Wo die Zukunft der Raumfahrt beginnt - Anika Mehlis - E-Book

Wo die Zukunft der Raumfahrt beginnt E-Book

Anika Mehlis

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Beschreibung

Nur im Raumanzug darf Anika Mehlis das Habitat verlassen. Vor ihr ragt ein Vulkan im Sonnenlicht auf – doch sie ist nicht auf einem fremden Planeten, sondern auf der Erde. Als Analog-Astronautin testet sie mit ihrem Team in der Wüste Israels und den Bergen Armeniens Strategien und Technologien für künftige Mars-Missionen. Sie nimmt Gesteinsproben, züchtet Pflanzen und erforscht, was nötig ist, um auf dem Roten Planeten nach Spuren von Leben und nach Antworten auf alte Menschheitsfragen zu suchen. In diesem fesselnden Bericht erzählt sie von der harten Ausbildung, den extremen Bedingungen ihrer Expeditionen und den neuesten Erkenntnissen der Mars-Forschung. Jeder Schritt, den sie macht, bringt uns der Zukunft im All ein Stück näher.

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Seitenzahl: 385

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anika Mehlis

WO DIE ZUKUNFT DER RAUMFAHRT BEGINNT

Anika Mehlis

WO DIE ZUKUNFT DER RAUMFAHRT BEGINNT

Als Analog-Astronautin zwischen Erde und Mars

KNESEBECK

Für meine Töchter

INHALT

Prolog

EINS:

Analog — »Wie Käse«?

ZWEI:

Die Auswahl — Laufrunden im Schnee, Reiskörner sortieren und Frustrationstoleranz

DREI:

Vom Überleben in der Wildnis bis zum Andocken an die ISS im Sojus-Simulator

VIER:

Start mit Hindernissen — »Wir müssen um ein Jahr verschieben«

FÜNF:

Mission Amadee-20 in Israel — Mit dem Quad durch den Staub der Negev-Wüste

SECHS:

Bridgehead-Phase — Frauenpower im Sonnenuntergang

SIEBEN:

Isolation — »Flieg, Drohne, flieg!«

ACHT:

Nach der Mission ist vor der Mission — Zwischen zwei Welten

NEUN:

Mission Amadee-24 — In den schneebedeckten Bergen Armeniens

ZEHN:

Bridgehead — Neue Fähigkeiten

ELF:

Isolation — Die Sintflut am Ararat

ZWÖLF:

Wiedereintritt — Ad astra

Epilog

Bildteil

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

Prolog

»I think you travel to search and come back home to find yourself there.«1

Chimamanda Ngozi Adichie (Autorin)

Es ist ein kühler Märztag des Jahres 2024 in Sichtweite eines über 5000 Meter hohen Vulkankegels. Ich steige schwerfällig in meinem 50 Kilogramm schweren Raumanzug-Simulator vom Quad und stapfe einige Schritte in Richtung meines Teamkollegen. Er hat etwa zehn Meter entfernt angehalten. Im ersten Moment blendet mich der gleißende Sonnenschein. Ich muss die Augen zusammenkneifen. Dann drehe ich meinen Kopf, sodass der Schatten des Head-up-Displays in meinem Helm meine Augen schützt. Unter der Mittagssonne breitet sich vor mir ein von schroffen Gipfeln umgebenes Hochplateau aus. Gesteinsbrocken sind vor langer Zeit von den Hängen herabgerollt. Ein ausgetrockneter Bachlauf schlängelt sich um die Felsen. Der trockene, sandige und mit Geröll überzogene Boden flimmert rötlich im Sonnenlicht. Ab und an wirbelt eine Windböe Staub auf. In meinem Anzug spüre ich weder den Wind, noch höre ich sein Heulen. Bei besonders starken Böen fühlt es sich allerdings so an, als würde ich hinterrücks angeschubst. Vorsichtig setze ich einen schweren Schritt vor den anderen und behalte dabei den losen Untergrund im Auge. Ein falscher Tritt kann in diesem unwegsamen Gelände fatale Folgen haben. Nachdem wir nahe unseres Habitats bereits andere Experimente absolviert haben, sind wir nun an der Stelle angekommen, an der wir die ersten Gesteinsproben des Tages entnehmen sollen. Mein Blick wird von den in der Sonne gleißenden, gletscherbedeckten Hängen und wolkenverhangenen Gipfeln des kleinen und großen Ararat angezogen, die im Westen den Horizont dominieren. Langsam drehe ich mich und bin gebannt von der menschenleeren, kargen Schönheit der Landschaft um mich herum. Wie es wohl wäre, jetzt nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars an den Hängen des Olympus Mons, des höchsten Vulkans im Sonnensystem, zu stehen? Ein Blick auf meinen Kollegen zeigt, dass er wahrscheinlich gerade ähnliche Gedanken hegt. Plötzlich knackt es im Kopfhörer, und die Basis ruft uns. Vorbei der magische Moment, wir sind zum Arbeiten hier.

Nur abgehackt verstehe ich einzelne Worte, bevor der Kontakt völlig abbricht. Ich merke, dass wir uns ganz am Rand der WLAN-Reichweite befinden. Auch einige Schritte zurück in Richtung Quad bringen keine Verbesserung. Zur Bestätigung sehe ich Mundbewegungen meines Kollegen, ohne ihn zu hören, und melde mich über altmodischen Funk bei ihm: »L. O. S., Loss of Signal. Abbruch an dieser Stelle. Wir müssen zum letzten bekannten Punkt mit gutem Kontakt zurück.« Etwas enttäuscht stapfen wir zurück zu unseren Quads und machen uns unverrichteter Dinge auf den Rückweg. Wieder einmal kommt es anders als geplant, und ich rufe mir in Erinnerung, dass meine Begegnung mit der Raumfahrt seit Tag eins eine einzige Übung in Geduld und Frustrationstoleranz ist.

EINS:

ANALOG — »WIE KÄSE«?

»Wie soll ich das wissen, wenn ich es noch nie versucht hab?«2

Pippi Langstrumpf (Abenteurerin)

An einem Freitagmittag Anfang September 2018 sitze ich in meinem Büro in einem sächsischen Gesundheitsamt und schreibe an einem Protokoll. Ich muss ein Gähnen unterdrücken, als eine Mitarbeiterin ihren Kopf zur Tür hereinsteckt und sich mit »Schönes Wochenende!« verabschiedet. Erleichtert registriere ich, dass es schon nach 13:00 Uhr ist und ich guten Gewissens meinen Rechner herunterfahren kann. Einerseits mag ich meinen Job im Infektionsschutz mit den vielen verschiedenen Aufgaben und meinem Team. Andererseits sehne ich mich nach dem dritten Protokoll in einer Woche und der nach einigen Jahren spürbaren Routine nach einer neuen Herausforderung. Das erinnert mich an die heutige Zeitung, die noch unter einigen Akten liegt. Ich ziehe sie hervor und lese erneut den kleinen Artikel, der mein Interesse geweckt hat. »Österreichisches Weltraum Forum (ÖWF) sucht neue Analog-Astronaut:innen.«

Für Raumfahrt interessiere ich mich bereits, seit ich als Kind in der Deutschen Raumfahrtausstellung das Modell der russischen Raumstation MIR bewundert habe, die sich von 1986 bis 2001 im Erdorbit befand. Mit meinem Vater, der mir sein Album mit Zeitungsausschnitten von der ersten Mondlandung 1969 zeigte, lötete ich Flugzeugmodelle. Von meiner Mutter, die sich für Astronomie interessierte, bekam ich ein Teleskop geschenkt. Damit betrachtete ich als Jugendliche vom Dachbodenfenster aus den Nachthimmel. Daher war mein Blick am Morgen sofort an dieser Überschrift hängen geblieben.

Analog-Astronaut:innen gesucht

Ich beschließe, die Arbeit für diese Woche zu beenden, den Rechner aber noch anzulassen und ein wenig zu recherchieren. Was soll das sein – »Analog-Astronaut:innen«? Mir fallen spontan nur analog statt digital und Analogkäse ein. Je mehr ich erfahre, desto aufgeregter werde ich. »Analog-Astronaut:innen (AA) sind speziell ausgebildete Raumanzugtester:innen. Sie werden nach einem umfassenden Auswahlverfahren selektiert und durchlaufen eine mehrmonatige Grundausbildung. Eingesetzt werden sie bei technischen Tests und ›in Analogie zu‹ zukünftigen menschlichen (Mars-)Expeditionen für vorbereitende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten«, lese ich auf der Webseite des ÖWF. Das klingt wahnsinnig spannend. Ich spüre ein Kribbeln im Bauch, welches mir zeigt, dass ich einer großen Sache auf der Spur bin. Eilig scrolle ich weiter und lese von simulierten Mars-Missionen in Marokko, auf Gletschern oder in der Wüste des Omans, die das ÖWF bereits durchgeführt hat. Auf der Webseite erfahre ich auch, welche Bedingungen für eine Bewerbung erfüllt sein müssen.

Fließend Englisch und mindestens eine weitere europäische Fremdsprache werden erwartet. Da ich ein Jahr in den USA gelebt und Deutsch als Muttersprache habe, ist dieser Punkt schon einmal kein Problem. Mein Französisch ist seit der Schule leider etwas eingerostet, aber Grundlagen sind, ebenso wie in Spanisch und Latein, zusätzlich vorhanden.

Mindestens ein Master-Abschluss in Medizin, Ingenieurs- oder Naturwissenschaften sowie mindestens zwei Jahre Berufserfahrung sind nötig. Mit meinem Diplom in (Mikro-)Biologie und einem zweiten Diplom als Ingenieurin für Umwelttechnik und Recycling (FH) habe ich den Eindruck, auch diese Bedingung zu erfüllen.

Sportlichkeit ist ein Muss, und es gibt eine bestimmte Altersspanne. Als Freizeit-Läuferin, die erst vor Kurzem einen Halbmarathon absolviert hat, fühle ich mich auch diesem Kriterium gewachsen und bin froh, mit 37 Jahren im richtigen Alter zu sein. Auch meine 1,75 Meter Körpergröße passen in die vorgegebene Spanne. Zwar kann ich keinen Doktortitel vorweisen, da ich meine Doktorarbeit erst im Jahr zuvor begonnen habe. Auch einen Tauch- oder gar Pilotenschein, die unter »wünschenswert« angegeben sind, besitze ich nicht.

Trotzdem beschließe ich kurzerhand, mich davon nicht abhalten zu lassen. Vorbestraft bin ich auch nicht. Na also. Für mich steht fest: »Das versuche ich. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.« Wenn ich einmal einen Entschluss gefasst habe, stürze ich mich gern direkt in die Umsetzung. Also öffne ich meinen Lebenslauf und aktualisiere ihn. Eine Stunde später fahre ich dann wirklich den Rechner herunter und hole meine Fünfjährige vom Kindergarten ab.

Bis zum Sonntagabend habe ich ein Motivationsschreiben verfasst und ungefähr 100 Mal umgeschrieben. Auch ein einminütiges Bewerbungsvideo wird gefordert. Es stellt sich als Herausforderung heraus, professionell, aber locker eine Minute über sich zu sprechen. Besonders, wenn im Hintergrund drei Kinder Grimassen schneiden. Mein Drang zum Perfektionismus hätte gern noch weiter optimiert, doch mein Pragmatismus gewinnt. Nachdem die Kinder ins Bett gebracht sind, schicke ich meine Bewerbung ab. Als ich auf Senden drücke, fühle ich mich aufgekratzt. Auch wenn ich nicht wirklich glaube, dass daraus etwas werden wird, trägt mich allein die Vorstellung beschwingt durch die nächsten Wochen.

An einem Mittwochabend Ende Oktober schaue ich vor dem Schlafengehen noch einmal in meine E-Mails. Als ich auf dem Display meines Handys eine Nachricht mit dem Absender ÖWF sehe, macht mein Herz einen Hüpfer. Sie informiert mich, dass es über 100 Bewerber:innen aus ganz Europa gab und ich als eine von 30 Kandidat:innen Ende November zur nächsten Auswahlrunde in Innsbruck eingeladen bin. Prompt überkommt mich etwas Respekt vor der eigenen Courage. Wie komme ich auf die Idee, als dreifache Mutter aus der Kleinstadt ohne vorherigen Raumfahrtbezug bei so einer Auswahl eine Chance zu haben? Die nächsten Wochen verbringe ich zwischen Nervosität und Vorfreude. Ich erhalte ein Informationspaket mit logistischen und inhaltlichen Details. Mich erwarten Fitnesstests, medizinische Untersuchungen sowie psychologische und administrative Interviews. Auch Feinmotorik und Beweglichkeit sollen untersucht werden. Ich steigere mein Trainingspensum, gehe viel laufen und beginne mit Krafttraining, da ich vor dem Fitnessteil großen Respekt habe. Außerdem lese ich alles, was ich über die Missionen und Projekte des ÖWF sowie Analogforschung allgemein in die Finger bekommen kann.

Analogforschung

Ich erfahre, dass dieser Forschungszweig den Weg für zukünftige Missionen zum Mond und zum Mars bereiten will. Auch die Forschungsreisenden früherer Jahrhunderte wie beispielsweise Robert F. Scott und Ernest Shackleton bereiteten sich auf Polarexpeditionen durch Ausdauer- und Kälteanpassungstrainings in zugänglicheren Gebieten vor. Sie überprüften ihre Ausrüstung wie Zelte, Werkzeuge, Kleidung und Hundeschlitten auf ihre Eignung unter extremen klimatischen Bedingungen. Vorräte mussten in ausreichender Menge mitgenommen und Krankheiten wie Skorbut vorgebeugt werden. Außerdem entwickelten sie neue Technologien zur Unterstützung, zum Beispiel spezielle Kleidungsmaterialien oder Navigationsinstrumente. Auch die Auswahl der Expeditionsteilnehmenden sowie deren mentale Vorbereitung spielten eine wichtige Rolle.3 Egal, in welchem Jahrhundert, Fehler in der Planung können fatale Folgen haben.4 Nur knapp 58 Jahre vergingen zwischen dem ersten Menschen am Südpol (Amundsen 1911) und dem ersten Menschen auf dem Mond (Armstrong 1969). Auch die National Aeronautics and Space Administration (NASA) nutzte Analogforschung im Apollo-Zeitalter zur optimalen Vorbereitung der Mondflüge und -landungen. So führte sie in den 1960er-Jahren umfangreiche Trainingseinheiten in geologisch vergleichbaren Regionen wie Vulkanlandschaften auf Hawaii und Wüstenregionen in Nevada durch, um Astronauten mit der Mondoberfläche vertraut zu machen. Auch das Mondfahrzeug, das Lunar Roving Vehicle, wurde in wüstenähnlichen Gebieten getestet, um sicherzustellen, dass es auf der Mondoberfläche funktioniert. Die Landung mit dem Mondmodul trainierten die Astronauten im Simulator. Die Schwerelosigkeit im All wurde in Parabelflügen und Tauchtanks simuliert. Um ihre mentale Belastbarkeit zu stärken, verbrachten die Astronauten Zeit in isolierten Umgebungen. Sie übten Szenarien für alle möglichen technischen und physischen Probleme, die während des Flugs oder auf der Mondoberfläche auftreten könnten.5, 6 Seither soll Analogforschung sicherstellen, dass künftige Missionen zum Mond und zum Mars entsprechend ausgerüstet sind, um ihre wissenschaftlichen Aufträge erfüllen zu können und hohe Aussichten auf Erfolg zu haben. In Analogie zu den geologischen Bedingungen an interessanten Landeorten auf dem Mars werden in möglichst ähnlichen Gebieten auf der Erde jeweils bestimmte Aspekte solcher Einsätze simuliert und vorbereitet.7 Einige beschäftigen sich vorrangig mit der Ernährung bei langen Weltraumaufenthalten (z. B. Simulationen im Hawai’i Space Exploration Analog and Simulation (HI-SEAS) Habitat auf dem Mauna Loa Vulkan8) oder den psychologischen Aspekten von Langzeitisolation und Crew-Zusammensetzung (z. B. MARS-500 von Russland, der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) und China9). Andere fokussieren sich wie das ÖWF auf die Entwicklung von Raumanzügen, auf Geologie und die Interaktion von Menschen und Robotern (z. B. NASA Desert RATS (Research and Technology Studies) in der Mars Desert Research Station (MDRS) in Utha10). Letztendlich starten alle Astronaut:innen in diesem Sinne als Analog-Astronaut:innen, da simulierte Raumspaziergänge in Tauchbecken11, 12, simulierte Schwerelosigkeit bei Parabelflügen und simulierte Beschleunigungskräfte in Zentrifugen weiterhin unabdingbare Bestandteile ihres Trainings sind.

Auf der Seite des ÖWF lese ich, dass die Organisation sich seit der Gründung Ende der 90er-Jahre als europäische Plattform für Weltrauminteressierte sieht. »Der Forschungseinrichtung gehören um die 250 Personen aus 20 Nationen an. Mit Mitgliedern aus allen Sektoren der Weltraum-Branche wie etwa aus Forschungsinstituten, Raumfahrt-Agenturen und -Industrie bis hin zu Studierenden engagiert es sich in Bereichen wie Bildung, Wissenstransfer und Satellitentechnik. In enger Zusammenarbeit mit anderen Weltraum-Organisationen konzentriert sich das ÖWF bei seinen Missionen auf die Entwicklung eines Raumanzug-Simulators sowie der Explorationskaskade, die von der Erforschung aus dem Orbit über die Erkundung durch Rover und Drohnen bis hin zu Außeneinsätzen durch Astronaut:innen reicht.«13

Die Welt der Polarexpeditionen, Mondlandungen und großen Raumfahrtagenturen, die sich beim Recherchieren vor mir eröffnet, zieht mich immer mehr in ihren Bann. Im Internet finde ich Trainingsdateien der ESA für räumliches Vorstellungsvermögen, Physik, Mathe und Reaktionsgeschwindigkeit. In jeder meiner – zwischen Arbeit und Kindern raren – freien Minuten gehe ich diese durch, um mich so gut es geht auf eine Auswahl vorzubereiten, von der ich keine wirkliche Vorstellung habe.

ZWEI:

DIE AUSWAHL — LAUFRUNDEN IM SCHNEE, REISKÖRNER SORTIEREN UND FRUSTRATIONSTOLERANZ

»It is not the world that will shape your destiny; it is your own soul that will determine your fate.«14

Maria W. Stewart (Abolitionistin, Frauenrechtsaktivistin, Dozentin und Schriftstellerin)

Endlich ist es so weit. Einerseits hätte ich gern noch mehr Zeit zur Vorbereitung. Andererseits bin ich froh, dass das Warten ein Ende hat. Lange bin ich nicht mehr so nervös gewesen, und ich mag das Gefühl nicht besonders. Schon am Freitag reise ich für das Wochenende nach Österreich. Die Fahrt durch die verschneiten Alpen ist spektakulär, und ich genieße es, einmal ohne Kinder unterwegs zu sein. In Innsbruck angekommen, marschiere ich frierend vom Parkhaus zur angegebenen Adresse der Höheren Technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt Innsbruck. Der Wind peitscht in schneidenden Böen durch die Straßen, und meine Hände sind vom Ziehen meines Koffers durch den Schneematsch schnell kaum noch zu spüren. Das ist jedoch direkt vergessen, als ich erleichtert das richtige Gebäude finde und den Ausschilderungen folge. Zumindest bin ich pünktlich am richtigen Ort! Ich bemühe mich, mir meine Nervosität nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, und schaue mich nach Betreten des ausgewiesenen Hörsaals um. Eine freundliche junge Frau in einem roten ÖWF-T-Shirt begrüßt mich an einem Tisch neben der Tür und sucht meinen Namen in einer Liste. Ich bekomme ein Namensschild zum Umhängen, auf dem »Analog-Astronaut Candidate – B-Selection« steht. Dazu erhalte ich eins der roten T-Shirts sowie einen Beutel mit weiteren Materialien. An den Schildern kann ich nun auch erkennen, dass einige der anderen Anwesenden ebenfalls Kandidat:innen sein müssen. Wie jung die meisten sind! Wirkt es nur so, oder kennen sich manche schon? Ich bin, auch wenn es mir heute nicht mehr so stark anzumerken ist, ein sehr zurückhaltender und schüchterner Mensch. In meiner Jugend litt ich häufig darunter, dass ich, sobald ich nur angesprochen wurde, hochrot anlief. Auch wenn sich das im Laufe der Zeit gebessert hat, sind mir Situationen mit neuen Menschen noch immer unangenehm.

Wie so oft stellt sich nach dem ersten schüchternen »Hi« schnell heraus, dass die anderen ebenso nervös sind wie ich. Im Nu ergeben sich die ersten Unterhaltungen über unsere Erwartungen und Befürchtungen. Ich brauche ein paar Minuten, um mich in das teilweise stark italienisch, spanisch, niederländisch oder polnisch gefärbte Englisch einzuhören. Schnell bekomme ich mit, dass viele bereits Mitglied beim ÖWF sind und für die ESA oder Firmen im Raumfahrtbereich arbeiten. Es scheint so, als wäre ich eine der wenigen Laien, und es schwirren jede Menge Abkürzungen und Namen durch den Raum, die allen außer mir etwas zu sagen scheinen. Ich bin tief beeindruckt von den Lebensläufen und der geballten Expertise in diesem Raum.

Welche Temperatur hat der Erdkern?

Bevor ich mich allzu vielen Vergleichen und Selbstzweifeln hingeben kann, werden wir gebeten, unsere Plätze in mehreren Bankreihen einzunehmen. Dr. Gernot Grömer, der Direktor des ÖWF, hält eine mitreißende Begrüßungsrede und versichert uns, wie stolz wir darauf sein können, hier zu sitzen. Er erklärt, wie die nächsten Tage ablaufen werden, betont, wie wichtig Pünktlichkeit an den verschiedenen Test-Orten ist, und wünscht uns viel Erfolg und genauso viel Spaß. Dann starten wir direkt mit einem Allgemeinwissenstest, der mich gleich ins Schwitzen bringt: Geografie, Astronomie, Physik, Sport, Musik und grundlegende Matheaufgaben. Während mir der Erdumfang am Äquator gerade noch einfällt, muss ich bei anderen Aufgaben ganz schön im Gedächtnis kramen oder gar raten. »Welche Art Vulkan ist am wenigsten explosiv? Wie viele Saiten hat eine Violine? Welchen pH-Wert hat menschliches Blut?« Ich fühle mich unter Zeitdruck und höre frustriertes Seufzen um mich herum. Das beruhigt mich etwas. Zudem beschleicht mich der Verdacht, dass neben der Richtigkeit der Antworten auch genau beobachtet wird, wie wir uns in dieser Stresssituation verhalten.

Nach diesen ersten, durchaus frustrierenden 90 Minuten erhalten wir individuelle Pläne mit allen Test-Stationen, was dazu führt, dass wir für die nächsten beiden Tage in wechselnden Gruppen von Gebäudeteil zu Gebäudeteil und teilweise quer durch die Stadt zu einer Turnhalle und wieder zurück hasten. Manche Tests finden in Gruppen statt, andere in Einzelterminen.

Ich steuere einen kleinen Rover mit einer Fernbedienung durch einen Parcours und soll mehrere Proben mit einem Greifarm aufsammeln. Das klappt erstaunlich gut, was mich freut, da ich von einigen höre, dass es ihnen nicht gelungen ist. Nach dem Sehtest bin ich erleichtert, zu hören, dass ich Augen wie ein Adler habe. Da ich vor ein paar Jahren eine Laser-Korrektur meiner starken Kurzsichtigkeit hatte, war ich besorgt, das könnte ein Ausschlusskriterium sein. Der Hörtest zeigt zudem, dass ich überdurchschnittlich gut höre und auch einzelne Stimmen aus einem Stimmengewirr herausfiltern kann. Die restlichen medizinischen Untersuchungen stellen sich als Durchgehen eines Fragebogens nach Vorerkrankungen und Risikofaktoren heraus. Das nachfolgende Vermessen der Körpermaße ist etwas gewöhnungsbedürftig – in Unterwäsche werden bei uns nicht nur Größe und Gewicht, sondern auch die Länge aller Gliedmaßen sowie die Reichweite der Bewegungen vermessen. Dazu beugen, strecken und verrenken wir uns nach Anweisungen teilweise liegend auf Tischen, teilweise stehend. Ich erfahre, dass dies der Absicherung dient, dass wir in den Raumanzügen des ÖWF arbeiten können. Diese sind nach NASA-Standards15 gefertigt, sodass sie mit anderen Raumfahrtsystemen kompatibel sind.

Während ich auf meinen nächsten Termin warte, unterhalte ich mich mit Fiona, der einzigen anderen Deutschen. »Wäre es leichter zu ertragen, wegen unpassender Körpermaße auszuscheiden als aufgrund eines Fehlers, der vermeidbar wäre?«, fragt sie mich. Ich antworte: »Mir wäre Ersteres eindeutig lieber. Dann müsste ich mir keine Vorwürfe machen, dass ich mich besser hätte vorbereiten können.«

Mehr Fragen als Antworten

Die Wartezeiten zwischen den einzelnen Stationen verbringen wir in wechselnden Gruppen in Gängen auf dem Fußboden sitzend. Wir tauschen uns vorsichtig über die Erfahrungen und Eindrücke unserer Durchgänge aus. Ich bin unsicher, wie viel ich verraten darf oder möchte. Es herrscht eine seltsame Mischung aus Konkurrenz und Kooperation. Stets sind außerdem Personen im roten T-Shirt in unserer Nähe und beobachten uns mal mehr, mal weniger auffällig. Spekulationen über die wahren Inhalte der Tests machen die Runde.

»Der Allgemeinwissenstest war nur dazu da, um uns direkt zum Start zu verunsichern – keiner kann das alles wissen«, höre ich beim Vorbeigehen einen Hünen mit breiten Schultern und spanischem Akzent sagen. Ich meine mich zu erinnern, dass sein Name Fernando ist, und frage mich flüchtig, ob er den NASA-Maß-Vorgaben entspricht. Bei einem dieser Gespräche setzt sich Iñigo Muñoz Elorza zu uns, einer der Analog-Astronauten der Klasse von 2015. Seine langen dunklen Haare trägt er im Pferdeschwanz, und seine dunklen Augen blicken freundlich. Ich habe gehört, er soll Astronaut:innen-Trainer bei der ESA sein, und finde es etwas einschüchternd, mit einer der Personen zu sprechen, die bereits erreicht haben, was ich mir wünsche. Kurz bin ich mir unsicher, ob ich ihn mit Vornamen ansprechen soll. Doch Iñigo nimmt mir meine Scheu und plaudert völlig entspannt mit uns. Ich überlege mir eine möglichst tiefsinnige Frage, die mich zusätzlich wirklich interessiert: »Was hat dich am meisten überrascht, als du damals ausgewählt wurdest?« Iñigo berichtet, dass er nicht mit dem großen Interesse der Medien und besonders der Öffentlichkeit in seiner Heimatstadt gerechnet hätte. Noch ahne ich nicht, wie oft ich später an diese Antwort denken werde.

Am Abend gehen wir alle zusammen essen. Es ist laut und voll. Ich freue mich nach der langen Fahrt und den ersten anstrengenden Tests aufs Alleinsein und mein Bett. Gleichzeitig teilen wir alle die Vermutung, dass auch jetzt noch beobachtet wird, wie wir uns in der Gruppe verhalten, wenn wir glauben, die Tests seien vorüber. »Schlafen kann ich, wenn ich alt bin«, beschließe ich und nehme mir vor, die Zeit zu nutzen, um mehr über meine Mitbewerber:innen zu erfahren. Leider reicht der Abend nicht, um alle näher kennenzulernen. Von manchen bekomme ich gerade so den Namen und die Herkunft mit, von anderen erfahre ich den Beruf und ihre Motivation zur Bewerbung. Mit mir sind wir neun Frauen. Nur zwei von uns dreißig Kandidat:innen kommen aus Deutschland, vertreten sind außerdem vor allem Frankreich und Österreich, aber auch Portugal, Schottland, Italien, Spanien, die Schweiz, Dänemark, Griechenland, Irland, Großbritannien, Island, die Niederlande und Polen. Neben Ärzt:innen, Raumfahrt-Ingenieur:innen und Physiker:innen gibt es auch mehrere Pilot:innen, Astronom:innen und Extrem-Sportler:innen. Auch ein Fotograf ist dabei, Florian, der aus Österreich stammt und schon mehrere Missionen des ÖWF begleitet hat. Ich höre viel von Tauchen, Fallschirmspringen und Segeln. Kinder erwähnt kaum jemand, außer Jonathan, einem Briten, Fiona und mir. Jonathan ist mit Anfang 40 der Älteste von uns. Überhaupt scheint die überwiegende Mehrheit jünger als ich zu sein. Übervoll mit Eindrücken, Namen und Fakten, bin ich glücklich, gegen Mitternacht endlich meinen Kopf aufs Kissen sinken lassen zu können.

Tag 2

Der Samstag ist eine Wiederholung des Vortages, nur mit anderen Tests. Mein Highlight wird das psychologische Interview mit Alexandra de Carvalho, der zuständigen Psychologin. Mit ihren hüftlangen Haaren in einem langen Rapunzel-Zopf, einem ansteckenden Lachen und einer sehr angenehmen, offenen Art entspricht sie gar nicht meiner Vorstellung einer mich kritisch auf meine psychische Eignung hin durchleuchtenden Psychologin. Ich spüre, wie ich mich im Laufe des Gesprächs entspanne und die Fragen nicht mehr wie zu Beginn innerlich auf ihr wahres Ziel und die erwünschte Antwort hin abklopfe. Wahrheitsgemäß beantworte ich alle Fragen zu durchlebten Krisen, gemeisterten Herausforderungen, hypothetischen Situationen und meiner Vergangenheit. Am Ende weiß Alex alles über die Krebserkrankung meiner Mutter, die traumatische Schwangerschaft und Geburt meiner ältesten Tochter, meine schwierige Schulzeit als Außenseiterin und meine erst im Mai dieses Jahres entdeckte Hochbegabung. Sie entlockt mir, dass ich eine Mission abbrechen würde, wenn einer der mir nahen Menschen in ernster Gefahr wäre. Ein Armbruch bei einem meiner Kinder würde mich jedoch nicht zum Heimflug bewegen. Fast bin ich traurig, als sie sich für meine Offenheit bedankt und das Gespräch beendet. Meine eigenen Antworten haben mir bewusst gemacht, wie viel ich schon erlebt und bewältigt und wie viel ich dadurch gelernt und an Ressourcen gesammelt habe.

Den Abend verbringen wir in einem Restaurant in der Innenstadt, und wieder führe ich mit den Personen an meinem Tisch spannende Unterhaltungen. Mit Daniel, einem Arzt aus Österreich, Chiara aus Italien und Jon aus Spanien verstehe ich mich besonders gut. Einerseits freue ich mich darauf, morgen Abend nach Hause zu fahren. Gleichzeitig bin ich jetzt schon traurig, diese Menschen vielleicht nie wiederzusehen.

Immer im Kreis

Mit dem Sonntag bricht der dritte und für mich möglicherweise letzte Testtag an. Er birgt für mich eine zusätzliche Herausforderung, denn schweren Herzens verpasse ich – zum ersten Mal in elf Jahren – den Geburtstag meiner ältesten Tochter, nur um in einer Turnhalle mit vier anderen Menschen in zwölf Minuten so viele Runden wie möglich zu rennen. Der Cooper-Test16 dient der Überprüfung der Ausdauer und bringt mich an meine Grenzen. Als die Zeit abgelaufen ist, bin ich ungefähr 2400 Meter weit gerannt, was, wie ich im Nachhinein erfahre, für meine Altersgruppe ziemlich gut ist. In meiner Gruppe bin ich jedoch die Langsamste, und mehrfach überrundet zu werden, ist eine frustrierende Erfahrung. Meine Lungenflügel brennen, meine Beine zittern, doch die Qual ist noch nicht vorbei. Wir müssen uns auf Bänke stellen und nach vorn beugen, um mit den Fingerspitzen so weit wie möglich über unsere Fußspitzen hinaus nach unten zu reichen. Mit einem Lineal wird unsere Dehnbarkeit gemessen. Schließlich folgt noch ein Basketball-Spiel. Ich versuche, so wenig wie möglich hin und her zu rennen und trotzdem so auszusehen, als wäre ich nicht völlig am Ende, sondern hochmotiviert. Irgendwann ertönt der erlösende Abpfiff, und ich eile von der Turnhalle weiter zu meinem administrativen Interview. In diesem Gespräch möchte Gernot von mir wissen, wie ich zeitlich verfügbar wäre und ob meine Familie und meine Arbeitgebenden unterstützen würden, dass ich mich für mehrere Wochen auf eine Mission begebe. Ich bejahe beides, wohl wissend, dass für den Fall, dass dies tatsächlich Realität werden sollte, noch einige Gespräche notwendig sein werden.

Der Abschied von den anderen Kandidat:innen ist emotional. Die intensiven Tage haben uns zusammengeschweißt, aus Fremden ist in kurzer Zeit eine Schicksalsgemeinschaft geworden. Es werden Beteuerungen ausgetauscht, in Kontakt zu bleiben, E-Mail-Adressen und Ermutigungen machen die Runde. Spontan nehme ich mehrere Personen im Auto bis zum Flughafen in München mit. Auf der Fahrt nutze ich die Konzentration aufs Fahren als Vorwand, um nur zuzuhören. Wieder dreht sich die Unterhaltung um die ESA, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Personen aus dem Raumfahrtbereich und die International Space University (ISU), an der viele das Space Studies Program (SSP) absolviert haben. Ich versuche, mir so viel wie möglich zu merken und nicht so unwissend zu wirken, wie ich bin. Nachdem sich in München unter Dank und Umarmungen auch die Letzten verabschiedet haben, fahre ich müde, aber erfüllt den Rest der Strecke nach Hause. Zwischendurch muss ich auf einem Parkplatz anhalten und ein wenig schlafen, so übermüdet bin ich. Ich werde wohl ein paar Tage brauchen, um das Erlebte zu sortieren. Ob ich weiterkommen werde, kann ich überhaupt nicht einschätzen. Ich spüre aber, dass ich noch nicht bereit bin, diesen Traum, der gerade erst erwacht ist, schon wieder loszulassen.

Eine Runde weiter

Zum Glück muss ich diesmal nicht lange in Ungewissheit ausharren. Bereits vier Tage später erhalte ich eine E-Mail, die mich zu meiner Ausdauer, meiner Motivation und meinen Fähigkeiten beglückwünscht und mir versichert, wie beeindruckt das Team von mir war.

»Mit großer Freude informieren wir Sie darüber, dass wir Sie in die nächste Auswahlrunde, welche in zwei Wochen in Innsbruck stattfinden wird, einladen.«

Ich habe es tatsächlich unter die letzten 13 Kandidat:innen geschafft und fahre zwei Wochen später zur C-Selection dieselbe Strecke wieder gen Österreich. Diesmal nehme ich bereits von München mehrere Personen mit. Adam aus Großbritannien und Thomas aus den Niederlanden freuen sich wie ich über die geteilten Fahrtkosten. Mein Selbstbewusstsein ist seit dem letzten Mal etwas gewachsen. Das Wissen, dass ich aus dieser beeindruckenden Gruppe tatsächlich ausgewählt wurde, zeigt mir, dass meine Vielseitigkeit – oft als Schwäche im Vergleich zu Expert:innen auf einem einzelnen Gebiet wahrgenommen – hier ein großer Vorteil ist.

Am ersten Testtag, einem Sonntag Mitte Dezember, klingelt der Wecker bereits um 5:00 Uhr. Müde und frierend versammeln wir uns am Treffpunkt am Sillufer für einen morgendlichen Ausdauerlauf. Bei −4 °C joggen wir hinter einem jungen Mann, der sich als Aaron vorstellt, durch die eisige Dunkelheit. Zunächst führt uns der Weg durch ein Industriegebiet. Bald erreichen wir den Stadtrand, wo der Weg sich bergauf zu schlängeln beginnt. Durch den erstarrten Wald, über verharschten Schnee und rutschige Wege kämpfen wir uns zum Schloss Ambras. Die kalte Luft brennt bei jedem Atemzug in meinen Lungen. Erleichtert stelle ich fest, dass ich bei Weitem nicht die Langsamste bin, obwohl ich zugeben muss, dass Berge und ich nicht das ideale Laufpaar sind. Da ich glaube, dass es nicht auf Schnelligkeit, sondern auf Teamwork ankommt, lasse ich mich unauffällig zurückfallen, um den Personen hinter mir eine Chance zum Aufschließen zu geben. Alvaro, der vor mir läuft, erkennt meine Absicht und schließt sich mir an. Mit Galgenhumor und Anfeuerungsrufen motivieren wir die Gruppe und erreichen schließlich die oben wartende Hauptgruppe. Von hier aus haben wir einen traumhaften Blick auf die sich unter uns ausbreitenden Lichter der Stadt. Kaum haben wir ein wenig Atem geschöpft, geht es weiter: am Hang entlang, über schmale Wege und Holzbrücken, die über zugefrorene Bäche führen, bergab und zurück zum Startpunkt.

Eine Dusche ist uns nicht vergönnt. Wir ziehen uns nur schnell um und inhalieren dankbar den vorbereiteten Kaffee oder Tee samt Frühstück. Ein gewisses körperliches Unbehagen ist sicher auch Absicht. Die Astronaut:innen auf der Internationalen Raumstation (ISS) können ebenfalls nicht einfach schnell duschen, wenn sie vom Sport verschwitzt sind. Ich ergattere noch einen zweiten Kaffee, dann versammeln wir uns im ehemaligen Hauptquartier des ÖWF, in dem diese Testrunde stattfindet. Während des Begrüßungsmeetings beäugen wir gespannt die vier Kandidaten, die in dieser Runde zu uns stoßen. Liad, Gilad, Elishai und Alon kommen aus Israel, dem Partnerland für die nächste geplante Mission. Sie wurden als nicht-europäische Kandidaten separat in ihrem Land ausgewählt, und zwei von ihnen werden am Ende gemeinsam mit uns das Basistraining durchlaufen. Viel Zeit für Neugier bleibt jedoch nicht, bevor die Tests des heutigen Tages starten. Die erste Herausforderung soll neben unseren Englisch-Kenntnissen überprüfen, wie schnell wir neue Inhalte erfassen, aufbereiten und wiedergeben können. Dazu lauschen wir einem Forscher der Universität Glasgow, der einen mit Fakten gespickten Vortrag über Geologie und Vulkanologie des Mars hält. In rasendem Tempo mache ich mir Notizen, um keine Information zu verpassen. Ich lerne unter anderem, dass der Mars nahezu vollständig durch Satelliten kartiert wurde. Damit ist seine Oberfläche besser erforscht als manche Teile der Erde. Die irdischen Ozeane und besonders die Tiefsee sind nämlich bisher nur zu etwa 20 Prozent erfasst.17 Außerdem erfahre ich, dass die Valles Marineris auf dem Mars eines der größten Grabenbruchsysteme im Sonnensystem sind und mit 7000 Metern Tiefe rund dreimal so tief wie der Grand Canyon. In den folgenden 20 Minuten Vorbereitungszeit zermartere ich mir den Kopf, wie ich das eben Gehörte möglichst knapp und korrekt, aber auch spannend wiedergeben kann, und beschließe dann, es als Vorteil zu betrachten, dass ich erst einmal zu einer anderen Aufgabe wechseln muss. So bleibt mir etwas Zeit, um die schwirrenden Informationen in meinem Kopf zu ordnen.

Ich soll zunächst meine literarischen Fähigkeiten unter Beweis stellen und innerhalb von 30 Minuten einen Blogbeitrag über meine bisherigen Erfahrungen während des Auswahlprozesses schreiben. Tatsächlich fließt der Text mühelos in die Tasten. Dann ist es so weit, und wir haben pro Person vier Minuten Zeit, um unseren Vortrag zu halten. Zusätzlich zu den Kandidat:innen sind etwa 50 weitere Personen einem Aushang mit Ankündigung gefolgt. Wie schon erwähnt, bin ich nicht gerade fürs Scheinwerferlicht geboren. Vor anderen zu sprechen, war in der Schulzeit mein absoluter Horror. Doch getreu dem Motto »fake it till you make it« ignoriere ich die aufsteigende Gesichtsröte und biete meine Fakten halbwegs kohärent dar. Ich erhalte sogar einige Lacher zu meinen geplanten Pointen und wohlwollenden Applaus, als ich erleichtert zurück zu meinem Platz gehe – und meine schweißnassen Hände unauffällig an meiner Hose abwische.

Mein persönliches Highlight folgt auf dem Fuße. Bei der nächsten Aufgabe sitzt jede:r von uns vor einem Pappteller mit weißen und schwarzen Reiskörnern und erhält ein Paar Essstäbchen. Es wird erklärt, dass unsere Feinmotorik geprüft werden soll und wir die Reiskörner, ohne sie mit unseren Händen zu berühren, farblich trennen und dabei zählen sollen. Ich fühle mich wie Aschenputtel, und eine Stimme in meinem Kopf wiederholt während der nächsten 60 Minuten unablässig »die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen«. Schnell habe ich mir ein System überlegt, bei dem ich mit dem breiten Ende der Stäbchen die Körner in Häufchen zu je zehn Körnern schiebe. Ich gerate bei solchen Aufgaben, wenn ich mich voll konzentriere, leicht in eine Art Tunnel und arbeite daher zufrieden vor mich hin. Erst als ich durch ein Fluchen und Poltern, mit dem einer der Kandidaten frustriert seinen Teller von sich schiebt und aus dem Raum stürmt, aus meiner Konzentration gerissen werde, fällt es mir auf: Mindestens zehn Personen laufen zwischen den Tischen hin und her, atmen den Kandidat:innen über die Schulter, klicken mit Kulis neben ihren Ohren, schieben Stühle geräuschvoll über den Boden oder stoßen sogar an Tische. Nach einer Dreiviertelstunde geht eine besonders perfide Person herum und schüttet neue Reiskörner auf die fast fertig sortierten Teller. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass sie dabei ziemlich schuldbewusst dreinschaut. Spätestens an dem Punkt ist mir klar, dass vielmehr – oder zumindest ebenso – unsere Frustrationstoleranz und Konzentrationsfähigkeit bei repetitiven Tätigkeiten unter Stress getestet werden. Verstohlen schaue ich in die teils recht verkniffenen Gesichter um mich herum und stelle mir vor, wie mindestens zwei meiner Kinder parallel »Mamaaa!« rufen, während ich Essen koche, das Handy für ein Organisationstelefonat zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Ich verkneife mir ein Lächeln. Das ist mal ein Test, auf den ich optimal vorbereitet bin.

Am Nachmittag stehen diverse Teambuilding-Übungen auf dem Programm. Wir treffen uns in einem anderen Gebäudeteil, den wir in der kurzen Pause zwischen zwei Testblocks erreichen müssen. Emmanuelle aus Frankreich kommt mit einigen Minuten Verspätung an und vergießt in ihrer stressbedingten Verzweiflung einige Tränen. Während ich beruhigend mit ihr rede, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass auch dieser Umgang mit Orientierung, Pünktlichkeit und Zeitdruck unseren Beobachter:innen nicht verborgen bleiben wird. Ich habe großes Mitgefühl mit Emmanuelle, die mir besonders im Sportteil des ersten Auswahlwochenendes um Längen überlegen war. Wir nehmen uns gemeinsam vor, uns die Freude an der Erfahrung nicht durch stete Gedanken an Auswahlkriterien verderben zu lassen. Im Laufe des Nachmittages frage ich mich sogar mehrmals, ob es überhaupt in Ordnung ist, so viel Spaß bei einer so ernsten und wichtigen Sache zu haben. Ich freue mich, mehr Zeit mit den anderen Kandidat:innen verbringen und endlich mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen. Wir stapeln Holzklötze, die durch miteinander verschlungene Seile verbunden sind, in gemeinschaftlicher Arbeit zu einem Turm. Dann haben wir in drei Gruppen 15 Minuten Zeit, um Papierflieger zu konstruieren. Das Team, dessen Flieger die weiteste Strecke schafft, gewinnt. Was spielerisch klingt und auch von viel Lachen und wohlwollendem Necken zwischen den Teams begleitet wird, hat einen ernsten Hintergrund. Ich spüre an mir selbst, wie ich einerseits gern die Führung übernehmen und meine Lösungsideen umsetzen möchte. Andererseits traue ich dann doch eher dem Ansatz des Raumfahrtingenieurs in meinem Team. Wir überlassen recht einvernehmlich ihm die Führung und setzen um, was er uns sagt. Diese Entscheidung erweist sich als richtig, als unser Flieger unter lautem Jubel bis ans andere Ende des Parkplatzes gleitet. Sieg!

Wie werden Menschen ausgewählt, die unter extrem anspruchsvollen und potenziell gefährlichen Bedingungen für lange Zeit isoliert arbeiten sollen? Welche Charaktere, Fähigkeiten und Eigenschaften sind dabei besonders förderlich oder hinderlich? Wie ergänzen sich diese Menschen bestmöglich in einem Team? Diese Fragen beschäftigen die Forschung schon lange. Ob bei Expeditionen, auf Bohrinseln, im Militär, auf Forschungsstationen in der Antarktis oder auf einer Raumstation – ob eine Gruppe von Menschen unter extremen Bedingungen erfolgreich ist oder es zum Desaster kommt, hängt zu einem großen Teil von genau diesen Faktoren ab. Die Raumfahrt greift auf eine Tradition von Auswahlverfahren zurück, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem Testpiloten mit militärischem Hintergrund und Eigenschaften wie Belastbarkeit, Durchsetzungsvermögen und Risikobereitschaft selektierten. Sie wurden zu Astronauten ausgebildet, deren Hauptaufgabe die Steuerung von Raumschiffen war. Je mehr diese von der Technik übernommen wurde, desto stärker verlagerte sich der Schwerpunkt zu längeren Forschungsaufenthalten im All. Die Anforderungen an Astronaut:innen wurden vielfältiger. Um als Crew viele Wochen und Monate auf der ISS oder später bei einer Reise zum Mars zurechtzukommen, sind weitere Eigenschaften gefragt. Neben dem Abwägen und Eingehen von Risiken müssen Astronaut:innen zusätzlich anpassungsfähig sein, sozial kompatibel mit ihrem Team interagieren und Konflikte lösen können. Es werden Personen ausgewählt, die mit Phasen der Langeweile oder Eintönigkeit gut zurechtkommen, die aber genauso gut mit stressigen Momenten umgehen können, in denen alles auf einmal geschieht und Ruhe, Kreativität und Flexibilität gefragt sind. Die Fähigkeiten, schnell neue Sachverhalte zu erfassen, verschiedene Sprachen zu sprechen und sowohl intellektuell-wissenschaftlich als auch manuell-technisch zu arbeiten, werden genauso wie körperliche Fitness als Grundlagen vorausgesetzt. Besonders wichtig sind außerdem Vielfalt und Zusammensetzung der Teams. Verschiedene Fähigkeiten und Persönlichkeiten sollten sich in einer Gruppe ergänzen, denn am Ende ist es Teamarbeit, die zum Erfolg führt.18, 19, 20

All das ist mir an diesem Nachmittag im Winter 2018 noch nicht bewusst. Daher folge ich bei der für mich unangenehmsten Aufgabe des Tages meinem Bauchgefühl. Jede:r von uns soll – zu meiner Erleichterung jeweils einzeln – benennen und begründen, welche sechs Personen wir in der Endauswahl sehen. Am leichtesten finde ich es noch, mich selbst auf Platz drei meiner Liste zu setzen. Selbstverständlich bin ich in meiner Endauswahl dabei! Weder sehe ich mich in Führung noch an letzter Stelle. Schwerer finde ich die übrige Auswahl. Da sind einmal Menschen wie Alon, Daniel, Robert oder auch Emmanuelle, die mir überaus sympathisch sind. Es gibt auch einzelne Personen, die mir zu dominant erscheinen und bei den Tests ihre Ellbogen so sehr benutzten, dass sie mir unangenehm auffielen. Andere blieben so ruhig und unauffällig, dass ich sie entweder unterschätze oder sie tatsächlich den Aufgaben im Zweifel nicht gewachsen wären. Gehe ich allerdings nicht nur nach Sympathie, sondern überlege auch, wer in einer Krise ein Ruhepol wäre oder wem ich zutraue, ein technisches Problem kreativ zu lösen, so muss ich schweren Herzens manche Personen auf meiner Liste weiter nach unten und andere nach oben schieben. Am Ende ringe ich mich zu einer Auswahl durch und fühle mich dabei irgendwie schuldig. Alle hier sind unglaublich tolle Menschen, und meine Auswahl hätte definitiv mehr als sechs Plätze, wenn es möglich wäre! Natürlich frage ich mich im Anschluss, ob ich bei den anderen Kandidat:innen auf der Auswahlliste stehe und welchen Einfluss unsere Einschätzungen auf die finale Entscheidung haben werden.

Diese Aufgabe holt mich aus der kameradschaftlichen Stimmung des Nachmittages zurück in die Realität der Konkurrenzsituation. Umso mehr genieße ich es im Anschluss, ohne jeden Druck einfach nur zuhören und zuschauen zu können. Wir erhalten eine Einführung in die Elektronik und den Aufbau der beiden Raumanzug-Simulatoren, mit denen die Analog-Astronaut:innen des ÖWF ihre Extravehikulären Aktivitäten (EVA) – Ausflüge außerhalb des Habitats – durchführen. Ich bin von der Komplexität der Hardware mit ihrer Vielzahl an Teilen, Sensoren und Begriffen regelrecht überwältigt. Mein Respekt vor der Technologie und der potenziellen Aufgabe, mit diesen 50 Kilogramm schweren »Raumschiffen zum Anziehen« zu arbeiten, wächst immer mehr. Der Abschluss des Tages mit einem Film über die Mars2013-Expedition des ÖWF in Marokko21 ist genauso beeindruckend. In unserer Unterkunft zaubert Simone aus Italien Spaghetti Carbonara für unsere Gruppe, und wir diskutieren noch lange unsere Eindrücke des Tages.

Auf Herz und Nieren geprüft

Am nächsten Tag steht für mich die medizinische Untersuchung im Universitätsklinikum an, bei der wir im wahrsten Sinne des Wortes auf Herz und Nieren geprüft werden. Ein Shuttle bringt uns in Gruppen von jeweils vier Personen in das eine Viertelstunde von Innsbruck entfernte Institut für Sport-, Alpinmedizin und Gesundheitstourismus. Während wir warten, wächst meine Nervosität. Heute kann ich nichts beeinflussen, es bleibt nur zu hoffen, dass keine Auffälligkeiten festgestellt werden, die ein Ausschlusskriterium darstellen. Robert aus Innsbruck und Adam sind die Ersten, die hereingerufen werden, während Daniel und ich die Wartezeit nutzen, um ein einminütiges Gruß-Video aufzunehmen. Als weitere Aufgabe sollen wir dieses bis zum Nachmittag hochgeladen haben. Schließlich bin ich an der Reihe, Blut und Urin abzugeben, gemessen, gewogen, abgehorcht und auf meine Reflexe getestet zu werden. Ich beantworte nicht enden wollende Fragen zu meiner Familien- und Krankheitsgeschichte, meiner Ernährung und sonstigen Gewohnheiten. Anschließend werde ich verkabelt, bekomme eine Maske aufgesetzt und darf auf einem Trainingsrad nach Kräften in die Pedale treten. Während über eine Viertelstunde hinweg der Widerstand immer weiter erhöht wird, erhalte ich ein gerinnungshemmendes Mittel. An meinem Ohrläppchen wird alle paar Minuten Blut abgenommen, um die Sauerstoffsättigung und die Stoffwechselprodukte zu messen. Zunächst gehe ich das Ganze noch recht gelassen an. Dann bricht mir jedoch der Schweiß aus, und irgendwann kann ich nur noch im Stehen fahren. Meine Beinmuskeln brennen wie Feuer, meine Lungen lechzen nach Sauerstoff, die Maske verursacht mir Erstickungsgefühle, und mein Ohrläppchen pulsiert schmerzhaft. Dermaßen verausgabt habe ich mich lange nicht mehr. Ich beiße die Zähne zusammen und zwinge mich, auch bei der nächsten Widerstandsstufe noch durchzuhalten. Die drängende Musik, die zur Unterstützung abgespielt wird, hilft mir genauso wie die innere Stimme, die mich anfeuert: »Halte durch! Gleich darfst du ausruhen! Nur noch eine Minute!« Schließlich kann ich beim besten Willen nicht mehr und signalisiere, dass ich abbreche. Verstohlen werfe ich einen Blick auf mein EKG und sehe zu meiner Beruhigung, wie sich meine Werte relativ schnell wieder erholen. Zwar habe ich die Belastung nicht ganz so lange ausgehalten wie einige der anderen Kandidat:innen, dafür zeigen meine Erholungswerte, dass ich fit, trainiert und belastbar bin. Auch der Lungenfunktionstest, bei dem ich tief einatmen und so kraftvoll und lange wie möglich in ein Röhrchen ausatmen soll, verläuft zufriedenstellend. Einmal mehr bin ich froh, dass ich nie auf die Idee kam, zu rauchen. Nach einem letzten Arztgespräch tauche ich nach mehreren Stunden zerstochen, erschöpft und verschwitzt aus den Gängen des Krankenhauses wieder auf.

Zurück in Innsbruck, ist uns diesmal eine Dusche vergönnt. Etwas erholt und von einem Imbiss gestärkt, starte ich in den Nachmittag. Diesmal geht es vor allem um unsere kommunikativen Fähigkeiten. Gemeinsam mit Adrianos aus Griechenland, der als Arzt bei der ESA arbeitet, soll ich abwechselnd ein Bild beschreiben und zeichnen. Das Schwierige ist, dass nur die beschreibende Person das Bild sieht und die jeweils andere anhand der Beschreibung eine möglichst ähnliche Kopie zustande bringen soll. Dank Adrianos’ ruhiger und freundlicher Art ist am Ende sogar eine Ähnlichkeit zwischen Original und Kopie erkennbar. Nach dem anstrengenden Vormittag erlebe ich den Rest des Tages in einer Mischung aus Erschöpfung und vergleichsweiser Entspannung. Dinge, die mir vor zwei Tagen noch Kopfzerbrechen bereitet hätten, fühlen sich jetzt im Vergleich trivial an.

Im Exoskelett bei der Feuerwehr

Der letzte Auswahltag bricht an. Am Dienstagvormittag stelle ich mich einem weiteren administrativen Interview. Vor mir sitzt eine Gruppe aus ÖWF-Vorstand, Analog-Astronaut:innen des vorhergehenden Jahrgangs sowie Psycholog:innen und Ärzt:innen. Die Fragen nach meiner Verfügbarkeit, meiner Motivation, meiner Bereitschaft zu Interviews, öffentlichen Auftritten und Reisen sind konkret und komplex. Ich bemühe mich, wahrheitsgemäß und ausführlich zu antworten, ohne Zusagen zu machen, die ich später nicht einhalten kann. Auf keinen Fall möchte ich mir mit meinen Antworten diese einmalige Chance verbauen, gleichzeitig fällt es mir bei aller Begeisterung und Motivation schwer, abzuschätzen, wie viel Zeit ich tatsächlich würde aufbringen müssen und wie meine Arbeitgebenden und Familie mittel- und langfristig reagieren würden. Auf alle Fälle wird mir klar, dass wir nicht nur über die nächsten Wochen, sondern die nächsten fünf bis zehn Jahre sprechen und welch große Verantwortung ich übernehme, sollte ich zusagen und auch ausgewählt werden.

Meine Familie muss derweil eine Woche vor Weihnachten im größten Feiertagsvorbereitungsstress ohne mich zurechtkommen, damit ich im Anschluss an das Gespräch mit einem 25 Kilogramm schweren Rucksack voller Wasserflaschen auf dem Rücken und einem einschränkenden Exoskelett aus Metall an Armen und Beinen fünf Stockwerke der Innsbrucker Feuerwehr runter- und wieder hochlaufen kann. Die letzten Stufen ziehe ich mich mehr am Geländer hinauf, als dass ich steige, hochrot im Gesicht und laut schnaufend. Mit vor Anstrengung zitternden Muskeln versuche ich, die Muttern, die ich im Keller aus einem Haufen ausgewählt habe, oben auf die passenden Schrauben zu drehen. Dass ich drei Schichten Handschuhe trage, durch die ich keinerlei Fingerspitzengefühl mehr habe, hilft dabei nicht. Frustriert stelle ich fest, dass ich die falsche Mutterngröße gewählt habe. Als ich bemerke, dass auch noch eine Kamera auf mich gerichtet ist, muss ich ob der Absurdität der Situation doch lachen. Zurück im Wartebereich bei den anderen Kandidat:innen, höre ich: »Bist du auch wieder runtergegangen, um eine passende Mutter zu holen?«

Sofort frage ich mich, ob es richtig war, stattdessen um Hilfe zu bitten und die passende Mutter gereicht zu bekommen. Auch an diesen Tagen fühlt sich alles wie ein Test in einem Test an. Wo sich tatsächlich mehrere Faktoren in einem angeschaut werden und wo dieses Gefühl täuscht, wird nie aufgeklärt. Sicher ist nur, dass wir alle diese Art Paranoia entwickeln und nie erfahren, wie wir abgeschnitten haben und welche Lösung oder Antwort die richtige gewesen wäre.

Der Abschied am späten Nachmittag fällt eilig und gedämpft aus. Wir sind alle übervoll mit Eindrücken. Bei der Heimfahrt spüre ich, wie die dauerhafte Anspannung ein wenig nachlässt und die Erschöpfung mich überrollt. Gleichzeitig will mein Kopf nicht zur Ruhe finden, und ich grüble über Möglichkeiten und Eventualitäten. An diesem Wochenende habe ich mich weitaus weniger außerhalb meiner Komfortzone gefühlt als bei der ersten Auswahlrunde. Mit jedem Tag wuchs mein Gefühl von »Arsch auf Eimer«. Ich glaube, ich habe einen Ort gefunden, an dem alles von mir gewünscht ist und gebraucht wird, wo ich nichts zurückhalten muss und wo ich gewollt werde, weil ich bin, wie ich bin, und nicht, obwohl ich bin, wie ich bin. Zwar habe ich Angst davor, zu sehr zu hoffen und dann enttäuscht zu werden. Dennoch habe ich ein gutes Gefühl. Das Warten fühlt sich dann trotzdem fast unerträglich an.

Es ist zwei Tage vor Weihnachten, als mein Telefon klingelt und Gernot verkündet: »Du bist dabei, wir haben uns für dich entschieden.« Ich spüre, wie das Adrenalin in meinem Hinterkopf kribbelt, wie mein Herz einen Hüpfer macht, und springe vor Freude und überschäumendem Glücksgefühl auf und nieder. Außer mir wurden Dr. Adam Crellin (Arzt aus Großbritannien), Dr. Adrianos Golemis (Arzt aus Griechenland), Dr. Robert Wild (Physiker aus Österreich/USA), Dr. Simone Paternostro (Raumfahrtingenieur aus Italien) und Dr. Thomas Wijnen (Astrophysiker aus den Niederlanden) ausgewählt. Aus Israel sind Liad Yosef (Verhaltensökonom und IT-Spezialist) und Alon Tenzer (Neurowissenschaftler und KI-Ingenieur) dabei. Kurz bin ich enttäuscht, dass ich die einzige Frau bin. Dann tanze ich jedoch – eher untypisch für mich – laut jubelnd durchs Haus. Das ist das beste Weihnachtsgeschenk überhaupt!

DREI:

VOM ÜBERLEBEN IN DER WILDNIS BIS ZUM ANDOCKEN AN DIE ISS IM SOJUS-SIMULATOR

»I do not study to learn more, but to be ignorant of less.«22

Sor Juana Inés de la Cruz (Nonne und Dichterin)