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Die Ikone der modernen japanischen Dichtkunst mit ihrem aufsehenerregenden Lyrikdebüt – erstmals auf Deutsch
«Midaregami», zu Deutsch «Wirres Haar», steht für eine Revolution des traditionellen Geschlechterbildes der japanischen Frau, im übertragenen Sinn und zugleich anschaulich konkret. Nicht mit fein gekämmter und manierlich hochgesteckter Frisur präsentiert sich die meisterhafte Dichterin, wie es sich seit Jahrtausenden für ihresgleichen geziemt, sondern ganz im Gegenteil wild, aufgelöst – eben mit «wirrem Haar». Eduard Klopfenstein hat dieses einzigartige Kompendium, mit dem die dichterische Moderne in Japan einsetzte, kundig und sprachmächtig ins Deutsche übersetzt. Der Band ermöglicht die längst überfällige Entdeckung einer Ikone der fernöstlichen Poesie.
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Seitenzahl: 111
Mit Lyrik von beispielloser Subjektivität, häufig inspiriert von persönlich Erlebtem, revolutionierte Yosano Akiko die japanische Dichtkunst. Für ihren ersten Tanka-Band «Wirres Haar» (Midaregami) schrieb sie Verse voller Leidenschaft und expliziter Sinnlichkeit. Das hymnisch aufgenommene Werk der damals erst 22-Jährigen gilt als Beginn der dichterischen Moderne in Japan.
Yosano Akiko (1878–1942, eigentlich Hō Shō) stammte aus einer Kaufmannsfamilie aus Sakai nahe Osaka, führte bereits mit elf Jahren die Geschäfte der Familie und begann früh mit dem Schreiben. Als Verfasserin von Tanka-Gedichten, Essayistin und Übersetzerin klassischer Literatur wurde sie zu einer Schlüsselfigur des kulturellen Lebens im Japan des frühen 20. Jahrhunderts.
YOSANO AKIKO
WIRRES HAAR
MIDAREGAMI
399 Tanka
Deutsche Erstausgabe mit japanischem Originaltext
Aus dem Japanischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Eduard Klopfenstein
MANESSE VERLAG
I
Purpur-Violett
Enji-murasaki
1
Sterne unersättlich
im Liebesgeflüster hinter
nächtlichem Vorhang
Jetzt nur noch irdische Wesen
mit wild zerzausten Haaren
夜の帳にささめき盡きし星の今を下界の人の鬢のほつれよ
Yo no chō ni / sasameki tsukishi / hoshi no ima o / gekai no hito no / bin no hotsure yo
2
Frag doch die Dichtung …
Wer wollte den Feldblumen verbieten
rot zu blühen?
Bezaubernd das Mädchen
in seiner Frühlingssünde
歌にきけな誰れ野の花に紅き否むおもむきあるかな春罪もつ子
Uta ni kike na / tare no no hana ni / akaki inamu / omomuki aru ka na / haru tsumi motsu ko
3
Fünf Fuß langes Haar
locker im Wasser treibend
wunderbar weiches
zartes Mädchenherz versiegelt
bleibe es im Verborgnen
髮五尺ときなば水にやはらかき少女ごころは秘めて放たじ
Kami goshaku / tokinaba mizu ni / yawarakaki / otome gokoro wa / himete hanataji
4
Feurig brennt mein Blut
Eine Nacht in der Traumherberge
will ich dir schenken
Frühlingswanderer du
verschmähe nicht Gottes Geheiß!
血ぞもゆるかさむひと夜の夢のやど春を行く人神おとしめな
Chi zo moyuru / kasamu hitoyo no / yume no yado / haru o yuku hito / kami otoshime na
5
Kamelienblüten
auch Pflaumenblüten erstrahlen
in reinem Weiß
Nur das zarte Pfirsichrot
schmäht mich nicht für meine Sünde
椿それも梅もさなりき白かりきわが罪問はぬ色桃に見る
Tsubaki sore mo / ume mo sanariki / shirokariki / waga tsumi towanu / iro momo ni miru
6
Zwanzig ist sie durch den
Kamm herunter stürzt ein Fluss
von schwarzen Haaren
in verschwenderischer Pracht –
Frühling des Lebens!
その子二十櫛にながるる黑髮のおごりの春のうつくしきかな
Sono ko hatachi / kushi ni nagaruru / kurokami no / ogori no haru no / utsukushiki kana
7
Dumpfer Klang der Tempel-
glocke hallt im Abendschein –
Du aber sollst
die Sutren meinen Locken
mit den Pfirsichknospen weihen!
堂の鐘のひくきゆふべを前髮の桃のつぼみに經たまへ君
Dō no kane no / hikuki yūbe o / maegami no / momo no tsubomi ni / kyō tamae kimi
8
Dämmrig violett
schimmert das rötliche Kimonofutter
aus dem Ablagekästchen
Der Gott der Frühlingsnacht
zögert es ganz zu verbergen
紫にもみうらにほふみだれ篋をかくしわづらふ宵の春の神
Murasaki ni / momiura niou / midarebako o / kakushi wazurau / yoi no haru no kami
9
Purpurröte
wallendes Blut … Wem
eröffne ich mich?
Frühlingsregungen
Blüte des Lebens
臙脂色は誰にかたらむ血のゆらぎ春のおもひのさかりの命
Enjiiro wa / tare ni kataramu / chi no yuragi / haru no omoi no / sakari no inochi
10
Vom dunklen Violett
des Regenbogens sprach er zu ihr
Im Sakeschälchen
gespiegelt des Frühlingskindes
schmächtige Augenbrauen
紫の濃き虹説きしさかづきに映る春の子眉毛かぼそき
Murasaki no / koki niji tokishi / sakazuki ni / utsuru haru no ko / mayuge kabosoki
11
Mit Indigo möcht ich
auf Seide malen doch muss ich weinen
Zu Ende der Frühling –
Die Freundin im Goldröschenkleid
schafft große Gedichte
紺靑を絹にわが泣く春の暮やまぶきがさね友歌ねびぬ
Konjō o / kinu ni waga naku / haru no kure / yamabukigasane / tomo uta nebinu
12
Sake-Gelage
Abend voll roter Lichter
Gedichte preisen die Päonien
so dass sich all die schönen
Frauen übergangen fühlen
まゐる酒に灯あかき宵を歌たまへ女はらから牡丹に名なき
Mairu sake ni / hi akaki yoi o / uta tamae / onna harakara / botan ni na naki
13
Unter den triefenden
Zierapfelbaum wirft sie das Rouge
das umsonst angerührte –
Ihr kraftloser Blick
verliert sich im Abendregen
海棠にえうなくときし紅捨てて夕雨みやる瞳よたゆき
Kaidō ni / yōnaku tokishi / beni sutete / yūsame miyaru / hitomi yo tayuki
14
Am Wasser geschlafen
am Ufer des Ōi in Saga –
Gott dieser Nacht
Unsre Lieder hinter dem Saum
des Mückennetzes … halt sie geheim!
水にねし嵯峨の大堰のひと夜神絽蚊帳の裾の歌ひめたまえ
Mizu ni neshi / Saga no Ōi no / hitoyogami / rogaya no suso no / uta hime tamae
15
Land des Frühlings
erhabenes Land der Liebe
Im Zwielicht des Morgens
wird deutlich: Es sind ihre Haare –
duftendes Pflaumenblütenöl
春の國戀の御國のあさぼらけしるきは髮か梅花のあぶら
Haru no kuni / koi no mikuni no / asaborake / shiruki wa kami ka / baika no abura
16
«Es ist jetzt Zeit …
Auf Wiedersehen!» sagte er
der Gott dieser Nacht
Sein Kleidersaum berührte mich
und tränenfeucht sind meine Haare
今はゆかむさらばと云ひし夜の神の御裾さはりてわが髮ぬれぬ
Ima wa yukamu / saraba to iishi / yo no kami no / misuso sawarite / waga kami nurenu
17
Streck deine
kräftige Hand unter meinen
zerbrechlichen Nacken
stütze ihn Gott meiner Nacht
der du wieder entschwindest
細きわがうなじにあまる御手のべてささへたまへな歸る夜の神
Hosoki waga / unaji ni amaru / mite nobete / sasae tamae na / kaeru yo no kami
18
Durchs Gion-Quartier
hinauf zum Kiyomizu-Tempel
Kirschblütenmondnacht –
Schön sind sie
all die Menschen heute Abend
清水へ祇園をよぎる櫻月夜こよひ逢ふ人みなうつくしき
Kiyomizu e / Gion o yogiru / sakura-zuki-yo / koyoi au hito / mina utsukushiki
19
Gott des Herbstes
Von seinem Gewand her wölbt sich
ein weißer Regenbogen
zur Stirn des gedankenverlorenen
Kindes … löst sich in nichts auf
秋の神の御衣より曳く白き虹ものおもふ子の額に消えぬ
Aki no kami no / mikeshi yori hiku / shiroki niji / mono omou ko no / hitai ni kienu
20
Sutren sind bitter
an diesem Frühlingsabend
Ihr fünfundzwanzig Buddhas
im Innersten Tempel
lauscht meinen Liedern!
經はにがし春のゆふべを奥の院の二十五菩薩歌うけたまへ
Kyō wa nigashi / haru no yūbe o / oku-no-in no / nijūgo bosatsu / uta uketamae
21
Rückzug in die Berge
«Bleib dort halte still!»
so lehrtest du mich –
Wenn mein Rouge zu Ende geht
kommt die Zeit der Pfirsichblüten
山ごもりかくてあれなのみをしへよ紅つくるころ桃の花さかむ
Yamagomori / kakute are na no / mioshie yo / beni tsukuru koro / momo no hana sakamu
22
Mit gelöstem Haar
betrete ich zarten Lilienduft
der den Raum durchzieht
O dass das blasse Rot nicht gleich
versinkt im Abenddämmer …
とき髮に室むつまじの百合のかをり消えをあやぶむ夜の淡紅色よ
Tokigami ni / muro mutsumaji no / yuri no kaori / kie o ayabumu / yo no tokiiro yo
23
Blaue Wölkchen – sie ist da
die Sommerprinzessin
Eine Pracht!
Ihre Haare früh am Morgen
fließend auf dem Wasserspiegel
雲ぞ靑き來し夏姫が朝の髮うつくしいかな水に流るる
Kumo zo aoki / kishi natsuhime ga / asa no kami / utsukushii kana / mizu ni nagaruru
24
Das Lämmchen
auf dem sich der Gott der Nacht
morgens davontrollt
ich fange es ein … verstecke es
unter meinem kleinen Kissen
夜の神の朝のり歸る羊とらへちさき枕のしたにかくさむ
Yo no kami no / asa norikaeru / hitsuji torae / chisaki makura no / shita ni kakusamu
25
Am Ufer
kommst du daher Kuhhirte
Stimm doch ein Lied an!
Allzu schwer liegt Einsamkeit
über dem herbstlichen See
みぎはくる牛かひ男歌あれな秋のみづうみあまりさびしき
Migiwa kuru / ushikai otoko / uta are na / aki no mizuumi / amari sabishiki
26
Du siehst und berührst nicht
meine zarte Haut unter der
das heiße Blut pocht
Bist du nicht einsam? Du!
Schulmeister des rechten Wegs
やは肌のあつき血汐にふれも見でさびしからずや道を説く君
Yawahada no / atsuki chishio ni / fure mo mide / sabishikarazu ya / michi o toku kimi
27
Verzeiht mir bitte!
Besser es gäbe mich nicht
so wie ich jetzt bin
Das helle Violett des Weines –
berauschende Schönheit!
許したまへあらずばこその今のわが身うすむらさきの酒うつくしき
Yurushi tamae / arazuba koso no / ima no waga mi / usumurasaki no / sake utsukushiki
28
Als unvergesslicher Zauber
zumindest sei es dir gegenwärtig
das Rot des Purpurs
Ich werde es dir «Herbstblüte»
nicht weiter erklären
わすれがたきとのみに趣味をみとめませ説かじ紫その秋の花
Wasuregataki / to nomi ni shumi o / mitome mase / tokaji murasaki / sono aki no hana
29
Er lässt mich warten …
Dieser Frühlingstag versinkt
in düstrer Abendstimmung
Auf den Koto-Saiten ausgebreitet
meine wirren wirren Haare
人かへさず暮れむの春の宵ごこち小琴にもたす亂れ亂れ髮
Hito kaesazu / kuremu no haru no / yoi gokochi / ogoto ni motasu / midare midaregami
30
Den Arm als Kissen
Ein Schläfenhaar reißt …
zu hören
wie ein Koto-Klang –
Traum einer Frühlingsnacht
たまくらに鬢のひとすぢきれし音を小琴と聞きし春の夜の夢
Tamakura ni / bin no hitosuji / kireshi ne o / ogoto to kikishi / haru no yo no yume
31
Vom Frühlingsregen
triefend erreicht er das Tor
ihrer Grashütte
Geschmeichelt glänzen die Blüten
des Zierapfelbaumes abends
春雨にぬれて君こし草の門よおもはれ顔の海棠の夕
Harusame ni / nurete kimi koshi / kusa no kado yo / omoware gao no / kaidō no yūbe
32
Die Gräser vom Felde sprachen:
«Blühen werden wir dir in Farbe
trunkener Tränen –
doch bis dahin erwache nicht
aus dem Traume Mädchen!»
小草いひぬ「醉へる淚の色にさかむそれまで斯くて覺めざれな少女」
Ogusa iinu / «yoeru namida no / iro ni sakamu / sore made kakute / samezare na otome»
33
Von der Weide her plätschert
weithin gen Süden das Wasser
Welch erquickender
Einklang zwischen dir
und der grünen Aue
牧場いでて南にはしる水ながしさても緑の野にふさふ君
Makiba idete / minami ni hashiru / mizu nagashi / sate mo midori no / no ni fusau kimi
34
Schwinde nicht Frühling!
Kindliche Tänzerinnen gereiht
auf nächtlicher Bühne
nah den Glyzinienblüten –
Schwinde nicht Augenblick!
春よ老いな藤によりたる夜の舞殿ゐならぶ子らよ束の間老いな
Haru yo oi na / fuji ni yoritaru / yo no maidono / inarabu kora yo / tsuka no ma oi na
35
Regen tropft auf die schwimmenden
Lotusblätter und weißen Blüten
Über den Maler
halt ich auf schwankendem Schiffchen
den Schirm in die Höhe
雨みゆるうき葉しら蓮繪師の君に傘まゐらする三尺の船
Ame miyuru / ukiha shirahasu / eshi no kimi ni / kasa mairasuru / sanjaku no fune
36
Erhabenes Antlitz –
um so viel betörender
vertrauter
im Hain der sprießenden Blätter
Großer Sonnenbuddha!
御相いとどしたしみやすきなつかしき若葉木立の中の盧遮那佛
Misō itodo / shitashimi yasuki / natsukashiki / wakaba kodachi no / naka no Rushana-Butsu
37
Tadle mich nicht!
Verstiegen in luftige Höhen
siehst du sie nicht?
Meine blutigen Tränen
der Liebe – ewige Spuren …
さて責むな高きにのぼり君みずや紅の淚の永劫のあと
Sate semu na / takaki ni nobori / kimi mizu ya / ake no namida no / yōgō no ato
38
Wie ein Lamm
das nachts im Frühlingsregen
herumirrt hab ich
mein Heim verlassen –
grollend verwünsche ich dich
春雨にゆふべの宮をまよひ出でし子羊君をのろはしの我れ
Harusame ni / yūbe no miya o / mayoi ideshi / kohitsuji kimi o / norowashi no ware
39
Beim Bade
– auf dem Grund der Quelle –
eine Lilienblüte!
Ich sah die Schönheit
meiner zwanzig Sommer
ゆあみする泉の底の小百合花二十の夏をうつくしと見ぬ
Yuami suru / izumi no soko no / sayuribana / hatachi no natsu o / utsukushi to minu
40
Irre Gefühle
verwirrte Gefühle ach!
Wie könnt ich dem stets
über Lilien schreitenden Gott
meine Brüste verwehren
みだれごこちまどひごこちぞ頻なる百合ふむ神に乳おほひあへず
Midare gokochi / madoi gokochi zo / shikiri naru / yuri fumu kami ni / chichi ōi aezu
41
Mit den roten Lippen
die gleich Rosenblättern
aufeinanderliegen
darfst du niemals Lieder
ohne Duft der Seele singen
くれなゐの薔薇のかさねの唇に靈の香のなき歌のせますな
Kurenai no / bara no kasane no / kuchibiru ni / rei no ka no naki / uta nosemasu na
42
Herberge unterwegs
Da saßest du ein junger Mönch
ganz nah am Wasser
Ich beweinte dich – untröstlich
unter dem Mond der Sommernacht
旅のやど水に端居の僧の君をいみじと泣きぬ夏の夜の月
Tabi no yado / mizu ni hashii no / sō no kimi o / imiji to nakinu / natsu no yo no tsuki
43
Aus dem Dunkel
der Frühlingsnacht wehend
süß duftender Wind
Liebkose für eine Weile noch nicht
die Locken des Kindes
春の夜の闇の中くるあまき風しばしかの子が髮に吹かざれ
Haru no yo no / yami no naka kuru / amaki kaze / shibashi kano ko ga / kami ni fukazare
44
Nach Wasser dürstend
irrt das Lämmchen
durch den tiefen Wald
Sind meine Blicke nicht
den seinen ähnlich … Du!
水に飢ゑて森をさまよふ子羊のそのまなざしに似たらずや君
Mizu ni uete / mori o samayou / kohitsuji no / sono manazashi ni / nitarazu ya kimi
45
Wolkengeschiebe
abends im Osten über den
Ikoma-Bergen
Möge doch irgendjemand
daraus meine Zukunft deuten
誰ぞ夕ひがし生駒の山の上のまよひの雲にこの子うらなへ
Tare zo yūbe / higashi Ikoma no / yama no ue no / mayoi no kumo ni / kono ko uranae
46
Bereue nichts!
Von meinem Ärmel niedergedrückt
zerbrach dein Schwert
Seither sprießen die Ideale –
Blüten ohne Dornen!
悔いますなおさへし袖に折れし剣つひの理想の花に刺あらじ
Kuimasu na / osaeshi sode ni / oreshi tsurugi / tsui no omoi no / hana ni toge araji
47
Liegend sehe ich
über meine Stirne hinweg den Mond
frühmorgens gespiegelt
im fahlen Glanz des Kamo-Flusses –
wirres Algenmuster
額ごしに曉の月みる加茂川の淺水色のみだれ藻染よ
Nukagoshi ni / ake no tsuki miru / Kamogawa no / asa-mizuiro no / midare mozome yo
48
Er schnürt die Ärmel auf …
«Nehmt Ihr schon Abschied?» frage ich
im Zwielicht eines Sommerabends
am Geländer stehend
den Gott des Kamo-Flusses
御袖くくりかへりますかの薄闇の欄干夏の加茂川の神
Misode kukuri / kaerimasu ka no / usuyami no / obashima natsu no / Kamogawa no kami
49
Noch einen Augenblick!
Da Euer Land so ferne liegt
Gott dieser Nacht
geruht mein Schiffchen zu besteigen:
meine Schale Lippenrot …
なほ許せ御國遠くば夜の御神紅盃船に送りまゐらせむ
Nao yuruse / mikuni tōkuba / yo no mikami / benizara-fune ni / okuri mairasemu
50
Kind des Wahnsinns!
Leichte Feuerflügel
trugen mich fort
über hundertdreißig Meilen –
hastig überstürzte Reise
狂ひの子我に焔の翅かろき百三十里あわただしの旅
Kurui no ko / ware ni honō no / hane karoki / hyaku sanjū ri / awatadashi no tabi
51
Hier steh ich nun
und dreh mich um und seh
dass meine Leidenschaft
der Blindheit glich
die furchtlos sich ins Dunkel stürzt
今ここにかへりみすればわがなさけ闇をおそれぬめしひに似たり
Ima koko ni / kaerimisureba / waga nasake / yami o osorenu / meshii ni nitari
52
«Auf dein schönes Leben
musst du nicht verzichten
es würde mich reuen»
gab mir der Gott zu verstehen
jetzt da mein Wunsch sich erfüllt hat
うつくしき命を惜しと神のいひぬ願ひのそれは果たしてし今
Utsukushiki / inochi o oshi to / kami no iinu / negai no sore wa / hatashiteshi ima
53
Die Finger des jungen Malers
zögern beim Anrühren des weißen
Muschelkalks
Frostiger Abend – blendender Glanz
der Magnolienblüten
わかき小指胡粉をとくにまどひあり夕ぐれ寒き木蓮の花
Wakaki oyubi / gofun o toku ni / madoi ari / yūgure samuki / mokuren no hana
54
Die Zeitspanne
für meine Morgentoilette
gesteht er mir zu –
Sing ihm doch etwas vor
Grasmücke vom Berg!
ゆるされし朝よそほひのしばらくを君に歌へな山の鶯
Yurusareshi / asa yosooi no / shibaraku o / kimi ni utae na / yama no uguisu
55
Schlaf gut! sagte ich
und verließ sein Zimmer
in der Frühlingsnacht
Da hing sein Gewand – mit seinem Duft
umhüllte ich mich
ふしませとその間さがりし春の宵衣桁にかけし御袖かづきぬ
Fushimase to / sono ma sagarishi / haru no yoi / ikō ni kakeshi / misode kazukinu
56
Mein wirres Haar
in aller Früh als Shimada-Knoten
aufgesteckt – im Kyōto-Stil
Noch immer schläfst du! Ungeduldig
rüttle ich dich wach
みだれ髮を京の島田にかへし朝ふしてゐませの君ゆりおこす
Midaregami o / Kyō no shimada ni / kaeshi asa / fushite imase no / kimi yuriokosu
57
Auf leisen Sohlen
durch verschleierte Mondnacht
jage ich hinter dir her
Schwer wiegt der Brief
in meinem rechten Ärmel
しのび足に君を追ひゆく薄月夜右のたもとの文がらおもき
Shinobiashi ni / kimi o oiyuku / usuzuki-yo / migi no tamoto no / fumigara omoki
58
Violettfarbig fiel
mein Schatten auf die Gräser
als mir morgens
der Frühlingswind von den Feldern
die Haare kämmte
紫に小草が上へ影おちぬ野の春かぜに髮けづる朝
Murasaki ni / ogusa ga ue e / kage ochinu / no no harukaze ni / kami kezuru asa
59
Den bunt bemalten
Sonnenschirm werf ich ins Gras
am andern Ufer
durchschreite das Bächlein – schon lau
ist das Wasser des Frühjahrs
繪日傘をかなたの岸の草になげわたる小川よ春の水ぬるき
Ehigasa o / kanata no kishi no / kusa ni nage / wataru ogawa yo / haru no mizu nuruki
60
Getrieben vom Wunsch
deine weiße Wand mit einem
Gedicht zu färben
machte ich mich ohne Schirm auf den Weg
– eine Reise von zweihundert Meilen
しら壁へ歌ひとつ染めむねがひにて笠はあらざりき二百里の旅
Shirakabe e / uta hitotsu somemu / negai nite / kasa wa arazariki / nihyaku ri no tabi
61
Morgenstunde in Saga
«Entlasse mich bitte nur kurz
zum Tanka-Treffen» sagt er
Schmollend schaue ich in den Spiegel
sieh: meine reizende Sommergestalt!
嵯峨の君を歌に假せなの朝のすさびすねし鏡のわが夏姿
Saga no kimi o / uta ni kase na no / asa no susabi / suneshi kagami no / waga natsusugata
62
Gänzlich unpassend!
Reine weiße Buschkleeblüten
im Haar der jungen Braut –
Dem Gott dieser Nacht entlockt sie
verstohlenes Lächeln
ふさひ知らぬ新婦かざすしら萩に今宵の神のそと片笑みし
Fusai shiranu / niibito kazasu / shirahagi ni / koyoi no kami no / soto kataemishi
63
Je ein einziger Zweig
vom wilden Pflaumenbaum
muss uns genügen:
Ein Abschied nur für kurze
nur ganz kurze Zeit!
ひと枝の野の梅をらば足りぬべしこれかりそめのかりそめの別れ
Hitoeda no / no no ume oraba / tarinubeshi / kore karisome no / karisome no wakare
64
«Das Grasmückenzwitschern
hast du doch nur geträumt»
hielt ich dir vor
und lugte dennoch verstohlen hinaus
zwischen grünen Gardinen
鶯は君が夢よともどきながら緑のとばりそとかかげ見る
Uguisu wa / kimi ga yume yo to / modokinagara / midori no tobari / soto kakage miru
65
Purpurrot fallen die Tropfen
des Regenbogens auf Blumen
werden zu Armen
niemals bezweifle den Traum
in meiner Umarmung
紫の虹の滴り花におちて成りしかひなの夢うたがふな
Murasaki no / niji no shitatari / hana ni ochite / narishi kaina no / yume utagau na
66
Der Kuckuck ruft –
Bis Saga eine und bis Kyōto
nur drei Meilen
Hier tagt es früh in Kiyotaki
«Klarer Wasserfall»
ほととぎす嵯峨へは一里京へ三里水の清瀧夜の明けやすき
Hototogisu / Saga e wa ichi ri / Kyō e san ri / mizu no Kiyotaki / yo no akeyasuki
67
Das Purpurrot
die Wolke hoher Ideale –
zerfetzt zerrissen
Nichts ist mehr … verschwunden alles
schaue ich hinauf zu meinem Himmel
紫の理想の雲はちぎれちぎれ仰ぐわが空それはた消えぬ
Murasaki no / risō no kumo wa / chigire chigire / aogu waga sora / sore hata kienu
68
Ich bedecke meine Brüste
stoße den Geheimnisvorhang
leichthin zur Seite
Die Blüten die sich hier enthüllen –
welch ein tiefes Dunkelrot!
乳ぶさおさへ神祕のとばりそとけりぬここなる花の紅ぞ濃き
Chibusa osae / shinpi no tobari / soto kerinu / koko naru hana no / kurenai zo koki
69
Wünschen wir uns jetzt nicht
einen weiten Blick von den Schultern
des Liebesgottes?
Wir – die zwei tiefroten Ärmel
seines Gewandes …
神の背にひろきながめをねがはずや今かたかたの袖ぞむらさき
Kami no sena ni / hiroki nagame o / negawazu ya / ima katakata no / sode zo murasaki
70