Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkel - John Maynard Keynes - E-Book

Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkel E-Book

John Maynard Keynes

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Beschreibung

1930 rechnete Keynes vor, dass seine Enkelkinder-Generation 100 Jahre später dank technologischen Fortschritts in nie gekanntem materiellem Wohlstand leben und dank dieser Entwicklung nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten würde. Die erste Prognose ist präzise eingetroffen – die zweite offenkundig nicht. Keynes' visionärer Essay wirft Fragen auf, die heute mehr denn je zentral sind: Warum arbeiten wir immer noch so viel und wieder zunehmend mehr? Welche Alternativen gäbe es zum derzeitigen Arbeitsregime? Und wofür arbeiten wir überhaupt? Ein Essay von Ulrike Herrmann gibt weitere Denkanstöße.

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John Maynard Keynes

Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkel

Übersetzt und herausgegeben von Jens KnippMit einem Essay von Ulrike Herrmann

Reclam

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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962255

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962255-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014493-0

www.reclam.de

Inhalt

Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkel (1930)

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise

Nachwort: Am Ende aller Arbeit?

Von Jens C. Knipp

Essay: Keynes übersieht den Wachstumszwang im Kapitalismus

Von Ulrike Herrmann

Zeittafel

Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkel (1930)

John Maynard Keynes

I

Wir leiden im Moment an einem schlimmen Anfall von Wirtschaftspessimismus. Man hört von den Leuten oft, dass die Epoche des enormen wirtschaftlichen Fortschritts, der das 19. Jahrhundert geprägt hat, vorüber ist; dass die rasche Verbesserung des Lebensstandards sich nun verlangsamen wird – jedenfalls in Großbritannien; dass in dem vor uns liegenden Jahrzehnt ein Rückgang des Wohlstands wahrscheinlicher ist als ein Anstieg.

Ich bin überzeugt, dies ist eine vollkommen falsche Interpretation dessen, was gerade mit uns geschieht. Wir leiden nicht an Altersrheumatismus, sondern an den Wachstumsschmerzen überschnellen Wandels, an der schmerzhaften Neuanpassung zwischen einer Wirtschaftsphase und der nächsten. Die Steigerung der technischen Effizienz hat sich schneller vollzogen, als wir uns um das Problem der Arbeitsabsorption kümmern konnten; die Verbesserung des Lebensstandards ging ein wenig zu rasch vor sich; das Banken- und Währungssystem der Welt hat verhindert, dass der Zinssatz so schnell fällt, wie es das Gleichgewicht erfordert hätte. Und trotzdem macht die daraus folgende Verschwendung und Verwirrung nicht mehr als 7,5 Prozent des Nationaleinkommens aus; wir vergeuden 1,5 Shilling von jedem Pfund und haben nur noch 18,5 Shilling übrig, wo wir, wären wir vernünftig, 1 Pfund hätten. Dennoch entsprechen die 18,5 Shilling dem Wert, den 1 Pfund vor fünf oder sechs Jahren gehabt hätte. Wir vergessen dabei, dass die Industrieproduktion in Großbritannien 1929 größer war als je zuvor und dass unser Handelsbilanzüberschuss, der nach Abzug aller Importe für Auslandsinvestitionen zur Verfügung steht, letztes Jahr größer war als der jedes anderen Landes, sogar 50 Prozent höher als der entsprechende Überschuss der Vereinigten Staaten. Oder nehmen wir wiederum an – wenn es um Vergleiche gehen soll –, wir würden unsere Löhne um die Hälfte senken, vier Fünftel unserer Staatsschulden zurückweisen und unseren überschüssigen Reichtum in Goldbarren horten, anstatt ihn zu 6 Prozent oder mehr zu verleihen, dann würden wir dem heute viel beneideten Frankreich gleichen. Doch wäre das eine Verbesserung?

Die vorherrschende weltweite Depression, die ungeheuerliche Anomalie der Arbeitslosigkeit in einer Welt voller Bedürfnisse, die katastrophalen Fehler, die wir gemacht haben, lassen uns blind werden für das, was unter der Oberfläche vorgeht – für die wahre Deutung der Entwicklung der Dinge. Denn ich prophezeie, dass die beiden gegensätzlichen Irrtümer des Pessimismus, die gerade so viel Lärm in der Welt machen, sich noch zu unseren Lebzeiten als gleichermaßen falsch erweisen werden: der Pessimismus der Revolutionäre, die glauben, dass die Dinge so schlecht stehen, dass uns nichts mehr retten kann außer gewalttätigen Umstürzen; und der Pessimismus der Reaktionären, die das Gleichgewicht zwischen unserem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben für so prekär halten, dass wir keine Experimente wagen dürfen.

Meine Absicht besteht in diesem Aufsatz jedoch nicht darin, die Gegenwart oder die nahe Zukunft zu untersuchen, sondern mich von Kurzfristigkeiten frei zu machen und mich in die Zukunft aufzuschwingen. Welches Niveau unseres Wirtschaftslebens dürfen wir in 100 Jahren vernünftigerweise erwarten? Was sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkel?

Von den frühesten Zeiten, aus denen wir Aufzeichnungen haben – zurück also, sagen wir, bis 2000 Jahre v. Chr. –, gab es bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts keine großen Veränderungen im Lebensstandard durchschnittlicher Menschen, die in den zivilisierten Zentren der Erde lebten. Gewiss, es gab Höhen und Tiefen. Gelegentliche Heimsuchungen von Seuchen, Hungersnöten und Kriegen. Goldene Zwischenzeiten. Aber keine fortschreitenden, stürmischen Veränderungen. Einige Perioden waren vielleicht 50 Prozent besser als andere – oder höchstens 100 Prozent – in den 4000 Jahren, die (sagen wir) im Jahr 1700 endeten.

Dieser langsame Fortschritt – oder besser gesagt: dieser Mangel an Fortschritt – lässt sich auf zwei Gründe zurückführen, nämlich auf die bemerkenswerte Abwesenheit bedeutsamer technischer Fortschritte und auf das Fehlen von Kapitalakkumulation.

Die Abwesenheit bedeutender technischer Erfindungen zwischen prähistorischen und vergleichsweise modernen Zeiten ist wirklich bemerkenswert. Fast alles, was wirklich wichtig ist und was die Welt an der Schwelle zur Moderne besaß, war den Menschen bereits in der Morgendämmerung der Geschichte bekannt. Sprache, Feuer, die gleichen Nutztiere wie heute, Weizen, Gerste, Wein und Oliven, der Pflug, das Rad, das Ruder, das Segel, Leder, Leinen und Stoff, Ziegel und Töpfe, Gold und Silber, Kupfer, Zinn und Blei – und Eisen wurde der Liste vor 1000 v. Chr. noch hinzugefügt –, Bankwesen, Staatskunst, Mathematik, Astronomie und Religion. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, wann wir diese Dinge erstmals besaßen.

In irgendeiner Epoche vor Anbruch der Geschichte, vielleicht sogar in einem jener angenehmen Zeiträume vor der letzten Eiszeit, muss es eine Ära des Fortschritts und der Erfindungen gegeben haben, die mit derjenigen vergleichbar ist, in der wir heute leben. Doch während der längsten Zeit der dokumentierten Geschichte gab es nichts dergleichen.

Die Moderne hat, denke ich, mit der Kapitalakkumulation eingesetzt, die im 16. Jahrhundert begann. Aus Gründen, mit denen ich diese Ausführungen nicht belasten sollte, bin ich der Ansicht, dass dies anfänglich auf den Preisanstieg und die damit einhergehenden Profite zurückzuführen war, die wiederum aus dem Gold- und Silberschatz resultierten, den die Spanier aus der Neuen in die Alte Welt verbrachten. Von dieser Zeit an bis heute wurde die Macht der Akkumulation durch Zinseszins, die viele Generationen lang geschlafen zu haben scheint, wiedergeboren und hat ihre Kraft erneuert. Und die Macht des Zinseszinses über 200 Jahre hinweg ist etwas, das die Vorstellungskraft wirklich ins Schleudern bringen kann.

Lassen Sie mich zur Veranschaulichung eine Summe, die ich ausgerechnet habe, nennen. Der Wert aller gegenwärtigen britischen Auslandsinvestitionen wird auf ungefähr 4 Milliarden Pfund geschätzt. Diese werfen ein Einkommen von etwa 6,5 Prozent ab. Die Hälfte davon bringen wir nach Hause und genießen sie; die andere Hälfte, nämlich 3,25 Prozent, lassen wir im Ausland durch Zinseszins wachsen. Etwas in dieser Art geht nun seit etwa 250 Jahren vor sich.

Ich führe nämlich die Anfänge der britischen Auslandsinvestitionen auf den Schatz zurück, den Drake 1580 von Spanien stahl. In diesem Jahr kehrte er nach England zurück und brachte seine gewaltige Beute in der Golden Hind mit. Königin Elisabeth hielt beträchtliche Anteile an dem Konsortium, das die Expedition finanziert hatte. Von ihrer Beteiligung beglich sie sämtliche Auslandsschulden Englands, glich ihren Haushalt aus und behielt noch ungefähr 40 000 Pfund übrig. Diese investierte sie in die Levante-Gesellschaft, die prosperierte. Mit den Gewinnen der Levante-Gesellschaft wurde die Britische Ostindien-Kompanie gegründet; und die Profite dieses großen Unternehmens legten den Grundstein für Englands zukünftige Auslandsinvestitionen. Nun fügt es sich, dass 40 000 Pfund, die sich mit einer Zinseszinsrate von 3,25 Prozent vermehren, in etwa dem tatsächlichen Umfang der englischen Auslandsinvestitionen zu verschiedenen Zeitpunkten entsprechen und sich heute zu einer Gesamtsumme von 4 Milliarden Pfund summieren würden, die ich bereits als diejenige genannt habe, auf die sich unsere Auslandsinvestitionen aktuell belaufen. Folglich wurden aus jedem Pfund, das Drake 1580 mit nach Hause gebracht hat, bis heute 100 000 Pfund. Das ist die Macht des Zinseszins!

Ab dem 16. Jahrhundert begann, mit einem Wachstums-Crescendo nach dem 18. Jahrhundert, das große Zeitalter der Wissenschaft und der technischen Erfindungen, das seit Anfang des 19. Jahrhunderts in voller Fahrt ist: Kohle, Dampf, Elektrizität, Benzin, Stahl, Gummi, Baumwolle, die Chemie-Industrie, Automatisierung und die Verfahren der Massenproduktion, Funk, Druck, Newton, Darwin und Einstein sowie tausende weiterer Dinge und Menschen, die zu berühmt und vertraut sind, um sie alle aufzuzählen.

Mit welchem Ergebnis? Trotz eines enormen Wachstums der Weltbevölkerung, das eine Versorgung mit Häusern und Geräten notwendig machte, hat sich der durchschnittliche Lebensstandard in Europa und den Vereinigten Staaten meiner Schätzung nach etwa vervierfacht. Das Wachstum des Kapitals liegt in einer Größenordnung, die weit jenseits des Hundertfachen dessen ist, was irgendein vorheriges Zeitalter gekannt hat. Und von nun an brauchen wir auch kein so großes Bevölkerungswachstum mehr zu erwarten.

Wenn das Kapital, sagen wir, jährlich um 2 Prozent wächst, wird es sich in 20 Jahren um die Hälfte und in 100 Jahren um das Siebeneinhalbfache vermehrt haben. Stellen Sie sich das in Bezug auf materielle Dinge vor – Häuser, Transportmittel und dergleichen.

Zugleich ist der technische Fortschritt in der Fertigung und im Transportwesen in den letzten zehn Jahren stärker vorangeschritten als jemals zuvor in der Geschichte. In den Vereinigten Staaten lag die Industrieproduktion pro Kopf im Jahr 1925 40 Prozent höher als 1919. In Europa werden wir von vorübergehenden Hindernissen gebremst, doch trotzdem kann man mit Sicherheit sagen, dass die technische Effizienz um mehr als 1 Prozent pro Jahr steigen wird. Man kann davon ausgehen, dass die bahnbrechenden technischen Umwälzungen, die bislang hauptsächlich die Industrie betrafen, bald auch auf die Landwirtschaft übergreifen könnten. Wir stehen möglicherweise an der Schwelle zu Fortschritten in der Effizienz der Nahrungsmittelproduktion, die ebenso groß sind wie diejenigen, die im Bergbau, in der Fertigung und im Transportwesen bereits stattgefunden haben. In einigen Jahren – noch zu unseren Lebzeiten, meine ich – könnten wir alle Tätigkeiten in den Bereichen Landwirtschaft, Bergbau und Fertigung mit bloß noch einem Viertel des menschlichen Aufwandes erledigen, den wir bisher gewöhnt waren.

Im Augenblick schmerzt uns die schiere Geschwindigkeit dieses Wandels und konfrontiert uns mit schwierigen Problemen, die es zu lösen gilt. Diejenigen Länder, die keine Vorreiter sind, leiden vergleichsweise weniger darunter. Wir werden von einer neuen Krankheit geplagt, deren Namen einige Leser noch nicht gehört haben mögen, von der sie aber in den kommenden Jahren noch sehr viel hören werden: von der technologischen Arbeitslosigkeit. Das bedeutet Arbeitslosigkeit, die daraus resultiert, dass unsere Entdeckungen von Mitteln zur Einsparung von Arbeitskraft schneller voranschreiten werden, als wir neue Verwendungsweisen für Arbeitskraft werden erschließen können.

Doch das ist nur eine vorübergehende Phase schlechter Anpassung. All dies bedeutet, dass auf lange Sicht betrachtet die Menschheit dabei ist, ihr wirtschaftliches Problem zu lösen. Ich würde voraussagen, dass der Lebensstandard in den fortgeschrittenen Gesellschaften in 100 Jahren vier- bis achtmal so hoch ist wie heute. Daran wäre nichts Überraschendes, selbst im Licht unseres gegenwärtigen Wissens. Und es wäre keineswegs töricht, die Möglichkeit sogar noch größerer Fortschritte zu erwägen.

II

Lassen Sie uns um des Arguments willen annehmen, dass es uns allen in wirtschaftlicher Hinsicht in 100 Jahren achtmal so gut gehen wird wie heute. Daran braucht uns sicherlich nichts zu überraschen.

Es ist nun richtig, dass die Bedürfnisse der Menschen unstillbar zu sein scheinen. Doch sie lassen sich in zwei Kategorien einteilen: die Bedürfnisse, die in dem Sinne absolut sind, dass wir sie unabhängig von der Lage unserer Mitmenschen empfinden; und diejenigen, die insofern relativ sind, als wir sie nur verspüren, wenn uns ihre Befriedigung über unsere Mitmenschen erhebt und ihnen überlegen fühlen lässt. Bedürfnisse der zweiten Kategorie, die den Wunsch nach Überlegenheit erfüllen, mögen tatsächlich unstillbar sein; denn je höher das allgemeine Niveau, desto höher sind wiederum sie. Doch das trifft nicht gleichermaßen auf die absoluten Bedürfnisse zu: Es mag schon bald ein Punkt erreicht sein, möglicherweise sogar viel früher, als wir alle glauben, an dem diese Bedürfnisse in einem Ausmaß befriedigt sein werden, dass wir unsere weitere Energie lieber nichtwirtschaftlichen Zwecken widmen.