Wo ist Alma? - Brigitte Glaser - E-Book
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Wo ist Alma? E-Book

Brigitte Glaser

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Beschreibung

Incis zweiter Fall. Ostwestfalen?! Muss das sein? Inci kann es nicht fassen, dass sie für den praktischen Teil ihrer Ausbildung aufs platte Land muss. Ausgerechnet sie, Großstadtmädchen durch und durch! Aber dann erweist sich die Provinz doch als Glücksfall. Inci tut sich mit einigen Mitschülern zusammen und gemeinsam gründen sie die coolste WG, die man sich überhaupt vorstellen kann. Soweit so gut. Bis plötzlich ihre Mitbewohnerin und Kollegin Alma verschwindet. Als sie nach zwei Nächten immer noch nicht zurück ist, fangen sie an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wo steckt Alma bloß? Und während die Gruppe sich nicht darüber einig werden kann, was nun zu tun ist, ahnt Inci, dass ihre Mitbewohnerin in größter Gefahr sein könnte ...

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Inhalt

Über das BuchÜber die AutorinTitelImpressumDer beste Ort der WeltVerkehrskontrolleKaterstimmungSpurensucheZeit des MisstrauensWenn Gefahr droht, schliesst die ReihenHeimatausflugStochern im NebelWo ist Alma?Witterung aufnehmenWer ist Ole?Fünf FreundeDank

Über das Buch

Incis zweiter Fall. Ostwestfalen?! Muss das sein? Inci kann es nicht fassen, dass sie für den praktischen Teil ihrer Ausbildung aufs platte Land muss. Ausgerechnet sie, Großstadtmädchen durch und durch! Aber dann erweist sich die Provinz doch als Glücksfall. Inci tut sich mit einigen Mitschülern zusammen und gemeinsam gründen sie die coolste WG, die man sich überhaupt vorstellen kann. Soweit so gut. Bis plötzlich ihre Mitbewohnerin und Kollegin Alma verschwindet. Als sie nach zwei Nächten immer noch nicht zurück ist, fangen sie an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wo steckt Alma bloß? Und während die Gruppe sich nicht darüber einig werden kann, was nun zu tun ist, ahnt Inci, dass ihre Mitbewohnerin in größter Gefahr sein könnte …

Über die Autorin

Brigitte Glaser, aufgewachsen am Rande des Schwarzwalds, studierte in Freiburg Sozialpädagogik und ging dann nach Köln. Sie war einige Jahre in der freien Jugendarbeit tätig, bevor sie sich fürs Schreiben entschied. Ihre große Leidenschaft galt immer schon den Krimis und so war ihre erste Buchveröffentlichung 1996 der Krimi Kölsch für eine Leiche. Von 2001 bis 2008 schrieb sie für den Kölner Stadtanzeiger Kurzkrimis, in denen jeweils ein anderes Kölner Veedel im Mittelpunkt stand. Inzwischen hat Brigitte Glaser sieben Krimis und zwei Jugendthriller veröffentlicht. 8 Tage im Juni ist das erste Jugendbuch der Autorin bei Boje.

Brigitte Glaser

Wo ist Alma?

Incis zweiter Fall

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2016: by Bastei Lübbe AG, Köln

Grafiker: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

unter Verwendung von Motiven © Tammada/shutterstock; ©Luria/shutterstock

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel

ISBN 978-3-7325-2946-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Der beste Ort der Welt

Der beste Ort der Welt sah bei ihrer Ankunft gar nicht gut aus. Schon der Weg dorthin, erst durch dieses riesige, menschenleere Militärgelände, dann über eine Holperstraße mit Schlaglöchern, ließ Böses ahnen. Und dann standen sie vor diesem dreckigen, einsam gelegenen Haus. Die Fenster klein wie Schießscharten, das Dach an mehreren Stellen löchrig, die Tür abweisend wie ein Gefängnistor. Die Bank neben dem Eingang windschief und uralt. Rechts des Hauses ein verwahrloster Garten mit drei kahlen Apfelbäumen. Daran baumelten ein paar vergessene Hutzeläpfel, die der Frost braun gefärbt hatte.

Das Haus kam ihnen wie eine zusätzliche Strafe vor. Zuerst der Super-GAU, die Nachricht, dass sie hier in diesem Kaff, irre weit entfernt von Köln, ihre praktische Ausbildung machen mussten. Und jetzt auch noch diese miserable Unterkunft. Hallo, was sollten sie hier? War das ein Härtetest, oder was? Und drinnen, was erwartete sie da? Flöhe im Bett, Kohleöfen oder gar keine Heizung, Plumpsklo im Hinterhof, blinder Spiegel im Bad, vielleicht nicht mal fließendes Wasser? Inci hätte nie gedacht, dass es in Deutschland noch so primitive Häuser gab. Das hier war schlimmer als Ostanatolien.

Nur zögerlich traten sie ein, als Alma die Tür öffnete und sie im Haus ihrer Großmutter willkommen hieß. Und dann staunten sie nur noch. Über die freundliche Küche mit den lindgrün gestrichenen Schränken, Eckbank und großem Tisch. Über das schwimmbadblau geflieste Badezimmer, in dem es nicht nur fließendes warmes und kaltes Wasser, sondern auch eine Badewanne gab. Über die Zimmer in den oberen Stockwerken, wo sie sich wie in einem Schullandheim um die besten Schlafplätze balgten. Über die gemütlichen Sofas und den offenen Kamin im Wohnzimmer. Offener Kamin, wirklich! Tausend Filme im Schnelldurchlauf, tausend Bilder von Leuten vor flackerndem Kaminfeuer.

Seit vier Wochen wohnten sie nun bereits hier: Alma, Jeanette, Yüksel und Inci, die vier Exilkölner. Dazu noch Daniel aus einem Dorf im Teutoburger Wald. Fünf angehende Polizisten in einer WG. Fünf blaue Polizeianoraks an den Haken im Flur, darunter fünf Paar hässliche Outdoor-Schuhe, fünf Zahnbürsten im Becher neben dem Waschbecken, fünf Kaffeetassen auf dem Küchentisch, fünf Handys an Ladekabeln, fünf blaue Trainingshosen auf der Wäscheleine. Wie bei den sieben Zwergen, auch wenn sie nur fünf waren. Dafür wohnten sie von Köln aus gesehen hinter mehr als sieben Bergen im tiefsten Ostwestfalen.

Als Alma vorschlug, dass sie zusammenziehen könnten, fanden das alle praktisch und vernünftig. Begeisterung war nicht im Spiel. Sie suchten ja keinen Ort zum Wohlfühlen, sondern nur eine billige Unterkunft in der Nähe des Trainingslagers. Dass sie sich so gut verstehen würden, damit hatte keiner gerechnet. Die Empörung über den unfreiwilligen Umzug in die Provinz verzog sich wie flüchtiger Morgennebel. Der miese erste Eindruck von dem einsamen grauen Haus am Waldrand löste sich in Luft auf, weil sich dieses Haus wie durch Zauberhand in den besten Ort der Welt verwandelte.

Dank der Frühaufsteherin Alma zog morgens der Duft von Kaffee durch den Flur, und manchmal ästen Rehe auf der Wiese vor dem Küchenfenster, wenn sie sich zum Frühstück trafen. Bei biestigem Nieselregen zeichneten sie Comics an die beschlagenen kleinen Scheiben, als es dann fror, starteten sie schlaftrunken zum morgendlichen Dauerlauf und malten mit ihrem warmen Atem Dampfwolken in die Luft. Als endlich Schnee fiel, lieferten sie sich die erste Schneeballschlacht, noch bevor sie zum Training fuhren.

Nichts war schöner, als danach nach Hause zu kommen. Dann hackte Daniel Holz, dann feuerte Yüksel den Kamin an, dann kochte Jeanette Tee, und Alma und Inci schafften verbliebene Keksvorräte und für die Jungs Essensreste herbei. Mit dicken Strümpfen an den Füßen kuschelten sie sich auf den beiden Sofas, den zwar scharfen, aber auch heimeligen Geruch von verbrennendem Holz in der Nase, das Knacken und Knistern der Holzscheite im Ohr. Sie schlürften heißen Tee, zerbröselten Kekse, vertilgten Reste und palaverten über den Tag. Sie lästerten über ihre Trainer, sprachen über Dinge, die sie gelernt hatten, diskutierten wild über dies und das oder stöhnten über blaue Flecken und Muskelkater.

Wenn sie vom Reden genug hatten, kabbelten sie sich um den letzten Keks oder jagten sich wegen nichts und wieder nichts durchs ganze Haus. Treppauf und treppab, über knarrende Holzdielen und eiskalten Fliesenboden, unterbrochen von hitzigen Kissenschlachten oder wilden Fangspielen. Sie rutschten das Treppengeländer hinunter oder den schmalen Hausflur entlang, um irgendwann wieder auf die Sofas zu sinken, kichernd und wohlig erschöpft. Dort blieben sie träge hängen, bis einer von ihnen Hunger bekam und sie sich auf den Weg in die Küche machten.

Yüksel machte die besten Köfte, Jeanette die besten Rouladen, Alma die beste Tomatensoße, Inci den besten Nudelsalat, und Daniel war der weltbeste Esser. Überhaupt waren sie in allem die Besten. Die beste WG, die besten zukünftigen Polizisten, die besten Freunde, der beste Kurs. Da allerdings widersprach Daniel immer, weil er als Einziger von ihnen nicht in Kurs 5 war.

Besuch kam selten und war auch nicht nötig. Sie waren sich selbst genug. Die Eltern, die Freunde weit weg, selbst Mo war für Inci plötzlich Lichtjahre entfernt. So viel Neues, so viel Spannendes. Fünf Typen, tausend Eigenheiten. Yüksel zum Beispiel hängte im Badezimmer immer alle Handtücher gerade, Alma schloss als Einzige ihr Zimmer ab, Jeanette schrieb Putzpläne und Einkaufslisten, Daniel machte jeden Morgen fünfzig Klimmzüge an der Teppichstange, und Inci sauste einmal am Tag auf ihrem Montello davon. Nur sie hatte ihr Rad mitgebracht, Daniel und Jeanette zum Glück ihre Autos. Ohne fahrbaren Untersatz ging hier wenig. Bester Ort der Welt, das ja, aber immer noch tiefste, miefigste Provinz. Langweilige Dörfer, abends tote Hose, kilometerweit nichts als Wald und Wiesen plus das riesige, steppenähnliche militärische Sperrgebiet. Wo sonst würde sich wohl in Deutschland ein Wolf ansiedeln?

Yüksel berichtete als Erster von dem Gerücht, dass im Heidekraut des Sennelagers ein Wolf gesichtet worden war. Keine zehn Kilometer von ihrem Haus entfernt. Jeanette fielen sofort tausend schreckliche Wolfsgeschichten ein, Alma war der Wolf nicht mehr als ein Schulterzucken wert, aber Yüksel und Daniel steckten sich gegenseitig mit ihrer Begeisterung für das Tier an. Der Wolf, so schwärmten sie, war klug, stark und zäh. Er schlug sich wacker allein, aber im Rudel war er unschlagbar. Genau wie sie fünf.

Später fragte sich Inci manchmal, ob sich das Dunkle schon in der Zeit eingeschlichen hatte, als der Wolf auftauchte. Ob das Tier ein Vorbote des Unheils war, ob es, wie im Märchen, das Böse mitbrachte. Blind begeistert von ihrer WG hatten sie eine einfache Wahrheit vergessen: Es gab kein Licht ohne Schatten, kein Hell ohne Dunkel.

Unübersehbar wurde das Dunkle spätestens bei dem Zwischenfall auf dem Verkehrsübungsplatz.

Verkehrskontrolle

Auf dem Land gab es mehr Regen, mehr Schnee, mehr Wind und auch mehr Kälte. Das Wetter war irgendwie extremer als in der Stadt. Das bekamen sie ab dem ersten Tag im Trainingslager zu spüren. Sosehr sie beim Überreichen der Uniformen im Polizeibekleidungscenter über die dicken Anoraks, die klobigen Schuhe und die warmen Hosen gelästert hatten, mit jedem Tag, den sie hier im Freien verbrachten, schätzten sie die robuste Kleidung mehr. Polizeiarbeit, das lernten sie schnell, war vor allem Outdoor-Arbeit.

Für Kurs 5 stand an diesem Morgen das Fach Verkehrskontrolle auf dem Stundenplan. Bei gefrorenem Boden, gefühlten minus 15 Grad und sibirischem Wind standen sie sich auf dem Verkehrsübungsplatz die Beine in den Leib und froren wie die Schneider. Kriminalhauptkommissarin Kehrer, ihre Düsseldorfer Ausbilderin, ließ sie zum Aufwärmen immer mal wieder ein paar Liegestütze machen und turnte selbst mit, denn auch sie fror. Kriminalhauptkommissar Kahlenberg, ihr zweiter Ausbilder, rollte dabei mit den Augen oder brummte »Weicheier« in seinen Bart. Ihm war nie kalt. Er kam aus der Gegend und war entsprechend abgehärtet. Überhaupt waren K & K, wie sie sie nannten, ein ungleiches Paar. Die Kehrer von hitzigem Temperament, der Kahlenberg dagegen wortkarg und so trocken wie altes Brot.

Zu zehnt froren sie sich in Kurs 5 den Hintern ab. Neben den vier Exilkölnern noch vier andere Jungen und zwei Mädchen, die aus der Gegend kamen. Alle rissen sich darum, das Auto zu fahren, denn das verhieß Wärme, auch wenn’s im Schnitt nicht mehr als zehn Minuten zum Auftauen am Lenkrad gab. Dann waren die Nächsten dran, und wie immer stand die Chance eins zu drei, als Fahrer an den Start zu gehen. Die anderen beiden mussten das korrekte Anhalten eines Wagens bei einer Verkehrskontrolle üben. Von wegen Kelle raus, Auto stoppen, Papiere kontrollieren, ins Röhrchen pusten lassen. Die Sache war tausendmal komplizierter. Da machte man sich gar keine Vorstellungen, was es da alles zu beachten gab. Von der Wahl des richtigen Ortes, um ein Auto anzuhalten, über den sicheren Stand, von dem aus man die Kelle schwenkte, bis hin zum Bedienen des EC-Gerätes, wenn ein Verwarnungsgeld fällig war. Ganz zu schweigen von den Belehrungspflichten. Und dann, oberstes Gebot, K & K wiederholten es immer wieder: »Ein Polizist arbeitet niemals allein, immer zu zweit. Ein Polizist gleich kein Polizist, Solotänzer gibt es nicht, alles ist Teamwork. Sie müssen sich immer vorher darüber verständigen, wer bei einem Einsatz welchen Part übernimmt. Einer handelt, einer sichert.«

An diesem Morgen sollte Alma den handelnden Part übernehmen und Inci den sichernden. Yüksel, der Glückspilz, durfte den Wagen fahren. Schon im warmen Auto sitzend, lauschte er der Kehrer, die sich zu ihm hinunterbeugte und ihm zuflüsterte, wie er Alma und Inci aus dem Konzept bringen sollte. Dann fuhr er davon, wendete ein paar hundert Meter weiter und wartete auf Kahlenbergs Startzeichen. Alma ließ sich von Kehrer die Kelle reichen und stellte sich auf ihre Position, Inci dahinter. Kahlenberg hob die Hand, und Yüksel kam angefahren. Alma schwenkte die Kelle. Yüksel bremste scharf ab und ließ sich von Alma auf den vorgesehenen Halteplatz lotsen, hielt an, stellte aber den Motor nicht aus. Alma und Inci näherten sich dem Fahrzeug, Alma auf der Fahrer-, Inci auf der Beifahrerseite. Alma war als Erste beim Auto und forderte Yüksel auf, seine Papiere zu zeigen. »Einen Moment«, sagte er, beugte sich zum Handschuhfach hinüber, nur um dann blitzschnell aufs Gaspedal zu treten und davonzubrausen. »Verfolgung!«, schrie Alma wütend und rannte zum Polizeiwagen, aber K & K brachen die Übung ab. Alma stapfte zurück und warf Inci, die stehen geblieben war, die Kelle zu. Inci fing sie auf und wusste nicht, was sie damit anfangen sollte.

»Dumm gelaufen«, brummte Kahlenberg, und alle Kursteilnehmer grinsten mehr oder weniger breit, nur Jeanette seufzte.

»Warten wir auf Öztürk«, entschied Kehrer.

Als Yüksel das Auto geparkt hatte und zu ihnen stieß, bildeten sie wie immer einen Kreis. »Feedbackrunde, Herrschaften«, begann Kehrer und klopfte sich dabei die Arme warm. »Adelhorst, Yildiz«, wandte sie sich an Alma und Inci. »Was ist passiert? Wie schätzen Sie die Übung ein?«

»Yildiz hätte viel schneller sein müssen«, legte Alma los. »Warum hat sie die Beifahrertür nicht geöffnet? Spätestens als er sich zum Handschuhfach hinüberbeugte, hätte sie das tun müssen. Man muss doch immer mit allem rechnen.«

Yildiz, seit wann nannte Alma sie in der Feedbackrunde beim Nachnamen? Inci verstand nicht, was mit Alma los war. Blickkontakt, in zig Übungen hatten sie das eingehämmert bekommen und geprobt, Blickkontakt zwischen den Partnern war überlebenswichtig. Immer und immer wieder musste man sich versichern, ob der Partner bereit war, ob er Schritt A erledigt hatte, wenn man selbst Schritt B machen musste. Aber Alma hatte sie bei der ganzen Übung keines Blickes gewürdigt, sie war vorgeprescht, als wäre sie der einsame Rächer der Enterbten, als gäbe es die Regel »Ein Polizist ist kein Polizist« nicht, als spielte sie in einem Film, zu dem nur sie das Drehbuch kannte. Klar, Alma war immer für eine Überraschung gut, Alma liebte den großen Auftritt, Alma gab sich gern unberechenbar. Aber Alma hatte noch nie jemanden grundlos in die Pfanne gehauen und einen aus der WG schon gar nicht. Aber genau das tat sie im Augenblick mit Inci.

»Yildiz?«, fragte Kehrer, als Alma geendet hatte.

Inci brachte keinen Ton heraus, ihr fehlten die Worte. Als sie in die Runde schaute und ihr Blick den von Jeanette traf, zuckte die verstört mit den Schultern. Sie verstand Almas Verhalten genauso wenig wie Inci. Alma war doch eine von ihnen. Mit Alma saß Inci jeden Nachmittag Schulter an Schulter auf dem Sofa, mit Alma bildete sie ein unschlagbares Team, wenn sie in der WG Bezzerwizzer spielten. Mit Alma konnte sie über Jungs im Allgemeinen und Mo im Speziellen reden. Von Alma fühlte sich Inci auch in Dingen verstanden, über die sie nur in Andeutungen sprachen. Bis gerade eben war sie überzeugt gewesen, dass Geheimnisse bei Alma sicher aufgehoben wären und dass sie mit Alma eines Tages auch über ihre Geheimnisse reden könnte, aber jetzt war sie erst mal froh, dass sie darüber noch nichts erzählt hatte.

»Yildiz, jetzt mal Butter bei die Fische!« Die Kehrer jetzt einen Ton fordernder, Kahlenberg unterstützte sie mit einem kräftigen Knurren.

»Ich hätte die Beifahrertür schneller öffnen müssen.« Nein, Inci würde nicht zurückschlagen. Sie würde sich hier nicht öffentlich mit Alma streiten, obwohl Alma definitiv die dickeren Fehler begangen hatte. Zu schnell, zu unkonzentriert, zu unüberlegt. Todsünden der Polizeiarbeit. Sie sah Alma an, hoffte auf ein großes Sorry oder auf ein Hey-war-nicht-so-gemeint, aber Alma mied ihren Blick und presste die Lippen zusammen, als fiele es ihr schwer, nicht noch weitere Gemeinheiten auszuspucken. Im Schnelldurchlauf ließ Inci die letzten Tage Revue passieren, fragte sich, ob sie Alma irgendwann beleidigt, im Stich oder links liegen gelassen hatte. Definitiv nicht.

»Wenigstens einmal haben es mir Alma und Inci leicht gemacht«, versuchte Yüksel die Situation zu entspannen. »Den beiden kann doch eigentlich keiner entkommen.«

»Jeder hat mal einen schlechten Tag«, steuerte Jeanette bei.

»Solidaritätsbekundungen sind gut fürs Ego, helfen uns aber in der Polizeiarbeit nicht weiter«, blaffte Kehrer in die kalte Luft. »Also, Leute, was lief schief bei der Übung?«

Alles kam aufs Tapet: der fehlende Blickkontakt, die Abwesenheit jeglicher Kommunikation, Almas Alleingang, Incis zögerliche Reaktion.

»Zum Glück ist Öztürk nur davongefahren«, meinte Kahlenberg zum Schluss. »Stellen Sie sich vor, er hätte eine Waffe gezogen.«

Dann wäre die Situation gänzlich aus dem Ruder gelaufen, oder aber Alma hätte sich im Angesicht der Gefahr eingekriegt und mit Inci verständigt. Wenn es dafür nicht zu spät gewesen wäre.

Kehrer beendete schließlich die Diskussion, die nächsten drei gingen an den Start, jetzt durfte Jeanette den Wagen fahren. Doch Incis Aufmerksamkeit war dahin, vergebens suchte sie immer wieder den Blickkontakt mit Alma, die mit verschränkten Armen am Rand der Gruppe stand, den Blick stur auf die Übung gerichtet. Einmal ging Yüksel zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr, aber sie schob ihn unwirsch von sich weg.

In der Ferne bellten die Hunde, die auf dem weitläufigen Gelände für die Polizeiarbeit trainiert wurden, und denen man dabei besser nicht in die Quere kam. Was war Alma in die Quere gekommen, dass sie sich plötzlich so mies aufführte? So ein Verhalten fiel nicht vom Himmel, das musste doch einen Grund haben.

Inci fühlte sich hundeelend und wäre am liebsten davongelaufen. Nach Hause zu Baba und Selin oder noch lieber in Mos Arme. Mo! Zum ersten Mal, seit sie von Köln weg war, vermisste sie ihn schmerzlich. Die ersten Wochen hier waren so leicht dahingeflogen, so prall gefüllt gewesen mit Neuem und Spannendem, dass ihr das Simsen und Skypen mit ihm vollauf genügten, ja, manchmal sogar das zu viel war. Aber jetzt, da Alma dieses Verhalten an den Tag legte, würde sie gerne seinen Arm um ihre Schultern spüren.

Zäh wie Teer zog sich der Tag, unbarmherzig vereiste die Kälte jede Faser von Incis Körper. Um wieder aufzutauen, legte Kurs 5 die Strecke vom Verkehrsübungsplatz zur Turnhalle im strammen Lauf zurück. Nicht einmal beim Festnahmetraining, das vollen Körpereinsatz erforderte, wurde Inci warm. Aber sie sah, dass Alma vor Hitze glühte, als sie Yüksel in die Kniekehlen trat und nach hinten drückte.

Es dämmerte bereits, als der Unterricht zu Ende war. Wie immer trafen sie sich danach auf dem Parkplatz vor Jeanettes Auto. Doch Alma fehlte. Jeanette wollte zurücklaufen und sie suchen, aber Yüksel hielt sie zurück.

»Sie kann mit Daniel fahren, der hat in einer halben Stunde Schluss.«

Inci nickte ihm dankbar zu. Die Vorstellung, auf der Rückbank neben Alma sitzen zu müssen, fand sie unerträglich.

An diesem Abend wirkte der beste Ort der Welt so abweisend wie bei ihrer Ankunft. Als Jeanette den Wagen geparkt hatte und sie ausstiegen, knirschten ihre Schuhe auf dem gefrorenen Boden. Irgendwo bellte ein Hund, in der Ferne dröhnte ein Panzer. Geräusche, die Inci noch nie wahrgenommen hatte. Normalerweise lachten und quatschten sie beim Aussteigen, aber heute hatte es ihnen die Sprache verschlagen. Drinnen machte Yüksel wie immer Feuer, aber er hatte ein feuchtes Holzstück erwischt, und das Wohnzimmer füllte sich mit beißendem Qualm, der sich erst langsam verzog. Jeanette kochte Tee. Erst als sie sich auf die Sofas setzten, brannte das Feuer brav und ruhig. Aber in der Luft hingen noch unsichtbare Reste des Rauchs und der Schock über Almas Verhalten.

»Vielleicht hat sie ihre Tage?«, schlug Yüksel vor.

»Was habt ihr Jungs nur für Spatzenhirne?« Jeanette knallte die Teetasse auf den Couchtisch neben Yüksel. »Wenn ihr ein Mädchen nicht versteht, dann muss sie ihre Tage haben. Was anderes fällt euch nicht ein.«

»Ich wäre froh, wenn es so etwas Einfaches wäre.« Inci streckte ihre Füße in Richtung Feuer. Ihr war immer noch kalt.

»Alma wird’s uns gleich erklären, und beim Abendessen lachen wir darüber«, versuchte Yüksel es mit Optimismus.

Jeanette und Inci nickten lahm, das Gespräch verebbte, jeder brütete stumm vor sich hin. Umso lauter knackte das Holz im Kamin, und sie zuckten zusammen, wenn ein Scheit barst oder das Feuer Funken schlug.

Das Auto hörten sie schon von Weitem. Daniel kam spät. Wie immer ließ er den Motor ein letztes Mal aufheulen, bevor er ihn ausstellte. In der dann folgenden Stille lauschten sie auf das Klatschen der Türen und die Schritte, die dann folgten. War es eine Tür oder waren es zwei Türen, zwei oder vier Füße? Zwei und vier, eindeutig. Wenig später riss Daniel die Tür auf, stürmte ins Wohnzimmer und fläzte sich neben Yüksel auf das Sofa. Ihm folgte nur ein Schwall frischer Luft. Wo blieb Alma?

»Hallo.« Für einen winzigen Moment steckte sie den Kopf ins Zimmer. »Ich lege mich hin. Hab Kopfschmerzen.«

»Brauchst du Aspirin?«, fragte Jeanette und sprang auf.

»Nein, danke.«

Bald knarrten über ihnen die Dielen, Almas Reich lag direkt über dem Wohnzimmer. Dann wurde es still.

»Waren gestern nicht welche von Yüksels Köfte übrig?«, fragte Daniel und rieb sich den Bauch.

Inci deutete mit dem Kopf in Richtung Küche.

»Könnt ihr mir mal sagen, was los ist?«, fragte Daniel, als er aus der Küche zurückkam. »Ist ja ’ne Stimmung wie auf einer Beerdigung. Welche Laus ist euch denn über die Leber gelaufen?« Er setzte sich wieder aufs Sofa, den Teller mit den Köfte auf den Knien.

»Warum kommt ihr so spät?«, wollte Yüksel wissen.

»Frag Alma.« Daniel steckte sich ein Fleischklößchen in den Mund und schmatzte genüsslich. »Könnt ihr mir endlich mal sagen, was los ist?«

»Hat Alma nichts erzählt?«, erkundigte sich Jeanette.

»Zwei Sätze über ihren dröhnenden Kopf, sonst kein Wort«, erklärte Daniel und schob sich das erste Fleischklößchen in den Mund. »Was hätte sie denn erzählen sollen?« Er kaute kräftig und schaute neugierig in die Runde.

»Erzähl du!«, forderte Inci Jeanette auf.

Jeanette berichtete. Präzise und objektiv, fand Inci.

»Und deshalb herrscht hier so miese Stimmung?«, fragte Daniel ungläubig, als Jeanette geendet hatte. »Alma hat Kopfschmerzen, da schießt man schon mal übers Ziel hinaus, aber hey, das ist doch kein Weltuntergang.«

»Ihre Tage, Kopfweh, sag ich ja«, stimmte Yüksel ihm zu.

Alma und Inci betrachteten die beiden, die mit ihren massigen, durchtrainierten Körpern das zweite Sofa ausfüllten. Geballte Kraft, Jungs halt, gut fürs Grobe, aber kein Gespür für Feinheiten. Kopfweh reichte ihnen als Erklärung völlig aus. Um zu bestätigen, dass sie dasselbe dachten, nickten sich Jeanette und Inci zu. Kopfweh war so ziemlich die kläglichste Ausrede, die es gab. Alma musste schwer durch den Wind sein, wenn ihr keine bessere einfiel.

»Ich geh jetzt hoch und rede mit ihr«, entschied Inci.

Jeanette nickte, die Jungs sagten nichts, aber ihr stummes Kauen – Yüksel hatte sich an Daniels Teller bedient – wertete Inci als Zustimmung.

Inci stieg die Treppen hoch und holte tief Luft, bevor sie an Almas Tür klopfte und rief: »Ich muss mit dir reden.«

»Ich habe Kopfweh. Lass mich in Ruh!«, kam es gereizt zurück.

»Alma!« Inci klopfte heftiger gegen die Tür.

Als Antwort wurde Musik aufgedreht. Gangster-Rap, irgendein Stück, das Inci nicht kannte.

»Ich geh hier erst weg, wenn du mit mir geredet hast.« Inci schrie gegen die Musik an.

Keine Antwort. Inci trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür. »Alma«, brüllte sie, »mach endlich auf!« Aber nichts passierte. Jetzt klatschte sie mit den flachen Händen gegen die Tür. Wieder und immer wieder, bis die Hände rot waren und vor Hitze glühten. »Alma!«, brüllte sie und trat gegen die Tür. Sie konnte nicht glauben, was sie da tat, eigentlich war sie doch die Ruhe in Person, sie war doch keine, die schnell ausflippte. Aber gegen die fiebrige Wut, die sich nach der Kälte des Tages in ihr ausbreitete, kam ihr Verstand nicht an.

Jeanette flog die Treppe hoch, ihre Augen flackerten vor Sorge. »Inci, lass gut sein«, flüsterte sie. »So kann aus dem Gespräch nichts werden. Besser ihr schlaft beide eine Nacht drüber.«

»Misch dich nicht ein, ich regle das«, polterte Inci und funkelte Jeanette so lange an, bis sie sich wieder nach unten verzog. Inci blickte ihr nach, beugte sich über das Treppengeländer und sah die beiden Jungs unten im Flur stehen, große Fragezeichen im Blick.

Mit einem hilflosen Schulterzucken lief Jeanette an den beiden vorbei und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dann fiel die Haustür ins Schloss, und bald darauf hörte Inci das kraftvolle Schlagen der Axt und wenig später das leise Poltern der Holzscheite beim Stapeln.

Um sich zu beruhigen, holte Inci zehnmal tief Luft und klopfte dann ganz leise an die Tür. Die Musik wurde ausgestellt, ein gutes Zeichen, fand sie. »Alma, erzähl mir, was mit dir los ist«, flüsterte sie.

»Wenn du mich nicht sofort in Ruhe lässt, werfe ich dich aus dem Haus«, drohte Alma in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie es ernst meinte.

Schlag unter die Gürtellinie. Wie im Flashback eines Films sah Inci Alma und sich im Boxring, sah, wie sie sich mit Schlägen attackierten und traktierten, sich ineinander verkeilten, bis der Ringrichter sie zur Ordnung rief. Egal, wie hart der Kampf war, nie schlug eine von ihnen unter die Gürtellinie. Aber jetzt tat Alma es schon zum zweiten Mal an diesem Tag, und es gab keinen Ringrichter, der das Spiel abpfiff, nur eine verschlossene Tür und die Wut, die die Regie übernahm. Inci spürte keinen Schmerz, als sie ihren Körper gegen die Tür warf, sie sah auch Jeanette nicht, die wieder die Treppe hochflog. Aber sie spürte das sich biegende Holz, und das verlieh ihr Kraft für einen weiteren Stoß. Dann gab die Tür nach, und sie stand in Almas Zimmer.

»Du hast sie ja nicht alle!« Alma in hysterischem Ton. In aller Eile schnappte sie ihre Jacke, stopfte Handy, Portemonnaie und Schlüssel in ihre Taschen und schob sich an Inci und Jeanette vorbei in den Flur.

Schockerstarrt wie sie waren, unternahm keine der beiden den Versuch, Alma zurückzuhalten. Deren Schritte hämmerten über die Holzstufen, dann schlug wieder die Haustür zu. Ihr Knall hallte drohend nach.

»Hey, wo willst du denn hin?«, hörten sie Yüksels besorgte Stimme.

»Alma, warte, ich komme mit!« Daniel.

Eilige Schritte auf dem harten Boden. Noch einmal, jetzt weiter weg, Daniels Stimme, die wieder nach Alma rief und keine Antwort bekam, dann Stille. Plötzlich tickte der große altmodische Wecker neben Almas Bett furchtbar laut, und der Rücken von Hilary Swank auf dem Plakat von Million Dollar Baby wirkte abweisend. Erst da bemerkte Inci, dass sie sich immer noch in Almas Zimmer befand. Als sie zur Tür sah, stand Jeanette im Türrahmen.

»Schau mal«, sagte sie und fuhr mit dem Finger über die offene Tür. »Sie war gar nicht abgeschlossen. Du hättest nur die Klinke nach unten drücken müssen. Sie ist nicht kaputt«, stellte sie fest und schloss und öffnete die Tür ein paar Mal.

»Pah!«, pflaumte Inci, stürzte aus dem Zimmer, an Jeanette vorbei die Treppe hinunter und dann durch die Haustür hinaus ins Freie. Kälte schlug ihr entgegen und verdoppelte ihren Herzschlag. Sie brauchte einen Moment, um sich in der Dunkelheit zu orientieren. Im schwachen Licht der Hoflaterne sah sie Yüksel, bepackt mit Holzscheiten. Er schaute sie kurz an, dann wendete er den Kopf und lauschte in die Dunkelheit. Auch sie hörte die nahenden Schritte, und kurze Zeit später tauchte Daniel auf.

»Nichts zu machen«, sagte er. »Die rennt und rennt und rennt, weiß der Teufel wohin. Lässt sich nicht stoppen.«

»Kommt rein«, flehte Jeanette in der Haustür. »Ihr holt euch sonst noch den Tod.«

Das Abendessen verlief so schweigsam wie noch nie. Keiner wagte sich an eine Erklärung. In ihren Blicken nichts als Ratlosigkeit.

»Wo kann sie denn hin?«, fragte Jeanette irgendwann. »Was, wenn sie die ganze Nacht da draußen herumirrt? Was, wenn der Wolf …?«

»Sie ist ein großes Mädchen, ihr passiert nichts«, unterbrach sie Yüksel.

»Starker Abgang, Mannomann«, ergänzte Daniel. »Wusste gar nicht, dass Alma so eine Dramaqueen ist.«

Inci sagte nichts. Irritiert stellte sie fest, dass die Jungs die Sache wirklich nicht ernst nahmen, sie das Ganze als hysterische Mädchenkiste abtaten. Wie konnten sie nur so blöd sein? Sie rannte nach oben, knallte die Zimmertür hinter sich zu und verstand sich selbst und die Welt nicht mehr.

Nachts schreckte sie aus dem Schlaf, irgendwo im Haus schlug eine Tür auf und zu. Sie tapste in den Flur, machte Licht, ging nach unten, sah, dass die Kellertür offen war. Sie schloss sie, drehte zur Sicherheit den Schlüssel um und stieg wieder leise nach oben. Als sie Almas Zimmer passierte, war die Tür verschlossen. Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten und warf einen Blick ins Innere. Das Flurlicht fiel auf den muskelbepackten Rücken von Hilary Swank und auf das unbenutzte Bett unter dem Filmplakat.

Alma war nicht nach Hause gekommen.

Katerstimmung

Am nächsten Morgen fühlten sich alle, als hätten sie die Nacht durchgesoffen und würden dafür mit einem Kater bestraft. Die Aspirin-Packung machte die Runde, der Kaffee lief noch, Jeanette hatte die Maschine erst vor einer Minute angestellt. Normalerweise war der Kaffee schon fix und fertig, weil Alma doch …

Stumm führten sie die Tassen zum Mund, in der Stille fiel der leere Platz in ihrer Mitte umso mehr auf. Daniel schaltete das Radio ein. In den Nachrichten ging es mal wieder um die Dauerthemen Syrienkrieg, Griechenland und Flüchtlinge. Der Wetterbericht prophezeite nicht mehr ganz so eisiges Winterwetter. Von Unruhe geplagt, griff sich Inci den Kaffeebecher und lief in den Flur. Sie schloss die Kellertür auf und stieg nach unten. Zugegeben eine verrückte Idee, aber sie wollte die Möglichkeit ausschließen, sie hätte Alma gestern Nacht zufällig hier unten eingesperrt. Doch im Keller fand sich nichts außer altem Plunder und modriger Luft.

»Was sagen wir K & K?«, fragte Yüksel bei Incis Rückkehr. »Ihr wisst, sie reagieren knallhart, wenn einer unentschuldigt fehlt.«

»Habt ihr eure Handys gecheckt?«, wollte Daniel wissen.

Natürlich hatten das alle kontrolliert, bei keinem hatte sich Alma gemeldet. Wie auf ein stummes Kommando hin wählte einer nach dem anderen zum weiß Gott wievielten Mal Almas Nummer, simste oder hinterließ eine Nachricht. Auch ihre Festnetznummer in Köln wählten sie an. Nur der Anrufbeantworter.

»K & K, was meint ihr?«, kam Yüksel auf seine Frage zurück.

»Wir müssen die Wahrheit sagen«, meinte Jeanette. »Sie war so seltsam drauf gestern – und dann einfach abzuhauen, allein da draußen in Wald und finsterer Nacht …«

»Fang bloß nicht wieder mit dem Wolf an«, warf Daniel ein. »Der frisst nur im Märchen Mädchen.«

»Was, wenn sie sich was antun will? Zug, Brücke oder so?«, überging Jeanette den Einwurf.

»Alma? Selbstmord? Nie im Leben«, widersprach Yüksel überzeugt.

»Wir melden sie krank«, schlug Inci vor. »Unentschuldigt darf sie nicht fehlen, sonst kriegt sie richtig Ärger. Einen Tag soll sie schon haben, um sich wieder einzukriegen, bevor wir ihr Verschwinden an die große Glocke hängen.«

Damit waren alle einverstanden. Dennoch bekam Inci eine Gänsehaut, als Almas Polizeijacke so verlassen im Flur hängen blieb, nachdem sie in ihre geschlüpft waren.

»Wo, denkst du, hat sie die Nacht verbracht?«, fragte Yüksel Daniel auf dem Weg zum Wagen.

»Jeder Typ aus dem Trainingslager würde sich darum reißen, Alma sein Bett anzubieten. Ein Anruf genügt«, antwortete Daniel. »Ich meine, Alma ist doch so was von scharf, mit der will doch jeder …«

»Was seid ihr nur für dämliche Machos! Denkt immer nur an das eine«, schimpfte Jeanette sie aus. Dann schloss sie ihr Auto auf.

Inci setzte sich hinter Jeanette auf den Platz, auf dem gestern Alma gesessen hatte. »Schlecht geschlafen?«, hatte Inci sie gefragt, weil sie den Kopf gegen die Scheibe lehnte. »Kommt vor. Auch bei Frühaufstehern wie mir.« Ein kleines Alma-Lächeln, ein kurzes liebevolles Anrempeln, ein Weck-mich-wenn-wir-da-sind. Alles in Butter, und dann zwei Stunden später …

Wie jeden Morgen waren sie nach der Eingangskontrolle die breite Lagerstraße entlanggelaufen. Vorbei an der durch einen Bauzaun abgetrennten Zeltstadt für die Flüchtlinge, die seit letztem Sommer auf dem Polizeigelände aufgebaut war. Dann waren sie, die Sporthalle rechts liegen lassend, bis zu Gebäude 2.3 gestiefelt, in dem sich ihre Spinde befanden. Dort legten sie ihren Gürtel um, steckten die Handschließen, die alle immer Handschellen nannten, in die Ledertasche am Gürtel, klemmten die Übungswaffe in die dafür vorgesehene Halterung, setzten ihre Wollmützen auf, steckten RSG und EMS ein. Alma hatte sich, wie schon so oft, über die vielen Abkürzungen lustig gemacht, die sie lernen mussten und zu benutzen hatten. RSG gleich Reizstoffsprühgerät und EMS gleich Einsatzmehrzweckstock. Hallo? Wer dachte sich solche Worte aus? – WUTs, Wortungetüme, nannte Alma sie. Sie hatte Spaß daran, neue, möglichst unsinnige Abkürzungen zu erfinden.

Der Tag begann mit einem Dauerlauf, dabei waren sie den Kursen 3, 4 und 6 begegnet, die sich ebenfalls warm liefen. Jeanette hatte Daniel zugewinkt, als er mit Kurs 6 ihren Weg kreuzte. Alle hatten gelacht, als er danach stolperte. Dann waren sie auf dem Verkehrsübungsplatz angelangt. Alles wie immer, keine besonderen Vorkommnisse. Und doch, etwas musste in der kurzen Zeit auf dem Weg von den Spinden bis zum Verkehrsübungsplatz mit Alma passiert sein. Aber sosehr Inci auch überlegte, sosehr sie sich den gestrigen Morgen vergegenwärtigte, sie fand nichts.

Auch heute liefen sie die Lagerstraße entlang bis zu Gebäude 2.3. Es war immer noch kalt, aber nicht mehr so sibirisch wie gestern, der Wind fehlte. Hundertschaftstraining stand auf dem Stundenplan, da mussten sie schwere Montur anlegen. T-Shirt, Unterziehschutzweste, Pullover, Einsatzanzug, Gürtel mit allem Drum und Dran, Handschuhe, Helm, Überziehschutzweste, Schutzschild. – »UZW und ÜZW tun jeder guten Figur weh.« Zwei von Almas erfundenen Abkürzungen. UZW, wussten sie inzwischen, gab es im Abkürzungskatalog wirklich, hatte aber nichts mit den Schutzwesten zu tun, sondern bedeutete »Unmittelbarer Zwang«.

Sie machten sich auf den Weg zum Einsatzort, schlossen sich den anderen Kursen an, die ebenfalls an der Übung beteiligt waren. K & K warteten mit den übrigen Trainern.

»Nicht komplett«, stellte Kahlenberg nach einem Blick auf Kurs 5 fest. »Wer fehlt?«

»Alma Adelhorst«, meldete Inci, nachdem es weder Yüksel noch Jeanette taten. »Ist krank. Wollte zum Arzt.«

»Ihr habt sie hoffentlich wegen gestern nicht zur Schnecke gemacht.« Die Kehrer musterte sie mit Röntgenblick. Sie wusste, dass sie gemeinsam in einer WG wohnten. »Fehler passieren. Jeder kann mal einen schlechten Tag haben.«

»Los geht’s«, kommandierte Kahlenberg. »Fünferreihen, Schild vor die Brust, EMS in die Hand, Abmarsch Richtung Wald.«

Während der Übung, die vollste Konzentration erforderte, dachten sie nicht an Alma, aber als Jeanette und Inci zwei Stunden später verschwitzt und erledigt in der Mädchentoilette standen, musste Inci an das letzte Hundertschaftstraining denken und an den Spaß danach. Sie hatten sich gemeinsam mit Alma schiefgelacht, als sie sich breitbeinig, mit den Händen die Hosen festhaltend, durch die schmalen Türen in die Toiletten zwängten. Alma schrie: »Jetzt weiß ich, warum sie in Terminator nie gezeigt haben, wenn Schwarzenegger aufs Klo musste.« »Habt ihr gehört, dass es Einsätze gibt, zu denen man Pampers anziehen muss?«, fragte Jeanette. »Das ist nicht wahr, oder?«, fragte Inci ungläubig. »Doch, wenn der Einsatz Stunden dauert und du nicht aufs Klo kannst«, versicherte Jeanette. »Stellt euch mal Yüksel und Daniel mit Pampers vor«, kicherte Alma, und sie bogen sich vor Lachen. »Trotzdem haben es die Jungs besser«, meinte Jeanette, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Die müssen beim Pinkeln nicht die Hosen runterlassen.«

Damals war das Pinkeln ein Riesenspaß gewesen, heute war es lästig, und die Uniform empfanden sie als schwere Last. Sie waren froh, als sie sie am Ende des Tages ablegen konnten.

Als sie in die WG zurückkamen, empfing sie das Haus dunkel und düster, dabei hatten alle gehofft, es würde drinnen Licht brennen. Aber weder öffnete ihnen Alma die Tür, noch war sie im Haus, und nichts deutete darauf hin, dass sie in ihrer Abwesenheit hier gewesen war. Hektisch machten sie sich an ihre täglichen Arbeiten. Daniel hackte Holz, Yüksel feuerte den Kamin an, Jeanette kochte Tee, und Inci wärmte Essensreste auf. Bevor sie sich auf die Sofas setzten, schalteten sie alle Lichter im Haus an, vergaßen auch die Hoflaterne nicht. Ohne dass es einer von ihnen laut sagte, hofften sie, Alma mit dieser Festbeleuchtung anzulocken. Festbeleuchtung! Als wäre Alma ein scheues Reh, das sich im Wald verbarg und auf ein Zeichen wartete, um sich zu nähern. Blödsinn, dachte Inci. Wenn Alma eines nicht war, dann scheu.

Immer wieder schauten sie auf ihre Handys, riefen dies und das auf, hofften auf ein Zeichen, eine Nachricht, auf die leibhaftige Alma. Aber sie kam nicht.

»Ich habe mal bei den Typen aus den anderen Kursen nachgefragt«, erzählte Daniel irgendwann. »Nix. Alma hat bei keinem von denen gepennt. Und glaubt mir, mit einer Eroberung wie Alma gibt jeder gern an. Den will ich sehen, der das geheim hält.«

»Schließ nicht immer von dir auf andere«, warf Yüksel ein. »Wenn Alma Geheimhaltung wünscht, würden bestimmt viele …«

»Du vielleicht«, spottete Daniel. »An dir ist ein edler Ritter verloren gegangen.«

Jeanette warf Inci einen vorsichtigen Blick zu.

»Bin ich jetzt etwa schuld, oder was?«, motzte Inci und rückte ein Stück von Jeanette ab. »Ihr wisst doch, was Alma gesagt hat.«

»Du hättest die Situation nicht so eskalieren lassen dürfen«, karrte Jeanette nach.

»Zickenalarm! Himmel hilf!«, stöhnte Daniel.

»Alma hat die Verkehrsübung verkackt, es aber Inci in die Schuhe geschoben«, warf Yüksel ein. »Inci hat auf dem Platz cool reagiert und nicht zurückgehauen, sie war cool, als sie nach oben ging, hat freundlich gefragt, ganz ohne Vorwürfe. Und dann kommt Alma mit dieser Rauswurf-Geschichte. Klar hat sie Inci damit zur Weißglut gebracht.«

»Ist das jetzt so eine Türken-halten-immer-zusammen-Nummer oder was?«, fragte Daniel.

»Hast du sie noch alle?«, fuhr Inci ihn an. Erst Jeanette, jetzt Daniel. Heute war jeder auf Krawall gebürstet.

»Leute, hört auf!« Yüksel sprang auf und machte eine beruhigende Handbewegung. »Wer sagt uns denn, dass Alma wegen Inci aus dem Haus gelaufen ist? Die ist doch keine empfindsame Mimose, die kann doch was wegstecken. Wir kennen doch Alma.«

»Wirklich?« Daniel, provokant.

»Tut mir leid, Inci«, lenkte Jeanette ein. »Weißt du, ich mach mir halt Vorwürfe, dass ich dich nicht daran gehindert habe.«

»Das ist doch Schwachsinn! Glaubst du wirklich, wenn ich nicht wütend geworden wäre, dann wäre sie nicht davongelaufen?« Inci schüttelte erbost den Kopf.

Daniel sprang auf. »Bin sofort wieder da.«

Als er zurückkam, hielt er ein Ladekabel in der Hand. »Das hat sie vergessen. Bestimmt ist ihr Akku leer. Kein Wunder, dass wir sie nicht erreichen.«

»Wenn sie keine unserer Handynummern auswendig weiß, könnte sie uns übers Festnetz anrufen.« Inci deutete auf das orangefarbene Telefon auf dem Fensterbrett, das aus dem vorigen Jahrhundert stammte. »Das funktioniert noch. Alma kennt die Nummer.«

»Sie will nicht mit uns sprechen«, behauptete Jeanette. »Oder sie kann nicht.«

»Würde sie bei ihren Eltern unterschlüpfen?«, fragte Yüksel.

»Einen Versuch ist es wert«, meinte Inci. »Die wohnen in Bielefeld.«

Sofort begannen alle im elektronischen Telefonbuch nach Adelhorst in Bielefeld zu suchen.

»Zum Glück nur drei Treffer«, stellte Yüksel fest.