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Marian Füssel

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Beschreibung

Wissen ist nicht nur eine umkämpfte Ressource unserer Gesellschaft, sondern mittlerweile auch ein zentraler Gegenstand der Geschichtswissenschaften. Seit den 1990er Jahren hat sich neben der Wissenschaftsgeschichte eine eigene Wissensgeschichte etabliert, deren Themen und Theorien weit über das wissenschaftliche Wissen hinausgehen. Gerade diese Dynamik der Ausweitung macht einen komprimierten Überblick erforderlich – Marian Füssel bietet ihn mit dieser prägnanten Einführung in ein wichtiges Thema der historischen Kulturwissenschaften. Thematische Schwerpunkte des Studienbuchs bilden Räume, Institutionen, Akteure, Praktiken, Medien, Prozesse und Narrative der Geschichte des Wissens, also Archive und Bibliotheken, Akademien und Universitäten, Wunderkammern und Museen oder die Gelehrtenkultur Europas seit dem Mittelalter. Außerdem diskutiert der Band auf dem aktuellen internationalen Forschungsstand unterschiedliche Wissensbegriffe, das Verhältnis von Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte, die Geschichte des Nicht-Wissens und die Historisierung der Wissensgesellschaft.

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Marian Füssel

Wissen

Konzepte – Praktiken – Prozesse

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Wissen ist nicht nur eine umkämpfte Ressource unserer Gesellschaft, sondern mittlerweile auch ein zentraler Gegenstand der Geschichtswissenschaften. Seit den 1990er Jahren hat sich neben der Wissenschaftsgeschichte eine eigene Wissensgeschichte etabliert, deren Themen und Theorien weit über das wissenschaftliche Wissen hinausgehen. Gerade diese Dynamik der Ausweitung macht einen komprimierten Überblick erforderlich – Marian Füssel bietet ihn mit dieser prägnanten Einführung in ein wichtiges Thema der historischen Kulturwissenschaften. Thematische Schwerpunkte des Studienbuchs bilden Räume, Institutionen, Akteure, Praktiken, Medien, Prozesse und Narrative der Geschichte des Wissens, also Archive und Bibliotheken, Akademien und Universitäten, Wunderkammern und Museen oder die Gelehrtenkultur Europas seit dem Mittelalter. Außerdem diskutiert der Band auf dem aktuellen internationalen Forschungsstand unterschiedliche Wissensbegriffe, das Verhältnis von Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte, die Geschichte des Nicht-Wissens und die Historisierung der Wissensgesellschaft.

Vita

Marian Füssel ist Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Universität Göttingen.

Inhalt

Einleitung: Was ist Wissen?

1. Was ist Wissensgeschichte?

1.1 Theorien und Ansätze

1.2 Die Praxis der Wissensgeschichten

2. Orte und Räume

2.1 Orte und Institutionen des Wissens

2.2 Orte der Macht: Vom Hof zum Staat

2.3 Kommunikationsräume

2.4 Orte des Sammelns

2.5 Orte der Erfahrung

2.6 Weltwissen: Global-, Kolonial- und Imperialgeschichten

3. Akteure

3.1 Das Geschlecht des Wissens

3.2 Institutionelle Akteure

3.3 Soziale Rollen

3.4 Prekäre Figuren

4. Praktiken

4.1 Sich die Welt erschließen

4.2 Lehren, Prüfen, Zertifizieren

4.3 Beobachten, Befragen, Messen, Experimentieren

4.5 Streiten, Kritisieren, Zitieren, Zensieren

4.6 Wissen verkaufen

5. Medien, Medialität und Objekte

5.1 Zwischen Schriftrolle und Buch

5.2 Bilder des Wissens

5.3 Dinge des Wissens

6. Strukturen und Prozesse in der Geschichte des Wissens

6.1 Jenseits der großen Erzählung? Narrative der Wissensgeschichte

6.2 Prozesse des Wissens

6.3 Die Historizität epistemischer Tugenden

6.4 Wissen an Grenzen

Ausblick

Sach- und Personenregister

Digitale Ressourcen zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte

Sammlungen und Bibliotheken

Digital Humanities-Projekte

Zeitschriften

Auswahlbibliographie

Quellen

Forschungsliteratur

Einleitung: Was ist Wissen?

Wer sich wissenschaftlich mit der Kategorie »Wissen« befasst, stößt schnell auf eine scheinbar paradoxe Situation. Wissen ist allgegenwärtig. Jeder Mensch verfügt über Wissen, allerdings in höchst ungleichem Maß. Sowohl in den Fragen, was wir wissen, als auch in jenen, wieviel wir wissen, unterscheiden wir uns erheblich voneinander. Auch leben wohl die meisten Menschen mit der Vorstellung, zumindest ein rudimentäres Verständnis davon zu besitzen, was Wissen ist bzw. dass es etwas gibt, was diesen Begriff verdient. Wissen ist menschlich konstruiert, aber deswegen noch keine reine Fiktion, obwohl es zweifellos wirkmächtige Wissensfiktionen gibt. Je mehr wir nun aber versuchen, den Begriff des Wissens definitorisch einzukreisen, desto mehr scheint er sich jeder Definition zu entziehen. Und hat man doch eine Definition gefunden, so wird es schwierig sein, darüber einen breiten Konsens zu erzielen. Denn je nach wissenschaftlicher Disziplin, Beruf oder kulturellem Hintergrund kann sich das, was als Wissen gelten kann, wieder massiv unterscheiden.

Angesichts solcher definitorischen Probleme mag es zunächst erstaunen, dass die Geschichte des Wissens ein seit einigen Jahrzehnten weltweit stark prosperierendes Forschungsfeld darstellt. Ihre offensichtliche Attraktivität bezieht die Wissensgeschichte jedoch nicht primär aus dieser fuzziness, obgleich diese zweifellos die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit erhöhen mag, sondern daraus, dass Wissen eine gesellschaftlich hoch relevante Ressource darstellt. Wissen ist ein einflussreicher ökonomischer Faktor, wissenschaftliche Expertise angesichts etwa einer Pandemie unverzichtbar für das Überleben. Wissenschaftliche Weltdeutungen sind zugleich fortwährenden Infragestellungen und Leugnungen ausgesetzt. All dies sind jedoch keine völlig neuen Phänomene, sondern sie haben selbst eine lange Geschichte. Die zentralen Fragen der Gegenwart steuern damit immer zugleich unsere Fragen an die Vergangenheit.

Die folgende Einführung in die Geschichte des Wissens widmet sich nicht den Inhalten des Wichtigste[n] Wissen[s] (Fischer 2020), sondern der Art und Weise seiner historischen Erforschung. So ist zwischen dem Wissen in der Geschichte als Gegenstand und den Ansätzen seiner Erforschung zu unterscheiden. Die Geschichte des Wissens kann sowohl aus der Perspektive der Wissenschaftsgeschichte als auch der einer Wissensgeschichte betrachtet werden. Ein Großteil der in dieser Einführung vorgestellten Forschungen lässt sich bereits rein formal zweifellos der Wissenschaftsgeschichte zuordnen; ein Auseinanderdividieren in wissens- und wissenschaftshistorische Studien wäre weder sinnvoll noch praktikabel. Wissenschaftsgeschichte und Wissensgeschichte können nebeneinander existieren und profitieren wahrscheinlich mehr von einem Austausch zwischen noch unterscheidbaren Partnern als von einer Nivellierung. »Verzahnung, nicht Verschmelzung« hat Hans-Jörg Rheinberger treffend zur Devise gemacht (Rheinberger 2003: 13).

Im Vergleich zur Wissenschaftsgeschichte ist die Wissensgeschichte trotz manch älterer Vorläufer ein vergleichsweise junger, aber von raschem Wachstum geprägter interdisziplinärer Forschungsansatz der historischen Kulturwissenschaften. Die vorliegende Darstellung versteht sich als problemorientierte Einführung in die Geschichte des Wissens, die kein enzyklopädisches Kompendium bieten kann und will, sondern einen Überblick über wesentliche Diskussionen und exemplarische Forschungen, die in den letzten fünfzig Jahren sowohl unter dem Begriff der Wissensgeschichte (histoire des savoirs, history of knowledge) als auch in der Wissenschaftsgeschichte verhandelt worden sind. Wenn die Forschungen der Wissensgeschichte eine gemeinsame Signatur aufweisen, dann ist es die einer zunehmenden Entgrenzung. Erweitert hat sich aus Perspektive der Wissenshistoriker:innen u. a. der Kreis der Akteure (nicht nur Gelehrte, sondern auch Praktiker), der Orte (nicht nur Universitäten, sondern auch Handwerksbetriebe), der geographischen Räume (nicht nur Europa, sondern globale Zirkulation), der Praktiken (nicht nur experimentieren, sondern auch sammeln) und der Objekte (nicht nur Texte, sondern auch Instrumente).

Eine Einführung in die Geschichte des Wissens sieht sich zunächst mit der Herausforderung einer Präzisierung ihrer Begrifflichkeiten konfrontiert: Was ist Wissen? So lautet die schwer zu beantwortende Ausgangsfrage, deren mögliche Antworten man sich aus der Philosophie und Soziologie holen kann. Ein philosophisches Verständnis von Wissen als »wahrer, gerechtfertigter Meinung« hat sich in der historischen Forschung allerdings kaum etabliert (Ernst 2002; Hardy 2004) und steht erkenntnistheoretisch seit langem in der Kritik (Gettier 1963 [2019]).

Edmund Gettier und die Frage »Ist gerechtfertigte, wahre Überzeugung Wissen?«

Die Definition von Wissen als »wahrer gerechtfertigter Meinung« hat Anfang der 1960er Jahre eine berühmte Widerlegung durch den amerikanischen Philosophen Edmund L. Gettier (1927–2021) erfahren. Gettier arbeitete zu dieser Zeit an der Wayne State University in Detroit, als die Frage seiner entfristeten Anstellung (tenure) virulent wurde. Ohne eine einzige vorweisbare Publikation schien diese fraglich, und seine Kollegen drängten ihn zu einer Veröffentlichung. 1963 publizierte Gettier daher in der Zeitschrift Analysis einen drei Seiten umfassenden Aufsatz zur Frage »Ist gerechtfertigte, wahre Meinung Wissen?« (Gettier 1963/2019). Hinzukommen sollten später nur noch eine Rezension und ein lediglich auf Spanisch publizierter Text. Der Aufsatz Gettiers wurde zu einem Klassiker der Erkenntnistheorie, und man sprach fortan wie selbstverständlich von Gettier-Fällen oder Gettier-Problemen. Ein Gettier-Fall tritt auf, wenn jemand eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung hat, aber kein Wissen. Die Argumentationslogik Gettiers konstruiert Fälle des Typs einer Beispielkette »S weiß, dass P«, wenn (i), (ii) und (iii) jeweils als wahr oder gerechtfertigt der Fall ist, bevor er sie dann einen nach dem anderen formal widerlegt.

Die Wissenssoziologie, die Wissen als »Handlungsvermögen« begreift, hat zwar einen wichtigen Einfluss auf die Wissensgeschichte, teilt aber nicht notwendig deren Drang zur Historisierung (Stehr/Adolf 2018). So kann Wissen etwa als »die Kapazität eines einzelnen Handelnden oder einer Gruppe« verstanden werden, »Probleme zu lösen und entsprechende Handlungen geistig vorwegzunehmen oder auszuführen« (Renn 2020: 426).

Die Frage der Wissensgeschichte lautet: Was war Wissen? Die Antwort ergibt sich dann aus den jeweiligen Quellen und dem Zeithorizont. Wissen war das, was die Zeitgenossen für Wissen hielten (Mulsow 2019). Ein Vorteil ist, dass wir diese Wissensbestimmungen in der historischen Rückschau als abgeschlossene, wenn auch weiter fortwirkende Prozesse in den Blick nehmen können, ohne einen Konsens mit den Zeitgenossen zu suchen. Das hat zur Konsequenz, dass, obgleich spätere Generationen Glaubens- und Wissenssysteme strikt zu trennen suchten (Sarasin 2011), wissenshistorisch auch »religiöses Wissen« rückblickend als Wissen erforscht werden kann (Pahl 2006; Holzem 2013; Dürr 2019). Diese Strategie stößt allerdings an ihre Grenzen, denn einerseits erfassen historische Begriffe nie alle Wissenspraktiken der Zeitgenossen, andererseits wird der interepochale Vergleich durch epochenspezifische Begriffe erschwert. Zudem kann es moralisch bedenklich werden, wenn jeder historische Anspruch auf Wissenschaftlichkeit fraglos hingenommen würde, wie etwa die Beschäftigung mit der Wissenschaft in totalitären Systemen zeigen wird. Historiker:innen können also weder eine »Reise« unternehmen, auf die man sich ohne »konzeptuelles Gepäck« der eigenen Gegenwart begibt, in der »Hoffnung aufzusammeln, was die historischen Akteure zurückgelassen haben, noch eine Reise mit einer ›one-size-fits-all‹ Takelage« (Renn 2020: 11). In der Vergangenheit war die Frage, was als Wissen gelten kann, nicht weniger umstritten als in der Gegenwart. So führte die Konkurrenz der Definitionen schon früh zu diversen terminologischen Differenzierungen von Wissensformen.

Wissensformen

Im antiken Griechenland unterschied man zwischen techne (dem erlernten Wissen etwa des Handwerks), episteme (das Wissen von etwas, aber auch (Er)-Kenntnis), gnosis als Erkenntnis, praxis (als mit seinem Zweck identisches Handeln) und phronesis (als eine Verständigkeit bzw. Gesinnung), sophia als Weisheit, während metis eine Form der Klugheit bezeichnete (Vernant 1973). Im Lateinischen wiederum wurde unterschieden zwischen ars (wissen wie; know how), scientia (wissen, dass) und sapientia (Weisheit) (Burke 2016: 8; Meißner 1999: 12–15; vgl. hierzu auch die Quelle 4 unter www.campus.de). Das Arabische kannte die episteme als ’ilm, gnosis als ma’rifah und sapientia als hikma, während die chinesische Kultur nicht nur zhīshí als allgemeines Wissen von shixue als Fertigkeit im Sinne von Knowhow unterscheidet, sondern u. a. chángshi als Art des common-sense, xuewen für Schrift bzw. lernen oder mijue als geheimes Knowhow. Im Deutschen steht Wissen in der begrifflichen Nachbarschaft zur davon unterschiedenen Erkenntnis, ähnlich wie sich im Französischen connaissance zu savoir und im Italienischen conoscenza zu sapere als Kenntnisse im Gegensatz zum Können verhalten, während das Englische beide Ebenen in knowledge vereint (Knoblauch 2010: 13).

Geltung

Erhebliche Dynamik für die konzeptionelle Problematisierung der Kategorie Wissen ging in der Mitte der 1960er Jahre von der Historischen Epistemologie und der Wissenssoziologie aus. So ist Michel Foucault mit Büchern wie der Archäologie des Wissens (1969) oder Der Wille zum Wissen (1976) zu einem der Gründerväter einer interdisziplinären Wissensgeschichte geworden. Foucaults Definition von Wissen als Gesamtheit der »Erkenntnisverfahren und -wirkungen […], die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind« (Foucault 1992: 32), erweist sich jedoch als recht weit. Er situiert das Wissen in Raum und Zeit und verweist mit dem Wort »akzeptabel« auf die Frage der Geltung. Foucaults Verständnis von Wissen rückt die Geschichtlichkeit des Wissensbegriffs in den Mittelpunkt. Es stellt sich also die Aufgabe, in den historischen Antworten immer auch kontextualisierende Erklärungen zur Reichweite dessen zu liefern, was als Wissen galt.

Geltung kann als eine Art Schlüsselbegriff der gängigen Definitionsversuche von Wissen identifiziert werden (Kaiser u. a. 2020). Die Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann hinterfragten zur gleichen Zeit die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« und definierten Wissen als »die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben« (Berger/Luckmann 1969: 1). Zur Aufgabe der Wissenssoziologie wurde damit die Beschäftigung mit allem, »was in der Gesellschaft als ›Wissen‹ gilt«.

In jüngerer Zeit ist der Historiker Achim Landwehr Foucault und Berger-Luckmann gefolgt, wenn er Wissen definiert als »ein Ensemble von Ideen […], das Objekte mit bestimmten Eigenschaften versieht und von einer sozialen Gruppe als gültig und real anerkannt wird« (Landwehr 2002: 71). Eine ganz ähnliche Richtung schlug bereits Elizabeth Doyle McCarthy ein, die Wissen definiert als »any and every set of ideas and acts accepted by one or another social group or society of people – ideas and acts pertaining to what they accept as real for them and for others» (McCarthy 1996: 23).

Je nach Gruppe und Kontext kann das Wissen ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Peter Burke unterscheidet mit dem Soziologen Georges Gurvitch sieben Typen des Wissens: »perzeptives, soziales, alltägliches, technisches, politisches, wissenschaftliches und philosophisches Wissen« (Burke 2001: 23) – eine Typologie, die sich noch leicht erweitern ließe (Renn 2020: 430). Charakteristisch für die Wissensgeschichte ist gerade diese Pluralität der Wissensformen. Schon Foucault sprach von savoirs im Plural. Zu den unterschiedlichen Funktionen treten noch die verschiedenen Interessen am und Zugänge zum Wissen.

Zu einem Motor der Wissensgeschichte entwickelte sich die Idee der Wissensgesellschaft (Engelhardt/Kajetzke 2010). Sie geht auf den amerikanischen Soziologen Daniel Bell zurück, der 1973 die gesellschaftsanalytische Grundannahme formulierte, dass in der von ihm so genannten »postindustriellen Gesellschaft« Wissen zu der zentralen Grundlage sozialen Handelns geworden sei (Bell 1973 [1989]; vgl. hierzu Quelle 19 unter www.campus.de). Ausformuliert zu einem soziologischen Konzept wurde die Wissensgesellschaft von dem deutschen Soziologen Nico Stehr (Stehr 1994; 2004), radikalisiert zur Postkapitalistischen Gesellschaft indes von dem Management-Theoretiker Peter Drucker (Drucker 1993).

Wissensgesellschaft

Die Rede von der Wissensgesellschaft stützt sich auf zwei Beobachtungen: einer wachsenden ökonomischen Bedeutung wissenschaftlichen – und das heißt in der Regel natur-wissenschaftlichen – Wissens und der Umstellung bzw. vielmehr Ergänzung der die Gesellschaft dominierenden Ressourcen von Arbeit und Eigentum um die Dimension Wissen. Immer mehr Bereiche des Erwerbslebens werden durch Wissenstransfer und die Beschäftigung von Wissensakteuren geprägt. In der Soziologie ist das Konzept der Wissensgesellschaft mittlerweile jedoch kritisch reflektiert und seine ideologischen Implikationen herausgearbeitet worden (Bittlingmeyer 2005; Tänzler/Soeffner/Knoblauch 2006; Hirschi 2020: 28–30).

In der historischen Forschung vor allem des deutschsprachigen Raums wurde die Debatte um die Wissensgesellschaft erst in den 1990er Jahren aufgegriffen und damit zu einer Zeit, in der sich die Geschichtswissenschaften international vom Begriff der Gesellschaft ab- und dem Begriff der Kultur zuwandten (Daniel 1993). Für geraume Zeit diskutierten Historiker:innen über Alter und Genese der Wissensgesellschaft (Fried/Süßmann 2001). War sie eine Geburt des Mittelalters, der Frühen Neuzeit oder erst der heraufziehenden Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts? (Kintzinger 2003; van Dülmen/Rauschenbach 2004; Vogel 2004; Szöllösi-Janze 2004). Jede Epoche fand scheinbar ihre eigenen Antworten, negierte damit aber die zeitlich erst viel später ansetzende Chronologie der Soziologen. Der Begriff der Wissensgesellschaft erlaubte den Anschluss historischer an gegenwartsanalytische Debatten, erwies sich aber heuristisch als weitgehend unpraktikabel, zumal die diversen kulturhistorischen Wenden bereits in andere konzeptionelle Richtungen wiesen.

Wissenskulturen und kulturelles Wissen

Vielversprechender erwies sich der Begriff der Wissenskulturen (McCarthy 1996; Fried/Kailer 2003; Sandkühler 2014). Mit ihm traten Bedeutungsstrukturen und Historizität des Wissens in den Mittelpunkt des Interesses. Das Wettrennen der Epochenvertreter:innen um Modernität hob sich auf zugunsten von jeweils epochenspezifischen Wissenskulturen, im Zuge der postnationalen und postkolonialen Neuorientierung der Geschichtswissenschaften zudem von räumlich unterschiedenen Wissenskulturen.

Bereits vor dem Konzept der Wissenskulturen war in der Literarturtheorie die Kategorie des »kulturellen Wissens« entwickelt worden, mit der die »Gesamtmenge der Propositionen« bezeichnet wird, die die Mitglieder [einer] Kultur für wahr halten bzw. die eine hinreichende Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt; jede solche Proposition ist ein Wissenselement; die systematisch geordnete Menge der Wissenselemente ist das Wissenssystem. Zum Wissen gehören also auch kulturelle Annahmen, von denen wir zu wissen glauben, daß sie falsch sind« (Titzmann 1989: 48). Eine jüngere Definition spricht von der »Gesamtmenge der in einer Kultur zirkulierenden Kenntnisse, die durch Kommunikation und Erfahrung konstruiert, erworben und tradiert werden. Es stellt einen reproduzierbaren Bestand kulturell möglicher Denk-, Orientierungs- und Handlungsmuster bereit, die innerhalb der jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen als gesellschaftlich gültig und wertvoll gelten« (Neumann 2006: 43).

Angesichts seines inflationären Gebrauchs rief der Kulturbegriff in jüngster Zeit jedoch seinerseits ein gewisses Unbehagen hervor, so dass Rufe nach einer Geschichte jenseits des cultural turn laut wurden. Die Wissensgeschichte wird von manchen als Kandidat dafür gehandelt, die Sozial- bzw. Kulturgeschichte zu ersetzen (Sarasin 2011). Das wäre jedoch nicht nur eine Überforderung, sondern auch das sichere Ende eines noch halbwegs mit Kontur versehenen Forschungsansatzes. So wurde vorgeschlagen, von Wissenskulturen nur dann zu sprechen, wenn es gilt zu zeigen, »dass es nicht ausschließlich epistemische Verfahren sind, die zur Auszeichnung von Meinungen als Wissen führen, sondern auch Faktoren, die außerhalb oder unterhalb des Raumes des Gebens und Nehmens von Gründen wirken, als kulturelle Praktiken, die Meinungen oder Glaubenssätze oder Für-Wahr-Haltungen generieren, festzurren und tradieren« (Zittel 2014: 33).

Informationsgesellschaft

Als Gegenwartsdiagnose nah verwandt dem Begriff der Wissensgesellschaft ist der Begriff der Informationsgesellschaft bzw. des Informationszeitalters (Castells 2001–2003). Jürgen Mittelstraß versteht unter Informationsgesellschaft »eine Gesellschafts- und Wirtschaftsform, in der Erzeugung, Speicherung, Verarbeitung, Vermittlung, Verbreitung und Nutzung von Informationen und Wissen in Informationsform einschließlich immer größerer technischer Möglichkeiten der interaktiven Kommunikation eine zunehmend dominante Rolle spielen« (Mittelstraß 2001: 41 f.).

Im Gegensatz zur Wissensgesellschaft hat der Begriff der Informationsgesellschaft nicht in vergleichbarer Weise zu entsprechenden historischen Vorverlagerungen geführt (als Beispiel vgl. Darnton 2000), sondern produktiv als Kontrastbegriff zum Wissen gewirkt. So unterscheidet Peter Burke, in der Tradition des binären Figuren nachspürenden Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss, etwa zwischen Information als dem ›Rohen‹ und Wissen als dem ›Gekochten‹. Information liefert Material, das erst in der Bearbeitung zu Wissen wird (Burke 2001: 20; kritisch dazu Behrisch 2008: 456). Besonders in der Erforschung der Frühen Neuzeit hat sich Information als fruchtbare heuristische Kategorie erwiesen (Brendecke/Friedrich/Friedrich 2008; Blair/Duguid/Goeing/Grafton 2021). Hier hat die moderne Google-Welt allerdings ihre genealogischen Spurensuchen initiiert, wenn etwa nach ›Suchmaschinen‹ für Information im analogen Zeitalter gefragt wird (Tantner/Hübel/Brandstetter 2012).

Anachronismus und Historisierung

Mit diesen, der soziologischen Gegenwartsanalyse entlehnten Konzepten ist der Umgang mit Anachronismen als ein grundlegendes Problem jedweder historischen Forschung angesprochen. Gerade die Wissensgeschichte ist davon in besonderer Weise betroffen, hat ihr die Wissenschaft doch das begriffliche Erbe des 19. Jahrhunderts hinterlassen. Zwar hat die Wissenschaftsgeschichte die Lektion längst gelernt, doch sind die Probleme im Forschungsalltag immer noch allgegenwärtig. Kann man vor 1800 von Wissenschaft sprechen, oder sollte man besser den Begriff Gelehrsamkeit verwenden? Die Sprache der Wissensgeschichte wimmelt von Anachronismen, wenn man für die Vormoderne von Experten und Intellektuellen oder von Akteursnetzwerken und Suchmaschinen spricht.

Appliziert man den Begriffsapparat des 19. Jahrhunderts auf Wissensformationen der europäischen Gesellschaft vor 1800, von außereuropäischen Gesellschaften ganz zu schweigen, ergeben sich zwangsläufig Probleme, da etwa die disziplinäre Ausdifferenzierung noch keine Biologie kannte und die Chemie sich erst langsam von der Alchemie trennte. In der Praxis begegnen wir der Anachronismus-Falle meist mit einem steten Wechsel zwischen den Begriffsebenen und dem expliziten Verweis auf »kontrollierte« bzw. produktive Anachronismen (Burke 2016: 112).

Nicht-Wissen

Eine neue Aktualität hat die Wissensgeschichte in den vergangenen zehn Jahren im Zuge von Diskussionen über Phänomene wie Antiakademismus, Fake Science, Verschwörungstheorien und eine allgemeine Wissenschaftsfeindlichkeit gewonnen (Felsch/Engelmaier 2017; Nichols 2017; Blamberger/Freimuth/Strohschneider 2018). Wissenschaftler:innen werden nicht nur von autokratischen Regierungen bedroht, wissenschaftliche Fakten werden in Frage gestellt und der öffentlich ausgetragene Kampf um Wahrheiten ist von zunehmender Aggressivität geprägt. In ihrer breit rezipierten Studie Merchants of Doubt haben Naomi Oreskes und Erik M. Conway u. a. am Beispiel von SDI (Strategic Defense Initiative), dem sauren Regen, dem Ozonloch, dem Passivrauchen und dem Klimawandel gezeigt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse von Wirtschaft und Politik systematisch in Frage gestellt wurden (Conway/Oreskes 2014; zur Tabakindustrie vgl. Proctor 2011; Staley 2019). Eine historische Selbstvergewisserung der Normen, Institutionen und Praktiken des Wissens scheint dringend geboten. In diesen Problemhorizont fügen sich auch die Forschungen zum »Nicht-Wissen« ein, die einerseits Grenzziehungsarbeiten zwischen Wissen und Nicht-Wissen etwa im Bereich des wissenschaftlichen Wissens in den Blick nehmen (Gieryn 1983; Mulsow/Rexroth 2014), andererseits kognitive Phänomene des Unbekannten oder des bewusst Ausgeblendeten im Sinne einer Geschichte der Ignoranz problematisieren (Proctor/Schiebinger 2008; Proctor 2019; Zwierlein 2016: Dürr 2021).

1. Was ist Wissensgeschichte?

1.1 Theorien und Ansätze

Wissensgeschichte ist kein klar gefasster Gegenstandsbereich, sondern eine bestimmte Perspektive auf eine potentiell unbegrenzte Vielfalt von Gegenständen. Das Forschungsfeld, das sich in den letzten Jahren unter dem gemeinsamen Dach der Geschichte des Wissens formiert hat, verdankt seine Existenz einer Vielzahl von theoretischen Einflüssen und Forschungstraditionen, die von der älteren Wissenssoziologie bis zur postkolonialen Epistemologie reichen. Als die beiden ältesten Ansätze können die Wissenssoziologie und die Historische Epistemologie gelten, deren formative Phasen im Wesentlichen in die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg fielen (Knoblauch 2010: 90–115; Rheinberger 2007: 35–77).

Wissenssoziologie und Historische Epistemologie

Mit der Wissenssoziologie trat Wissen als Medium der Vergesellschaftung in den Blick, und viele der aktuellen Fragehorizonte der Wissensgeschichte wurden von ihr bereits vorweggenommen (Schützeichel 2007). Der in Ungarn gebürtige Soziologe und Philosoph Karl Mannheim (1893–1947) gilt als einer der Begründer der Wissenssoziologie (Mannheim 1964). Er prägte Begriffe wie den »epistemologischen Relationismus«, den »absoluten Ideologiebegriff« und entwickelte Alfred Webers Begriff der »freischwebenden Intelligenz« weiter. Ideen sind für ihn immer abhängig von der gesellschaftlichen Position ihrer Träger. Laut Mannheim gebe es kein Denken jenseits der Ideologie, einzig die Intelligenz vertrete einen sozial ungebundenen Standpunkt. Mannheim unterschied »konjunktives« und »kommunikatives« Wissen und ebnete damit den Weg für Konzepte wie das implizite vor-theoretische im Gegensatz zum expliziten Wissen.

Zuvor hatten sich bereits Soziologen wie Max Scheler (1874–1928) mit den Zusammenhängen der neuen Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts und dem gleichzeitigen Aufkommen des Kapitalismus beschäftigt, eine Frage von ungebrochener Aktualität (Freudenthal 1982; Cook 2007). Scheler unterschied Herrschaftswissen, Bildungswissen und Erlösungswissen als drei existentielle Seinsverhältnisse und wandte sich damit von einem positivistischen Wissensverständnis ab, das allein das wissenschaftliche Wissen privilegiert (Scheler 1926/1960). Die frühe Wissenssoziologie perspektivierte auch die Produktionsprozesse des wissenschaftlichen Wissens neu; marxistische Philosophen wie Edgar Zilsel (1891–1944) historisierten den Geniekult (Zilsel 1990) und begriffen Wissensproduktion als ein kollektives Projekt. Der polnische Mikrobiologe und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck (1896–1961) prägte am Beispiel der Syphilis-Forschung die Begriffe des »Denkkollektivs« und des »Denkstils« und gilt als einer der Begründer einer Historischen Epistemologie (Fleck 1935 [1980]). Für die Medizingeschichte folgenreich wurde damit die Erkenntnis, dass Krankheitsbilder soziale Konstrukte und keine objektiven Beschreibungen von Wirklichkeit sind (Schlich 1998). Zwischen forschendem Subjekt und erforschtem Objekt steht das Denkkollektiv der Gemeinschaft der Forschenden, die einen gemeinsamen Denkstil teilen. Während Karl Mannheim und Edgar Zilsel die Flucht vor den Nationalsozialisten gelang, wurde Fleck in Auschwitz und Buchenwald inhaftiert, überlebte jedoch den Holocaust aufgrund seiner medizinischen Forschungszwangsarbeit. Der Terror des NS-Regimes führte zum vorläufigen Ende der Wissenssoziologie in Deutschland, deren Schriften erst in den 1970er und 1980er Jahren wiederentdeckt wurden.

Neben Fleck erhielt die Historische Epistemologie zentrale Impulse durch die Franzosen Gaston Bachelard (1884–1962) und dessen Lehrstuhlnachfolger an der Sorbonne und als Direktor des Instituts für Geschichte der Wissenschaften Georges Canguilhem (1904–1995) (Erdur 2018). Bachelard hat mit der Kategorie des »epistemologischen Bruchs« sowohl auf die Differenz von intuitiver Alltagserfahrung und kontraintuitiver wissenschaftlicher Erfahrung hingewiesen als auch auf den Bruch mit der bis dato geltenden Wahrheit, die durch neue Erkenntnisse herausgefordert wird (Bachelard 1938 [1984]). Für die Wissensgeschichte ist Bachelard unter anderem in der Rezeption Michel Foucaults weiter wirksam geworden, mit dem er das Insistieren auf der radikalen Historizität wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse teilt.

Michel Foucault und Pierre Bourdieu

Mit Michel Foucault und Pierre Bourdieu hat sich in Frankreich eine poststrukturalistische Wissenssoziologie entwickelt, der die Wissensgeschichte wichtige Einflüsse verdankt. Gemeinsam teilen Foucault und Bourdieu das Interesse an den sozialen Konstitutionsbedingungen von Wissen und Wissenschaft. Foucault interessierte, wie Diskurse – verstanden als regelgeleitete Aussageformationen, die nicht nur Texte, sondern auch Bilder, Graphiken oder Architekturen enthalten können – an der Kontrolle des gesellschaftlich legitimen Wissens arbeiten. Er unterscheidet drei Formen der Regulierung: externe Prozeduren der Ausschließung, interne Mechanismen der Kontrolle und die Verknappung der sprechenden Subjekte. So werden bestimmte Akteure extern durch Tabuisierung oder Ritualisierung von den Produktionsstätten der Wahrheit ausgeschlossen, während intern Praktiken wie der Kommentar, das Prinzip der Autorschaft oder Institutionen wie Disziplinen regulierend auf das geltende Wissen einwirken. Diskursgemeinschaften und Rituale sorgen schließlich dafür, dass bestimmte Subjekte sich gar nicht erst äußern können, etwa durch die Verweigerung akademischer Zertifikate oder den Ausschluss von bestimmten Publikationsformaten wie der wissenschaftlichen Zeitschrift. Es geht Foucault um die Archäologie und die Genealogie historischer Relationen von Macht und Wissen, die sich vor allem in Diskursen und Praktiken artikulieren und nicht durch einige starke Akteure. Foucaults Ansätze sind unter anderem für die Erforschung von Wissen und Geschlecht und die postkoloniale Wissensgeschichte enorm einflussreich geworden.

Bourdieu sucht ebenfalls nach Auswegen aus dem klassischen Strukturalismus und findet ihn in der Beziehung von Habitus und Feld. Der Habitus ist weder Rolle noch beliebig wechselbare Selbststilisierung, sondern inkorporierte Geschichte. Er prägt in gruppenspezifischen Sozialisationsprozessen erworbene Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster aus, die die sozialen Akteure voneinander unterscheiden. Das soziale Kräfteverhältnis der Akteure untereinander nennt Bourdieu Feld, im Sinne eines physikalischen Kräftefeldes, etwa eines Magnetfeldes. Die Struktur des Feldes ist von der Zusammensetzung bestimmter Kapitalsorten bestimmt, neben dem ökonomischen Kapital unter anderem sozialem und kulturellem Kapital. Gemeinsam ist die Notwendigkeit der sozialen Anerkennung der Kapitalien in Form des symbolischen Kapitals der Ehre. Wissen kann als kulturelles Kapital in inkorporierter Form, als Fähigkeit oder Fertigkeit, in institutionalisierter, etwa zertifizierter Form (Doktortitel) oder in objektivierter Form (Buchbesitz) auftreten. Innerhalb eines sozialen Feldes wie der Wissenschaft bestimmen sich die Position der Akteure und damit die Geltungschancen ihres Wissens über die Kapitalien. Der Habitus wiederum reguliert die soziale Passgenauigkeit zu den Regeln des Feldes. Für den Homo Academicus gelten beispielsweise andere Umgangsweisen als für einen frühneuzeitlichen Höfling oder einen modernen Banker.

Systemtheorie

Die Frage, wie autonom das wissenschaftliche Feld gesellschaftlich agiert, ist Gegenstand einer systemtheoretischen Wissenssoziologie, wie sie in Deutschland von Niklas Luhmann und Rudolf Stichweh geprägt wurde. Als soziales System ist Wissenschaft von einem spezifischen Code geprägt, der Differenz wahr/unwahr (Luhmann 1990). Je mehr das System diesen Code gegen äußere Imperative von Religion, Politik oder Ökonomie durchzusetzen in der Lage ist, desto autonomer wird es – ein historischer Prozess, der durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess von der stratifikatorischen zur funktional differenzierten Gesellschaft seit der Sattelzeit um 1800 befördert worden sei. Stichweh ist vor allem mit Arbeiten zur Geschichte der System/Umwelt-Beziehungen der europäischen Universität und der Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen hervorgetreten (Stichweh 1984; ders. 1991). Seine These lautet, dass die Universität sich zunächst im Spätmittelalter von ihrer kirchlichen Umwelt entkoppelt habe, einige Jahrhunderte später dann vom frühneuzeitlichen Territorialstaat.

Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung

Neue Forschungsparadigmen gewinnen ihre Identität meist in Abgrenzung von etablierten, älteren Ansätzen und Feldern (Kuhn 1967). Im Fall der Wissensgeschichte verlief die Abgrenzung vor allem gegenüber der Wissenschaftsgeschichte und der Ideengeschichte. Während die Wissensgeschichte im Modus der permanenten Grenzüberwindung operiert und immer weitere Themen, Akteure, Räume und Praktiken in den Blick nimmt, erscheint die Wissenschaftsgeschichte als enger umgrenzter Bereich (zu Standortbestimmungen vgl. Borck 2018; Joas/Krämer/Nickelsen 2019; Bärnreuther/Böhmer/Witt 2020). Ihr Schwerpunkt lag lange allein auf den Naturwissenschaften, erst in jüngster Zeit mehren sich Initiativen zur Geschichte der humanities (Bod/Maat/Weststeijn 2010–2014). Wissensgeschichte begreift sich dagegen als »markedly integrative discipline« (Mulsow 2019: 163). Der Preis der Integration scheint jedoch die fast grenzenlose Ausweitung des Wissensbegriffs, was von Seiten der Wissenschaftshistoriker bemängelt wird: Begriffliche Flexibilität könnte zum Gummi-Begriff mutieren (Daston 2017: 143). So wurde etwa darauf insistiert, dass »Wissen, von dem eine Geschichte geschrieben werden soll, nach wie vor als artikulierbar, aussprechbar und kommunizierbar« zu fassen sein solle (Steinle 2018: 427). Es sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Wissensgeschichte neben der Wissenssoziologie und der Historischen Epistemologie vor allem der Wissenschaftsgeschichte ganz wesentliche Impulse verdankt und ohne diese kaum denkbar wäre.

Auch mit Blick auf konkrete Forscher:innen verschwimmen spätestens seit der kulturwissenschaftlichen Öffnung der Wissenschaftsgeschichte die Grenzen zur Wissensgeschichte, denn viele betreiben längst beides, und ihre Lehrstühle unterscheiden sich allenfalls durch die Denomination. Als weitere Abgrenzungskategorie wird die (historische) Wissenschaftsforschung (Science Studies) diskutiert, die gewissermaßen die progressiven Strömungen der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Theorie der Wissenschaft transdisziplinär zu bündeln beansprucht (Burrichter 1979; Felt/Nowotny/Taschwer 1995). Allerdings verlegt sich die ›Wissenschaftswissenschaft‹ der Wissenschaftsforschung allein auf wissenschaftliches Wissen der Naturwissenschaften (vgl. unten Science and Technology Studies).

Eine Aufsatzsammlung des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Steven Shapin verdeutlicht in geradezu barocker Ausführlichkeit in ihrem Titel die von Wissenschafts- und Wissensgeschichte geteilte Programmatik in Bezug auf die Historisierung wissenschaftlichen Wissens: »Niemals Rein. Historische Studien der Wissenschaft als ob sie produziert wurde von Menschen mit Körpern, situiert in Raum, Zeit, Kultur und Gesellschaft und im ständigen Kampf um Glaubwürdigkeit und Autorität« (Shapin 2010). Wissen ist nicht ›pur‹ zu haben, es wird von körperlichen Akteuren hergestellt, ist also nicht einfach gegeben, und diese Akteure haben selbst eine Geschichte und unterliegen historischen Kontexten und Einflüssen. Wie schon bei Foucault und anderen gesehen, ist der Kampf um Geltung zentrales Charakteristikum des zugrundeliegenden Wissensbegriffs.

Internalismus vs. Externalismus

Der Ansatz von Shapin und anderen Wissenschaftshistoriker:innen seiner Generation hat wesentlich dazu beigetragen, die Dichotomie von Internalismus und Externalismus aufzuheben, welche die Wissenschaftsgeschichte lange polarisierte (Shapin 1992). In einer besonders starren Form existierte sie während des Kalten Krieges. Während Wissenschaftler wie Alexandre Koyré oder Alfred R. Hall die Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnis als primär kognitiven und individuellen Prozess begriffen, sahen marxistische Historiker wie Boris Hessen den wesentlichen Impuls von außen, durch soziale und meist ökonomische Interessen angetrieben (Koyré 1957 [1969]; Hall 1965; Hessen 1971 [1974]). In einer abgeschwächten Form blieb diese Gegenüberstellung jedoch auch noch erhalten, als man sich längst auf eine Programmatik von »Science in Context« verständigt hatte (Barnes 1982; seit 1987 existiert eine gleichnamige Zeitschrift).

Ein Faktor der disziplinären Grenzarbeit der Wissenschaftsgeschichte bleibt die Betonung fachlicher Expertise jenseits der Geschichtswissenschaften. Die allermeisten Wissenschaftshistorikerinnen haben auch ein Studium der Physik, Biologie, Chemie, Mathematik oder Medizin absolviert. Nun finden sich die Internalisten zumeist unter den Experten der Naturwissenschaften oder der Philosophie, während die ›reinen‹ Historiker in die Rolle der Externalisten schlüpfen, denen zwar Kompetenz für die Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens zugesprochen wird, weniger aber für deren Inhalte. Tendenzen der fachlichen De-Professionalisierung sind im Zeichen der Annäherung der Verwendungsfrequenz von ›Wissen‹ an den ubiquitären Gebrauch von ›Kultur‹ zweifellos nicht von der Hand zu weisen. Doch hätte sich die Wissenschaftsgeschichte ohne die sozial- und kulturwissenschaftliche Wende wohl nie von einem Nischenfach zu einem wesentlichen Taktgeber der Kulturwissenschaften emanzipiert. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Erfolg der Wissenschaftsgeschichte seit den 1990er Jahren sich nicht allein internen fachlichen Faktoren verdankte: »Die Wissenschaftsgeschichte erblühte auch deshalb, weil unter anderem die Life Sciences, die Computerwissenschaften, die Nanotechnologien und die Halbleitertechnologien boomten und in den neuen Großprojekten manchmal auch ein paar Brosamen für die Geschichte abfielen, die man generös mitunterstützen konnte« (Dommann 2018: 334). Mittlerweile stehen die Zeichen eher auf Dialog als auf scharfe Abgrenzung, und die Wissenschaftsgeschichte ist zunehmend bereit, sich der Wissensgeschichte zu öffnen (Greyerz/Flubacher/Senn 2013; Sommer/Müller-Wille/Reinhardt 2017).

Ideengeschichte

Anders gestalten sich die Beziehungen der Wissensgeschichte zur Ideengeschichte. Hier scheinen die Fronten etwa im Bereich der Philosophiegeschichte noch wesentlich verhärteter zu sein. In der Ideengeschichte besteht häufig ein gewisses Ungleichgewicht zwischen Programmatik und historiographischer Praxis. Auf programmatischer Ebene scheinen Ideengeschichte und Wissensgeschichte miteinander zu verschmelzen, denn beide beziehen sich auf ähnliche theoretische Autoritäten wie u. a. Mannheim, Foucault, Kuhn, Luhmann, Chartier oder Burke (Stollberg-Rilinger 2010; Mahler/Mulsow 2014; Goering 2017).

Der theoretische Werkzeugkoffer der Ideengeschichte ist folglich gut gefüllt, er wird nur seltener geöffnet und angewendet. So diente die Ideengeschichte der Wissensgeschichte seit Foucault als Folie zur Abgrenzung und eigenen Profilierung, während die jüngere Ideengeschichte die Wissensgeschichte explizit als einen ihrer Impulsgeber neben Netzwerktheorie, Globalgeschichte oder material turn anführt (Mahler/Mulsow 2014: 39–42). Ob die Wissensgeschichte einmal eine »Disziplin« bilden werde, welche die Ideengeschichte sowohl im Deutungsanspruch als auch institutionell »beerbe«, so die Herausgeber einer jüngeren Anthologie, sei »bisher noch völlig offen« (Mahler/Mulsow 2014: 42). Wegweisend sind die Beiträge im 1940 gegründeten Journal of the History of Ideas.

Bildungsgeschichte

Neben der Wissenschafts- und Ideengeschichte weist die Wissensgeschichte ferner starke Überschneidungen mit der Bildungsgeschichte auf (Maaser/Walther 2011). Viele Forschungen etwa zur mittelalterlichen Wissensgeschichte haben bislang eher den Begriff der Bildung als den des Wissens benutzt. Ein sechsbändiges Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte zeigt, dass Bildung lange Zeit ein ähnlich integrativer Begriff wie Wissen war. Es enthält neben obligatorischen Kapiteln zu Familiensozialisation, Schulen und Hochschulen auch solche zu Museen als Bildungsorten oder Handwerk und Militär als Sozialisations- und Bildungsagenturen (Berg u. a. 1987–2005). Bildungsgeschichte wird jedoch häufig zu Unrecht auf eine Geschichte der Pädagogik reduziert und kann sich bislang von der theoretischen Strahlkraft in den historischen Kulturwissenschaften her nicht mit der Wissenschaftsgeschichte messen.

Poetologie des Wissens

Mehr Bewegung hat sich im Bereich von Philologie und Literaturwissenschaft ergeben, wo unter dem Begriff einer »Poetologie des Wissens« im Anschluss an Jacques Rancière, Michel Foucault, Stephen Greenblatt oder Gilles Deleuze den diskursiven Repräsentationsweisen von Wissen besondere Aufmerksamkeit gezollt wurde (Pethes 2003). Empirisch konzentrierten sich entsprechende Forschungen auf die Sattelzeit um 1800; theoretisch setzen sie ihren Wissensbegriff explizit von »Wissenschaft« und »Erkenntnis« ab (Vogl 1999). »Jede epistemologische Klärung« sei »mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft«, heißt es programmatisch (Vogl 2002: 13). Die ästhetischen, textuellen Strategien, Wissen zu reflektieren, rücken damit ins Zentrum. Die »wissenspoetische Schwärmerei« ist jedoch nicht ohne Kritik geblieben (Stiening 2007: 247). So habe die Poetologie des Wissens auf die Rekonstruktion von Geltungsansprüchen und Begründungen ebenso verzichtet wie auf die von historischen Kontexten und sei kaum mehr willens oder in der Lage, zwischen Wissen und Information oder Wissen und Dichtung zu unterscheiden. Insgesamt scheinen die von der Wissensgeschichte abweichenden Eigenarten der Wissenspoetologie damit eher in den ästhetisierenden Gepflogenheiten der Literaturwissenschaft verankert zu sein, als ihrer Berufung auf Foucault und die Historische Epistemologie geschuldet.

Anthropologie des Wissens

Was der Bildungsgeschichte meistens fehlt – eine Distanz zur historischen Alterität ihres Gegenstandes –, ist das Thema der Anthropologie des Wissens (Barth 2002; Adell 2011). Ihre Distanz erwächst nicht aus der Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern aus der zwischen unterschiedlichen Kulturen. Als »cognitive anthropology« hat Roy D’Andrade eine Verbindung von Kognitionswissenschaft und Anthropologie stark gemacht (D’Andrade 1995). Mit der kognitiven Anthropologie soll untersucht werden, »wie Angehörige einer Kultur Dinge, Ereignisse und Verhaltensweisen in Sprache fassen, kategorial aufordnen [sic] und in der Form des Wissens registrieren« (Maeder/Broszieswki 2007: 268).

Der ethnographische Blick ist inzwischen eines der wichtigsten Werkzeuge der Wissensgeschichte, wie ihn die Laborstudien der Science and Technology Studies auch an der eigenen Wissenskultur erprobt haben. Anthropologie, zumal Historische Anthropologie, ist jedoch von höchst heterogenen Ansätzen geprägt (vgl. zu einem Ansatz in großer methodischer Distanz von der Wissensgeschichte Oelkers 1997).

Science and Technology Studies

Aus Wissenschaftsgeschichte und Soziologie hat sich seit dem Ende der 1970er Jahre ein eigenes Forschungsprofil der Science and Technology Studies (kurz STS) herausgebildet, das große Schnittmengen mit der Wissensgeschichte aufweist (Bauer/Heinemann/Lemke 2017). Ursprünglich auf Fragen der Beziehung von Naturwissenschaft und Technik zur Gesellschaft fokussiert, weitete sich das Spektrum der STS mit den Jahren sowohl vom Gegenstand als auch von den Disziplinen her. Inzwischen werden deren Ansätze auch in den Humanwissenschaften rege diskutiert. Unter die STS fallen unter anderem die Laborstudien, die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), praxeologische Ansätze sowie feministische und postkoloniale STS. Aufgrund ihrer Wurzeln in der Techniksoziologie bildet eine verbindende Klammer der STS der besondere Blick auf die Materialität des Wissens. Artefakte, Objekte und nicht-menschliche Aktanten spielen hier eine tragende Rolle, die die Hinwendung der Wissensgeschichte zu materiellen Wissenskulturen wesentlich beflügelt hat.

Symmetriepostulat

In diesem Theoriekontext spielt auf mehreren Ebenen der Begriff der Symmetrie eine Rolle. David Bloor und Barry Barnes entwickelten ein sogenanntes Symmetrie-Postulat, das gerade für die radikale Historisierung naturwissenschaftlicher Wissensproduktion wesentlich werden sollte (Bloor 1976 [2017]). Über Wahrheit oder Falschheit entschieden nicht Naturgesetze, sondern in beiden Fällen soziale Faktoren. Für die Wissensgeschichtsschreibung bedeutet die historische Analyse, eine Erfindung oder neue Theorie in symmetrischer Weise zu den unterlegenen Ideen in Beziehung zu setzen und nicht aus der Ex-Post-Perspektive der historischen Forschung eine Art von epistemologischer Sieger- oder Fortschrittsgeschichte zu schreiben. Wenn Bruno Latour von einer »symmetrischen Anthropologie« spricht, meint er hingegen eine Aufhebung der asymmetrischen Unterscheidung von Natur und Kultur/Gesellschaft (Latour 1991 [1998]: 128). Beide sind nur durch hybride Quasi-Objekte erklärbar, beide sind Gegenstand von menschlichen Konstruktionen, beide haben eine Geschichte.

Technikgeschichte

Auch jenseits des spezialisierten Ansatzes der STS ist die Technikgeschichte ein wichtiger Gesprächspartner der Wissensgeschichte (Popplow 2014). Die Technikgeschichte kam etwa um 1900 auf und erfuhr dann in den 1970er Jahren eine Wendung zur Sozialgeschichte der Technik. Seit den 1990er Jahren ist sie von der alle Subdisziplinen erfassenden kulturwissenschaftlichen Wende geprägt, wenngleich es wichtige Vorläufer innerhalb der Technikgeschichte selbst gibt, wie etwa Sigfried Giedions Herrschaft der Mechanisierung (Giedion 1948 [1987]; Heßler 2012: 25 f.; zur Antike vgl. Schneider 1992; wichtige Beiträge erscheinen in der Zeitschrift Technikgeschichte).

Giedion widmete sich der Alltagsgeschichte von Mechanisierung in einem historischen Längsschnitt, wenn auch mit kulturkritischem Deutungshorizont. Technikgeschichte steht an einer für die Wissensgeschichte wichtigen Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Technik und Alltagstechnik. In vielen Bindestrich-Technikgeschichten von der Bergbautechnik über die Haushaltstechnik bis zur Wehrtechnik zeigt sich der praktische Anwendungsbezug technischen Wissens, wie er etwa im englischen Begriff der »applied sciences« zum Ausdruck kommt (Kaldewey/Schauz 2018).

Wissen und Geschlecht

Ein seit den 1990er Jahren rasch anwachsendes Forschungsfeld ist die Geschichte der Beziehungen von Wissen und Geschlecht (Gender/Science) (Schiebinger 2014; Orland 2017). Ihren Ausgang nahmen diese Forschungen bei biographischen Ansätzen der Frauengeschichte, die auf geschlechtsspezifische Segregationsprozesse der Wissenschaft aufmerksam und immer mehr Frauen als Wissen schaffende Subjekte sichtbar machten (Snyder 1989; Hohkamp/Jancke 2004).

Von Seiten einer feministischen Epistemologie wurde die Frage »Forschen Frauen anders?« bejaht (Schiebinger 2000). In der Folge stellte sich eine wissenssoziologische Reflexion über die geschlechtsbezogene Standortgebundenheit männlichen wie weiblichen Wissens ein, für die Donna Haraway den Begriff des »situierten Wissens« prägte (Haraway 1988/1995b; Deuber-Mankowsky/Holzhey 2013).

Innerhalb der feministischen Wissensforschung wird vor allem über die Zugänge zur Unterscheidung von natürlichem (sex) und kulturellem Geschlecht (gender) gestritten (Opitz-Belakhal 2018; Martschukat/Stieglitz 2018). Während in den 1980er und 1990er Jahren diskursanalytische Positionen dominierten, kehrte die Materialität des Körpers im Zuge der sogenannten Körpergeschichte der 1990er und 2000er Jahre wieder zurück in die Forschungsdebatte. Auch das natürliche Geschlecht hat eine Geschichte, ohne deren konsequente Historisierung man sich kaum den Zumutungen des biologischen Essentialismus entziehen kann.

Postkoloniale Wissensgeschichte

Geschlecht ist jedoch nicht der einzige Faktor, der Asymmetrien in den Beziehungen von Macht und Wissen produziert. Die Wissenschaftsgeschichte war lange von einem ausgeprägten Eurozentrismus gekennzeichnet, den auszuhebeln das Anliegen einer postkolonialen Wissensgeschichte ist (Heé 2017). Das klassische Erzählmuster der Wissenschaftsgeschichte war nicht ein eurozentrisches Narrativ unter anderen, es war »das eurozentrische Narrativ« schlechthin (Daston 2017: 141). Mit überlegener Wissenschaft habe der Westen den Rest der Welt abgehängt und sich untertan gemacht.

Michel Foucault hat mit seiner Diskurstheorie und der Problematisierung von Macht und Wissen viele Fragestellungen der postkolonialen Wissensgeschichte ohne Zweifel maßgeblich beeinflusst. Zu einer Art Gründungsfigur ist der gebürtige Palästinenser Edward Said geworden, der 1978 mit seiner Studie Orientalismus die Diskussion wesentlich belebt hat. Said dekonstruierte darin westliche Orientbilder im Anschluss an Foucault als diskursive Wissenssysteme zur Legitimation kolonialer Hegemonie (Said 1978 [1981]; zu Kritik vgl. Castro Varela/Dhawan 2020: 99–159).

Die außerdiskursive Wirklichkeit des Orients spiele in den selbstreferentiellen Diskursen des Westens keine Rolle. Die »Orientalen« hätten keine Sprecherposition innerhalb dieser diskursiven Wissensformation, die zur Grundlage der Herrschaft über sie geworden sei. Im südasiatischen Postkolonialismus wurde seit den 1980er Jahren genau diese Asymmetrie der Sprecherpositionen zum Problem. Gayatri Chakravorty Spivak etwa fragte »Can the subaltern speak?« und regte damit eine breite Diskussion an, die sich theoretisch neben Foucault an dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci und dessen Theorie der kulturellen Hegemonie orientierte (Spivak 2011; Omodeo 2019). Herrschaft, speziell Klassenherrschaft, gründet sich nicht nur auf Gewalt und Kapital, sondern auch auf Kultur. Wissen wird in dieser Tradition als zentraler Faktor kolonialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgemacht.

Für den parsischen Literaturwissenschaftler Homi Bhabha ist der Gegensatz von hegemonialer Diskursmacht und Subalternen jedoch kein strikt trennender, sondern von hybriden Wechsel- und Mischverhältnissen geprägt (Bhabha 2000). Hybridität wurde zu einem regelrechten Kernbegriff der postkolonialen Theorie, der seinerseits als ideologisches Konstrukt kritisch hinterfragt wurde. Bhabha selbst hat mit dem Begriff »Mimikry« eine Form von Handlungsmacht thematisiert, die in vielem dem Begriff der Aneignung ähnelt. Indem die kolonialen Subjekte bestimmte Praktiken der Anpassung vollziehen, bleiben ihnen auch subversive Potentiale eigensinniger Gestaltung. Während das »Mimikry« notwendig auf einer lokalen Mikroebene verbleibt, haben sich postkoloniale Historiker wie Dipesh Chakrabarty gefragt, wie die grundlegenden Machtverhältnisse der westlich geprägten Kategoriensysteme aufzubrechen seien. Sein prominenter Aufruf lautet, Europa zu provinzialisieren (Chakrabarty 2000 [2010]). Das bedeutet, Europa als einen kulturellen Produktionsraum unter anderen zu begreifen und nicht als normatives Zentrum, an dessen Imperativen sich alle anderen messen lassen müssen. Walter Mignolo hat daran den Aufruf zum »epistemischen Ungehorsam« gegenüber dem westlichen Denken geknüpft (Mignolo 2012).

Innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie von Theorieangeboten scheint sich indes eine gewisse Dominanz indischer und anglo-amerikanischer Sprecherpositionen des Postkolonialismus gegenüber solchen aus Lateinamerika oder Afrika eingestellt zu haben. Seit den 2000er Jahren haben diese vorrangig an US-amerikanischen Eliteuniversitäten entwickelten Ideen sich auch im deutschsprachigen Raum fest etabliert und gehören mittlerweile zum wissenshistorischen Kanon. Ihre post-foucaultianischen Perspektiven haben mittlerweile eine kaum mehr zu überblickende Anzahl empirischer Studien zu kolonialen Macht/Wissen-Verhältnissen hervorgebracht (vgl. Kap. 6.2) und sind zudem als eine Art Re-Import auch für die Analysen europäischer Gesellschaften fruchtbar gemacht worden. Denn für die europäische Wissensgeschichte ist die Frage nach subalterner Artikulationsfähigkeit und agency zweifellos ebenso notwendig wie produktiv. In jüngerer Zeit sind unter dem Begriff der »epistemischen Gewalt« in feministischer und postkolonialer Theoriebildung entsprechende Fragen nicht nur machtanalytisch, sondern auch gewalttheoretisch diskutiert worden (Brunner 2020).

Wissen im Anthropozän