Entscheidung des Parlaments sah vor, dass die Verfassung aus der Summe einzelner „Kapitel“ zu bestehen hätte, wobei jedes ein Grundgesetz und der Knesset einzeln vorzulegen sei. Die Gesamtheit der Grundgesetze gilt, analog zum britischen Präzedenzrecht, als „Verfassung“ Israels.

Während alle übrigen Gesetze mit der Mehrheit der abstimmenden Parlamentsmitglieder erlassen oder geändert werden können, bedarf es zur Modifizierung oder Annullierung „geschützter Artikel“ eines Grundgesetzes, nicht des gesamten Grundgesetzes, der Mehrheit aller Knesset-Abgeordneten (mindestens 61 Stimmen). Grundgesetze sind demnach anderen Gesetzen nicht übergeordnet.

Es gibt folgende Grundgesetze: „Knesset“ (1958), „Böden“ (1960), „Staatspräsident“ (1964), „Regierung“ (1968, geändert 1992 und 2001), „Wirtschaft des Staates“ (1975), „Militär“ (1976), „Jerusalem, Hauptstadt Israels“ (1980) und „Gerichtswesen“ (1984). Das GG „Staatskontrolleur“ wurde 1988 verabschiedet.

Im März 1992 wurden drei weitere Grundgesetze verabschiedet. „Berufsfreiheit“ (im Februar 1994 im Sinne der Religiösen ergänzt, um die Einfuhr von nicht-koscherem, also nach dem Religionsgesetz verbotenem Fleisch zu erschweren), „Menschenwürde und Freiheit“ und „Direktwahl des Ministerpräsidenten“. Im November 1993 folgte das GG „Gesetzgebungsverfahren“.

Einige Grundgesetze („Regierung“ und „Berufsfreiheit“) oder Gesetzesteile („Menschenwürde und Freiheit“) wurden in ihrer Gesamtheit dadurch abgesichert, dass sie nur von der Mehrheit aller Parlamentarier (mindestens also 61 Stimmen) verändert werden können. Genau dagegen stemmten sich die religiösen Parteien in Bezug auf das GG „Menschenwürde[39] und Freiheit“. Eine Ergänzung aus dem Jahre 1995 setzte fest, dass ein Grundgesetz nur durch das Votum von 70 Knesset-Abgeordneten verändert werden kann.

In erster Lesung billigte die Knesset am 11. März 1996 drei Teile des GG „Menschenwürde und Freiheit“. Die Religiösen gaben nach, weil einige Einschränkungen in Bezug auf Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst vorgesehen waren. Zwei Wochen später verweigerte sich die Nationalreligiöse Partei (NRP) erneut. Die Wahlen vom 29. Mai 1996 stärkten die religiösen Parteien. Unmittelbar danach verkündeten sie, die Verabschiedung dieses Grundgesetzes stehe nicht mehr auf der Tagesordnung.

Die religiösen Parteien hatten sich jahrelang gegen das GG „Menschenwürde und Freiheit“ gesträubt. Die allgemeingültigen Menschenrechte, so ihre Befürchtung, würden die jüdisch-religiösen Gesetze verwässern und den jüdischen Charakter Israels gefährden. Einmal mehr wurde hier der uralte innerjüdische Konflikt zwischen Universalisten und Partikularisten deutlich. Die Verabschiedung eines Grundgesetzes „Freiheit der Religion“ vereitelten die Religiösen und ihre Verbündeten im Januar 1999 einmal mehr. Sie wollten die Trennung von Religion und Staat verhindern.

Im Sommer 1985 wurde das GG „Knesset“ um einen bedeutsamen Absatz ergänzt. Hierin heißt es, dass Israel der Staat des jüdischen Volkes sei. Zwar dürfen „rassistische“ Gruppierungen (gemeint war Kach, die extrem antiarabische Partei von Rabbiner Me’ir Kahane) nicht mehr bei Wahlen zur Knesset kandidieren, doch die Stoßrichtung ist eindeutig: die zweitrangige Stellung der Araber als geduldete Minderheit soll juristisch abgesichert werden. Geduldet, jedoch nicht verfolgt – so könnte man die Absicht des Gesetzgebers umschreiben.

Die Partei Kahanes wurde zu den Wahlen vom 1. November 1988 tatsächlich nicht zugelassen. Sie sei „rassistisch“ (Ha-Aretz, 19.10.1988). Mit drei gegen zwei Stimmen erlaubte der Oberste Gerichtshof die Kandidatur der arabisch-jüdischen, einen Dialog mit der PLO fordernden Progressiven Friedensliste.

Die Knesset ist „souverän“, so dass es wegen dieser „Oberhoheit des Parlamentes“ nicht, wie z.B. in den USA, eine „Judicial Review“ (Normenkontrolle) gibt. Der Oberste Gerichtshof ist lediglich diejenige Instanz, die verbindlich über die Interpretation bestehender Gesetze zu befinden hat. Gesetze, die die Knesset ordnungsgemäß verabschiedet, d.h. mit den erforderlichen Mehrheiten (über welche die Knesset selbst bestimmt), kann der Oberste Gerichtshof nicht für „verfassungswidrig“ erklären. Gesetz ist, was die Knesset beschließt. Hat sie bei der Verabschiedung eines Gesetzes formaljuristische Vorschriften nicht beachtet, ist der Oberste Gerichtshof, sofern er angerufen wird, durchaus berechtigt, die Ungültigkeit des verabschiedeten (neuen) Gesetzes zu erklären.

Hinsichtlich der abgesicherten Grundgesetze ist der Oberste Gerichtshof jedoch zugleich „Verfassungsgericht“. Er könne dann herkömmliche Gesetze, die diesen Grundgesetzen widersprächen, aufheben, meinte der oberste Richter Aharon Barak (Daia Schechori, Ha-Aretz, 23.11.1992).

Literaturhinweise

—Edelman 2000

—Constitution 1996

—Shapira/De Witt 1995

—Sharmann 1993

[40]b)Rechtswesen

Dass besonders Personenstandsfragen nach religiösen Vorschriften geregelt werden sollten, gehörte zur grundsätzlichen Übereinkunft bei der Gründung des Staates. Die seit Staatsgründung bestehende interne Rechtsautonomie der Religionsgruppen reicht in die osmanisch-türkische Herrschaft zurück. Die Vermischung von weltlichem Recht und Religion führt häufig zu Streitigkeiten und Problemen.

„Einstweilige Verfügungen der weltlichen Gerichte in religiösen Fragen sind null und nichtig“, erklärte der Rat der Thora-Weisen der orthodoxen Partei Agudat Israel im Januar 1999 (Schachar Ilan, Ha-Aretz, 17.1.1999). Im Februar starteten sie einen neuen Großangriff auf das Rechtswesen insgesamt: Die Rabbiner aller religiösen Parteien organisierten ein „Massengebet“ gegen die „Diktatur des Obersten Gerichtshofs“ (Schachar Ilan, Ha-Aretz, 5.2.1999; Jörg Bremer, FAZ, 11.2.1999). Am 14. Februar 1999 kamen 250.000 orthodoxe Demonstranten nach Jerusalem. Die Laizisten brachten weit weniger Anhänger auf die Straßen der Hauptstadt. Israels Kulturkampf ist noch nicht zu Ende.

Der Oberste Gerichtshof hat zwei Funktionen. Er ist

■ oberste juristische Instanz des Landes, das heißt, letzte Berufungs- und höchstrichterliche Entscheidungsstelle.

■ einzige verwaltungsgerichtliche Instanz als „High Court of Justice“ (Oberstes Zivilgericht) und damit ein weiteres wichtiges Kontrollorgan der ausführenden Gewalt des Staates („Exekutive“). Dies schließt die Kontrolle der Regierungsbehörden, nicht zuletzt des Militärs, auch der Militärverwaltung in den besetzten Gebieten, ein. Als einziges und oberstes Verwaltungsgericht kann der Oberste Gerichtshof weitreichende Verfügungen und Verbote erlassen. Durch eine „order nisi“ kann jedermann schnell, unproblematisch und kostengünstig dieses Verwaltungsgericht anrufen.

Eine Verfassungsgerichtsbarkeit im Sinne der USA oder der Bundesrepublik Deutschland kennt Israel (noch) nicht.