Wissenschaft und allgemeines Denken - J. Robert Oppenheimer - E-Book

Wissenschaft und allgemeines Denken E-Book

J. Robert Oppenheimer

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Beschreibung

■ Newton: Der Pfad des Lichts ■ Wissen als Werkzeug: Rutherfords Welt ■ Wissenschaft im Umbruch ■ Atom und leerer Raum im dritten Jahrtausend ■ Ungewohntes Denken ■ Der Mensch in der Gemeinschaft ■ Enzyklopädisches Stichwort: Wissenschaft und allgemeines Denken ■ Erklärung einiger Fachausdrücke ■ Literaturhinweise ■ Namen- und Sachregister

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J. Robert Oppenheimer

Wissenschaft und allgemeines Denken

Aus dem Englischen von Helmtraut Menien

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

■ Newton: Der Pfad des Lichts

■ Wissen als Werkzeug: Rutherfords Welt

■ Wissenschaft im Umbruch

■ Atom und leerer Raum im dritten Jahrtausend

■ Ungewohntes Denken

■ Der Mensch in der Gemeinschaft

■ Enzyklopädisches Stichwort: Wissenschaft und allgemeines Denken

■ Erklärung einiger Fachausdrücke

■ Literaturhinweise

■ Namen- und Sachregister

Über J. Robert Oppenheimer

J. Robert Oppenheimer (1904–1967) war ein amerikanischer theoretischer Physiker deutsch-jüdischer Abstammung. Er gilt als «Vater der Atombombe».

Inhaltsübersicht

VorwortI. Newton: Der Pfad des LichtsII. Wissen als Werkzeug: Rutherfords WeltIII. Wissenschaft im UmbruchIV. Atom und leerer Raum im dritten JahrtausendV. Ungewohntes DenkenVI. Der Mensch in der GemeinschaftAnhang I: QuellenSir Isaac NewtonThomas SpratThomas JeffersonThomas HobbesGedächtnisurkunde aus dem Turmknopf der Margarethen-Kirche zu GothaAlexis de TocquevilleAnhang II: Einige bibliographische HinweiseEnzyklopädisches Stichwort: Wissenschaft und allgemeines Denken (Zur vorherigen Lektüre empfohlene Einführung in den Problemkreis, dem das Thema entstammt)Über den VerfasserErklärung einiger FachausdrückeBiographische Daten erwähnter PhysikerLiteraturhinweiseDeutsche LiteraturAusländische LiteraturNamen- und SachregisterNamenregisterSachregister

Vorwort

Die sechs Kapitel dieses Buches enthalten die Reith Lectures, die im Heimatprogramm der British Broadcasting Corporation während der Monate November und Dezember 1953 gehalten wurden. Sie sind im wesentlichen so abgedruckt, wie sie gesendet wurden. Ich habe zwei Anhänge hinzugefügt.

In dem einen Anhang habe ich die Texte zusammengestellt, auf die in den Vorträgen Bezug genommen wird. Die Texte erscheinen mir als solche interessant. Jedenfalls ist eine ausführlichere Wiedergabe der sicherste Weg, eine etwaige Entstellung oder Färbung, die meine kurzen Zitate verursacht haben könnten, zu korrigieren. In einigen Fällen mögen die Texte den Wunsch zum Weiterlesen wecken.

Im zweiten Anhang habe ich ein kurzes, keineswegs vollständiges bibliographisches Verzeichnis von Werken über die Atomtheorie und deren Interpretation gegeben.

J.R.O.

I. Newton: Der Pfad des Lichts

Die Wissenschaft hat die Lebensumstände des Menschen verändert. Sie hat die materiellen Umstände verändert. Und damit hat sie unsere Arbeit und unsere Muße, unsere Macht und die Grenzen der Macht des Einzelnen wie der menschlichen Gemeinschaften, die Mittel und Werkzeuge wie den Inhalt unserer Erfahrung, die Art und die Form, wie sich uns die Frage nach Recht und Unrecht stellt, verwandelt. Sie hat die Gemeinschaften verwandelt, in denen wir leben und fühlen, erkennen und handeln. Sie hat ein brennendes allgegenwärtiges Gefühl des Wandels selber in unser persönliches Leben getragen. Und die wissenschaftlichen Ideen haben die Vorstellung des Menschen von sich selbst und von der Welt verwandelt.

Diese Wandlungen zu beschreiben, ist nicht einfach; der Möglichkeiten, sich zu irren, sind viele. Die großen materiellen Entwicklungen, die Wissenschaft und Technik heraufgeführt haben – Maschinen zum Beispiel oder Erschließung und Nutzbarmachung der gewaltigen natürlichen Energiequellen, Verlängerung der Lebensdauer, Verstädterung, neue Zerstörungswaffen, neue Mittel des Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung –, bieten eher Stoff für die Untersuchungen der Volkswirtschaftler und für die Erkenntnisse und Einsichten der Historiker. Sie sind nur Einzelzüge im verwirrenden Bild des menschlichen Lebens. Sie endgültig und erschöpfend zu deuten, dürfte heute ebensowenig möglich sein wie in anderen Epochen der Geschichte.

Angesichts der unmittelbaren Wirkung der wissenschaftlichen Entdeckungen auf die Vorstellung des Menschen von Dingen, die selber kein Gegenstand der Wissenschaft sind, steht, wer der Ideengeschichte nachgehen will, vor einem ähnlichen Problem. Wenn man sich vergegenwärtigt, was der eine oder andere über seine Vorstellungen gesagt, wer diese oder jene Vorstellung gehabt hat und warum, dann stellt man fest, daß das Zufällige und Unberechenbare, die eigentümliche Größe oder Blindheit einzelner Menschen – wie seit je in der Geschichte – eine bestimmende Rolle spielen. Man stellt sogar fest, daß die Erkenntnisse großer Wissenschaftler in deren Namen mit Anschauungen und Einstellungen gleichgesetzt werden, die ihnen ganz und gar fern liegen, ja manchmal ganz und gar entgegengesetzt sind. Sowohl EINSTEIN als auch NEWTON gelangten zu Synthesen und Einsichten, die so zwingend und großartig waren, daß sie die Berufsphilosophen zu der großen, nicht immer angenehmen Anstrengung des Umdenkens nötigten. Waren auch der Glaube an den materiellen Fortschritt, die fröhliche Zuversicht und die relative Gleichgültigkeit gegenüber der Religion, die für die Aufklärung charakteristisch waren, dem Wesen und Denken NEWTONs so fremd wie nur irgend möglich, so hielt dies die Menschen der Aufklärung doch nicht davon ab, ihn als deren Schutzheiligen und Propheten zu betrachten. Ebenso verwechselten die Philosophen und Popularwissenschaftler der Gegenwart die Relativität mit dem Relativismus und behaupteten von EINSTEINs großen Arbeiten, sie tasteten die Gegenständlichkeit, Sicherheit und die Gesetzlichkeit der physikalischen Welt an, während doch feststeht, daß EINSTEIN seine Relativitätstheorie als einen weiteren Schritt im Sinne der Lehre SPINOZAs sieht, wonach es die höchste Aufgabe des Menschen ist, die Natur und ihre Gesetze zu erkennen und zu begreifen.

Oft kann gerade die Tatsache, daß die Wissenschaft die gleichen Worte benutzt, wie wir sie im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Sprache gebrauchen, eher irreführend als erhellend, eher hemmend für das Verständnis sein als eine klar als solche erkennbare Fachsprache. Denn wissenschaftliche Ausdrücke wie Relativität oder Atom oder Mutation oder Aktion haben als Fachausdrücke eine Verfeinerung, Begrenzung und am Ende einen völligen Bedeutungswandel erfahren.

Daher tun wir gut, Vorsicht walten zu lassen, wenn wir fragen, ob direkte Zusammenhänge bestehen zwischen den Wahrheiten, die die Wissenschaft aufdeckt, und den Vorstellungen, die die Menschen im allgemeinen von den Dingen haben: ihrer Metaphysik, dem, was für sie das Wirkliche und Letzte ist; ihrer Erkenntnislehre, ihrer Auffassung von dem, was für sie menschliches Erkennen ausmacht; ihrer Ethik, der Art, wie sie, vor menschliche Probleme von Recht und Unrecht, Gut und Böse gestellt, denken, sprechen, urteilen und handeln – und, wenn ja, welcher Art diese Zusammenhänge sind.

Solche Beziehungen, d.h. Beziehungen zwischen den Feststellungen der Wissenschaft und den allgemeinen Anschauungen der Menschen, bestehen in der Tat, und sie sind tiefgreifend, eng und mannigfaltig. Wenn ich das nicht glaubte, würde ich kaum mit diesen Vorträgen den Versuch unternehmen zu erläutern, was es ist, das die neuen Funde der Atomphysik für die Menschen bedeutungsvoll, nützlich und ermutigend macht. Aber diese Beziehungen haben, meine ich, nichts logisch Zwingendes. Das hat seinen Grund darin, daß die Wissenschaft als solche, wenn auch nicht unmetaphysisch, so doch zum mindesten nichtmetaphysisch ist. Sie setzt den gesunden Menschenverstand ebenso als gegeben voraus wie einen Großteil der bisherigen Ergebnisse der Einzelwissenschaften. Und wo sie etwas hinzufügt, ändert oder aufhebt, läßt sie sehr vieles andere ununtersucht bestehen. So neigt die Wissenschaft – zum Ärger vieler – dazu, Ausdrücke wie ‹wirklich› und ‹endgültig› in ihren Behauptungen zu vermeiden. Wenn wir wissenschaftliche Erkenntnisse schildern, stehen diese besonderen Umstände ihres Zustandekommens immer im Hintergrund unseres Bewußtseins, und das schützt uns davor, ihnen eine unbegrenzte und allgemeine Gültigkeit zuzuschreiben. Einige Beispiele mögen dies erläutern.

 

Wir haben die Atome entdeckt. In vieler Hinsicht verhalten sie sich wie die Atome der Atomisten. Sie sind es, aus denen sich die Materie aufbaut; ihre Anordnung und Bewegung bestimmen weitgehend, ja fast ganz die gemeinhin beobachtbaren Eigenschaften der Materie. Aber weder sie noch die kleineren, einfacheren Teilchen, aus denen sie sich zusammensetzen, sind ewig, gleichbleibend und unwandelbar. Sie verhalten sich nicht wie Gegenstände von fester Gestalt und harter Körperlichkeit. Diese Feststellung mag es nahelegen, die Ansicht zu verneinen, daß die Welt aus festen, unveränderlichen, äußerst harten kleinen Kugeln und anderen Körpern besteht; aber sie zwingt nicht zu dieser Schlußfolgerung, denn man kann immer noch den Standpunkt vertreten, daß es bis jetzt nur nicht gelungen ist, die wahren Atome, die unveränderlichen, unzusammengesetzten Atome, zu entdecken, daß es sie aber dessen ungeachtet gibt und daß die Physik erst, wenn sie sie gefunden hat, vor der endgültigen Wirklichkeit stehen wird. Darüberhinaus kann man den Standpunkt vertreten, daß diese Atome, obwohl sie vielleicht niemals durch physikalische Versuche nachgewiesen werden können, die allem, einschließlich der Welt der Physik, zugrundeliegende Wirklichkeit sind.

Oder aber nehmen wir unsere Entdeckung, daß die Lichtreize auf ihrem Wege von der Netzhaut des Auges zum Gehirn in ihrer geometrischen Anordnung dem Gesehenen immer unähnlicher werden. Das kompliziert vielleicht die Ansicht, daß die Wahrnehmung ein geometrisch genaues Abbild des Gesehenen ist, und schränkt ihre Gültigkeit ein. Aber es kann und muß sie nicht gänzlich unhaltbar machen.

Der Wissenschaftler wiederum wird sich, gleichgültig, was er feststellt, ja, gleichgültig, was sein Arbeitsgebiet ist, bewußt sein, daß er sich bei seiner Suche nach der Wahrheit mit anderen Menschen in Verbindung setzen, über die Beurteilung der Ergebnisse seiner Beobachtungen und Versuche einigen und in einer gemeinsamen Sprache über die Instrumente, Apparate, Gegenstände und Verfahren, die er und andere gebrauchen, verständigen muß. Er wird sich dessen bewußt sein, daß er fast alles, was er weiß, aus den Büchern, durch die Taten und Worte anderer Menschen gelernt hat; und insofern ihm diese Erlebnisse gegenwärtig sind und er ein nachdenklicher Mensch ist, wird er zögern zu glauben, daß nur sein eigenes Denken wirklich und alles andere Illusion sei. Doch auch diese Ansicht ist rein logisch nicht unhaltbar; von Zeit zu Zeit wird sie vielleicht seinen Geist bewegen.

Obwohl alle Zweige der Wissenschaft zahllose Beispiele für die Wechselbeziehung zwischen allgemeinem Gesetz und veränderlichen Erscheinungen liefern, und obwohl die Fortschritte der Wissenschaft sehr zur Bereicherung unserer Vorstellungen von dieser Wechselbeziehung beigetragen haben, so zwingen wissenschaftliche Erkenntnisse, wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliches Interesse weder zur Annahme noch zur Ablehnung des Glaubens, daß die veränderlichen Erscheinungen dieser Welt Schein und daß nur die unveränderlichen und ewigen Ideen Wirklichkeit sind.

Wenn wir gelernt haben – wie wir es lernen mußten –, daß das Geschehen in der atomaren Welt nicht kausal durch eine genau umrissene wirksame Ursache bestimmt wird, wenn wir gelernt haben, uns darauf einzustellen, uns gleichzeitig aber bewußt zu bleiben, daß für alles übrige Geschehen im Bereich der gewöhnlichen Dinge und Vorgänge die mangelnde Kausalität im atomaren Bereich ohne Bedeutung und ohne Folgen ist, so ist doch damit nichts darüber ausgesagt, ob ein Mensch das Geschehen in der Welt ganz allgemein als kausal bedingt ansieht oder nicht.

Alle diese Beispiele zeigen, daß zwischen dem, was die Wissenschaft feststellt, und dem, was der eine oder andere Philosoph oder die eine oder andere philosophische Schule in großer Ausführlichkeit über irgendeine jetzt der Wissenschaft zugängliche Erfahrungstatsache gesagt hat, durchaus ein Gegensatz bestehen kann. Aber sie zeigen auch, daß, wenn Beziehungen bestehen zwischen dem, was die Wissenschaften von der Welt enthüllen, und den Vorstellungen, die sich die Menschen von den Vorgängen in der Welt machen, die noch nicht von der Wissenschaft erforscht sind oder vielleicht niemals erforscht werden mögen, diese Beziehungen nichts logisch Zwingendes haben; es sind keine absoluten, notwendig gebotenen Beziehungen, und sie sind nicht von der Art, daß sich Einheit und Zusammenhang einer geistigen Gemeinschaft ganz auf sie gründen können.

Aber wenn diese Beispiele erkennen lassen, daß das, was die wissenschaftliche Forschung erbringt, wie nach ihrem Wesen und ihren Bedingungen zu erwarten, keineswegs darüber entscheidet oder entscheiden kann, was die Menschen für wirklich und wichtig halten, so müssen sie doch auch zeigen, daß es hierfür Bedeutung hat – eine für verschiedene Menschen verschiedene Bedeutung, die außerdem mancherlei Einflüssen außerhalb des wissenschaftlichen Bereichs unterliegt. Diese Bedeutung liegt in einer Art Analogie, oft tiefgehend und weitreichend, zwischen Anschauungen, die sich aus einer wissenschaftlichen Untersuchung ergeben haben oder durch sie erhärtet worden sind, und Anschauungen, die sich auf metaphysische, erkenntnistheoretische, politische und ethische Probleme beziehen. Der Erfolg einer kritischen oder skeptischen Einstellung in wissenschaftlichen Dingen mag zu einem skeptischen Verhalten in politischen und ethischen Dingen führen; die Aufstellung einer sich als äußerst wertvoll erweisenden umfassenden Theorie mag zur Suche nach einer vereinfachten Form der menschlichen Einrichtungen führen. Das Beispiel schneller Fortschritte in der Erkenntnis mag die Menschen zu der Überzeugung gelangen lassen, daß Unwissenheit die Wurzel alles Übels ist und daß der Unwissenheit ein Ende bereitet werden kann.

All das ist geschehen und wird unzweifelhaft wieder geschehen. Das heißt, wir müssen, wenn wir Mut schöpfen wollen aus dem wohltätigen Einfluß, den die Wissenschaft auf das allgemeine Denken haben kann, Maß halten und uns immer bewußt bleiben, daß die Beziehungen zwischen der einen und dem andern nicht unbedingt und zwangsläufig dem Menschen zum Besten dienen.

Es ist nun meine Überzeugung, daß das Neue, das uns die Wissenschaft gelehrt hat, und besonders das, was uns die Atomphysik gelehrt hat, uns verläßliche, bedeutungsvolle und überaus nötige Analogien für menschliche Probleme liefert, die außerhalb der heutigen Domäne der Wissenschaft und ihrer heutigen Grenzgebiete liegen. Bevor ich von dem Neuen spreche, muß ich kurz – und sei es auch stark vereinfacht – das Wissen und die Überzeugungen umreißen, von denen es sich abhebt und die es in gewissem Sinne berichtigt. Dabei sollten wir uns vor Augen halten, daß die allgemeinen Vorstellungen vom Denken und von der Gemeinschaft der Menschen, die durch die Entdeckungen der Atomphysik beleuchtet werden, ihrem Wesen nach keineswegs völlig unbekannt, völlig unerhört und neu sind. Auch in unserer Kultur haben sie ihre Geschichte, und im buddhistischen und im hinduistischen Denken nehmen sie einen noch wichtigeren und zentraleren Platz ein. Was wir finden werden, ist eine Bestätigung, Belebung und Vertiefung alter Weisheit. Und wir werden uns nicht darüber zu unterhalten brauchen, ob sie in dieser veränderten Form alt oder neu ist.

So möchte ich nun zwei Skizzen vom Hintergrund des neuen Wissens unseres Jahrhunderts entwerfen. Die erste zeigt das Bild von der Natur, das in den Jahren zwischen der Geburt von DESCARTEs und NEWTONs Tod Gestalt gewann, durch das ganze 18. Jahrhundert in Geltung blieb und, ungeheuer bereichert und ausgestaltet, zu Beginn unseres eigenen Jahrhunderts immer noch grundlegend war.

Die zweite Skizze zeigt, zu welchen Methoden, Hoffnungen und Zielen sowie zu welcher Lebensanschauung die Erkenntnisse des 17. und 18. Jahrhunderts die Männer der Wissenschaft und der Praxis führten, gewisse Züge des Zeitalters der Aufklärung also, das wir heute als einen so wesentlichen Bestandteil unseres Erbes, als für uns so notwendig und dennoch so ungenügend erkennen.

Mehr als eine große Umwälzung hatte stattgefunden und war schon fast wieder vergessen, als das 17. Jahrhundert sein physikalisches Weltbild formte. Der jahrhundertealte Streit, ob Ruhe oder gleichförmige Bewegung der normale Zustand eines kräftefreien Körpers sei, beunruhigte die Gemüter der Menschen nicht mehr. NEWTONs erstes Gesetz hatte die großartige, für die alltägliche Erfahrung so befremdende Erleuchtung gebracht, daß Bewegung, solange sie gleichförmig ist, keiner Begründung und keiner Erklärung bedarf. Die weniger einschneidende, aber weit mehr Aufregung verursachende kopernikanische Revolution war bereits Geschichte: Die Erde drehte sich um die Sonne. Die Körperwelt wurde als bewegte Materie begriffen. Die Bewegung war erfaßbar durch den Impuls oder die Bewegungsgröße der Körper, die sich nur durch einen äußeren Anlaß änderte; es war die Kraft, welche die Änderung bewirkte. Diese Kraft war unmittelbar und nahewirkend. Sie erzeugte eine Änderung des Impulses, und so konnte jede Bahn analysiert werden auf Grund der Kräfte, welche die Körper von der gleichförmigen Bewegung abweichen ließen. Die physikalische Welt war eine Welt der differentiellen Gesetzmäßigkeit, eine Welt, in der die an einem bestimmten Punkt und in einem bestimmten Augenblick vorhandenen Kräfte und Bewegungen mit denen an einem räumlich und zeitlich in unendlich kleinem Abstand davon liegenden Punkt verknüpft waren. So konnte das gesamte Geschehen in der physikalischen Welt in immer kleinere Abschnitte zerlegt und an jedem die Ursache einer Änderung auf Grund der Kenntnis der Kräfte angegeben werden.

Von diesen Kräften war die im Weltall wichtigste – die den Lauf der Planeten im Weltenraum und den Fall der Geschosse auf der Erde beherrschte – von NEWTON im Gesetz der Schwere gefunden worden. War auch sie etwas, das sich von Ort zu Ort fortpflanzte, das nur von Augenblick zu Augenblick, von Punkt zu Punkt beeinflußt wurde, oder war sie eine Eigenschaft, die der Materie im Ganzen zukam, eine Wechselwirkung, die irgendwie gesetzt war, zwischen räumlich voneinander entfernten Körpern zu bestehen? NEWTON sollte diese Frage niemals beantworten; aber er und mehr noch HUYGENs legten mit ihren Untersuchungen über die Ausbreitung des Lichtes den Grund für eine ganz bestimmte Vorstellung – eine Vorstellung, bei der dem leeren Raum der Atomisten viel von seiner Leere verloren gehen und er Eigenschaften von den in ihm befindlichen Körpern annehmen sollte, die ihrerseits wieder weit von diesen entfernte Körper beeinflussen.

Erst im 19. Jahrhundert und mit FARADAY begann man, die ganze Erfülltheit des Raumes zu begreifen: daß er nicht nur der Sitz der Gravitationskräfte sein konnte, die von der schweren Masse der Körper ausgehen, sondern auch der elektrischen und magnetischen Kräfte, die von elektrischen Ladungen ausgehen. Selbst schon zu NEWTONs Zeiten stand fest, daß ungeheuer starke Kräfte der Materie ihre Festigkeit verleihen. NEWTON schrieb:

‹Bei Würdigung all dieser Dinge will mir scheinen, daß Gott anfangs die Materie in Gestalt fester, massiver, harter, undurchdringlicher und beweglicher Partikel schuf, und zwar in solchen Größen und Formen und mit solchen Eigenschaften und in solcher Verteilung im Raum, wie es dem Zweck, zu dem Er sie schuf, am besten diente, und daß diese Ur-Partikel als die festen Körper, die sie sind, unvergleichlich viel härter als alle aus ihnen zusammengesetzten porösen Körper sind, ja, so unsagbar hart, daß sie sich niemals verbrauchen oder in Stücke brechen und keine gewöhnliche Macht es vermag, das zu trennen, was Gott am ersten Tage der Schöpfung zusammengefügt hat.[*]›

NEWTON erkannte, daß das, was die Atome zusammenhielt, und die Materie hervorbrachte, eine Kraft von unerhörter Stärke sein mußte, und er bedachte ihr Vorhandensein niemals ohne das Gefühl, vor etwas Geheimnisvollem und Ehrfurchtgebietendem zu stehen. Er wußte ebensowenig, wie wir es heute wissen, auf welch verwickelte Weise diese Kraft vielleicht mit der Gravitation verwandt sein mochte oder nicht.

Aber vielen seiner Zeitgenossen und Nachfolger erschienen Fragen dieser Art weniger bedeutsam als die Gewißheit, daß man, wenn einmal die Kräfte bekannt waren, den Lauf der Natur vorhersagen konnte und ebenso, wie man das Gravitationsgesetz gefunden hatte, auch anderen Kräften durch Beobachtung und Analyse ihr Geheimnis würde entreißen können. Erst in unserem Jahrhundert haben wir begonnen, auch anderen Fällen einer Antinomie, einer offensichtlichen Unvereinbarkeit der differentiellen Beschreibung der Natur, Punkt für Punkt und von Augenblick zu Augenblick, mit dem einheitlichen, umfassenden Gesetz und Geschehen auf die Spur zu kommen. Erst in unserem Jahrhundert haben wir erkennen müssen, wieviel Unerwartetes und Ungewohntes diese Beziehung zwischen den Körpern und Atomen auf der einen Seite und dem von Licht, Elektrizität und Gravitationskräften erfüllten Raum auf der anderen Seite bergen konnte.

Für das 18. Jahrhundert war die Welt ein riesiger Mechanismus. Sie war eine kausale Welt, gleichgültig ob nun die Gravitation und die anderen Kräfte, die auf die Körper einwirkten, ihnen auf Grund ihres Wesens oder auf Grund des Willens Gottes anhafteten oder ob sie nach ebenso unerbittlichen Gesetzen, wie es die Bewegungsgesetze waren, aus den Eigenschaften des Raumes erwuchsen, die diesem von den in ihm befindlichen Körpern mitgeteilt wurden. Alles Geschehen hatte seine vollständige, unmittelbare, es bewirkende Ursache. Die große Maschine ging ihren fest bestimmten Gang. Dem Menschen war es theoretisch – und vielleicht auch praktisch – möglich, das gegenwärtige Geschehen und damit das zukünftige vollständig zu erkennen. Die Gegenstände, mit denen die Welt erfüllt war – die Himmelskörper, die undurchdringlichen Atome und alle aus ihnen zusammengesetzten Dinge – wurden erforscht durch Beobachtung und planmäßigen Versuch. Niemandem wäre auch nur der Gedanke gekommen, daß sie in ihrem Dasein und in ihren Eigenschaften durch die Beobachtungen, die über sie aussagen sollen, verändert und beeinflußt werden könnten. Die riesige Maschine ging nicht nur ihren kausal und fest bestimmten Gang; sie war auch objektiv in dem Sinne, daß kein menschliches Handeln oder Eingreifen ihr Verhalten beeinflussen konnte.

Eine so gesehene Welt mußte die große Kluft zwischen Objekt und Idee noch vertiefen. Sie war weitgehend verantwortlich für die langen kritischen und später irrationalen und mystischen Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Erkennendem und Erkanntem, die mit JOHN LOCKE einsetzten und wohl auch heute noch nicht endgültig abgeschlossen sind.

Selbstverständlich wurden die harten Konturen des Bildes von der gigantischen Maschine und der ungeheuren Kluft zwischen ihr und dem erkennenden menschlichen Geist, der über sie nachdachte und ihre Eigenschaften erforschte, schon bald durch mancherlei Ergebnisse der Wissenschaft, die das 18. und 19. Jahrhundert brachten, gemildert und verfeinert. So durch die bedeutenden Ergebnisse der Statistik, die es schließlich möglich machten, das menschliche Nichtwissen ausdrücklich als Faktor bei der Berechnung des Verhaltens physikalischer Kräfte einzusetzen. So auch durch die Chemie, deren Vorgänge, ungeachtet ihrer endgültigen Beschreibung, augenscheinlich so gar nicht aus den Bewegungen der Materie folgen. So schließlich ganz besonders durch die Biologie, bei der die offensichtlichen und zwangsläufigen Bewegungen der Materie nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch bei genauerer Untersuchung nur ganz am Rande für das, was biologische Erscheinungen fesselnd macht, von Bedeutung zu sein scheinen.