Wissenschaft ist das, was auch dann gilt, wenn man nicht dran glaubt - Science Busters - E-Book

Wissenschaft ist das, was auch dann gilt, wenn man nicht dran glaubt E-Book

Science Busters

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Beschreibung

15 Jahre Wissenschaft, 15 Jahre Lachen, bis der Bauch weh tut: Die Science Busters feiern ihr großes Jubiläum

Sechs Bücher, 50 Live-Programme, 120 TV-Shows und 800 Radiokolumnen: Seit 15 Jahren zerren die Science Busters die Wissenschaft auf die große Bühne. Gestartet als „schärfste Science-Boygroup der Milchstraße“, stehen sie heute als „Kelly Family der Naturwissenschaften“ im Rampenlicht. Ob Pandemie, Klima oder Verschwörungsmythen – nie war Wissenschaftserklärung mit Humor wichtiger als heute. In ihrem großen Jubelwälzer klären die Science Busters ein für alle Mal: Warum gilt Wissenschaft auch dann, wenn man nicht dran glaubt? Was kostet die Klimakatastrophe in Bitcoin? Hilft Duschen gegen Ausländerfeindlichkeit? Und müssen auf dem Passfoto von Schwarzen Löchern auch beide Ohren zu sehen sein? Die Science Busters feiern – und sind bereit für 15 weitere Jahre Bühnenexplosionen im Dienst der Wissenschaft!

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Über das Buch

15 Jahre Wissenschaft, 15 Jahre Lachen, bis der Bauch weh tut: Die Science Busters feiern ihr großes Jubiläum Sechs Bücher, 50 Live-Programme, 120 TV-Shows und 800 Radiokolumnen: Seit 15 Jahren zerren die Science Busters die Wissenschaft auf die große Bühne. Gestartet als »schärfste Science-Boygroup der Milchstraße«, stehen sie heute als »Kelly Family der Naturwissenschaften« im Rampenlicht. Ob Pandemie, Klima oder Verschwörungsmythen — nie war Wissenschaftserklärung mit Humor wichtiger als heute. In ihrem großen Jubelwälzer klären die Science Busters ein für alle Mal: Warum gilt Wissenschaft auch dann, wenn man nicht dran glaubt? Was kostet die Klimakatastrophe in Bitcoin? Hilft Duschen gegen Ausländerfeindlichkeit? Und müssen auf dem Passfoto von Schwarzen Löchern auch beide Ohren zu sehen sein? Die Science Busters feiern — und sind bereit für 15 weitere Jahre Bühnenexplosionen im Dienst der Wissenschaft!

Science Busters

Wissenschaft ist das, was auch dann gilt, wenn man nicht dran glaubt

Das große Jubelbuch der Science Busters

Hanser

Einleitung

Im 7. Jahrhundert v. u. Z. stritt sich der griechische Bauer Hesiod mit seinem Bruder Perses. Der wollte schnell reich werden und nicht, wie Hesiod, sein Geld durch harte landwirtschaftliche Arbeit verdienen. Und wie man das eben so macht unter streitenden Bauernbrüdern, dachte sich Hesiod mal eben 828 Hexameter aus, um dem unwilligen Bruder seinen fehlerhaften Lebenswandel in Form des Lehrgedichts Werke und Tage vorzuhalten. Und erklärte ihm darin auch gleich die Ordnung des Kosmos und die Geschichte der Menschheit. Danach ist sehr viel Geschichte passiert, und 2007 wurden folgerichtig die Science Busters gegründet.

Das ist, zugegebenermaßen, keine vollständige Geschichte der Wissenschaftskommunikation.*1 Aber wenn man davon ausgeht, dass die Science Busters deren Höhepunkt darstellen, und anders ist es eigentlich kaum denkbar, dann verpasst man auch nicht viel, wenn man all das ignoriert, was vor uns gekommen ist. Konzentrieren wir uns also auf den Ursprung der Science Busters.

Von der Science Boygroup zur Kelly Family der Naturwissenschaften — Prequel and early years

Ziemlich genau 13,8 Milliarden Jahre nach dem Urknall, ob der an einem Donnerstag war oder Freitag, da gehen die Quellen auseinander, ist Heinz Oberhummer emeritiert worden.

Davor war er Assistenzprofessor an der TU Wien für Theoretische Physik, Astrophysik, Teilchenphysik, Didaktik der Physik, Kosmologie und noch manches mehr, wenn man davon ausgeht, Fachkraft zu sein, nur weil man auf einem wissenschaftlichen Paper als Autor oder Co-Autor geführt wird. Der russische Regisseur Andrei Tarkowski lässt in seinem Film Nostalghia die Hauptdarstellerin sinngemäß sagen, mit manchen Männern gehe man nur deshalb ins Bett, damit sie endlich zu reden aufhörten. So war es bei Heinz Oberhummer sicherlich nicht, aber man könnte schon mutmaßen, dass er überall so lange lästig war, bis er irgendwo Professor geworden ist. Emeritiert worden ist er schließlich als Professor für Theoretische Physik, möglicherweise, weil dort der Andrang am geringsten war. Jedenfalls kann der Tag der Pensionierung als offizieller Startschuss gelten, nach dem sich ein paar Tausend Billiarden menschliche Zellen auf den Weg gemacht haben, das zu werden, was in den letzten 15 Jahren als Science Busters von sich reden gemacht hat. Wenn man so möchte, ist also das österreichische Beamtendienstrecht mitschuldig daran, dass die schärfste Science Boygroup der Milchstraße das Licht der Welt erblickt hat.

Denn während seiner Laufbahn als Universitätsprofessor hatte sich Heinz Oberhummer gehütet, populärwissenschaftlich auffällig zu werden. Forschen, ja bitte, Lehren, wenn es sein muss, aber populärwissenschaftliche Vorträge halten, das sieht der Gesetzgeber nicht vor. Wer für so was Zeit hat, der kann nicht genug forschen und folglich auch nicht publizieren und Karriere machen.

Den Menschen, mit deren Geld ein Großteil der Forschung finanziert wird und die letztlich von den Ergebnissen auch profitieren sollen, zu erklären, was genau man herausgefunden hat und wie toll das sei, galt an den Universitäten viele Jahrhunderte lang als reine Zeitverschwendung. Noch Florian Freistetter, der 2014 zu den Science Busters gestoßen ist, hat erlebt, dass ihn ein Vorgesetzter an einer deutschen Universitäts-Sternwarte gerügt hat, weil er in seiner Freizeit zu viele Blogartikel verfasst hatte. Dadurch könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, an der Uni würde nicht ordentlich gearbeitet, sondern er, Freistetter, würde mit Steuergeldern dafür bezahlt, schlichte Aufsätze zu tippen, die alle verstehen können. Anstatt zu forschen. Was solle denn die Öffentlichkeit glauben, was auf einer Uni passiere!

Die Situation hat sich nicht nur in Österreich, sondern weltweit in den vergangenen 15 Jahren deutlich verbessert. Dass es da einen Zusammenhang mit der Gründung der Science Busters gibt, haben Sie gesagt.

Aber wie bitter sich diese Arroganz und Ignoranz rächen würden, haben wir während der laufenden Pandemie erleben müssen. Heerscharen von Nichtswisser:innen haben sich plötzlich als Fachkräfte für Virologie, Impfstoffherstellung und Epidemiologie aufgespielt. Als Experten für »Normale Grippewellen«, an denen das einzig Normale ist, dass jedes Jahr Tausende Menschen nur deshalb daran sterben, weil so viele andere so rücksichtslos und selbstsüchtig und faul sind, sich nicht impfen zu lassen. Und dafür auch noch als »Impfskeptiker:innen« geadelt werden wollen. Als ob es so was gäbe. Was für ein Unsinn. Impfungen gehören zu den größten Errungenschaften der Zivilisation, und es gibt schon seit, äh, Moment, da muss ich im Kalender schauen (Papierrascheln) — ah ja, genau. Es gibt schon seit rund 150 Jahren kein vernünftiges Argument mehr, eine Schutzimpfung nicht in Anspruch zu nehmen, wenn gesundheitlich nichts dagegen spricht. »Impfskepsis« ist ein Nullwort wie Schulmedizin oder Elektrosmog. So was gibt es einfach nicht. Auch wenn es das Wort bis in seriöse Medien geschafft hat, wo man vor lauter Furcht, Blödmänner und -frauen auch als genau das zu bezeichnen, was sie sind, nämlich Blödmänner und -frauen, auf diesen Quatschausdruck zurückgegriffen hat. Skeptizismus ist etwas komplett anderes. Und bedeutet nicht, einfach etwas in Zweifel zu ziehen und sich schon dadurch im Recht zu fühlen, egal ob man vernünftige Einwände hat oder nicht. Skeptizismus hat mit Nachdenken und dem Abwägen rationaler Argumente zu tun. Und davon kann bei »Impfskeptiker:innen« keine Rede sein. Der Wissensstand, was Impfungen betrifft, ist grundsätzlich ein anderer, als von solchen behauptet wird. Je mehr Menschen geimpft sind, etwa gegen Masern, Mumps, Röteln oder Corona, desto weniger Chancen bestehen für Krankheiten. Und desto mehr Sicherheit für alle, vor allem auch für die, die zu jung sind, um geimpft zu werden, oder zu schwach.

Dazu gibt es zwar viele Meinungen, aber keine 2 verschiedenen Fakten. Wer etwas anderes behauptet, hat entweder keine Ahnung, wovon er spricht, oder unlautere Motive. In Österreich hat sich im Laufe der Pandemie etwa eine »Partei« gegründet, deren Hauptgeschäftsgegenstand im Wesentlichen zu sein scheint, Impfungen blöd zu finden, die bekanntlich, Moment, das hab ich gerade erst wo gelesen, Augenblick … (Papierrascheln) — da hab ich es, »zu den größten Errungenschaften der Menschheit« gehören. Und warum gibt es die »Partei« trotzdem? Vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil man sich mit ihrer Hilfe wichtig machen, seine Ignoranz ausstellen und dafür auch noch Millionen Parteienförderung kassieren kann. Das kann auch passieren, wenn man zu wenig Bedacht darauf legt, dass wissenschaftliches Denken in einer Gesellschaft der Stand der Dinge ist. Dass man den Menschen jedoch nur erklären müsse, was richtig und falsch sei, dann würden sie schon das Richtige glauben, nachdem ihnen bislang das aktuelle Wissen gefehlt habe, ist aber leider auch nicht richtig. Das wurde in der Wissenschaftskommunikation lange fast als Goldstandard gehandelt und ist als Defizitmodell bekannt. Einer weiß was, sagt es, die anderen hören zu, und danach sind alle schlauer und richten sich nach der neuen Erkenntnis. Wer schon ein bisschen Leben hinter sich gebracht hat, weiß, dass das nur für eine Schnittmenge gilt und keinesfalls für eine Deckmenge. Viele Menschen glauben ja nicht deshalb an Astrologie oder Homöopathie oder die besondere Kraft des Vollmondes, weil ihnen noch nie wer mitgeteilt hat, dass das Unsinn ist. Und gerade sehr gut und für viel Steuergeld ausgebildete Menschen glauben mitunter besonders gern an Homöopathie und geben viel Geld dafür aus. Fehlende Information ist also nicht zwangsläufig ausschlaggebend dafür, dass Menschen Blödsinn glauben oder sich nicht für Wissenschaft interessieren. Zumindest nicht allein. Weshalb neuere Konzepte in der Wissenschaftskommunikation auch immer schauen, dass es sogenannte Feedback-Kanäle gibt, man also prüfen oder zumindest fragen kann, was denn von dem ganzen Wissen wie bei den Adressat:innen angekommen ist.

Und die Science Busters? Stehen die nicht auch auf einer Bühne und machen Frontalunterricht? Ja, aber währenddessen bereiten wir oft auch Geschenke fürs Publikum vor. Kosmische Cocktails, Schweinsbraten, Glühhendl, Laugengebäck, Eisbockbier, was das Herz begehrt. Und locken die Menschen so nach den Shows zur Ausspeisung und zum Ausschank, wo sie währenddessen ganz einfach Fragen an die Wissenschaftler:innen stellen können, Beschwerden vortragen oder Anregungen und auch Lob platzieren. Wissenschaftlich zubereiteten Schweinsbraten auf den Weg in die Mägen der interessierten Zuschauerschaft zu bringen war aber noch nicht die logische Folge der Pensionierung von Heinz Oberhummer. Denn nur mit Emeritiertwerden war noch nicht viel erreicht.

Deutlich mehr Schuld am Entstehen der Science Busters als das österreichische Beamtendienstrecht trifft nämlich die Haare. Genauer gesagt das Haupthaar von Heinz Oberhummer. Und seine Friseurin.

Hätte er sich mehr mit Alopezie als mit Glaziologie beschäftigen müssen, wer weiß, ob es die Science Busters überhaupt gäbe. Ohne Haupthaar wäre er für die Friseurin keine Kundschaft gewesen. Nach seiner Emeritierung hat Heinz versucht, dem Publikum in populärwissenschaftlichen Vorträgen von seiner Faszination für Naturwissenschaften zu erzählen. Menschen davon zu begeistern, wie cool das Universum sei und wie uninteressant der Glaube im Vergleich zu dem, was die Realität der Wissenschaft zu bieten habe. Das Erzählen hat wohl funktioniert, allein der Massenandrang ist ausgeblieben. Eine Erklärung dafür hat ihm seine Friseurin geliefert.

Hat sie gesagt:

Sie sind zu schiach, das will niemand sehen.

Die Menschen würden gerne kommen, haben aber leider immer schon was anderes vor.

oder

Wissenschaft sei kompliziert, nichts für sie, sie schneide ihm weiterhin gern die Haare und genieße seine Gesellschaft, aber seine Vorträge würde sie lieber auslassen, zumal sie auf einer Universität nichts zu suchen habe. Davor habe sie zu viel Respekt. Da komme sie sich dumm vor. Und jetzt bitte den Kopf still halten und nicht so herumwetzen am Stuhl, sonst schauen die Ohren aus wie ein Scherenschnitt.

Potztausend! Hat er sich bestimmt nicht gedacht. Malefiz schon eher, jedenfalls aber eher etwas Sinnverwandtes. Was für ein Irrtum! Was für ein Versäumnis der Unis! Wissenschaft ist für alle und nicht nur für Gelehrte und Gebildete. Dafür ist sie viel zu interessant und zu wichtig. Die Menschen sollen die Universitäten als ihre Horte des Wissens begreifen, gerne hingehen und gefälligst fragen, wenn sie was nicht verstehen. Und wenn sie sich nicht trauen oder zu bequem sind, dann müssen eben die Wissenschaftler:innen zu ihnen kommen und es ihnen leichter machen. Denn nur wer nichts weiß, muss alles glauben.

Bis es so weit war, dass der Aphorismus von Marie Ebner-Eschenbach als Claim der Science Busters Karriere machen konnte, sollte es allerdings noch ein bisschen dauern.

Heinz Oberhummer hat erst einmal überlegt, wie er mehr Leute erreichen könnte. Und holte sich Verstärkung. Im wahrsten Sinn des Wortes. Erste gemeinsame Vorträge mit dem Physiker Werner Gruber haben allerdings selten weniger als vier Stunden gedauert. Bestenfalls. Auch dem Umstand geschuldet, dass als Erster zu reden aufzuhören nicht zu den Tugenden der beiden gehörte. Das Konzept lautete: Erst eine Einleitung, und wer unter einer halben Stunde bleibt, gilt als feig. Dann dem Publikum einen vollständigen Spielfilm vorspielen und währenddessen selber essen gehen. Danach, während des Verdauens, wissenschaftliche Aufarbeitung des Gesehenen vor Publikum mit anschließender Beantwortung allfälliger Fragen aus dem Auditorium. Die Zuhörerschaft war angeblich zwar angetan, aber auch wie gerädert und bekannte, man würde wohl höchstens ab und zu auf ein paar Stunden zur Wissenschaft vorbeikommen. Das war auch ohne aufwendige akademische Evaluierung klar.

Nun gut, blieb der schlaue Alpakaliebhaber Oberhummer unverzagt: In Österreich ist Wissenschaft sagenhaft unbeliebt. Das bestätigen die Euro-Barometer-Umfragen der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll. Eine ausgesprochene Schande für ein zivilisiertes Land, das sich auf seine kulturelle Feinspitzigkeit mordstrumm was einbildet. Aber ins Kabarett gehen der Österreicher und seine bessere Hälfte gern und ohne Vorbedingungen. Oft muss das Dargebotene nicht einmal Witz und Originalität bieten, trotzdem haben sie einen schönen Abend und kommen wieder. Diese Zuneigung zum Genre sollte man nutzen! Warum einen akademischen Vortrag also nicht als Kabarett tarnen, die Leute so ins Theater locken und ihnen dann mit Wissenschaft aufwarten? Nur, wo bekommt man in einem derart wissenschaftsfeindlichen Land einen Kabarettisten her, der sich ausgerechnet entgegen der Vorliebe vieler seiner Landsleute für Wissenschaft interessiert? Groß war die Auswahl nicht, es gab 2 bis 3. Gunkl alias Günther Paal, der viele Jahre später dann auch zu den Science Busters stoßen sollte. Und Martin Puntigam. Der hatte eben ein Soloprogramm auf der Pfanne, in dem er einen Hochenergiephysiker spielte, der gern im modernsten Teilchenbeschleuniger der Welt forschen würde, aber noch nicht darf, sondern stattdessen im Elementarteilchenballett des angeschlossenen Vergnügungsparks »Teilchenbeschleunigerland« als Up-Quark tanzen muss, um Drittmittel einzuwerben. Klang so, als wäre das die ideale Ergänzung, und so kam es auch.

Damit war das Ensemble fürs Erste komplett, aus dem Vortrag wurde eine Show, und die schärfste Science Boygroup der Milchstraße war geboren. Bandname: Science Busters. Eigentlich eine Notlösung. Denn der Premierentermin stand vor der Tür, und das Kind sollte einen Namen haben. »Science in Film« war der Name der Beta-Version, aber der neue sollte ein wenig folkloristischer sein. Was für Starschnittposter auf Jugendzimmertüren. Und weil alle drei Fans der MythBusters waren, wurde der Name belehnt und Myth durch Science ersetzt. Dass Busting eigentlich das Gegenteil dessen ist, was die drei vorhatten, haben sie sich geflissentlich damit schöngeredet, dass Buster im Ausnahmefall auch Kumpel bedeuten könne und man in Österreich damit schon durchkommen werde. Was ja auch stimmte. Nach ein paar Anläufen, die man auch Vor-Premieren oder Ausprobieren vor Publikum nennen könnte, war das Showkonzept, wie es im Grunde noch heute gilt, geboren.

Fehlte noch das Outfit, allen voran das Kostüm des MC, des Masters of Ceremony. Und eigentlich auch der MC selber. Die allererste Aufführung unter dem Namen »Science in Film« an der TU Wien haben Martin Puntigam, Werner Gruber und Heinz Oberhummer in Anzügen bestritten, in denen sie so ausgesehen haben, als hätten sie es gerade bei der Caritas-Kleidersammlung krachen lassen. Werner Gruber hatte volumebedingt damals nicht sehr viele Wahlmöglichkeiten, er musste anziehen, was einigermaßen um ihn herumpasste. Heinz Oberhummer ist immer wieder in elegantere Anzüge geschlüpft. Aber Martin Puntigam als Nichtwissenschaftler und Buddy des Publikums, der stellvertretend für alle und auch die blödesten Fragen stellt, bedurfte dringend eines Re-Designs. Gerne erzählt der MC die Schnurre vom Entstehen des Kostüms. Für die 2. oder 3. Show an der TU Wien, da gehen die Quellen auseinander, waren schon alle drei wieder in der üblichen Panier in der Garderobe versammelt, denn der Auftritt stand bald bevor. Martin Puntigam war mit seiner Erscheinung unzufrieden, aber noch unentschlossen, die Garderobe radikal zu verändern. Erst wenige Minuten vor Showbeginn hat er sich in aller Eile ins Bad zurückgezogen und sich so verkleidet, wie man das seither von ihm bei den Science-Busters-Shows kennt: nach hinten gegelte Haare, dunkle Trainingshose, Sportschuhe, hautenges rosa Fahrradtrikot und natürlich applizierte Kunststoffnippel. Das rosa Trikot besaß er schon von einer anderen Kabarettproduktion, die Kunststoffnippel waren ein Geschenk seiner Frau, die sie in der Wühlbox eines Drogeriemarktes entdeckt und wohlfeil erschwungen hatte, Gel und Kamm gehören eigentlich zur Grundausstattung eines gediegenen Humoristen. Bis zu dem Zeitpunkt war er sich nicht ganz sicher, ob er sich nicht im Kostüm vergriffen und zu dick aufgetragen hatte. Als er allerdings neu gewandet in die Garderobe zurückkehrte und in die schreckensgeweiteten Augen der beiden Physiker blickte, wusste er, er war auf dem richtigen Weg.

Jahre später hat Heinz Oberhummer gestanden, schon beim Besuch von Puntigams Solo »Die Einbrenn des Lebens«, ein paar Wochen vor der ersten gemeinsamen Show, seien sich die beiden nicht mehr ganz sicher gewesen, ob sie die richtige Wahl getroffen hätten. Die Drastik, mit der manche Schaustücke dargeboten wurden, war nicht das, was sie sich für ihre Mission als Wissenschaftsvermittler an den Theatern vorgestellt hatten. Und beim Anblick des Kostüms und der Nippel hätten sie gern auf dem Absatz kehrtgemacht. Aber, und das war aus heutiger Sicht ein Glück, als Akademiker lernt man im universitären Alltag auch zu folgen und nicht gleich zu schimpfen, wenn einem was nicht passt. Weil man ja nicht weiß, von wem ein Vorschlag stammt, den man vielleicht blöd findet. Und wenn man dann gleich mault: »So ein Schas!«, und es war aber eine Idee eines Vorgesetzten, möglicherweise eine, auf die er sich was einbildet, dann kann sich das ungünstig auf den Karriereverlauf auswirken. So haben die beiden gute Miene zum rosa Nippelspiel gemacht, die Knackwurst, die gern Automatenkönig werden möchte, war geboren, und dass man Populärwissenschaft jahrhundertelang anders hat darbieten können, ist aus heutiger Sicht nahezu unvorstellbar.

In kürzester Zeit wurden 2 Dutzend Live-Shows aus der Taufe gehoben, feuerbrünstige Experimente entwickelt, zahllose Witze ausgedacht, und Heinz Oberhummer griff zum Zupfinstrument und musizierte gnadenlos. Ein Henker an der Kaplangitarre, wer ihn einmal erlebt hat, vergisst es nie wieder. Nur selten sieht man Menschen mit derart großer Inbrunst so musizieren, dass man vor Begeisterung kaum an sich halten kann, während es einem eigentlich die Zehennägel aufrollt vor Freude. Aber für die Wissenschaft hat Heinz Oberhummer keine Gefangenen gemacht. Ausbleibender Alopezie sei Dank. Dabei handelt es sich übrigens um Haarlosigkeit, vor allem am Haupt. Der vorangehende Haarausfall heißt Effluvium, was mit 2-mal »ff« geschrieben fast schon wieder süß wäre. Die Glaziologie hingegen, die nach Haarlosigkeit klingt, kümmert sich um Schnee und Eis und Gletscher. Damit haben sich die Science Busters dann erst viele Jahre später ernsthaft beschäftigt. In ihrer Klimawandelshow »Global Warming Party«.

Die wurde übrigens im Abstand mehrerer Jahre 2-mal mit demselben Titel als Premiere auf den Spielplan gesetzt. In der ersten Ausgabe haben die Science Busters leider ein bisschen bewiesen, dass auch Wissenschaftler, wenn sie nicht aufpassen und sich nicht an ihre eigenen Konzepte halten, gern dem auf den Leim gehen, was man in den Sozialwissenschaften Framing nennt. Also dass komplexe Themen so aufbereitet und erzählt werden, dass sie zwar leichter fasslich werden, aber manchmal auch ein bisschen irreführend sind. Oder sogar falsch. Ob mit oder ohne Absicht. So haben wir damals, und das war immerhin schon 2009, erzählt, das mit dem Klimawandel sei ein wenig übertrieben, momentan würde es gar nicht mehr wärmer, niemand wisse warum, Pasterze bedeute immerhin »zur Viehweide geeignet«, weil es dort einmal viel wärmer war; der Mensch trage nur rund 5% zum CO2-Ausstoß bei und das sei nicht sehr viel; in Grönland — Grünland! — habe es einmal Weinanbau gegeben; das Abschmelzen der Gletscher sei nicht so dramatisch, radioaktiven Abfall könne man mittels Spallation relativ einfach deutlich ungefährlicher machen und die Kernfusion stehe praktisch schlüsselfertig vor der Türe, ein paar Jahre noch, schuld an den Verzögerungen seien auch verwaltungstechnische Streitereien.

Wenn Sie das längste Kapitel in unserem Buch Warum landen Asteroiden immer in Kratern gelesen haben oder gleich das ganze 2020 erschienene Buch Global Warming Party, so wissen Sie: Kaum was davon ist so richtig, wie wir es damals referiert haben. Weshalb wir es im Laufe der Jahre richtiggestellt haben. Immerhin. Und auch das ist Wissenschaft, dass man Irrtümer nicht nur erkennt, sondern auch eingesteht und Korrekturen publiziert. Und nicht PR-Agenturen und Spin-Doktoren beauftragt, sich was auszudenken, warum man damals gar nicht anders hat können. Die Richtigstellung auch im Rahmen der letzten Bühnenshow der Science Busters erfolgte dann, als die Science Busters längst nicht mehr zu dritt waren, sondern längst als neues Ensemble auf der Bühne standen. Wie es dazu kam, lesen Sie in Kapitel 9. Wie aus der schärfsten Science Boygroup die Kelly Family der Naturwissenschaften geworden ist. Aus anfangs 3 Frontmen sind inzwischen 9 Frontmen and Frontwomen geworden. Und wenn das so weitergeht, wer weiß, begrüßen wir Sie in 15 Jahren an selbiger Stelle im Jubiläumsbuch anlässlich 30 Jahre Science Busters als die Fischerchöre der Naturwissenschaft.

PS: Und so ist das Buch aufgebaut: Zu Beginn bekommen Sie die jeweils aktuellen CO2-Werte in der Atmosphäre. Und dann folgt erst das, was in der Wissenschaft geschah — dann das, was zeitgleich bei den Science Busters vor sich ging. Und am Ende finden Sie noch die Rubrik Small-Talk-Hilfe. Wissenschaftliches Fingerfood, falls Sie sich nicht alles aus dem Kapitel gemerkt haben, aber abends auf der Cocktailparty oder dem Empfang ein bisschen schlau und originell wirken wollen. Könnten wir Ihnen nicht verdenken, wollen wir ja auch immer gerne.

PPS: Erste Ankündigung für »Science in Film« an der TU Wien:

Dienstag, 13. Juni 2006 22:03

Betreff: »Science in Film« — Topwissenschaft meets Spitzenhumor

Sehr geehrte Damen und Herren!

Nachdem ich Teil einer extremen Superveranstaltung bin, ist es mir eine liebe Pflicht, Sie über dieselbe in Kenntnis zu setzen.

Ihre Tränen der Dankbarkeit weiß ich zu schätzen, aber üppige Berichterstattung — Sonderbeilagen, Titelseiten et al. — ist mir lieber.

Um dergleichen vorzubereiten, wenden Sie sich bitte an

Stefan Faltermann, der Sie so herzlich empfangen wird wie Richard Nixon die Nachricht von der erfolgreichen Mondlandung.

Viel Vergnügen mit der Presseaussendung wünscht Ihr

Erich Grienke

PS: Wer in den Genuss dieser Post gelangt ist, ohne sich jemals danach gesehnt zu haben resp. seinem Sehnen zukünftig entsprochen haben möchte, möge bitte Bescheid geben.

2007

Die Forschung mit der Maus

2007 war das 14. wärmste Jahr seit es Aufzeichnungen gibt. Es befinden sich 384 ppm CO2 in der Atmosphäre.

#2007 #Sciencebusters #JetztGehtsLos. Seit 2007 sind die Texte, die wir ins Netz stellen, immer öfter von der Raute, dem Doppelkreuz, dem Gartenhag (Grüße in die Schweiz) oder dem Hashtag durchsetzt. Die Namen sind unterschiedlich, aussehen tut das Ding immer gleich, nämlich so: #. Dass wir dieses Symbol heute verwenden, liegt an Chris Messina, der am 23. August 2007 auf Twitter vorschlug, dieses Zeichen zu benutzen, um Schlagworte zu markieren. Messina war übrigens ein US-amerikanischer Blogger, Mensch und keine Maus.

Der Raumsonde New Horizon war das vermutlich wurscht; als sie im Januar 2006 ins Weltall flog, gab es Twitter noch gar nicht. Und 2007 war sie schon fern der Erde und kurvte um Jupiter herum, um Schwung für die Reise zum Pluto zu nehmen. An der Entwicklung der Raumsonde waren keine Mäuse beteiligt; auch an Bord war kein einziges Nagetier zu finden.

Im Herbst 2007 mussten sich die Medien mit dem schönen Wort »Riesenmagnetowiderstand« herumschlagen, denn für die Entdeckung desselben wurden Albert Fert und Peter Grünberg mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet. Auch diese beiden waren keine Mäuse, sondern Franzose, respektive Deutscher. Und falls sich jemand wundert, warum wir so hartnäckig auf den nicht vorhandenen Beitrag von Mäusen zu diesen Forschungsthemen hinweisen: Das liegt einerseits daran, dass Mäuse sehr viel häufiger an der Produktion wissenschaftlicher Ergebnisse beteiligt sind, als man denken möchte. Und andererseits daran, dass sehr oft vergessen wird, auf ebenjene Mäuse hinzuweisen.

Der Schlagzeile »Mouse brain simulated on computer«, die im April 2007 von der BBC vermeldet wurde, kann man das nicht vorwerfen. Sie ist allerdings ein klein wenig irreführend. Das simulierte Hirn war genau genommen kein Gehirn, auch kein Mäusehirn, und wenn überhaupt, dann nur ein halbes. Aber wer will schon einen Artikel mit der Überschrift »Halbes Nicht-Hirn eines Nicht-Nagetiers am Computer simuliert« lesen? Eben! Da hilft auch kein Hashtag.

In Wahrheit hat man damals ein »künstliches neuronales Netz« programmiert, das ungefähr halb so groß und komplex wie das Gehirn einer Maus gewesen sein soll. Ein künstliches neuronales Netz ist übrigens wie ein natürliches neuronales Netz, nur eben künstlich. Und ein neuronales Netz besteht aus vernetzten Neuronen. Das sind Nervenzellen, also das, was Lebewesen wie Menschen oder Mäuse in ihrem Gehirn haben. Bei uns Menschen sind im Hirn ungefähr 90 Milliarden Nervenzellen miteinander verbunden; bei einem Mäusehirn sind es nur circa 16 Millionen (darum können wir die Mäuse auch in Mausefallen fangen und nicht umgekehrt). Ein halbes Mäusehirn hat demnach acht Millionen Neuronen, und ein künstliches Netzwerk dieser Größe wurde von amerikanischen Forscher:innen im Jahr 2007 auf dem BlueGene L Supercomputer simuliert. Es ist eher auszuschließen, dass sich diese virtuelle Maus gedacht hat: »Verdammt, wo ist die andere Hälfte meines Hirns abgeblieben!« Die Simulation dauerte auch nur eine knappe Sekunde; da kann man sich kaum was denken. Aber was auch immer in diesem Computer passiert ist: Gedacht hat da mit Sicherheit nichts. Aber, so zumindest die Behauptung der Forscher:innen, man habe Vernetzungsmuster beobachtet, die so ähnlich aussehen wie das, was in biologischen Hirnen vorkommen kann. Aber nicht so wie das, was man in echten Mäusehirnen sieht.

Der Versuch, ein Hirn — egal ob von Maus, Mensch oder einem anderen Tier — am Computer nachzubauen, ist bis jetzt erfolglos geblieben. Und wird von der wissenschaftlichen Gemeinschaft durchaus kritisiert: Die Erfolgsaussichten sind gering und das Geld dafür verschwendet. Würde man die Mäuse fragen, würden sie aber vermutlich sehr darauf drängen, mehr Fördergeld bereitzustellen. Denn wenn wir eine virtuelle Maus im Computer hätten, würden wir vielleicht die echten Nager in Ruhe lassen.

Seit es moderne Wissenschaft gibt, wird an Mäusen geforscht. Robert Boyle, ein Zeitgenosse (und Feind) von Isaac Newton, wollte im 17. Jahrhundert wissen, wie das mit der Atmung funktioniert. Er wollte noch viel mehr wissen; damals wusste man ja noch kaum etwas über irgendwas, zumindest nicht auf eine Art, die wir heute als wissenschaftlich durchgehen lassen würden. Aber eben auch nichts über die Atmung, über Luftdruck und so weiter. Also steckte Boyle alles Mögliche in eine von ihm entwickelte Gerätschaft, mit der man Luft aus einem abgeschlossenen Behältnis pumpen konnte. Unter anderem auch eine Maus, die dann auch prompt bewusstlos wurde, nachdem Boyle die Luft abgesaugt hatte. Aber keine Sorge: Als Boyle die Luft wieder einströmen ließ, hat sich die Maus wieder erholt. Zumindest diese eine Maus und zumindest einmal. Tierschützer:innen sei an dieser Stelle explizit von der Lektüre der boylschen Experimentbeschreibungen abgeraten. Heute würde man so was durch keine Ethikkommission mehr kriegen …

Den Pionier der Genetik, den Österreicher Gregor Mendel*2, kennen wir heute vor allem für seine Kreuzungsexperimente an Erbsen. Seine Vererbungsgesetze, die mendelschen Regeln, lernen wir in der Schule — aber nicht, dass er es zuerst mit Mäusen statt Erbsen probiert hat. Mendel versuchte normale Mäuse mit Albinomäusen zu kreuzen, um herauszufinden, welche Farbe das Fell der Nachkommen haben würde. Das passte dem zuständigen Bischof, Anton Ernst Schaffgotsch, aber nicht. Heute kann es der Wissenschaft zum Glück relativ egal sein, was irgendein Bischof über das Forschungsdesign denkt. Aber Mendel war nicht nur an Mäusesex interessiert, sondern auch Mönch und führte seine Experimente in der Abtei St. Thomas bei Brünn durch. Auch der Rest der Mönche dort war an Naturwissenschaft interessiert und das gefiel dem Bischof nicht. Zu viel unabhängiger Wissensdurst, zu wenig echter Glaube: Die Abtei lief Gefahr, geschlossen zu werden. Am Ende konnte man sich auf einen Kompromiss einigen. Die Abtei blieb offen, aber zumindest die anstößigsten Experimente mussten beendet werden. Wozu auch die Mäusezucht von Mendel gehörte. Stinkende Nagetiere, die nicht nur Sex haben, sondern dazu auch noch ermuntert und von einem Mönch beobachtet werden! Piepshow. Das musste aufhören, und Mendel verlegte sich auf die Erbsenzucht (zum Glück wusste der Bischof nicht, dass auch Pflanzen Sex haben).

Zum sprichwörtlichen Standardtier der Forschung wurde die »Labormaus« aber erst im frühen 20. Jahrhundert. Und zwar durch Abbie Lathrop aus Illinois. Sie war Lehrerin, aber nur 2 Jahre lang, dann ging ihr die Schule offensichtlich auf die Nerven, und sie zog in das winzige Nest Granby in Massachusetts, um dort Geflügel zu züchten. Was sich als nicht erfolgreich herausstellte, weswegen sie es mit Ratten und Mäusen versuchte. Für die gab es damals erstaunlich viel Bedarf — als Haustiere und für andere begeisterte Fans der Nagetierzucht, die auf der Suche nach speziellen Exemplaren waren. Sie begann mit ein paar Hausmäusen einer Unterart, die auf Englisch den schönen Namen »Waltzing Mouse« trägt, und zwar wegen ihrer Angewohnheit, in Käfigen herumzulaufen, als würden sie Walzer tanzen. Nach kurzer Zeit hatte sie schon mehr als 10.000 Mäuse auf ihrer Farm, und sie konnte ihrer Kundschaft Tiere mit allen möglichen Fellvariationen liefern.

Im Jahr 1902 bekam sie eine Bestellung von William Ernest Castle von der Universität Harvard. Der Genetiker erforschte dort die Vererbung bei Säugetieren und wollte seine Theorien mithilfe von Mäusen testen. Deren Lebensspanne ist kurz, sie pflanzen sich schnell fort, und man kann in kurzer Zeit viele Generationen untersuchen. Bei Lathrop fand er eine ideale Quelle für seine Versuchstiere. Die Mäusezüchterin ließ die Tiere sich nicht nach Lust und Laune fortpflanzen, sondern sorgte für gezielte Nachkommen und führte akribisch Buch über die diversen Mäusepopulationen. Das Mäusebusiness boomte, und immer mehr wissenschaftliche Einrichtungen besorgten sich ihre Nager bei Lathrop.

Im Labor von Professor Castle an der Uni Harvard arbeitete zu dieser Zeit auch C. C. Little (der trotz seines Namens ein Mensch und keine Maus war). Damals noch ein junger Student, begann er seine eigenen Mäusezuchtexperimente und schuf 1909 die erste Inzuchtlinie. Das klingt ein wenig anrüchig, ist aber bei Mäusen völlig o. k. Wenn man genetische Experimente anstellen möchte, und zwar auf wissenschaftlich seriöse Art und Weise, dann ist es praktisch, wenn sich die Versuchstiere genetisch nicht zu stark voneinander unterscheiden. Idealerweise sind Eltern und Nachkommen nahezu identisch, und das geht am besten, wenn man möglichst nahe Verwandte miteinander kreuzt. Mäuse haben auch wenig Hemmungen, was Sex mit Geschwistern angeht; man muss dann nur noch dafür sorgen, dass sich aus jeder Generation nur die vitalsten Tiere fortpflanzen (so vermeidet man die Probleme, die Inzucht ansonsten mit sich bringen kann — wer will schon Mäuse mit Habsburger Lippe).

Die erste Maus-Inzuchtlinie bekam die Bezeichnung »DBA«, was für »Dilute, Brown and non-Agouti« steht und die Fellfarbe der Tiere beschreibt. Braun, aber hell (dilute) und nicht meliert (agouti). Später folgte die Inzuchtlinie »C57BL/6«, die bis heute Ausgangspunkt für die meisten in der Forschung verwendeten Mäuse ist. Ursprung dieser Linie ist Maus Nummer 57 von Abbie Lathrop, und zwar Unterstamm Nr. 6 in Schwarz (»BL« steht für »black«). Während Little in seinem Labor nahe Mausverwandte zur Fortpflanzung anregte, war Abbie Lathrop auf ihrer Mausfarm weiter gut beschäftigt. Sie begann dort sogar mit ihren eigenen Experimenten. Einige ihrer Tiere entwickelten seltsame Hautschäden, ebenso die Mäuse, die sie an Labors verkauft hatte. Der Pathologe Leo Loeb von der Universität Pennsylvania erkannte an den Tieren die Anzeichen von Krebs, und gemeinsam mit Lathrop machte er sich daran, die Sache genauer zu untersuchen. Loeb und Lathrop führten einige der ersten Experimente zur Vererbung von Krebs durch. Wenn Annie Lathrop etwa Mäuse einer Linie mit hoher Krebsneigung mit denen kreuzte, die eher selten an Krebs erkrankten, bekamen deren Nachfahren dennoch genauso oft Krebs wie die gefährdeten Eltern. Sie fanden außerdem einen Zusammenhang zwischen Krebs und Hormonen und veröffentlichten insgesamt zehn wissenschaftliche Aufsätze.

Trotz ihrer Forschungsarbeit und ihrer wissenschaftlichen Entdeckungen wurde Lathrops Beitrag aber eher wenig gewürdigt. C. C. Little, der parallel zu Loeb und Lathrop an der Genetik des Krebs arbeitete, behauptete, er sei unabhängig zu den gleichen Ergebnissen gelangt, und gab sich keine große Mühe, die Arbeit von Lathrop gebührend zu erwähnen, von der er mit Sicherheit wusste. Sein Beitrag zur Genetik ist unbestritten, und die von ihm geschaffenen Maus-Inzuchtlinien haben unbenommen großen Einfluss auf die weitere Forschung gehabt. Sein Ruf als Krebsforscher hat allerdings ein wenig gelitten, als er in den 1960er-Jahren als wissenschaftlicher Sprecher bei der Tabakindustrie anheuerte und unter anderem behauptete, dass Rauchen keinen Lungenkrebs verursache, gar keine Krankheiten eigentlich …

Das wissen wir heute besser — und damals auch schon. Unter anderem dank der Forschung an Mäusen. Mittlerweile gibt es jede Menge verschiedene Inzuchtstämme, die für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt werden können. Zum Beispiel die »NOD-Mäuse«: Das steht für »Non-Obese Diabetic«- Maus. Dabei handelt es sich um Tiere, die sehr oft spontan an Diabetes erkranken. An ihnen lassen sich diese Krankheit erforschen und Therapien ausprobieren. Mit dieser Art von Tierversuchen haben allerdings viele Menschen Schwierigkeiten, inklusive der Forscher:innen selbst. Das Problem an der Sache: An einer genetisch veränderten, zu Diabetes neigenden Maus kann man eben vor allem künstlich hervorgerufene Mäusediabetes untersuchen. Was natürlich eine gute Nachricht für zuckerkranke Nagetiere ist — aber uns Menschen nicht immer so sehr weiterhilft, wie wir denken. Maus und Mensch sind sich in vielen Dingen sehr ähnlich, in vielen anderen aber auch nicht. Sehr viele Ergebnisse, die am »Mausmodell« — so nennt man die Forschung an Mäusen in der Wissenschaft tatsächlich — gewonnen werden, lassen sich nicht auf Menschen übertragen. Zum Beispiel, wenn es um das Immunsystem geht. Das funktioniert bei Mäusen ganz anders, was blöd ist, wenn man an ihnen neue Medikamente und Therapien für Menschen entwickeln will. Also hat man »humanisierte Mäuse« entwickelt: Tiere, die überhaupt kein eigenes Immunsystem besitzen, denen dafür aber Komponenten der menschlichen Körperabwehr implantiert wurden. Das ist ein großer Aufwand, und es ist längst noch nicht sicher, ob man damit wirklich bessere Ergebnisse erzielen kann.

Wissenschaftler:innen machen genauso ungern Tierversuche wie alle anderen Menschen. Und auch wenn sie nicht immer so aussagekräftig sind, wie man es gerne hätte, kann man aus ihnen doch zumindest ein bisschen was lernen, was besser ist als gar nichts.*3 Wenn man aber mit Mäusen arbeitet, sollte man auch offenlegen, dass man das getan hat. Was die Wissenschaft in ihren Fachartikeln natürlich immer macht, die Medien in ihrer Berichterstattung aber oft etwas lockerer sehen. »Ursache von Autismus könnte entdeckt worden sein«, lautet zum Beispiel eine Schlagzeile aus dem Jahr 2019. Oder »Magic Mushrooms regen das Nachwachsen von neuronalen Verbindungen an, die durch Depressionen verloren gingen«. Oder »Neue Therapie heilt Krebs durch eine einzige Injektion«. Oder »Wissenschaftler haben ein Heilmittel für Diabetes gefunden«. Was ja alles sehr gute Nachrichten sind — nur eben vor allem für Nagetiere. Denn all diese Schlagzeilen beziehen sich auf Forschungsarbeiten, die an Mäusen durchgeführt worden sind.

Das gilt leider (oder zum Glück, je nach Sichtweise) auch für Meldungen wie »Great balls of fire: Wie das Erhitzen der Hoden mithilfe von Nanopartikeln eines Tages zur Verhütung genutzt werden könnte«. Dass es Hoden gerne kühl haben, ist bekannt. Deswegen hängen sie ja auch außen am Körper herab und befinden sich nicht im dauerhaft auf 37°C temperierten Inneren. Wird es ihnen zu heiß, stellen sie die Produktion von Spermien ein — was dann wünschenswert ist, wenn man gerne Sex haben, dabei aber keine Nachkommen produzieren möchte. Heute wird die Verantwortung für die Verhütung entweder den Frauen überlassen. Oder man nimmt Kondome, die aber reißen können oder gerade nicht bei der Hand sind, wenn es spontan zur Sache geht. Mit der Studie zu den »Great balls of fire« könnte sich das eventuell ändern. Hoden erwärmen ist an sich recht einfach. Aber sich vor dem Geschlechstverkehr kurz auf die Heizung setzen ist wenig zielführend, da kann man das mit der Verhütung auch gleich bleiben lassen. Die Idee, die chinesische Forscher:innen im Juli 2021 beschrieben haben, geht so: Man bastelt Stäbchen aus Eisenoxid (aka Rost), die mit einer Schicht aus Zitronensäure und Glycol überzogen sind. Die werden in die Vene gespritzt, was relativ problemlos funktioniert, weil die Stäbchen nur knapp 120 Atome lang und 30 Atome breit sind. Dann platziert man einen starken Magneten 4 Stunden lang direkt an den Hoden. Die magnetischen Nanostäbchen werden davon angezogen und sammeln sich dort. Das wiederholt man je nach Bedarf bis zu 4 Tage lang. Dann wird eine elektrische Spule um die Hoden gewickelt und Strom angelegt. Das dabei entstehende Magnetfeld heizt die Nanopartikel auf, und die erwärmen die Hoden von innen und sehr zielgerichtet. Je heißer die Hoden, desto mehr schrumpfen sie, aber sie erholen sich wieder, wenn man es nicht übertreibt und die Temperatur unter 45°C hält. Die Fruchtbarkeit wird nach dieser Behandlung 7 Tage lang reduziert, normalisiert sich aber ebenfalls wieder (zumindest in den meisten Fällen).

Bei Mäusen funktioniert diese Verhütungsmethode wunderbar, wie es bei Männern aussieht, ist unklar. Die Zahl der Versuchspersonen, die sich bereitwillig elektrische Spulen um ihre Hoden wickeln lassen würden, ist vermutlich eher gering. Aber die Forschung geht weiter, und vielleicht reicht in Zukunft ein kurzer Druck auf einen Knopf, und der Satz »Schatz, ich muss nur noch schnell die Hoden wärmen und dann geht’s los« ist uns ebenso vertraut wie die Suche nach den Kondomen.

Dann werden wir uns dafür bei den Mäusen bedanken können. Und damit ihre Rolle in der Forschung auch heute schon gewürdigt wird, gibt es seit 2019 den wunderbaren Twitter-Account @justsaysinmice. Der korrigiert im Netz alle relevanten Nachrichten aus der Wissenschaft, indem er sie mit dem Zusatz »In mice« versieht.

Trotz ihrer seit Jahrhunderten unermüdlichen Arbeit für die Wissenschaft hat bis jetzt noch keine einzige Maus einen Nobelpreis bekommen. Auch nicht im Jahr 2007, da wurden Mario Capecchi, Martin Evans und Oliver Smithies ausgezeichnet, und zwar für ihre Arbeit an Knockout-Mäusen — die keine gentechnisch veränderten Riesennager sind, die ihre Gegner in Boxkämpfen mit einem Schlag k. o. schlagen können. Es geht hier um Mäuse, bei denen man ganz gezielt ein Gen deaktiviert oder durch ein anderes ersetzt hat. Das ist dann praktisch, wenn man ganz genau wissen möchte, welche Auswirkungen ein bestimmtes Gen auf den Organismus hat. Seit die 3 Forscher in den 1980er-Jahren entdeckt haben, wie man das anstellt, sind Tausende unterschiedliche Knockout-Mäuselinien entwickelt worden.

Man muss den Mäusen ja nicht unbedingt ein Denkmal bauen (obwohl man genau so ein Denkmal in der russischen Stadt Nowosibirsk sehen kann, gleich beim Institut für Zytologie und Genetik der Russischen Akademie der Wissenschaften). Aber ein bisschen mehr wertschätzen könnte man ihre Arbeit schon. Denn wer weiß: Sollte Douglas Adams recht gehabt haben mit dem, was er in Per Anhalter durch die Galaxis geschrieben hat, dann sind die Mäuse vielleicht sowieso in Wahrheit die, die bestimmen, was hier auf der Erde passiert.

Small-Talk-Hilfe: Sieger beim Aussterben

Haben Sie schon mal von der Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte gehört? Sie ist nach der Insel Bramble Cay benannt. Die ist 425 Meter lang, 240 Meter breit und liegt am nordwestlichen Ende des Great Barrier Reefs. Viel Platz ist dort nicht, deswegen leben dort auch keine Menschen. Dafür aber die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte. Zumindest hat sie das bis 2016 getan. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen, und das nicht, weil sie sich so gut verstecken kann. Sondern weil die Klimakrise auf der nur maximal 3 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Insel immer wieder Überschwemmungen verursacht hat. Das hat einen großen Teil der dortigen Pflanzenwelt dauerhaft zerstört und damit auch das Habitat der Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte, die sich seitdem als das erste durch die Klimakrise ausgestorbene Säugetier bezeichnen darf. Was sie aber nicht tun kann, weil sie ja nicht mehr da ist.

Die Science Busters 2007

Unsere Themen

1)

7. November 2007

Im Weltall gibt es keine Bohnen: Warum der Mensch zum Mond will und wie

2)

21. November 2007

Wie sprenge ich einen Präsidenten: Von Kofferbomben und Bombenkoffern

3)

12. Dezember 2007

Burn, Motherfucker, burn! Der perfekte Christbaumbrand: Ein physikalischer Adventskalender

4)

16. Januar 2008

Last Exit Mars?: Warum der Mensch zum Mars will und wie

5)

30. Januar 2008

Alien Invasion Austria: Gibt es Leben im All, wie schaut es aus, und was nimmt es zum Aperitif?

So sah der Fahrplan für die ersten fünf Live-Shows der Science Busters aus. Jeden Abend eine neue Show, keine Wiederholungen. 2-mal dasselbe zu machen, würde sie langweilen, haben die beiden Physiker anfangs behauptet. Wer jemals auch nur einen kurzen Blick darauf geworfen hat, wie Forschung und akademischer Alltag tatsächlich ablaufen, weiß, dreister die Wahrheit zu meiden geht kaum. Aber es war eine gute Marketingidee. Jeder Abend eine Premiere. Das macht sonst niemand.

Das hat sich rasch herumgesprochen. Dass sich in der kurzen Zeit kaum fünf ausgefeilte Shows proben und herstellen lassen, scheint zwar klar, aber die Abende haben weitgehend trotzdem gut funktioniert, denn es gab ja in Wirklichkeit jede Menge Probezeit davor. Auf den Universitäten, an denen etwa Heinz Oberhummer jahrzehntelang Vorlesungen gehalten hatte. Und Vorträge auf Konferenzen. Und den Volkshochschulen, an denen Werner Gruber schon jahrelang Kurse unterrichtet hatte. Ein Vortrag ist natürlich keine Theatershow, und in eine Vorlesung kommen die Studierenden, weil sie ein Zeugnis brauchen. Das ist im Theater anders. Da zahlen die Menschen Eintritt und wollen möglichst gute Unterhaltung. Deshalb bestand eine der Hauptaufgaben darin, den beiden Wissenschaftlern beizubringen, dass es nicht egal ist, was man wann sagt und wie, und dass es eine gute Idee ist, auf einer Bühne im Licht zu stehen und nicht irgendwo. Mit dem Gesicht zum Publikum. Und vor allem, dass anders als bei wissenschaftlichen Publikationen, bei denen man zu Beginn alles ins Abstract stopfen muss, in der Hoffnung, dass jemand auch den Rest noch liest, bei einer Bühnennummer die Pointe am Ende kommt. Dass anfängliche Fragen oft nur dazu dienen, das Thema anzukicken, aber nicht gleich beantwortet werden müssen, was die darauffolgende Nummer ja auch einigermaßen überflüssig machen würde. Dass man, im Gegenteil, das Publikum oft auf eine falsche Spur führen sollte, damit die Pointe als die Überraschung funktioniert, als die sie gedacht ist. Und der eingefleischte Solokabarettist musste lernen, mit 2 akademischen Profis als Bühnenlaien eine Show zu spielen, in der die Wissenschaft der eigentliche Star des Abends ist. Und nicht er selber. Dazu musste er quasi Physikerflüsterer werden.

Am 7.11. 2007 war in Wien die Uraufführung der Science Busters

»Im Weltall gibt es keine Bohnen: Warum der Mensch zum Mond will und wie.« Bubenhumor spielte und spielt bei den Science Busters eine beachtliche Rolle, weil man sich damit gut gelaunt dumm stellen kann, um dann was Schlaues zu erzählen. So wurde während der gesamten Show Bohnengulasch zubereitet — mit Zwiebeln-Anschwitzen, -Ablöschen, -Dünsten und was noch so alles notwendig ist —, um am Ende dem Publikum einen Gruß aus der wissenschaftlichen Küche anbieten zu können. Die Premiere (im Rabenhoftheater in Wien) war ausverkauft, das Interesse groß, aber dass es im Weltall deshalb keine Bohnen gibt, weil sich in der Schwerelosigkeit einer Raumstation die Peristaltik derart verhält, dass massive Blähungen die Raumfahrer:innen nicht einfach, wie auf der Erde, mit Schwung und teilweise gut hörbaren Geräuschen verlassen und deshalb von der Crew mit vereinten Kräften aus dem aufgeblähten Astronauten rausmassiert werden müssten, war ein lustiges Bild für alle im Theater. Allerdings war es nicht ganz richtig. Jahre später, als die Science Busters zu ihrem zehnten Jubiläum eine Show mit Österreichs bislang einzigem Astronauten Franz Viehböck spielten, hat der das nicht bestätigen können. Furzen auf einer Raumstation sei wie Furzen im Flugzeug, genauso einfach und oft auch genauso unerwünscht bei den Mitmenschen. Und nur deshalb extra ins Weltall zu fliegen wäre schon ein besonderer Special Interest.

Einen Monat vor der ersten Bühnenshow ging die erste Radiokolumne der Science Busters am österreichischen Sender FM4 on air. Jede Woche eine, bis zum heutigen Tag. 15 Jahre mal 52 Wochen, ergibt? Das können Sie leicht ausrechnen, plus ein paar Zerquetschte, falls Sie das Buch oder Hörbuch ein wenig später konsumieren. Außerdem haben wir in der Frühphase der Corona-Pandemie 2 Monate lang 5 Kolumnen pro Woche veröffentlicht. Weil es so viel Neues zu erklären gab und die Menschen während der Ausgangsbeschränkungen viele Fragen hatten und teilweise auch viel Zeit, um die Antworten zu hören. Und wir hatten auch mehr Zeit, weil nicht getourt werden konnte.

Da FM4 einen Teil seines Programms in englischer Sprache sendet, sollte die Science-Busters-Kolumne auf Englisch verfasst werden. Immerhin sei Englisch ja Wissenschaftssprache, also kein Problem. Dachten erst alle Beteiligten. Wissenschaft für alle war allerdings das Ziel der Science Busters, nicht nur für diejenigen, die Englisch gut genug verstehen, und so hat Martin Puntigam zwischendurch immer wieder alles Gesagte auf Deutsch zusammengefasst. Wie das geklungen hat, wollen Sie nicht wissen, glauben Sie uns.

Die ersten beiden Pilotfolgen existieren tatsächlich noch, werden aber aus sehr guten Gründen unter Verschluss gehalten wie sonst eigentlich ausgestorbene, sehr ansteckende Krankheitserreger im Hochsicherheitslabor.

Relativ schnell konnten sich daher die Sendeleitung und die Wissenschaftswuchtbrummen darauf einigen, die Fachkenntnisse doch besser in der ersten Amtssprache des Landes zu präsentieren.

In Folge 1 wurden die atemberaubenden Kräfte von Bruce Willis verhandelt, der in Die Hard (auf Deutsch: Stirb langsam) durch einen Aufzugsschacht zu fliehen versucht. Im Film ist das außerordentlich beeindruckend, denn er kann mehrere Abstürze in Beinahe-Abstürze verwandeln, durch Geschicklichkeit und schiere Muskelkraft. Wir wollten auch keineswegs das cineastische Vergnügen dieses sehr unterhaltsamen Action-Reißers trüben, sondern ihn nur zum Anlass nehmen, um über Kräfte und Geschwindigkeiten im freien Fall zu referieren. Denn wissenschaftlich stellt sich die Sache grundlegend anders dar. Da hätte Herr Willis deutlich schlechtere Karten als ohnedies schon am Heiligen Abend im Nakatomi Tower von Los Angeles.

Die erste Folge lief Sonntag, den 7. Oktober 2007 irgendwann zwischen 13 und 17 Uhr. (ScienceBusters damals übrigens noch ohne Zwischenraum, weil wir das, grafisch unbedarft, wie wir waren, für zeitgenössisch hielten. Auch auf dem Gebiet sollte sich glücklicherweise eine rasante Verbesserung ergeben, wie in Kapitel 5 ausgeführt wird.) Und so wurde sie auf der Website des Senders angepriesen:

Eine Website als Faksimile — wir sind ja nicht bei den Wilden! Kleiner 20.-Jahrhundert-Scherz. Aber elegant wäre es nicht. Weshalb wir, wie schon in unseren früheren Büchern, einen QR-Code anbieten. Wenn Sie dem folgen, kommen Sie auf unsere Website sciencebusters.at, und dort versammeln wir alle Videos, Hörbeispiele, Fußnoten, Textsorten und Fotos.

Wenn Sie denen nicht folgen wollen, dann natürlich nicht. So geht direkte Demokratie, wie sie alle lieben.

Und ehrlich gesagt hätten auch wir vor der Pandemie nicht gedacht, dass diese komischen Würfel noch einmal ihren Durchbruch schaffen und eine sinnvolle Verwendung finden würden. QR steht übrigens für Quick Response. Mini-Small-Talk-Hilfe zwischendurch.

FM4 Science Busters

Und hier das Originalskript von Folge 1, das wir der Nachwelt sehr gerne zur Verfügung stellen. Das dazugehörige Audiofile finden Sie, wenn sie dem QR-Code folgen. Als »Stinger« bezeichnet man übrigens eine kurze, oft musikalische Abschlusssequenz, die einen Beitrag am Ende kurz und bündig quasi »absticht«. Und die Initialen im Manuskript sind selbsterklärend, nehmen wir an. Ein bisschen was dürfen wir ja auch voraussetzen.

P:Hallo und herzlich willkommen bei unserer neuen Show ScienceBusters.

(fx/Soundeffekt)

Ich bin aber nicht allein, sondern neben mir sitzt, frisch gewaschen und rasiert, Prof. Heinz Oberhummer, Professor für Theoretische Physik an der TU Wien. Hallo. Danke fürs Kommen.

O:Hallo, und danke für die Einladung.

P:Bitte, bitte. Herr Professor, Sie sind ja wirklich ein echter Universitätsprofessor.

O:Jaja.

P:Darf ich Sie einmal angreifen?

O:Gern.

(fx/Soundeffekt)

P:Mhm. Toll. Ein echter Professor, ganz weich. Aber jetzt zur Physik.

O:Und zu Hollywood.

P:Genau. Wir sprechen heute über Bruce Willis im Actionklassiker Die Hard.

O:Jawohl. Und zwar über folgende Szene: Bruce Willis ist auf der Flucht und rettet sich durch einen Sprung in einen Aufzugsschacht.

P:Er fällt über zehn Meter in die Tiefe, alle glauben, adieu, Bruce Willis, was bleibt, ist Faschiertes, bis er sich im letzten Moment noch mit den Fingerspitzen an einem Mauervorsprung festhalten kann. Superspannend.

O:Stimmt, allerdings auch superunrealistisch.

P:Aha?

O:Die Kräfte, die nach so einem Fall auf die Finger wirken, sind so enorm, dass ein Mensch das unmöglich aushalten kann.

P:Vielleicht Sie nicht, weil Sie schon alt sind, aber der junge Bruce Willis?

O:Auch nicht.

P:Kennen Sie ihn persönlich?

O:Nein.

P:Eben.

O:Nach gut zehn Meter freiem Fall erreicht er eine Geschwindigkeit von circa 60 km/h.

P:Aha?

O:Das heißt, auf seine Finger würde eine Kraft von etwa einer Million Newton wirken.

P:Spitze, aber kann sich niemand was drunter vorstellen.

O:Das entspricht fast 100 Tonnen. Er müßte also extrem stark sein.

P:Ist er ja auch, der hat so einen Ärmel …

O:Schon, schon …

P:Wenn er sich gut aufwärmt …

O:Nein, eine Million Newton, 100 Tonnen, das heißt, mit der Kraft könnte er auch einen Jumbo Jet aufheben.

P:Na, na, na, ein Jumbojet hat 400 Tonnen. Mit 100 Tonnen geht sich höchstens eine DC9 aus.

O:Aso, ja, da wissen dann Sie mehr als ich.

P:Herr Professor, ich glaube, Sie kennen den Film gar nicht und reden nur groß.

O:Rechnen Sie doch selber nach.

P:Sicher nicht. Das war’s, schalten Sie nächste Woche wieder ein, wenn es heißt

Stinger

2008

Die große Hadronenschlacht

2008 war das 22. wärmste Jahr seit es Aufzeichnungen gibt. Es befinden sich 386 ppm CO2 in der Atmosphäre.

Am 9. März 2008 starb Arthur C. Clarke, der zwar Mathematik und Physik studiert hatte, dann aber doch eher als Science-Fiction-Autor berühmt geworden ist. Obwohl er durchaus auch gute wissenschaftliche Ideen hatte, zum Beispiel die der geostationären Satelliten, die er 1945 zum ersten Mal beschrieben hat. Die Verfilmung seines Romans 2001 — Odyssee im Weltall hat den Wiener Donauwalzer vermutlich populärer gemacht, als es Herr Strauss sich je zu träumen gewagt hätte.

Am 13. April 2008 starb der amerikanische Physiker John Archibald Wheeler. Er ist in seinem ganzen Leben nicht als Science-Fiction-Autor aufgefallen, sondern vor allem durch das 1973 erschienene Lehrbuch Gravitation, das allein schon durch seine Größe und sein Gewicht eindrucksvoll demonstriert, wie grundlegend das Thema ist. Wheeler war derjenige, der dem Ausdruck »Schwarzes Loch« die Bekanntheit verschaffte, die er heute hat. Und auch Wörter wie das »Wurmloch« gehen auf ihn zurück.

Am 16. April 2008 starb der Meteorologe Edward Lorenz, der in einer der ersten Computersimulationen zum Wetter feststellte, dass die ganze Angelegenheit ziemlich chaotisch ist, und den Begriff »Schmetterlingseffekt« verwendete, um die Sache zu veranschaulichen.

Science-Fiction, Chaos, Schwarze Löcher: Was die 3 Verblichenen des Jahres 2008 nicht mehr fortführen konnten, übernahm quasi nahtlos der »Large Hadron Collider« (LHC) des Europäischen Kernforschungszentrums CERN. Er nahm am 10. September 2008 den Betrieb auf, musste neun Tage später wegen eines Defekts wieder abgeschaltet werden und konnte erst Ende 2009 wieder das machen, wozu er vorgesehen war: nämlich Protonen aufeinanderprallen lassen. Ein Jahr Verzögerung war aber eh vernachlässigbar; immerhin lagen da schon Jahrzehnte der Planung und des Baus hinter dem LHC, und das, was man damit unbedingt entdecken wollte, wartete schon seit Oktober 1964 auf seinen Nachweis.

Damals veröffentlichte der schottische Physiker Peter Higgs seine Arbeit mit dem Titel »Broken symmetries and the masses of gauge bosons«, was auf Deutsch so viel heißt wie »Gebrochene Symmetrien und die Masse von Eichbosonen« — und auch nicht erhellender ist, wenn man keine Ahnung von theoretischer Physik hat. Sehr oft musste Higgs für seine Arbeit nicht in die Tasten hauen, sein Text umfasst nur 5862 Zeichen, inklusive Formeln und Fußnoten. Was wahrscheinlich auch daran liegt, dass er auf jegliche allgemeinverständliche Erläuterung verzichtet hat. Eine Kostprobe? Der erste Satz lautet: »In a recent note it was shown that the Goldstone theorem, that Lorentz-covariant field theories in which spontaneous breakdown of symmetry under an internal Lie group occurs contain zero-mass particles, fails if and only if the conserved currents associated with the internal group are coupled to gauge fields.« Da kaut man doch schon auf den Nägeln und will unbedingt wissen, wie es weitergeht …

Was Peter Higgs (und fast zeitgleich und unabhängig von ihm auch Francois Englert, Robert Brout, Tom Kibble, Carl Hagen und Gerald Guralnik) in seiner Arbeit vorhergesagt hat, war die Existenz eines noch unbekannten Elementarteilchens, das seitdem seinen Namen trägt: Higgs-Boson. (Obwohl Higgs-Englert-Brout-Kibble-Hagen-Guralnik-Boson eigentlich gerechter wäre. Aber wer will das schon ständig sagen oder tippen? Und ein Akronym kann man daraus auch nicht basteln, nicht mal ein schlechtes; es waren einfach zu wenig Leute mit Vokalen am Namensanfang an der Forschung beteiligt. KHEBGH? BEGHKH? Geht nicht …)

Was ist ein Higgs-Boson, und wozu braucht man das? Ein Boson ist ein Teilchen, das sich nach der Bose-Einstein-Statistik verhält. Und dass man sie nicht »Einsteinonen« genannt hat, lag vermutlich daran, dass der indische Physiker Satyendranath Bose zwar nicht ganz so berühmt wie sein Kollege mit der wirren Frisur ist, aber den handlicheren Nachnamen hat. Und falls jemand die Details der Bose-Einstein-Statistik nicht sofort parat hat: Da geht es um Teilchen, die einen ganzzahligen Spin haben. Bevor Sie anfangen, sich den Spin vorzustellen — hören Sie ganz schnell wieder auf, das bringt nichts. Aber dazu kommen wir später noch. Am besten kann man sich die ganze Teilchensache so imaginieren: Es gibt Teilchen, aus denen Materie besteht. Quarks zum Beispiel oder Elektronen (die werden übrigens mit der Fermi-Dirac-Statistik beschrieben und heißen »Fermionen«, obwohl »Diracionen« auch nicht viel schlechter gewesen wäre). Und zwischen den Teilchen wirken Kräfte, zum Beispiel der Elektromagnetismus. Diese Kräfte kann man sich auch als durch Teilchen übertragen vorstellen. Beim Elektromagnetismus wäre so ein Austauschteilchen das Photon. Ein Teilchen schickt ein Photon los, ein anderes Teilchen fängt es ein und weiß dann: Aha, jetzt wirkt also der Elektromagnetismus auf mich!

So oder so: Jede Kraft wird im Rahmen des »Standardmodells der Teilchenphysik« von Teilchen vermittelt, und das sind die eben gerade genannten Bosonen. Und laut diesem Modell sind diese Austauschteilchen masselos. Laut Realität aber nicht: Die Messungen zeigen, dass manche Bosonen durchaus eine große Masse haben. Wo kriegen sie die her? Durch das Higgs-Boson! Das ist in der Angelegenheit eigentlich nur ein Nebendarsteller, es geht um das Higgs-Feld. Das ist überall im Universum zu finden, und jedes Teilchen hängt sich mehr oder weniger stark an dieses Feld dran. Manche Teilchen spüren das Higgs-Feld gar nicht und rauschen einfach durch es hindurch — sie scheinen für uns also keine Masse zu haben. Andere Teilchen wechselwirken intensiver mit dem Higgs-Feld, was dann für uns so aussieht, als seien sie »schwerer« und hätten eine Masse. Das Higgs-Boson selbst hat auch eine Masse, weil es mit seinem eigenen Feld wechselwirkt. Es ist eine »Anregung« des Higgs-Felds, also vereinfacht gesagt das, was rauskommt, wenn man die richtige Menge an Energie ins Feld hineinsteckt.

Nachdem Higgs (Peter, nicht das Boson) diese Idee im Jahr 1964 formuliert hat, wäre es natürlich schön zu wissen, ob sie auch richtig ist. Die Existenz von Teilchen vorherzusagen ist simpel; das kann man schnell tun. Aber wie findet man heraus, ob das Teilchen auch wirklich existiert?

Früher war das Entdecken noch einfach: Da musste man nur in die frisch kolonialisierten Weltgegenden außerhalb von Europa fahren und sich ein wenig umsehen. Man konnte einfach durch den Dschungel hirschen und links und rechts neue Pflanzen und Tiere entdecken. Ein Fluss? Wird sofort entdeckt; und wenn die ungebildeten Eingeboren behaupten, dass der eh auch vorher schon da war und sogar schon einen Namen hat, dann wird das einfach ignoriert. Wenn man sich ein bisschen beeilte, konnte man sogar ganze Kontinente entdecken. Ein Higgs-Boson liegt aber nicht einfach so in der Gegend rum. Und selbst wenn, dann wäre es viel zu klein, um mit dem Finger drauf zeigen und »Ha! Da ist es!« rufen zu können.

Und dann sind die meisten der Elementarteilchen nicht einmal stabil. Zum Beispiel das Top-Quark, das man erst 1995 entdeckt hat. Wenn eins davon irgendwo existiert, dann ist es 50 Quadrillionstel Sekunden später schon wieder weg. Aus der Energie, die im Top-Quark steckte, haben sich dann ein Bottom-Quark und ein W-Boson gebildet, deren Namen man sich aber gar nicht erst merken muss. Nach weiteren 30 Quadrillionstel Sekunden ist das W-Boson zerfallen, und das Bottom-Quark ist nach einer Billionstelsekunde wieder weg. Am Ende bleiben Energie und ein paar stabile Elementarteilchen übrig (Neutrinos zum Beispiel). Aber die kennen wir schon, die brauchen wir nicht entdecken. Wie macht man das jetzt also? Schnell schauen hilft offenbar nicht. Sondern nur Statistik und ein ausreichend großer Teilchenbeschleuniger, so wie der LHC.

Der besteht aus einem unterirdischen Ring mit einer Länge von 26,7 Kilometern. Innen drin herrscht ein Vakuum, außen herum extrem starke Magnetfelder, und beides braucht man, wenn man Protonen möglichst schnell aufeinanderprallen lassen möchte. Durch das Magnetfeld werden sie beschleunigt, und zwar immer ein ganzer Haufen einmal. Eine Gruppe in die eine Richtung, die andere in die andere Richtung. Das Magnetfeld sorgt dafür, dass sie sich nicht gegenseitig in die Quere kommen. Das passiert erst dann, wenn sie schnell genug geworden sind, denn je schneller sie sind, desto mehr Energie steckt in ihnen. Wenn man sie dann aufeinanderprallen lässt, wird die ganze in ihnen steckende Energie frei. Das Ziel des LHC war es, Kollisionsenergien von 7 Tera-Elektronenvolt zu erreichen. Also 7 Billionen Elektronenvolt — was nach sehr viel klingt, in Wahrheit aber nicht viel ist. 7 TeV entspricht einer Energie von 0,0000000003 Kilokalorien. Davon wird man nicht dick; das ist ungefähr die Energie, die man spürt, wenn einem eine Mücke gegen die Nase fliegt. Eine Mücke ist aber auch sehr, sehr viel größer als ein Proton, und darauf kommt es an. Die Energie von 7 TeV wird auf einem sehr kleinen Raum frei.