With you until sunrise - Nicole Fisher - E-Book

With you until sunrise E-Book

Nicole Fisher

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Beschreibung

Mit letzter Kraft schafft es Camy nach Kanada und ist endlich in Sicherheit. Doch ihr Herz ist gebrochen, denn Chris, ihr Beschützer, hat sich für sie geopfert. Für Camy gibt es keine Hoffnung, keinen Trost mehr, und sie findet nur mühsam ins Leben zurück. Bis sie eines Tages eine geheime Botschaft erreicht, die alles verändert. In Camy wird neuer Mut erweckt, sich ihren Verfolgern ein letztes Mal zu stellen und für die Liebe ihres Lebens zu kämpfen.

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Seitenzahl: 347

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TRIGGERWARNUNG

Dieses Buch enthält Szenen von Gewalt und Sexualität.

Originalausgabe © 2022 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von Zero Werbeagentur, München Coverabbildung von Getty Images / oxygen, Shutterstock / Carlos Amarillo E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783745703504www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für dich, weil du es wert bist.

PROLOG

Die meisten Wolken ziehen an uns vorüber, ohne dass wir sie bemerken. Ein kleiner Teil von ihnen weigert sich jedoch, unentdeckt zu bleiben. Diese besonderen Wolken beschwören Stürme oder Regen herauf. Sie verdunkeln die Welt und bringen unsere Pläne durcheinander.

Ebenso verhält es sich mit Menschen.

Der Großteil läuft an uns vorbei, ohne dass wir sie wahrnehmen oder ihnen einen zweiten Blick widmen. Ein winziger Teil hingegen verändert unser Leben. Sie schleichen sich in unser Herz, und wir spüren instinktiv, dass sie in unserer Nähe sind. Ihre bloße Anwesenheit beschleunigt unseren Puls und lässt jeden noch so langweiligen Alltag plötzlich bunt und fröhlich erscheinen. Aber anders als bei Wolken folgt auf ihr Verschwinden weder Sonne noch klare Luft. Wenn wir diese besonderen Menschen verlieren, hinterlassen sie einen undurchdringbaren Schatten. Einen, der unserem weiteren Leben das Licht raubt und uns in absoluter Finsternis zurücklässt.

»Miss, darf ich Ihnen etwas bringen?«

»Whisky«, erwidere ich rau. »Einen doppelten bitte.«

Die Stewardess sieht von meinem fahlen Gesicht zu meinen Händen hinab. Vermutlich rätselt sie, weshalb ich Verbände um die Handgelenke trage und was mich zu diesem erbärmlichen Häufchen Elend hat werden lassen, das im Sitz beinahe versinkt. Kein Szenario, das sie sich ausmalt, kann an die schreckliche Realität heranreichen, da bin ich mir sicher.

»Ich bringe Ihnen sofort den Drink«, sagt sie höflich und wirft mir ein mitfühlendes Lächeln zu.

Ich hasse diesen Blick.

Diese mitleidige Miene, mit der sie versucht, sich selbst zu beweisen, was für ein ach so rücksichtsvoller Mensch sie doch ist. Dabei hat sie keine Ahnung, was ich durchgemacht – was ich verloren – habe. Am liebsten würde ich die Stewardess anschreien und wegscheuchen, aber dafür fehlt mir die Kraft. Die Splitter meines zerstörten Herzens bohren sich unerbittlich durch meinen Körper und rauben mir den Antrieb. Selbst zu atmen fällt mir unsagbar schwer.

Seufzend wende ich mich dem winzigen Fenster zu und starre auf die Erde, über die wir hinwegziehen. Sobald wir landen, werde ich mich in einer Welt zurechtfinden müssen, in der ich nicht leben will. Einer Welt voller Schmerz, Einsamkeit und der ständigen Gefahr im Rücken, entdeckt zu werden.

Reyna sagte, dass ich mir ein Leben fernab von der Kriminalität aufbauen soll. Ein ruhiges und normales Leben, wie sie es gern gehabt hätte, wäre sie nicht bei den Herreros gelandet. Aber kann ich ihr vertrauen? Ich möchte nie wieder in ihre Schusslinie geraten, also werde ich mich bedeckt halten.

Aber ist so ein Leben denn überhaupt lebenswert? Lohnt es sich, täglich den Kampf gegen seine Schatten aufzunehmen, bloß um in einer sinnlosen Existenz vor sich hin zu vegetieren?

»Wie geht’s jetzt weiter?«, frage ich, ohne Isabella neben mir anzusehen.

Sie kämpft mit den Tränen und durchleidet die gleichen Seelenqualen wie ich. Irgendwie ist es tröstlich, zu wissen, dass da jemand ist, der mich versteht und mein Leid teilt. Nicht, weil ich ihr den Schmerz wünschen würde, sondern weil ich mich dadurch nicht so allein fühle. Erträglicher macht es die Situation dennoch nicht. Nichts könnte es erträglicher machen. Nichts könnte mir die Schuldgefühle und den Schmerz nehmen.

»Keine Ahnung, wie«, gibt Isa zurück und greift nach meiner Hand auf der Sitzlehne zwischen uns. »Aber es wird weitergehen, Camy. Das muss es. Wir bauen uns ein neues Leben auf, und irgendwann werden wir wieder glücklich sein.«

Ich will an ihre Worte glauben. Daran, dass wir die Dunkelheit überwinden und den Sonnenaufgang erreichen können. Doch hinter dem kummervollen Schleier brodelt etwas. Etwas, das mich innerlich in Flammen setzt und sich unter meiner Haut entlangzüngelt, auf der Suche nach einem Spalt, durch den es schlüpfen kann.

Wut.

Unendliche, alles verzehrende, glühend heiße Wut.

»Zum Glück führt uns nur ein Weg«, wispere ich entschlossen. »Rache.«

»Und wir werden diesen Weg gehen«, verspricht Isa und drückt meine Hand. »Wenn die Zeit reif dafür ist.«

1

Camy

Es gibt Hunderte Orte, an denen ich meinen Samstagabend lieber verbringen würde als in einer versifften Studentenbar. Sogar eine Müllhalde wäre mir lieber. Da hätte ich zumindest meine Ruhe und müsste mir keine Mühe geben, so zu tun, als hätte Spaß einen Platz in meinem Leben.

Vor zwei Stunden hatte ich noch die naive Hoffnung, der Abend würde den furchtbaren Tag aufwiegen können. Vom Morgen an war es eine Katastrophe, und dementsprechend hat meine Laune bereits vor dem Mittag eine Steilkurve zum Boden gemacht und ist ungebremst in die Erde gekracht. Darauf zu hoffen, dass Alkohol und laute Musik das kippen können, ist da nur normal. Wenn ich allerdings ehrlich zu mir wäre, vorhin wie auch jetzt, müsste ich zugeben, dass nicht der furchtbare Tag allein schuld an meiner grandiosen Laune ist. Die Wahrheit ist, dass ich in den vergangenen Monaten keinen einzigen unbeschwerten Tag erlebt habe. Natürlich gab es Momente, in denen ich lachte und für einen winzigen Augenblick den überwältigenden Schmerz in der Brust nicht spürte. Aber jedes Lachen hat einen bitteren Beigeschmack. Es fühlt sich an, als würde ich ihn verraten. Als würde ich vergessen, was geschehen ist, ignorieren, dass er nie wieder lachen wird, und weitermachen, als wäre nie etwas passiert. Und das kann ich nicht. Nicht jetzt und vermutlich niemals.

Ich schwenke mit dem leeren Glas über dem Tresen, wodurch die bunten Reife an meinem Handgelenk auffällig klimpern. Solche Accessoires sind meine ständigen Begleiter geworden, um die unschönen Narben zu verdecken und lästige Fragen zu vermeiden. Menschen nerven mich auch ohne ihre Neugier schon genug.

Der Barkeeper entdeckt mich im gleichen Moment, in dem ich das Glas hebe, und zieht beinahe tadelnd eine Braue in die Stirn, während er auf mich zutritt.

»Keine Ahnung, was du zu ertränken versuchst«, sagt er statt einer Begrüßung. »Aber du solltest es mit etwas tun, das dir schmeckt. Dann macht das Ganze wenigstens Spaß.«

»Du irrst dich«, lüge ich kühl und schiebe ihm das Glas zu. »Es schmeckt mir.«

»Du bist nicht zum ersten Mal hier«, erinnert er sich. »Meistens trinkst du irgendeinen süßen Cocktail, redest mit niemandem und wirkst, als wärst du von der ganzen Welt genervt. Aber wenn du traurig bist, bestellst du Whisky. Lass mich raten«, setzt er interessiert nach. »Es ist das Lieblingsgetränk von deinem Ex?«

»Auf eine Therapiestunde kann ich gut verzichten!«, fahre ich ihn an und fluche innerlich wegen des verräterischen Bebens meiner Stimme. Er hat ins Schwarze getroffen und mich damit kalt erwischt. »Gibst du mir jetzt noch einen, oder muss ich mir eine andere Bar suchen? Vorzugsweise eine, in der die Barkeeper nicht Seelenklempner spielen.«

Ergeben greift er nach meinem Glas und tritt zurück. »Kapiert. Es geht mich nichts an, weshalb du dich volllaufen lässt. Ich halte ab jetzt die Klappe.«

Zugegeben, Whisky ist nicht gerade mein Lieblingsgetränk, aber mit der Zeit habe ich gelernt, ihn zu mögen. Nicht nur wegen des warmen Gefühls im Magen und des angenehmen Brennens im Hals. Vor allem liegt es an den Erinnerungen, die jeder Schluck mit sich bringt. Erinnerungen daran, wie sein Kuss schmeckte, und an Abende, die wir friedlich auf unserer Hollywoodschaukel vorm Haus verbrachten. Die feine Whiskynote stieg mir in die Nase und überdeckte den Geruch meines Weines, während wir uns ausmalten, wie unsere Zukunft sein würde. Wenn ich ihn trinke und die Augen schließe, kann ich mir einbilden, Christian sei noch da, hätte mich nicht verlassen und mein Herz mit sich ins Grab genommen. Während dieser winzigen Zeitspanne ist alles gut. Mein Herz ist heil, und meine Seele trauert nicht um seine zweite Hälfte.

Ein glockenhelles Lachen lenkt meinen Blick nach rechts, und prompt überkommt mich eine Welle des Neids. Isabella steht vor dem Billardtisch, lacht und unterhält sich mit einem Mann, der sie ansieht, als habe er im Lotto gewonnen. Ihr schlanker Körper steckt in einem ockerfarbenen Kleid mit langen Ärmeln, das ihre Rundungen perfekt in Szene setzt. Auf mich hat sie so lange eingeredet, bis ich keine Lust mehr hatte zu diskutieren und mir ebenfalls ein Kleid anzog. Zwar ein schlichtes schwarzes, aber immerhin ist es ein Kleid.

Isa streicht sich ihre neuerdings schokoladenbraunen Haare kokett hinters Ohr und zwinkert dem Mann flirtend zu. Sich vom Blond zu verabschieden fiel ihr leicht, ebenso wie es ihr damals in Mexiko leichtfiel, die Haare abzuschneiden. Etwas zu verlieren scheint ihr allgemein nicht sonderlich schwerzufallen. Dass ich mich von meinen Haaren nach wie vor nicht trennen will, ist zu einem leidigen Streitthema zwischen uns geworden. Wenn wir ausgehen, glätte ich meine wilden Locken, um weniger Aufsehen zu erregen. Meistens binde ich sie aber einfach zu einem unordentlichen Dutt zusammen. Mom würde durchdrehen, wenn sie sehen könnte, was ich meinen Haaren antue. Aber wozu sollte ich mich aufwendig stylen? Damit ein Mann auf mich aufmerksam wird, sicherlich nicht. Wie aufs Stichwort wird der Hocker neben mir zurückgezogen, und auch wenn ich es nicht will, zwingt mich die Neugier hinzusehen. Darauf sitzt nun ein Kerl mit dunklem Haar, hellbraunen Augen und beeindruckendem Bizeps, der von einem eng anliegenden weißen T-Shirt betont wird.

»Eine Schönheit wie du sollte hier nicht allein sitzen.«

Er sieht gut aus und ist genau der Typ Mann, der mich früher angezogen hätte. Die alte Camy würde frech antworten und schauen, wohin das Geplänkel führt. Die heutige Camy hingegen schnaubt. »Kein Interesse.«

»Woher willst du das wissen, wenn du meine Vorzüge noch gar nicht kennst?«, kontert er mit laszivem Lächeln.

»Lass mich raten«, sage ich und greife nach dem frisch gefüllten Whiskyglas vor mir. »Eine Nacht mit dir bringt meine Welt zum Beben und versaut mich für jeden Mann, der nach dir kommt. Sorry, aber meine Welt liegt in Trümmern, du kannst also nichts beben lassen.«

»Ich beweise dir das Gegenteil«, prophezeit er und legt mir eine Hand aufs nackte Knie. Noch bevor er auch nur den kleinen Finger rühren kann, packe ich sein Handgelenk und verdrehe es nach hinten. Er jault schmerzhaft und reißt die Augen auf. Seelenruhig biege ich das Gelenk ein Stückchen weiter und bringe mein Gesicht so nah vor seins, dass ich winzige gelbe Sprenkel in seinen Augen erkennen kann.

»Du solltest lernen, ein Nein zu akzeptieren«, lasse ich ihn wissen und gebe ruckartig seine Hand frei. »Die nächste Frau ist vielleicht nicht so nett zu dir.«

»Freak«, beleidigt er mich und springt vom Hocker, als säße er auf einer Nadel. »Kein Wunder, dass du allein bist, wenn du auf so einen Mist stehst!«

Er geht zu einem Tisch an der linken Wand, wo seine johlenden Freunde bereits auf ihn warten und ihm bemitleidend auf den Rücken klopfen.

Kopfschüttelnd exe ich meinen Drink und sehe mich erneut nach Isa um. Ihr Fang des Abends hat inzwischen seinen Arm um ihre Taille geschlungen und flüstert ihr etwas ins Ohr, das sie zum Kichern bringt. Sie legt den Kopf schief, um ihm zu antworten, wobei sie meinen Blick auffängt und die Fröhlichkeit übergangslos ihr Gesicht verlässt. Abrupt schiebt sie die Hand des Mannes von sich und kommt auf mich zu.

»Ich geh mit ihm mit«, verkündet sie.

»Hab ich mir gedacht.«

»Sein Freund findet dich übrigens heiß.«

»Ich hoffe, er kann mit Enttäuschungen umgehen«, kommentiere ich trocken und stehe auf. »Ich nehme mir ein Taxi und haue ab. Wir sehen uns morgen früh. Meld dich, falls etwas ist.«

»Camy …«, setzt Isabella an, unterbricht sich aber selbst. Sie weiß, dass es keinen Sinn hat, zu versuchen, mich zum Bleiben zu überreden. »Komm gut nach Hause«, beendet sie, ehe sie zu ihrer Abendbegleitung zurückkehrt.

Zweifelnd starre ich ihr nach. Ich sollte kein schlechtes Gewissen haben, weil ich sie allein lasse, und ich sollte auch nicht neidisch sein, weil es ihr so leichtfällt, Spaß zu haben. Isabella wusste von vornherein, dass ich nicht lange bleiben würde, und hat sich darauf eingestellt, ohne mich heimzugehen – was ihr nicht sonderlich viel ausmacht, wie ich inzwischen weiß. Trotzdem fühlt es sich nicht richtig an, einige Scheine auf den Tresen zu werfen und mich durch die feierwütigen Menschen hindurch aus der Bar rauszuschlängeln. Vor der Tür schließe ich die Augen und atme die kühle Nachtluft ein, um mein nagendes Gewissen zu beruhigen. Das klappt aber nur für einen extrem kurzen Augenblick, denn sobald ich die Augen wieder öffne, finde ich mich inmitten angetrunkener Pärchen wieder, die knutschen oder sich innig im Arm halten. Die Paare anzusehen und zu wissen, dass meine Chance auf wahre Liebe vorüber ist, ist kaum zu ertragen. Um dem Anblick zu entkommen, suche ich nach einem Taxi. Das Clocks, wie die Bar heißt, befindet sich mitten auf einer Amüsiermeile. Hier reihen sich Klubs, Bars und Imbisse aneinander, wodurch es ein beliebter Halt für Taxen ist. Dass ich, ohne warten zu müssen, eines am Ende der Straße finde, ist demnach kein Wunder.

Ich nenne dem Fahrer meine Adresse und lehne mich erschöpft im Sitz zurück. Der Tag war lang und deprimierend, aber daran liegt es nicht, dass ich so müde bin. Zumindest nicht nur. Egal, wie lange ich schlafe, die Müdigkeit vergeht nicht. Ich bin müde vom Leben, müde vom Kämpfen und müde vom Durchhalten. Außerdem sind die Nächte seit Monaten unerträglich kurz. Entweder wälze ich mich ewig hin und her, oder ich schrecke mitten in der Nacht aus einem Albtraum auf. Wieder und wieder höre ich den Schuss, sehe das Blut und fühle den Schmerz, als mein Herz zeitgleich mit seinem starb. Früher war Schlafen eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, heute scheint es unmöglich, auch nur für eine Nacht Ruhe zu finden.

Je länger die Fahrt dauert, desto schwerer wird es, die Lippen zusammenzupressen und das Schluchzen nicht herauszulassen. Aber ich muss mich zusammenreißen, denn ich habe mir vor vier Monaten etwas versprochen. Als Isa und ich in Kanada aus dem Flugzeug stiegen, schwor ich mir, anderen nicht zu zeigen, wie kaputt ich innerlich bin. Abweisend und gemein zu sein ist eine Sache, traurig und gequält eine ganz andere.

Der Fahrer wirft mir einen neugierigen Blick im Rückspiegel zu, als er die belebten Straßen hinter sich lässt. Vermutlich wundert er sich darüber, dass eine junge Frau in einem solchen Viertel lebt. Es ist keine Gegend, in der Studenten oder Touristen wohnen würden. Die Häuser sind groß, modern und haben direkten Zugang zum Strand. Unseres ist das letzte in der Straße, wodurch wir vor den meisten Blicken geschützt leben.

Ich drücke ihm ein großzügiges Trinkgeld in die Hand und steige wortlos aus, sobald er am Gehweg anhält. Der Bewegungsmelder vor dem Haus leuchtet auf und wirft sein Licht auf den langweiligen Vorgarten. Isa und ich haben beide keinen grünen Daumen, weshalb er aus tristen ockerfarbenen Steinen besteht. Hier und da stehen große Kakteen in Blumenkübeln, aber das war es auch schon.

Ich schließe das Tor auf, schlüpfe hindurch und verriegle es direkt wieder. Erst dann gestatte ich es mir, zitternd einzuatmen und meinen Emotionen Raum zu geben. Die Tränen sind nun nicht mehr zu stoppen und vernebeln meinen Blick, dennoch steuere ich zielsicher an der weißen Hausfassade vorbei auf die Terrasse im Hinterhof zu. Die Holztreppe hinter dem Haus führt zum Strand hinunter und wird durch einen hohen Zaun abgesperrt. Ich schließe ihn auf, streife die Schuhe ab und lasse sie achtlos auf den Stufen zurück, während ich die Treppe hinuntersteige. Auch meine Tasche werfe ich weg und renne über den kühlen Sand zum offenen Meer. Ich habe meine Gefühle stundenlang zurückgehalten, nun brechen sie ungezügelt hervor und lassen mich unter ihrer Last auf die Knie sinken. Das Wasser umspielt meine nackten Beine und vermischt sich mit den Tränen. Ich schließe die Augen und recke das Gesicht zu den Sternen. Seit der Nacht, die mir den Lebensmut nahm, finde ich mich häufig so wieder. Es erinnert mich an die letzten Momente, die ich mit Chris verbrachte. Er wollte die Welt, in die er hineingeboren wurde, hinter sich lassen. Für mich. Für uns und vor allem für sich selbst.

Ich schluchze auf und vergrabe die Hände im feuchten Sand. Ein Schrei weht meinen Schmerz in die Weite des Meeres hinaus, bis mein Hals rau und meine Stimme heiser ist.

Chris ist tot, und nichts kann ihn zu mir zurückbringen. Das ist eine Tatsache, mit der ich endlich lernen muss umzugehen, wenn ich daran nicht vollends zugrunde gehen will.

Morgen fange ich an, nach einem Weg zu suchen, um wieder am Leben teilzunehmen, verspreche ich mir. Heute jedoch lasse ich ein letztes Mal zu, dass die Traurigkeit mit kaltem Griff mein Herz umfasst. Lasse zu, dass mein Magen zu einem unlösbaren Knoten wird und der Kummer mich überrennt.

Erneut schaue ich zu den Sternen hinauf. Ich werde darum kämpfen, ein Ziel zu finden, das mich aufrecht hält. Etwas, das mir den Willen schenkt, mich aus der Lethargie zu befreien. Vergessen werde ich dich dennoch niemals, Christian Green.

2

Camy

Auf dem Sofa zu liegen und fernzusehen fühlt sich an, als befände ich mich im Wartezimmer einer Arztpraxis. Vom Sofa über den Couchtisch, das Sideboard, bis hin zum Fernsehschrank wirken die Wohnzimmermöbel beinahe steril. Sie sind cremeweiß, und nicht ein einziger Fleck ist darauf zu sehen. Geht man nach nebenan ins Esszimmer, scheint es plötzlich, als wäre man in eine andere Welt geraten. Dort steht ein riesiger Esstisch aus dunklem Holz, an den Wänden hängen bunte Drucke, und die Sitzflächen der Stühle haben unterschiedliche Farben, mit denen sie den gesamten Regenbogen abdecken. Wer das Haus betritt und durch die Räume geht, muss denken, hier lebt jemand mit einer multiplen Persönlichkeit. Die Küchenmöbel und die fürs Gästezimmer haben wir vom Vorbesitzer übernommen, der auf gedeckte Farben und klassische Akzente stand. Einen einheitlichen Style sucht man in unserem Haus vergeblich.

Wir teilten die Räume beim Einzug untereinander auf. Isa richtete das Wohnzimmer ein, ich das Esszimmer. Die Schlafzimmer und angrenzenden Bäder gestaltete jede für sich. So gingen wir Streit aus dem Weg, zu dem wir damals ohnehin keine Kraft gehabt hätten.

Als wir in Kanada ankamen, wohnten wir zunächst in einem billigen Motel in Britisch-Kolumbien. Dort legte niemand Wert auf einen Ausweis, sodass wir in Ruhe unsere Wunden lecken und uns notdürftig versorgen konnten. Nach wenigen Tagen schüttelte Isa den Kummer jedoch ab und besorgte gefälschte Papiere für uns. Wenig später verkündete sie, sie hätte ein Haus in Ontario gekauft, das direkt am Meer liegt. Ich bin mehr als dankbar, dass Isabella damals das Steuer an sich riss. Ohne ihre Initiative säßen wir vermutlich noch immer in dem schäbigen Motel und würden uns von Chips und Sandwiches aus dem Automaten ernähren.

Wie leicht es ihr fiel, nach so kurzer Zeit weiterzumachen, lässt mich allerdings bis heute nicht los. Ich bin wütend und neidisch zugleich – was nicht fair ist. Wäre Isa nicht so, wie sie ist, und hätte nicht dermaßen erwachsen gehandelt … keine Ahnung, wo ich dann heute wäre.

Ich reibe mir über die müden Augen und setze mich auf. Die Cornflakesschale steht unberührt auf dem Tisch, und inzwischen sind die zuckrigen Einhörner darin aufgequollen und kaum noch zu erkennen. Der Appetit ist mir vergangen, nachdem ich die Nachrichten eingeschaltet habe. Es gab einen Bericht über den alljährlich Schönheitswettbewerb in Dallas. Ich weiß, dass Mom dort regelmäßig als Visagistin aushilft, und sah mir die Doku in der Hoffnung an, sie durchs Bild huschen zu sehen. Was sie nicht tat. Meine Familie denkt, ich wäre noch immer im Zeugenschutz – zumindest hoffe ich das. Seit der Flucht aus Irland habe ich nicht mit ihnen gesprochen. Es bringt mich um, nicht zu wissen, ob die Behörden sie auf der Suche nach uns kontaktiert haben. Machen sie sich Sorgen, oder denken sie, ich wäre mit der Liebe meines Lebens verheiratet und glücklich? Ich habe mich nicht bei ihnen gemeldet, um sie nicht in mein Chaos mit hineinzuziehen und möglicherweise sogar in Gefahr zu bringen.

Kurz entschlossen springe ich vom Sofa auf und knöpfe das schwarze Hemd zu. Es ist zu lang und weit, aber das ist mir egal. In Chris’ Klamotten fühle ich mich wohl, und ich danke dem Himmel dafür, dass mir zumindest ein Teil seiner Sachen erhalten geblieben ist. Der Inhalt seiner Reisetasche stellt alles Greifbare dar, was von meinem Seelenverwandten übrig ist. Sonderlich viel ist das nicht, aber jede Kleinigkeit ist bedeutend. Selbst wenn ich nur eine Socke von ihm hätte behalten dürfen, würde ich sie behüten wie den Heiligen Gral.

Ich schalte den Fernseher aus und eile in den Eingangsbereich. Hier gibt es nicht viel mehr als eine vollgestopfte Garderobe. Vorsichtshalber überprüfe ich im Spiegel neben der Haustür, ob die Shorts unter dem Hemd fleckenfrei sind. Ich schlüpfe gerade in meine Sandalen, als die Haustür aufgerissen wird und ich erschrocken zurückstolpere und beinahe auf dem Hintern lande.

Isa grinst mich fröhlich an und wirft ihre Peeptoes achtlos zur Seite. »Guten Morgen, Sonnenschein«, begrüßt sie mich. »Wohin willst du so früh?«

»Weg«, entgegne ich knapp und spüre prompt ihren wachsamen Blick auf mir.

»Definiere weg.«

»Ich will meine Eltern anrufen.«

»Auf keinen Fall!«, ruft Isa und schüttelt so heftig den Kopf, dass ihre kurzen Haarsträhnen ihr Gesicht verdecken.

»Das hast du nicht zu bestimmen«, entscheide ich und will mich an ihr vorbeidrängen, doch das lässt sie nicht zu.

Entschlossen stellt Isa sich vor die Haustür und versperrt mir den Weg. Ihre Miene ist ebenso stur verzogen wie meine, und innerlich wappne ich mich für die bevorstehende Diskussion.

»Wir leben seit vier Monaten sicher und frei in diesem Land. Wenn du deine Eltern anrufst, riskierst du das Leben, das wir uns hier aufgebaut haben.«

»Wir existieren, aber wir leben nicht, Isa.«

Sie schnaubt. »Wir gehen aus, lernen die Stadt kennen und treffen neue Leute. Stück für Stück kommen wir der Normalität näher. Was daran soll kein Leben sein?«

»Wir gehen aus, aber nur du hast Spaß«, werfe ich ihr vor, und plötzlich sieht sie schuldbewusst aus. »Und die neuen Leute, die wir treffen, müssen wir belügen. So ist es unmöglich, Freundschaften zu schließen. Wir dürfen ihnen nicht einmal unsere echten Namen sagen, verdammt! Denkst du ernsthaft, dass das ein vernünftiges Fundament für ein Leben darstellt? Und was ist mit einem Job?«

»Meine Güte«, ruft sie und löst die Arme vor der Brust. »Dann such dir eben einen Job, wenn es für dich so wichtig ist. Du könntest aber auch einfach von dem Geld leben, das wir haben, und aufhören, einen auf gutbürgerlich zu machen.«

»Was meinst du, wie lange das Geld noch reicht? Ich will nicht eines Morgens mittellos dastehen«, erwidere ich wütend. »Was ich will, ist wieder als Journalistin arbeiten, aber das ist nicht möglich, solange auf meinem gefälschten Ausweis ein anderer Name steht als auf den Zeugnissen meiner Uni, Praktika oder von Arbeitgebern«, rufe ich aufgebracht.

Isabella sieht plötzlich betroffen aus.

Überrascht trete ich auf sie zu und strecke die Hand aus. »Du bist das Versteckspiel auch leid, oder?«

Nachdenklich sieht sie auf meine ausgestreckte Hand und atmet aus – dann greift sie zu.

Ohne nachzudenken, ziehe ich Isa an mich und schlinge die Arme um sie. Sie ist nicht dafür bekannt, besonders emotional zu sein, weshalb es umso mehr bedeutet, dass sie die Umarmung tatsächlich erwidert und den Kopf an meine Schulter lehnt.

»Ich will auch nicht mehr weglaufen«, gesteht sie leise, und ich drücke sie noch fester an mich.

Wie lange wir uns in dem Trost der Umarmung verlieren, weiß ich nicht. Aber als wir uns schließlich voneinander lösen, fühlt sich das Atmen leichter an, und der Schmerz ist erträglicher geworden. Das wird nicht lange anhalten, aber ich nehme, was ich kriegen kann, und genieße die winzige Verschnaufpause.

Wortlos deute ich zur Küchentür und gehe vor, ohne mich nach Isa umzusehen. Dass sie mir folgt, spüre ich auch so. Aus dem Vollautomaten brühe ich zwei Kaffee auf und trage sie zur Frühstückstheke in der Mitte des Raums. Ich stelle die Tassen darauf ab, da holt Isa Luft und setzt sich auf einen der Barhocker, die die Frühstückstheke umringen.

»Du hast recht«, sagt sie unvermittelt und greift nach ihrer Tasse. »So kann es nicht weitergehen. Wir tun, als wäre alles okay, dabei ist es das nicht.«

»Ich tue nicht so«, erwidere ich und schenke ihr ein sanftes Lächeln. »Jeder geht anders mit Verlusten um. Du stürzt dich in Partys und Affären und schiebst alles von dir weg, was dich verletzen könnte. Ich bin da anders. Ich vertreibe jeden, der mir zu nahe kommt, und meckere über die unwichtigsten Dinge. Dabei gebe ich aber niemals vor, alles wäre super.«

»Meckern können wir beide extrem gut«, scherzt sie und erwidert mein Lächeln, dann wird sie wieder ernst. »Fest steht, dass wir so nicht weitermachen können. Die Frage ist, was wir dagegen tun wollen.«

»Um das zu planen, müssten wir wissen, ob Reyna ihre Worte damals ernst meinte.« Ich nippe am Kaffee. »Sie hat behauptet, mich gehen zu lassen, weil sie mich nicht dafür bestrafen will, mich in Christian verliebt zu haben. Aber das war, bevor ich ihr vorgeworfen habe, ihr Sohn sei ohne sie besser dran. Außerdem dachte sie zu diesem Zeitpunkt, es wäre mir irgendwann egal, dass sie Chris … dass Chris nicht mehr da ist«, beende ich stockend und wende den Blick ab.

Ich kann es selbst nach all den Monaten noch immer nicht aussprechen. Mir gedanklich einzugestehen, dass meine große Liebe tot ist, schmerzt so tief, dass es mich zerreißt. Und wenn Isa es sagt, fühlt es sich jedes Mal aufs Neue an, als würde sie mir eine glühende Klinge in den Magen bohren und langsam drehen. Aber die Worte aus meinem eigenen Mund zu hören würde mich brechen.

»Nach dem, was du zum Abschied zu ihr gesagt hast, müsste dem Miststück klar sein, dass du ihr nie verzeihen wirst«, höre ich Isa sagen. »Allerdings können wir nicht wissen, ob sie es auf uns abgesehen hat oder sich an ihr Wort hält«, wirft sie ein. »Ich werde ein paar Anrufe machen und schauen, ob ich etwas herausfinden kann. Das hätte ich schon vor Monaten tun sollen.«

»Es war einfacher, sich einzureden, dass wir uns vor der Welt verstecken müssen, als uns der Welt zu stellen«, erwidere ich und sehe zu ihr auf.

»Weißt du, was ich bis heute nicht begreife?«

Ich schüttle den Kopf und stelle meinen Becher neben Isas.

»Wieso sie überhaupt in Erwägung gezogen hat, uns nichts zu tun. Ich bin in diesen Kreisen aufgewachsen, und glaub mir, es wurde nie dazwischen unterschieden, ob jemand Brüste oder einen Penis hat. Jeder wird als potenzielle Gefahr angesehen, der Geld, Einfluss und einen Grund hat, um etwas gegen einen zu unternehmen.«

»Sie hat damals gesagt, ich wäre ebenso in diese Welt hineingezogen worden wie sie«, erinnere ich mich. »Und dass ich Reyna an sie selbst erinnere.«

Isa verdreht die Augen und schüttelt verächtlich lachend den Kopf. »Du willst mir nicht ernsthaft erzählen, dass sie uns aus Mitgefühl oder Sentimentalität verschonen wollte, oder? Die Frau führt einen Drogenring an, Camy. Ich bezweifle, dass sie zu aufrichtigen Gefühlen und moralischem Handeln fähig ist.«

Die Szene am Strand in Mexiko kommt mir in den Sinn. Wie Reyna die Waffe in der Hand hielt. Ihre Stimme, mit der sie mir zurief, ohne Chris sei ich besser dran, und die Überzeugung in ihren Augen, das Richtige getan zu haben. Ihre Gründe spielen keine Rolle. Nichts rechtfertigt einen Mord, und kein Trauma kann aufwiegen, einem anderen Menschen einen solchen Schmerz zuzufügen wie sie mir, als sie schoss und mir mein Herz herausriss. Ihre Vorgeschichte ist mir egal. Diese Frau hat weder Mitleid noch Vergebung verdient. Das Einzige, das ihr zusteht, ist für all den Kummer und die Qualen, die sie verursacht hat, die Rechnung zu bezahlen.

»Als wir in Mexiko vom Strand geflüchtet sind und durch das Gestrüpp im Park liefen, um zum Einkaufszentrum zu kommen, haben wir uns versprochen, Chris zu rächen«, erinnere ich Isa, und prompt glüht es in ihren hellen Augen auf. »Und später haben wir beschlossen, diesen Weg zu gehen, wenn die Zeit gekommen ist. Ich bin bereit, den ersten Schritt zu machen, Isa. Du auch?«

Einen Moment lang erwidert sie nichts, und ich bete stumm, dass sie ihre Worte damals ebenso ernst meinte wie ich. Dass es nichts war, das sie im Affekt oder aus der Situation heraus sagte, sondern etwas, das ihr ebenso auf der Seele brennt wie mir. Gleichzeitig bin ich entschlossen, es durchzuziehen. Mit Isas Hilfe oder ohne.

»Wir brauchen Waffen, verschiedene Ausweise, Bargeld und einen Anhaltspunkt, wo sie sich verstecken könnte«, verkündet Isa, und mein Herz hüpft vor Erleichterung so heftig auf, dass ich den Nachhall im ganzen Körper spüre. »Machen wir das Miststück fertig.«

»Für Chris«, füge ich hinzu, und Isa prostet mir mit ihrer Tasse bestätigend zu. Dabei leuchten ihre Augen auf eine Weise, die ich schon ewig nicht mehr an ihr gesehen habe. Sie wirkt stark, entschlossen und bereit, zu tun, was nötig ist. Allen Konsequenzen und Ängsten zum Trotz.

»Für Chris«, wiederholt Isa und geht damit den ersten Schritt eines Weges, dessen Ziel völlig ungewiss ist.

3

Mister X

Ich hasse diese Abende. Wenn sie mir eine Aufgabe geben, habe ich etwas, auf das ich mich konzentrieren kann. Etwas, das mich ablenkt und mir keine Zeit lässt, einen Fehler zu begehen, der mich später den Kopf kosten kann.

An Abenden wie heute muss ich mich hingegen zusammenreißen, mich nicht auf mein Zimmer zu verziehen, um den Idioten aus dem Weg zu gehen. Es ist noch früh am Abend, und ich darf keine Aufmerksamkeit erregen, indem ich mich von ihnen abschotte. Bei den anderen im Wohnzimmer zu hocken kommt allerdings nicht infrage. So viel Dummheit auf einen Haufen ertrage ich nicht.

Der einzige Ort, der mir als Rückzugspunkt bleibt, ist der weitläufige Garten. Er ist trostlos, heruntergekommen, und am Zaun stapeln sich die Müllsäcke. Durch die hohen Temperaturen stinkt es erbärmlich, aber der Garten bietet mir eine Ausrede, um allein zu sein, denn Rauchen ist im Haus verboten. Dafür nehme ich den Gestank zu gern in Kauf.

»Hast du eine Zigarette für mich?«

Betont langsam stoße ich den Rauch aus und sehe zu Trip. Wie immer sind seine Haare auf exakt drei Millimeter gestutzt, und sein Gesicht ist glatt rasiert. Welche Haarfarbe der Typ hat, kann ich selbst nach all den Monaten noch nicht sagen. Auf jeden Fall ist es kein Blond, so viel sieht man anhand der Stoppel zumindest. Seine Mundwinkel sind starr und seine Augen ausdruckslos. Man erkennt nie, was er denkt oder fühlt.

Ich vertraue Trip nicht, aber er stellt meine einzige Möglichkeit dar, um Dinge zu erfahren, die ich nicht wissen darf. Also muss ich über sein Verhalten hinwegsehen oder mit der Ungewissheit leben. Zwischen diesen Optionen zu wählen fällt mir mehr als leicht.

Ich ziehe eine Zigarette aus der Schachtel und halte sie ihm entgegen. Trip nimmt sie mir ab und schiebt mir dabei unauffällig einen Zettel in die Hand.

»Danke, Kumpel. Mach’s gut.« Er steckt sich die Zigarette hinters Ohr und verschwindet ebenso lautlos in der Dunkelheit des Gartens, wie er gekommen ist.

Ich lehne mich an die Hauswand und wähle dafür eine Stelle aus, von der ich inzwischen weiß, dass sie kaum einsehbar ist. Sobald ich sicher bin, durch die Fenster nicht gesehen zu werden, ziehe ich an meiner Zigarette und vergewissere mich erneut, dass niemand in der Nähe ist. Erst dann falte ich den Zettel auseinander.

Schon beim zweiten Wort gerät mein Puls ins Stolpern. Ein derber Fluch liegt mir auf den Lippen, und meine Finger verkrampfen sich um das dünne Blatt Papier. Am liebsten würde ich vor Frust auf etwas einschlagen, aber damit muss ich mich leider gedulden, bis ich in meinem Zimmer bin.

Ehe jemand kommen und mich erwischen kann, zünde ich den Zettel mit der Zigarettenglut an und sehe dabei zu, wie er verbrennt. Ich wünschte, die Worte der Nachricht würden sich auch so einfach auflösen. Aber das tun sie nicht. Sie nisten sich in meinem Kopf ein wie eine Krankheit und treiben ein eiskaltes Gefühl durch meinen Körper. Eines, das ich schon ewig nicht mehr gespürt habe: Angst.

Wieso tut sie das? Wieso lässt sie es nicht auf sich beruhen und bohrt in der Wunde, statt sie nach all der Zeit endlich heilen zu lassen?

»Fuck«, fluche ich und werfe wütend die Zigarette auf den Rasen. Die Asche des Zettels wird vom Wind in der Luft verteilt und fliegt in alle Himmelsrichtungen davon. Fürs Erste bin ich sicher davor, aufzufliegen und erwischt zu werden – aber sie ist es nicht.

4

Camy

Auch wenn ich es nicht laut zugeben werde, habe ich mich gefreut, als Isa heute Morgen sagte, wir würden in die Innenstadt fahren und einkaufen gehen. Früher habe ich es geliebt zu shoppen. Ich habe dabei regelmäßig mehr Geld ausgegeben, als ich mir hätte leisten können, und nie einen Cent bereut. Zuletzt war ich in Irland shoppen, was eine Ewigkeit zurückliegt. Isa hat die Klamotten besorgt, die ich seit unserer Ankunft in Kanada trage, und bisher hat es mir nichts ausgemacht, denn sie hat einen tollen Geschmack. Dennoch habe ich mich darauf gefreut, selbst loszuziehen und mir etwas auszusuchen. Allerdings dachte ich dabei nicht an so einen Laden. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie an so einen Laden gedacht, wenn es ums Shoppen ging.

»Hast du keine mit weißem Griff oder Verzierungen?«

»Eine Waffe ist kein Modeaccessoire«, kommentiert Rick schmunzelnd. »Sie soll funktionieren und dich im Notfall beschützen, nicht zu deiner Handtasche passen.«

»Das eine muss das andere nicht ausschließen«, erwidert Isa pikiert und nimmt so widerwillig die schlichte schwarze Pistole entgegen, als würde Rick ihr ein Insekt überreichen.

Isa hat nicht erwähnt, woher sie den teddybärhaften Ladenbesitzer mit dem rauschenden Vollbart kennt, aber im Grunde spielt das keine Rolle. Was zählt, ist, dass er uns die nötigen Waffen verkauft, ohne viele Fragen zu stellen. Außerdem ahne ich auch ohne ihre Erklärung, wie sie ihn kennengelernt hat. Rick nimmt vermutlich einen Platz auf der langen Liste von Männern ein, die Isa in den Klubs und Bars der Umgebung getroffen hat. Er ist zwar nicht ihr Typ, aber sie versteht sich extrem gut darin, jemanden abblitzen zu lassen und ihm zeitgleich das Gefühl zu geben, etwas Besonderes für sie zu sein.

Isa beäugt die Pistole akribisch genau und zielt probehalber auf einen imaginären Punkt an der Wand hinter dem Verkaufstresen. »Wenn du nichts Besseres dahast, nehme ich die Glock.«

»Ich könnte dir noch eine Taurus 92 anbieten. Die hab ich in Stahlgrau und in Schwarz«, lässt Rick sie wissen.

»Wie viel willst du für die Glock?«

»Neunhundert.«

»Und für die Taurus?«

»Auch neunhundert.«

Isa schnaubt und legt die Glock zurück auf den dunklen Tresen. »Ich bin zwar eine Frau, aber ich bin kein dummes Weibchen, Rick. Denkst du wirklich, ich würde mich von dir über den Tisch ziehen lassen? Nenn mir vernünftige Preise, oder ich bin weg.«

Preisverhandlungen sind nicht mein Fall, also sehe ich mich stattdessen im Laden um. Wobei es nicht sonderlich viel zu entdecken gibt. Über die rechte Wand zieht sich eine verschlossene Vitrine, auf der ein Sticker ankündigt, das Glas sei bruchsicher, und hinter dem Gewehre und Schrotflinten aufgereiht wurden. Gegenüber davon stehen mehrere kleine Vitrinentische, in denen Elektroschocker und abschreckend lange Messer liegen. Die dunkelbraunen Wände sind übersät mit allen möglichen Postern, Postkarten und Gesetzesausdrucken zum Waffenbesitz, die den Verkaufsraum zu einer überdimensionalen Pinnwand machen.

»Camy.«

»Ja?«, frage ich und sehe zurück zum Tresen.

»Komm her und sieh dir die Taurus an«, fordert Isa.

»Geht’s noch herrischer?«

Sie rollt theatralisch mit den Augen und hält mir eine kleine schwarze Pistole entgegen. »Stell dich nicht so an und nimm. Ich muss wissen, ob sie zu schwer für dich ist.«

Widerstrebend greife ich danach, und in der Sekunde, in der meine Haut das kühle Metall berührt, zieht ein Blitz durch meinen Körper. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn, und plötzlich verengt sich mein Blickfeld, als würde ich durch ein Schlüsselloch sehen. Alles fokussiert sich auf die Waffe in meiner Hand. Auf ihr schwarzes Gehäuse, den Sicherungsbügel und den Abzug.

Ich versuche zu blinzeln, mich zu bewegen oder zumindest tiefer zu atmen, aber mein Körper reagiert nicht. Jeder Atemzug ist so flach, dass ich das Gefühl bekomme zu ersticken. Der Boden dreht sich, und das wenige, das ich durch den Tunnelblick sehe, färbt sich von Schwarz zu Beige. Schlagartig bin ich nicht mehr in dem Waffengeschäft in Toronto, sondern stehe in einem Haus in Mexiko, das mir leider viel zu bekannt ist.

Das Licht der untergehenden Sonne strahlt durch die bodentiefen Fenster und verschafft dem Raum eine trügerische Sanftheit. Eine, auf die ich nicht hereinfallen darf, denn sie passt nicht im Geringsten zur ausweglosen Situation.

Ich spüre den verängstigten Blick von Eduardo auf mir, höre das Schlagen meines Herzens wie das Ticken einer Bombe und weiß, dass eine einzige falsche Bewegung die Welt in Scherben zerspringen lässt.

Jemand ruft meinen Namen, aber ich bin unfähig, dorthin zu sehen. Mein Bewusstsein hat sich an etwas festgefressen. An einer Tatsache, von der ich mich niemals werde reinwaschen können.

Ich trage die Schuld.

Ich habe das Leid verursacht und bin dafür verantwortlich. Er hätte mich nicht retten müssen, hätte ich mich nicht gefangen nehmen lassen. Eduardo hätte die Szene nicht mit ansehen müssen, und keiner wäre gestorben. Nichts davon wäre ohne mich geschehen.

Es.Ist.Alles.Meine.Schuld!

Dunkelrotes Blut läuft aus der Schusswunde an Kelvins Bein und verfärbt den Boden vor seinen Füßen. Er schreit vor Schmerz auf und umklammert die Wunde, während meine Finger an der Waffe zittern und …

»Camy!«

Meine Wange brennt, und das Gewicht aus meiner Hand verschwindet abrupt. Wie von selbst beginnen meine Lider zu flattern, und die Umgebung verändert sich erneut. Mit wild pochendem Herzen lande ich in einer sich drehenden Realität und starre in Isabellas sorgenvoll geweitete Augen.

»Was …«, setze ich an und schlucke gegen die Trockenheit im Hals an. »Hast du mich geohrfeigt?«

Sie nickt und legt die Waffe zurück auf den Tresen, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Du bist kreidebleich geworden und hattest einen leeren Blick. Ich schätze, du hattest eine Panikattacke.«

Ich schüttle den Kopf, nicke dann aber und reibe mir ungläubig über die brennende Wange. Eine Panikattacke. Verdammt! Das darf nicht passieren. Hier, hinter verschlossener Tür, ist es schon schlimm und peinlich genug. Aber wenn mir so etwas in einer ernsten Situation passiert, in der es darauf ankommt, dass ich funktioniere, sind wir geliefert.

Ich sehe zu Rick. Er starrt mich an, und ich erkenne in den nachdenklichen Falten auf seiner hohen Stirn überdeutlich, dass er sich weigern will, eine Pistole an mich – den Freak mit der Panikattacke – zu verkaufen.

»Es war keine Panikattacke«, lüge ich schnell und zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht, das sich wie eine zu enge Maske anfühlt. »Mein Kreislauf ist abgesackt. Ich hätte frühstücken sollen.«

Rick legt den Kopf schief und öffnet den Mund, aber bevor er etwas erwidern kann, wirft Isa einen Stapel Hundertdollarnoten vor ihn auf den Tresen. »Mach den Kauf fertig. Ich muss Camy etwas Süßes besorgen, damit sie nicht zusammenklappt.«

»Leg bitte noch einen Elektroschocker dazu«, werfe ich ein. Meine Stimme ruhig zu halten fällt mir ungemein schwer. Aber wenn ich jetzt schwach werde, vermassle ich alles.

»Mach zwei draus«, fordert Isa und sieht wieder zu mir. »Du solltest rausgehen und frische Luft schnappen. Ich komme nach, sobald Rick seinen Hintern in Bewegung gesetzt hat und endlich tut, wofür er bezahlt wird.«

Dankbar nicke ich Isa zu und eile so schnell durch die mit Sicherheitsgittern verstärkte Tür, dass es vermutlich aussieht, als würde ich flüchten.

Sobald das Schloss hinter mir einrastet, stütze ich die Hände auf die Oberschenkel und hole bebend Luft. Dabei fluche ich innerlich über meine Schwäche. Es ist nicht so, dass ich nicht damit klarkomme, Kelvin angeschossen zu haben. Das hatte der Dreckskerl mehr als verdient. Es geht um viel mehr. Darum, dass Eduardo es gesehen hat, dass Chris nur aufgrund seiner Rettungsaktion gefunden und erschossen wurde, und vor allem geht es darum, dass ich durch meine unüberlegte Flucht aus dem Hotel damals diese Welle der Katastrophen losgetreten habe.

Reynas Sohn hätte die Gewalt nicht miterleben sollen. Er ist noch so klein und unschuldig, und ich habe ihm ein Trauma bereitet, das ihn mit Sicherheit ebenso verfolgt wie mich die Schuld. Ich kann nur hoffen, dass Reyna oder wer auch immer ihm beisteht und hilft, damit umzugehen.

Ein letztes Mal hole ich tief Luft, dann richte ich mich auf und reibe mir übers Gesicht. Wäre ich in einem anderen Viertel, würde ich mir Gedanken darüber machen, was Passanten von meinem fluchtartigen Auftritt halten könnten. Allerdings befinde ich mich in einer Ecke von Toronto, um die man normalerweise einen weiten Bogen machen sollte und die voller merkwürdiger Gestalten ist. Die Häuser sind hoch, die Wände vollgeschmiert mit Graffiti, und an heißen Tagen stinkt es hier unerträglich nach Urin.

Auf der anderen Straßenseite entdecke ich drei Mädchen, die nicht älter als sechzehn sein können und die um diese Zeit in der Schule sitzen müssten. Stattdessen stehen sie vor einem Hauseingang, rauchen und lachen so unkontrolliert, als hätten sie zu tief ins Glas geguckt. Da ich keine Lust habe, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, wende ich mich von ihnen ab – und kneife überrascht die Augen zusammen.