Wo lassen Sie denken? - Reinhard Kreissl - E-Book

Wo lassen Sie denken? E-Book

Reinhard Kreissl

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  • Herausgeber: Diederichs
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Wer noch immer an die hehre Wissenschaft glaubt, sollte dringend Reinhard Kreissls irrwitzigen Milieubericht inhalieren. Er handelt vom Tanz um Geldtöpfe, von hybriden Hirnforschern und allgegenwärtigen Fernsehexperten, von statistischen Mogeleien und hanebüchenen Gutachten, vom Pendelschlag zwischen Genie und Wahnsinn.

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Seitenzahl: 181

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Inhaltsverzeichnis

VORWORTWISSENSCHAFT MACHT GANZ SCHÖN DUMMSCHÖNHEIT, GESUNDHEIT, WOHLERGEHENLÖSUNGEN OHNE PROBLEM-VERSTÄNDNIS – DIE WISSENSCHAFT ALS ZAUBERLEHRLINGICH UND MEIN GEHIRN – EIN SCHNAPPSCHUSSFREE WILLY – HAT DER MENSCH EINEN FREIEN WILLEN UND WENN JA, WOZU BRAUCHT ER IHN?WAS ZUM TEUFEL IST EIN OZONLOCH?THEORIEN HABEN WICHTIGERE EIGENSCHAFTEN, ALS WAHR ZU SEIN – ODER: WIE ENTSTEHT WISSENSCHAFTLICHER ERFOLG?WEGE IN DIE WISSENSCHAFT − ODER: DIE SELBSTSELEKTION DER GRAUEN MÄUSEEXZELLENZZENTREN AUF DRITTMITTELMASS – WIE MAN MIT GELD KEINE GUTE FORSCHUNG MACHTKÜNSTLICHE INTELLIGENZ – ODER: DER DENKENDE MENSCH ALS CRUISE MISSILEDES KAISERS NEUE KLEIDER – WISSENSCHAFT IM DIENSTE DER POLITIKSTATISTIK – DER VERZERRTE BLICK VOM FELDHERRNHÜGELDIE STEIGBÜGELHALTER DER ORDNUNGDIE (STATISTISCHE) KONSTRUKTION GESELLSCHAFTLICHER ÄNGSTE – EIN BEISPIELCopyright

VORWORT

Wer im Glashaus sitzt soll mit Steinen werfen. Das bringt frische Luft und lässt den Wind wehen. Der wirbelt die Dinge durcheinander und das kann amüsant und hilfreich sein. Außerdem: Scherben bringen Glück.

Sosehr sich die Wissenschaften auch bemühen, die Haltung der Distanz zu wahren, die Dinge von außen zu beobachten und das Objekt der Erkenntnisbegierde nur nicht zu berühren, so sehr sind sie gleichzeitig heillos verstrickt in eine Welt, die sie nicht sehen wollen oder können. Die eine oder andere dieser Verstrickungen wird hier in den ironischen Blick genommen. Dies ist kein wissenschaftliches Buch. Es enthält weder Fußnoten noch ein langes Literaturverzeichnis. Es ist eher ein Sudelbuch über die Wissenschaft an sich und für sich, geschrieben mit der Haltung desjenigen, der den Elfenbeinturm lieber umkreist, als sich darin dauerhaft einzumieten. Es macht mehr Spaß, dessen weiße Wände mit unflätigen Gedanken zu besprühen, als sie täglich auf Hochglanz zu polieren, was letztlich nur der Selbstbespiegelung Vorschub leistet. Das Schreiben gegen die Ordnung der Dinge und für die fröhliche Wissenschaft schärft den gesunden Menschenverstand und der ist in der Wissenschaft leider kein gern gesehener Gast.

Das Buch verdankt Diskussionen mit Freunden und Kollegen viele Anregungen. So manche Boshaftigkeit entsprang aus abendlichen Gesprächen mit meinem geschätzten Freund, Kollegen und Mitbewohner Heinz Steinert. Es gibt wenige, mit denen man so wunderbar hemmungslos und anregend über die eigene Profession herziehen kann. Lars Ostermeier hat mich auf die wunderbare Figur des Afghanistanexperten hingewiesen. Zu danken ist an dieser Stelle auch vielen anderen, die als Empirie vor der Haustüre in langen Jahren akademischer Tätigkeit mir das Anschauungsmaterial für dieses Buch geliefert haben. Ihnen sei in der Form einer Verneigung vor dem Monument des unbekannten Forschers gedankt. Widmen schließlich möchte ich das Ganze meinem viel zu früh verstorbenen Freund und großen Pataphysiker Uwe Opolka, der sein Leben der Wissenschaft gewidmet hat und dabei vor lauter Engagement für die Sache nicht mehr dazu gekommen ist, sich gemäß der Hausordnung des Elfenbeinturms durch die Degradierungszeremonien nach oben zu arbeiten.

WISSENSCHAFT MACHT GANZ SCHÖN DUMM

Im Figurenkabinett für das große Puppentheater der öffentlichen Debatte findet sich der Wissenschaftler neben dem Nationaltrainer, dem Politiker, dem Fernsehkoch und der Talkmasterin als Experte für die menschheitsbewegenden Fragen, die von den anderen nicht erschöpfend beantwortet werden können. Zwar kann ein Politiker sich über den Klimawandel auslassen, aber der unterstützende Kommentar eines wissenschaftlichen Experten gibt jeder Politikermeinung zusätzliches Gewicht. Auch die Ratschläge eines Fernsehkochs zum Thema gesunde Ernährung machen mehr her, wenn sie durch wissenschaftliche Studien untermauert werden. Und wenn der Nationaltrainer neue und ungewohnte Trainingsmethoden einführt, dann macht es sich gut, wenn er einen einschlägig ausgewiesenen Weißkittel im Schlepptau führt.

Oft sind alle diese Figuren schon beschimpft und geschmäht worden, relativ gut weggekommen ist bisher lediglich der Wissenschaftler. Das soll sich mit diesem Buch ändern. Hier wird der Wissenschaft schonungslos zu Leibe gerückt. Dabei geht es nicht um jene Art von Wissenschaftskritik, die in der Erfindung der Glühbirne und anderen technischen Innovationen die Ursprünge allen Übels sehen will. Diese Form von Wissenschaftsfeindlichkeit macht ebenso dumm wie der Glaube an die neuesten Befunde und aktuellsten Fantasien, die in der Wissenschaft Theorien heißen. Denn wer wollte leugnen, dass unser tägliches Leben ohne Wissenschaft und Forschung heute kaum vorstellbar ist? Angefangen vom Aspirin oder anderen Medikamenten am nächsten Morgen bis hin zur Beantwortung allfälliger Sinnfragen, die sich so mancher im Rückblick auf den Abend davor stellt – ohne die Ergebnisse der Wissenschaft wäre die Menschheit anders aufgestellt.

Man sollte sich aber im Angesicht dieser Einsicht hüten, von nützlicher und guter Wissenschaft zu reden, die dann der unnützen und schlechten gegenübergestellt wird nach dem Motto: wozu brauchen wir das, wenn sich damit weder ein Spiegelei braten noch die Armut der Welt beseitigen lässt. Wissenschaft nach ihrem praktischen Nutzen zu bewerten ist hanebüchener Unsinn. Kein Wissenschaftler kann sich hinsetzen und sagen, jetzt erfinde oder entdecke er etwas Nützliches. Die Tatsache, dass Wissenschaftler zu solchen Versprechungen genötigt werden, weil sie sonst keine Mittel bekommen, um ihrer manchmal teuren Arbeit nachzugehen, hat der Wissenschaft mehr geschadet als genutzt. Unter Nützlichkeitsgesichtspunkten ist die Finanzierung von Wissenschaft und Forschung so etwas wie der Einsatz von Risikokapital. Am Ende kann wirklich etwas dabei herauskommen, aber das ist weder vorhersehbar noch vorrangiges Ziel. Gute wissenschaftliche Arbeit ist getrieben vom Interesse an der Frage: Wie funktioniert x eigentlich? Wobei x die Übertragung der Erbinformation in der Zelle, der Aktienmarkt oder die Scheidungsrate sein kann.

Aber wir wollen hier nicht von guter, sondern von schlechter Wissenschaft reden; wir wollen auch nicht jammern, sondern einen kritischen Blick auf die Wissenschaft werfen und wo immer es sich anbietet, Häme ausschütten. Und dann werden wir die Fackel der Aufklärung entzünden, auf dass ein jeder, der Augen hat zu sehen, erkennen möge, wie tief diese Welt im Un- und Wahnsinn steckt und welche Rolle die Wissenschaft dabei spielt.

Betreten wir nun das weite Feld der Wissenschaft und stellen zuerst fest, dass wir es in diesem Buch nicht vollständig werden durchmessen können. Was Sie erwartet ist eine Auswahl, ein natürlich selektiver Querschnitt durch die wissenschaftlichen Disziplinen und eine Auseinandersetzung mit den akademischen Sumpf- und intellektuellen Stilblüten, die dort zu finden sind. Besonders gut gedeihen diese Gewächse an der Grenze zur Welt der Medien, dort werden sie gepflückt, entfalten ihre Pracht und verwelken, ohne dass es einer merkt.

Noch ein Wort zum Aufbau des Buches: Wir beginnen salopp mit aktuellen Beispielen und wenden uns den Themen zu, auf die sich die neuesten Meldungen über die neuesten Forschungsergebnisse konzentrieren – Hirnforschung beispielsweise oder die Forschungen über das Wesen des Menschen, die mit den Vorsilben Neuro- und Psycho- etikettiert sind.

Haben Sie sich dann etwas warm gelesen, folgen anhand von Beispielen ein paar notwendige Bemerkungen über das Handwerkszeug der Wissenschaft und seiner Handhabung. Freuen Sie sich auf leicht Verständliches über scheinbar Kompliziertes zum Thema: Wie funktioniert Wissenschaft eigentlich?

Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit den aktuellen Verhältnissen im Elfenbeinturm. Einfach gesagt geht es um die Frage: Wo kommt die Kohle her, wo geht sie hin und was muss man tun, um an die großen Geldtöpfe zu kommen. Für die Lektüre spricht hier, dass es – vorausgesetzt, Sie zählen zur Mehrheit der abhängig Beschäftigten – um Ihr Steuergeld geht, denn Wissenschaft lebt von öffentlichen Mitteln (womit andere dann wieder private Gewinne machen, aber dieses Problem streifen wir nur am Rande).

Nebenbei blicken wir auf ehrwürdige Beispiele aus der Geschichte und mehr oder weniger große Geister, die dort herumspuken. Wir begegnen pendelnd zwischen Genie und Wahnsinn diversen Geistesgrößen, die ihre jeweilige Kultur nachhaltig geprägt haben.

Am Ende hört das Buch auf. Man soll sich vor großen Synthesen hüten – diese Überzeugung zieht sich durch den gesamten Text. Schließlich käme man in Widerspruch zu den eigenen Überzeugungen, wenn man vorgibt, allgemeine Lehren ziehen zu können, während man seitenweise dagegen polemisiert. Vielleicht hat sich am Ende eher der Blick auf die wundersame Welt der Wissenschaft ein wenig verschoben, ist schärfer und respektloser geworden ... und dann hat es sich gelohnt, dieses Buch gelesen zu haben.

SCHÖNHEIT, GESUNDHEIT, WOHLERGEHEN

Studieren Sie regelmäßig Ihr Horoskop? Verfolgen Sie die Mondphasen oder spielen Sie Lotto? Legen Sie Karten, besuchen Sie Weissager? Glauben Sie an das Schicksal? Oder verlassen Sie sich gar auf den gesunden Menschenverstand? Dann sind Sie gegen die Herausforderungen der modernen Wissenschaft gefeit. Legen Sie dieses Buch wieder beiseite und heben Sie es auf, bis sich die Gelegenheit ergibt, es weiter zu verschenken.

Sollten Sie nicht zur Gruppe derjenigen gehören, die auf diese Fragen mit Ja antworten, sondern sich für einen aufgeklärten Zeitgenossen halten, die an den Segen und Fortschritt der Wissenschaft glauben – Ausnahmen: die Atombombe und die gentechnisch veränderten Nahrungsmittel! – , dann halten Sie hier ein Brevier in Händen, das Ihnen die Lektüre von Horoskopen als attraktive Alternative erscheinen lassen wird, ein Buch, das Sie konsequent zur Rehabilitierung des gesunden Menschenverstands anleitet. Was im Übrigen nicht heißen soll, dass Horoskope und gesunder Menschenverstand das Gleiche sind, sondern nur, dass es sich im Angesicht wissenschaftlich verbrämter Lebenshilfe um gleichwertige Alternativen handelt. Sie sehen, man kann Äpfel mit Birnen vergleichen, wenn man den richtigen Maßstab findet – willkommen in der Welt des wissenschaftlichen Denkens.

Nehmen wir zum Beispiel die Gesundheit: Mehr Karotten essen und das Risiko für bestimmte Krankheiten geht zurück; aber auch Rotwein, in Maßen genossen, lässt den Herzinfarkt unwahrscheinlicher werden. Wer dazu noch regelmäßig Klavier übt, gelegentlich joggt und ausreichend schläft, kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hundert Jahre werden. Es kann aber auch sein, dass in den Karotten, selbst, nein, gerade wenn sie vom Biobauern kommen!, so viel Giftstoffe enthalten sind, dass die Leber Schaden nimmt, was dann wieder den Abbau des Alkohols vom Rotwein beeinflusst und auf Dauer vielleicht auch den Schlafrhythmus durcheinanderbringt, sodass man erstens zu müde zum Joggen ist und zweitens die Lust am Klavierüben verliert mit der Folge eines frühen und möglicherweise von schrecklichen Leiden begleiteten Ablebens. Das alles gilt natürlich nur, wenn Sie in einer Region mit geringer Luftverschmutzung und gemäßigten Ozonwerten wohnen und es in Ihrer Familie keine Vorbelastung für bestimmte Krankheiten gibt. Auch Ihre berufliche Belastung im psychotoxischen Bereich müsste da noch berücksichtigt werden.

Entsprechende Ratschläge erteilen einschlägige Periodika – das sind je nach Interesse und Bildungsstand: die Bäckerblume und Apothekerzeitung, Der Spiegel sowie die Gesundheits-, Wissens- oder Wissenschaftsseiten der gehobenen Tagespresse, Geo, der Scientific American, Science oder Nature. Auch die PNAS (das sind die Proceedings der National Academy of Science) oder die bei Friseuren und in Wartezimmern von Ärzten ausliegenden einschlägigen Postillen bieten Aufklärung und Anregungen. Wer das Lesen ohnehin für eine aussterbende Kulturtechnik hält, sei auf Google oder die einschlägigen Magazinsendungen im Fernsehen verwiesen. Dort erteilen telegene Experten Rat in Gesundheitsfragen.

Die Wissenschaft schreitet voran, freilich im Zickzack. Wenn gestern das eine Vitamin noch zu den Guten gehörte, kann es sein, dass es morgen schon als schädlich eingestuft wird, weil neue Befunde vorliegen. Die ungesättigte Fettsäure, das freie Radikal, Cholesterin, Glyzerin oder linksdrehende Pilzkulturen erfordern als Mittel der Gesundheitsförderung dauerhafte Beobachtung, denn sie wandern regelmäßig vom Guten zum Bösen und wieder zurück, bis sie verschwinden und als völlig wirkungslos eingestuft von der Bildfläche der wissenschaftlichen Beobachtung verschwinden. Die Älteren erinnern sich in diesem Zusammenhang noch an die dem Spinat zugesprochene gesundheitsfördernde Wirkung. Im Spinat befinde sich in hoch angereichter Dosis Eisen und das sei für das Wachstum und die Entwicklung des kindlichen Organismus besonders wichtig. Ich habe mich als Kind immer gefragt, warum man uns dann nicht mit Nägeln fütterte oder Eisenspäne über den Pudding streute, statt uns diese schreckliche grüne Pampe vorzusetzen. Wie sich irgendwann herausstellte, basierte das Ganze auf einer fehlerhaften Berechnung, eine Zehnerpotenz war irgendwo bei der Nährwertberechnung übersehen worden. Auch der Hinweis, dass im hinteren Kaukasus oder auf den japanischen Inseln die Lebenserwartung deutlich höher liege als in unseren Breiten, wird häufig auf Ernährungsgewohnheiten zurückgeführt. Vitale Greise mit Knoblauchzehen und Kefir in der Hand dienen als Vorbild für langes Leben, ebenso wie verhutzelte Japanerinnen, die im Kimono ihren hundertzehnten Geburtstag feiern – weil sie sich angeblich ihr Leben lang hauptsächlich von Reis und Fisch ernährt haben. Wer seine Ernährung konsequent auf Kefir und Knoblauch umstellt, wird vielleicht älter, weil er dauernd in Bewegung bleibt, um zur Toilette zu rennen oder sozialen Kontakten aufgrund seiner Ausdünstungen hinterherlaufen muss. Auch die Hoffnung auf die segensreichen Wirkungen einer Fischdiät wird vermutlich enttäuscht, wenn man bedenkt, dass es sich bei dem Fisch, der hierzulande auf dem Tisch landet, meist um ein Breitbandantibiotikum mit Gräten handelt. Handelsübliche Shrimps oder Lachs stammen aus Zuchtanlagen, in denen die Tiere entsprechend medikamentös behandelt werden, um die Verbreitung von Krankheiten zu verhindern, die in den engen Gehegen ausbrechen und die Ernte der Fischfarmen bedrohen können.

An solchen Beispielen zeigt sich die Doppelgesichtigkeit von Wissenschaft im Kontext von Lebens- bzw. Ernährungsberatung. Während einerseits mit mehr oder weniger gesicherten Thesen über die Wirkungsweise bestimmter Nährstoffe in bestimmten Nahrungsmitteln Versprechungen auf langes und gesundes Leben begründet werden, können mit den gleichen Methoden auch die Grenzen und Risiken solcher Heilsversprechen aufgezeigt werden. Hier kommt Wissenschaft dann als eine der Spielerinnen in den Debatten über Risiko und Unsicherheit ins Spiel.

Die verschiedenen Diäten, die in regelmäßigen Abständen über die Medien an die Konsumentinnen herangetragen werden, kommen selten ohne wissenschaftliche Begleitmusik aus. Erst redet man den Leuten ein, sie seien zu dick, und dann sagt man ihnen, was die neueste Ernährungsforschung herausgefunden hat: Sie mögen auf dieses verzichten, jenes dafür vermehrt zu sich nehmen und keinesfalls Äpfel mit Kartoffeln mischen oder nach Sonnenuntergang noch Fleisch essen. Das Ganze mal mit Alkohol, mal ohne, mal gekocht oder gedünstet, das andere Mal roh und unbehandelt. Natürlich funktioniert dieser Voodoozauber nur, wenn er strikt nach den Vorgaben des jeweiligen Gurus im weißen Kittel zelebriert wird und möglichst auch noch unter Verwendung der Markenprodukte, die dieser empfiehlt. Würzen Sie Ihre Diätspeisen nicht mit irgendeinem Salz oder Essig, sondern verwenden Sie nach Möglichkeit nur das Meersalz aus der nördlichen Bretagne oder den unbehandelten Aceto Grand Cru kalt gerührt. Es versteht sich von selbst, dass derartige Spezialzutaten nur in entsprechenden Spezialgeschäften zu speziellen Preisen zu erwerben sind. Es geht dabei wie gesagt nicht um geschmackliche Besonderheiten, feines Aroma oder exotische Gaumenfreuden, sondern um den Dienst an der eigenen Gesundheit.

Die Liste der Dinge, die man seinem Körper über die Nahrung zuführen sollte, wird dank solcher Kampagnen jede Woche neu aufgestellt und wer wirklich auf sich achten möchte und statt Vergnügen am Essen zu empfinden, die Nahrungsaufnahme als Beitrag zum langen Leben betrachtet, der oder die wird in regelmäßigen Abständen seine Vorratsschränke durchforsten müssen, um jenes zu entsorgen und damit Platz zu schaffen für die aktuellsten Lebenselixiere. – Sollte sich jetzt bei Ihnen der Verdacht einschleichen, es verhalte sich bei den aktuellen, wissenschaftlich untermauerten Vorschlägen für gesunde Ernährung um eine ähnliche Abfolge von Neuerungen wie im Bereich der Mode, so liegen Sie sicher nicht falsch. Nicht umsonst spricht man von Modeärzten; analog könnte man auch den Begriff der Modewissenschaftler einführen.

Im Lauf der Zeit hat die Wissenschaft im Bereich von Gesundheit und Schönheit die Hausmittel verdrängt. Der Hausverstand der Altvorderen wurde durch den Sachverstand der Forscher ersetzt. Das liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass eine kalte Dusche am Morgen oder ein nachts geöffnetes Fenster im Schlafzimmer nicht annähernd so gut zu verkaufen sind wie die Präparate einer Pharmaindustrie, denen gesundheitsfördernde Wirkungen zugesprochen werden. Wie immer vorbildlich ist hier das Mutterland allen Wahnsinns, die USA. In den dortigen Supermärkten läuft man durch unendliche Regalschluchten, in denen garantiert nährstofffreie Nahrungsmittel angeboten werden, um dann kurz vor der Kasse auf die Abteilung mit den Nahrungsergänzungspillen zu stoßen. Alles, was die Nahrung nicht enthält, führt sich der gesundheitsbewusste Amerikaner in Pillenform zu: Spurenelemente, Vitamine und sonstige eigentlich im Essen enthaltene Substanzen müssen extra erworben werden. Es ist, als würde man für teures Geld ein Auto kaufen, um dann extra noch einen Motor zu erwerben, damit das Teil auch funktioniert.

Hinzu kommt (und das gilt nicht nur für die USA) die Freude der Medizinerzunft an Tests: Blutwerte, Cholesterol, Leuko- und andere Zyten werden regelmäßig von den Doctores gemessen. Was da wie, wo, in welchen Laboren an Ergebnissen produziert wird, ist alles andere als klar und wie die Werte zu deuten sind, wie sie gedeutet werden – da befinden wir uns bald wieder in der Nähe der Tarotkarten. Auch die Normierungen der Gesundheit wie Body-Mass-Index oder durchschnittlich normale Blutdruckwerte für bestimmte Altersgruppen treten mit dem Anspruch auf »wissenschaftliche Fundierung« an, nur um dann Schrecken einzujagen oder zu beruhigen.

Das alles wäre für sich genommen relativ unschädlich für die Gesundheit und könnte als erfolgreiche Bereicherungsstrategie der Mediziner verbucht werden, würde es nicht die Nebenwirkung der allmählichen und systematischen Verdummung der Menschheit zur Folge haben.

Es ist nämlich so, dass die Entwicklung des pharmakologisch-medizinisch-industriellen Komplexes, der mit den schweren Geschützen der wissenschaftlich fundierten Diagnosen gegen vermeintliche Leiden der Laien antritt, ein Phänomen relativ neueren Datums ist. Und natürlich hat die moderne wissenschaftliche Medizin eine Reihe von Erfolgen zu verbuchen. Wer heutzutage an einem Blinddarmdurchbruch stirbt, ist meist selber schuld. Auch die Einhaltung gewisser hygienischer Standards, die Entdeckung der Erreger bestimmter verbreiteter Krankheiten, all das zählt mit Sicherheit zu den positiven Seiten dieser Entwicklung.

Aber zugleich verkümmert dank dieser Entwicklung das natürliche Gespür für das eigene Wohlbefinden. Vermutlich hätte die Menschheit sich nicht bis zu einer Stufe entwickelt, auf der eine medizinische Wissenschaft entstehen konnte, wäre sie bis dahin nicht in der Lage gewesen, auch ohne diese zu überleben. Eine Grippe ist eine Grippe ist eine Grippe. Sie kommt und geht – mit und ohne Impfung. Es bedarf schon einer gehörigen Panikmache durch die konzertierte Aktion von medizinischen Experten, aufgescheuchten Politikern und gewinnorientierten Pharmaunternehmen, um aus der Tatsache, dass Viren und Bakterien die Menschheit immer wieder ins Visier nehmen, ordentlich Kapital zu schlagen, damit solche Malaisen die Massen in die Wartezimmer und Apotheken treiben.

Apropos Apotheken: Gehen Sie doch mal mit offenen Augen in eine Apotheke oder noch besser, freunden Sie sich mal mit jemanden an, der eine Apotheke besitzt. Nach dem zweiten oder dritten Date wird Ihnen diese Person vielleicht erzählen, wie sich Gewinn und Umsatz ihres Unternehmens zusammensetzt. Neben den im engeren Sinne medizinisch indizierten Medikamenten macht eine Apotheke ihren immer noch beneidenswerten Gewinn vor allem durch den Verkauf irgendwelcher Pillen, Pulver und Elixiere, deren Wirkung in erster Linie durch den mit viel Werbeaufwand geschürten Glauben an ihre Wirksamkeit besteht. Oder auch in den versteckten Nebenwirkungen. Die bekannten, gerade von älteren Mitbürgern geschätzten Herzmittel, von denen morgens ein Gläschen einzunehmen ist, sind im Wesentlichen hochprozentiger Alkohol mit ein paar Kräuterextrakten, der Oma und Opa nach dem Aufstehen zum ersten Schwips verhilft – im Namen der Gesundheit versteht sich. Ein Gläschen aus der teuren Apothekenflasche wirkt einfach besser als ein Jägermeister zum Frühstück. Apotheken, einst Tempel der geheimen und hohen Kunst der Pharmakologie, sind zu Ramschläden der Wohlfühlgesellschaft verkommen, in denen sich die Kundschaft für alle möglichen Zipperlein die neuesten Wundermittel aufschwätzen lässt. Eine Feuchtigkeitscreme aus der Apotheke wirkt vermutlich genauso wenig (oder genauso viel) wie jedes No-Name-Produkt aus dem Drogeriemarkt um die Ecke, aber auch hier gilt die alte Weisheit, dass alles, was viel kostet, auch viel wirken muss. Richtig zum Klingeln kommt Apothekers Kasse, wenn wieder mal eine drohende Pandemie ausgerufen wird. Dann eilt der besorgte Bürger in die Apotheke, um sich präventiv mit den entsprechenden Medikamenten zu versorgen, durch die er die drohende Gefahr, von der keiner so genau weiß, ob sie wirklich besteht, von sich abwenden kann. Es kommt zum Run auf die Regale mit den Impfstoffen und besorgte Gesundheitspolitiker räsonieren öffentlich über Regelungen, wer bevorzugt bedient werden muss: zuerst das medizinische Personal, dann die Feuerwehr, die Polizei und die politisch Verantwortlichen, damit diese dann die dahinsiechende Normalbevölkerung auch ordnungsgemäß vor dem Allerschlimmsten bewahren können – wenn es denn eintritt. Die einzige Pandemie, die sich dann einstellt, ist eine kollektive Hysterie und Paranoia, die auch den letzten vernünftigen Zeitgenossen erfasst.

Erleichtert wird dies durch einen Mechanismus, der in anderen Bereichen der Politik auch immer wieder zum Einsatz kommt. Man schürt die Furcht vor Dingen, die in der Zukunft eintreten, wenn nicht unmittelbar die richtigen Gegenmaßnahmen getroffen werden. Die Angst vor Einbrechern, vor Vogel-, Schweine- und sonstigen Grippeviren oder Krebserkrankungen zeigt immer wieder das gleiche Muster: Tu etwas, denn sonst gibt es eine Katastrophe, die du selbst verschuldet hast. Und so versieht der vermeintlich kluge Zeitgenosse seine Haustür mit Sicherheitsschlössern, rennt zur Impfung und unterzieht sich regelmäßig den jeweils angesagten Vorsorgeuntersuchungen, Darmspiegelungen und sonstigen Torturen in der Hoffnung, dem Bösen und Bedrohlichen ein Schnippchen geschlagen zu haben. Wenn ihm dann nichts widerfährt, wenn die Verbrecher ausbleiben, er nicht von Viren getötet oder vom Krebs zerfressen wird, dann bestätigt er damit die Logik derjenigen, die ihm zur vielfältigen Vorsorge geraten haben. Tritt das Malheur dennoch ein, dann widerlegt es die Ratschläge der Experten keineswegs. Vielmehr ist dann das Verbrechen immer dreister und schlimmer geworden (was neue und verbesserte Sicherheitstechnik erfordert), die Viren haben auf hinterhältigste Weise mutiert (was den Ruf nach neuen und verbesserten Impfstoffen befeuert) und der Krebs wurde zu spät erkannt (was die Forderung nach mehr und häufigeren Vorsorgeuntersuchungen zur Folge hat).

Egal was passiert, die ursprüngliche Gefährdungsdiagnose wird bestätigt, ob Kopf oder Zahl, die medizinischen Experten haben Recht.

Wollen Sie noch wissen, wie Sie Ihre Kinder von klein auf gegen die vielfältigen Schädigungen schützen können, die eine falsche Ernährung, ein verkehrter Erziehungsstil oder die mangelnde Anregung des kindlichen Gehirns nach sich ziehen? Dann nichts wie auf in den Buchladen und ab in die Erziehungsratgeberecke! Am besten schon vor der Zeugung. Oder besser noch bevor Sie sich den dafür erforderlichen Partner aussuchen. Sie glauben gar nicht, was man alles falsch machen kann! Die Psychologie offeriert Ratschläge bei der Partnerwahl, die Dauer und Befriedigungsgrad der prospektiven Beziehung verbessern sollen. Inzwischen gibt es das auch als kommerzielles Angebot im Netz unter der Rubrik der wissenschaftlich fundierten Partnerwahl. Auch hier bieten sich als Alternative zu streng wissenschaftlichen Checklisten auf der Basis umfassender psychologischer Untersuchungen (wer passt zu wem?) der Rückgriff auf Horoskope (Fische passen nicht zu Stieren) oder den gesunden Menschenverstand (will ich mich wirklich mit diesem Menschen fortpflanzen?) an.