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Wann sollten Christen sich aufgrund verschiedener Lehrmeinungen trennen und wann sollten sie nach Einheit streben? Diese Frage lässt sich nicht immer einfach beantworten. Gavin Ortlund schlägt in Wofür es sich zu kämpfen lohnt – und wofür nicht vor, das aus der Medizin bekannte Konzept der Triage auf die theologischen Debatten anzuwenden und so die richtigen Prioritäten zu setzen. Er verwendet dabei vier Kategorien und fordert Christen dazu auf, theologische Diskussionen in Demut zu führen, um die Verbreitung des Evangeliums dadurch zu fördern. • Vom Autor des Christianity Today »Book of the Year 2024« • Ein Buch über Einheit trotz theologischer Differenzen • Hilft, theologische Lehrmeinungen zu gewichten
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Seitenzahl: 195
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein Plädoyer für theologische Triage
Gavin Ortlund
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
Titel des englischen Originals
Finding the Right Hills to Die On: The Case for Theological Triage © 2020 by Gavin Ortlund
Published by Crossway a publishing ministry of Good News Publishers Wheaton, Illinois 60187, U.S.A.
This edition published by arrangement with Crossway.
All rights reserved.
Übersetzung
Jotham Booker
Lektorat
Florian Gostner
Buchgestaltung
Karin Rekowski
Satz
Satz & Medien Wieser
Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet
Druck und Bindung
Finidr
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche
Bibelgesellschaft, Stuttgart
1. Auflage 2025
Best.-Nr. 8652 265
ISBN 978-3-98665-265-4
E-Book 978-3-98665-266-1
© 2025 Verbum Medien gGmbH,
Bad Oeynhausen
verbum-medien.de
Hörbuch 978-3-98665-267-8
DOI 10.54291/x225762624
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Vorwort
Einleitung
Teil 1 Warum wir theologische Triage brauchen
1 Die Gefahr der theologischen Zersplitterung
2 Die Gefahr des theologischen Minimalismus
3 Meine Geschichte mit zweit- und drittrangigen Lehren
Teil 2 Wie wir theologische Triage anwenden
4 Warum es sich lohnt, für erstrangige Lehren zu kämpfen
5 Was zweitrangige Lehren so komplex macht
6 Warum wir uns wegen drittrangiger Lehren nicht spalten sollten
Fazit Ein Aufruf zu theologischer Demut
Danksagungen
Endnoten
Vor einigen Jahren verfolgte ich, wie ein befreundeter Pastor seine Pastorenstelle in Kanada aufgab, um nach Frankreich zu ziehen und den dortigen Gemeinden zu dienen. Sein Französisch war schon ziemlich gut, und die geringe Anzahl evangelikaler Gemeinden dort bewegte ihn sehr. In dem Alter, in dem viele Menschen schon an den Ruhestand denken, fühlte er sich also von Gott berufen, diese große Not zu lindern, und machte sich auf den Weg.
Er war jedoch keine drei Jahre dort, als er aufgefordert wurde, wieder zu gehen – von derselben Gruppe evangelikaler Gemeinden, die ihn zuvor herzlich eingeladen und um Hilfe gebeten hatte.
Um dieselbe Zeit lernte ich einen jungen Mann kennen, der als Missionar in ein slawisches Land ging, das seine Hilfe auf jeden Fall gebrauchen konnte. Ihn bat man schließlich auch, wieder heimzugehen. Er war nicht einmal zwei Jahre dort.
Der erste Mann kam aus einem Gemeindebund, der Alkoholkonsum unter Christen strikt ablehnte. Mit der Auffassung, dass diese Haltung moralisch die einzig richtige war, versuchte er, seine französischen Glaubensgeschwister von der Richtigkeit dieser Position zu überzeugen.Aus ihrer Sicht war er allerdings nicht nur im Unrecht – selbst wenn er recht gehabt haben sollte, machte er ihrer Wahrnehmung nach aus einer Mücke einen Elefanten. Er verschanzte sich hinter seiner Meinung und brachte das Thema so häufig zur Sprache, dass seine Position schon bald unhaltbar wurde.
Der zweite Mann stammte aus einer lockeren Konfession, von der er viele seiner ethischen Praktiken (man kann sie kaum Prinzipien nennen) übernommen hatte. Die slawischen Glaubensgeschwister empfanden ihn als leichtsinnig und undiszipliniert: Man kann doch nicht an Orten baden gehen, wo auch Frauen sind – das machen doch Ungläubige! Sie zeigen viel nackte Haut und untergraben so die Bemühungen der Christen um Keuschheit und Heiligkeit. Leider empfand er ihre Haltung als Einmischung in seine christliche Freiheit, und schon bald wurde er zur Rückkehr in sein Heimatland gedrängt.
Beide Beispiele handeln von den Herausforderungen kulturübergreifender Gemeindepraktiken, die Gavin Ortlund nicht direkt anspricht. Hinter diesen Fragen verbirgt sich jedoch eine noch größere Frage, die er in diesem Buch aufschlussreich und nützlich untersucht. Es ist die Frage der theologischen Triage.
Soweit ich weiß, wurde der Ausdruck »theologische Triage« von Albert Mohler geprägt, der Analogien zur medizinischen Triage zieht. Bei einem schrecklichen Unfall oder einer Naturkatastrophe kann es sein, dass es nicht genügend Ersthelfer gibt, um alle Opfer sofort zu versorgen. Entscheidungen müssen getroffen werden: Soll die Aufmerksamkeit der Frau mit schweren Verbrennungen, dem Mann mit starken Blutungen oder dem Kind mit einigen Knochenbrüchen gelten? Es liegt in der Verantwortung des Triage-Teams, diese schwierigen Entscheidungen zu treffen. Auch im Bereich der Theologie sind einige theologische Fragen wichtiger oder dringlicher als andere. Christen müssen daher entscheiden, wie sie ihre Energie am besten einsetzen und wo ihre theologischen Prioritäten liegen sollen.
Ortlund entwickelt in seinem System der theologischen Triage vier Ebenen: (1.) Lehren, die für das Evangelium wesentlich sind; (2.) Lehren, die für die Gesundheit und die Praxis der Gemeinde nötig sind, sodass Christen sich darüber in verschiedene Bünde und Gemeinden aufteilen; (3.) Lehren, die für den einen oder anderen Zweig der Theologie wichtig sind, aber nicht zu Spaltungen führen sollten; (4.) Lehren, die für das Zeugnis des Evangeliums und die Zusammenarbeit im Dienst unwichtig sind.
Natürlich distanzieren sich einige Gläubige von solchen Einteilungen. Wenn die Bibel etwas behauptet, so erklären sie, dann ist es Gottes Wahrheit und darf nicht relativiert oder für wichtiger (oder weniger wichtig) erklärt werden als ein anderer Teil von Gottes Wahrheit. Andere greifen auf das zurück, was man als »Theologie des kleinsten gemeinsamen Nenners« bezeichnen könnte. Die Frage, die sie interessiert, lautet: Was ist das Mindeste, das ein Mensch glauben muss, um Christ zu sein? Mit diesen beiden Strategien werden alle Versuche einer theologischen Triage leichtfertig abgetan.
Gerade hier ist Ortlund ein guter Ratgeber. Er gibt den nützlichen Hinweis, dass Paulus bestimmte Lehren als »das Wichtigste«bezeichnen kann (1 Kor 15,3 NGÜ), während bei anderen Glaubensüberzeugungen unterschiedliche Meinungen zulässig sind (vgl. Röm 14,5). Wenn der Apostel sich in verschiedenen Situationen und Kulturen wiederfindet, hat er die Freiheit, unterschiedliche Dinge zu betonen, da er seine Zuhörer im Blick hat (vgl. seine Predigt in Apg 13 in einer Synagoge und jene in Apg 17 auf dem Areopag). Dieses Buch versucht, Klarheit beim Nachdenken über diese Fragen zu fördern. Wenn Ortlund zu konkreten Beispielen kommt, ist er weniger darauf bedacht, dass du allen seinen Schlussfolgerungen zustimmst. Sein Ziel ist vielmehr, dir die Notwendigkeit theologischer Triage aufzuzeigen. Dies wird umso wichtiger, wenn die theologische Triage mit den Herausforderungen der interkulturellen Gemeindearbeit überlagert wird.
Dieses Buch ist eine kleine Übung darin, wie man die Bibel demütig, sorgfältig, treu und weise liest und einsetzt – wie Arbeiter, die sich nicht zu schämen brauchen (vgl. 2 Tim 2,15).
D. A. Carson
Ich weiß nicht mehr genau, wo ich diese Aussage einmal gehört habe:»Es gibt keine Lehre, für die ein Liberaler kämpfen würde, und keine Lehre, für die ein Fundamentalist nicht kämpfen würde.« Streng genommen ist diese Verallgemeinerung gegenüber beiden Gruppen nicht ganz fair. Dennoch erkennen wir diese beiden Tendenzen wahrscheinlich wieder. Die meisten von uns neigen dazu, in die eine oder andere Richtung zu gehen – für bestimmte Lehren zu viel oder zu wenig zu kämpfen.
In diesem Buch geht es darum, die goldene Mitte zwischen diesen beiden Extremen zu finden – den Ort der Weisheit, der Liebe und des Mutes, um der Kirche am besten zu dienen und das Evangelium am wirksamsten zu verkündigen. Mit anderen Worten geht es darum, herauszufinden, wofür es sich zu kämpfen lohnt – und wofür nicht.
Albert Mohler hat dafür eine hilfreiche Metapher entwickelt: theologische Triage.1 Die Triage ist im Wesentlichen ein System zur richtigen Priorisierung. Es wird häufig in medizinischen Zusammenhängen verwendet. Wenn du etwa als Sanitäter zu einem Zugunglück kommst, kannst du nicht alle Verwundeten gleichzeitig behandeln. Also musst du einen Prozess entwickeln, um festzulegen, welche Verletzungen du zuerst behandelst.
Wenn wir das Konzept der Triage auf die Theologie anwenden, setzen wir zwei Dinge voraus: Erstens, dass verschiedene Lehren unterschiedlich große Bedeutung haben. Für manche lohnt es sich zu kämpfen, für andere nicht. So offensichtlich dies auch erscheinen mag, leugnen viele Menschen das entweder prinzipiell oder in der Praxis. Zweitens setzt Triage eine gewisse Dringlichkeit voraus. Du kannst mehr Zeit darauf verwenden, einen gebrochenen Arm zu behandeln, wenn neben dir nicht gerade jemand verblutet. Und wenn du dich weder um einen gebrochenen Arm noch um eine lebensbedrohliche Blutung kümmern musst, kannst du einem schmerzenden Zahn oder einer schlimmen Prellung mehr Aufmerksamkeit schenken. Je dringender und wichtiger die Themen sind, desto eher muss man schwierige Entscheidungen treffen.
Wenn Menschen nicht ewig verloren wären, wenn unsere Kultur nicht von einem Wirbelsturm der Verwirrung erfasst würde und wenn die Gemeinde nicht so viele dringende Nöte hätte, dann könnten wir die theologische Triage abschaffen.Wir könnten dann einfach allen Lehren die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Diese Gegebenheiten verlangen von uns jedoch, die richtigen Prioritäten zu setzen, um Christus zu ehren, seiner Gemeinde zu dienen und sein Evangelium zu verbreiten.
Man kann leicht nachvollziehen, wie wichtig die Triage in der Medizin ist. Stell dir nur vor, was passieren würde, wenn es keine Triage gäbe! Jemand würde sein Bein verlieren, nur weil jemand anderem die Schulter eingerenkt wird. Im schlimmsten Fall würde jemand sterben, damit jemand anders seine Prellung verbinden lassen kann.
Im Bereich der Theologie denken wir jedoch oft nicht auf diese Weise. Häufig behandeln wir jede Lehre gleich – entweder, weil wir für alles kämpfen möchten oder weil wir über nichts streiten wollen. Noch öfter benutzen wir zwar irgendeine Art theologischer Triage, aber wir haben sie nicht sehr bewusst durchdacht. Infolgedessen wird sie in Reaktion auf unsere Umstände oder auf Basis unseres Temperaments bestimmt und nicht von der Bibel und von Prinzipien.
Es gibt mehrere Wege, verschiedene Lehren nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen.2 In diesem Buch schlage ich vier grundlegende Kategorien vor. Wir könnten auch noch weitere Unterkategorien untersuchen, aber diese vierfache Unterteilung sollte als Ausgangspunkt helfen:
Erstrangige Lehren sind für das Evangelium wesentlich.
Zweitrangige Lehren sind für die Gesundheit und die Praxis der Gemeinde so dringlich, dass sie Christen häufig dazu veranlassen, sich in verschiedene Gemeinden, Denominationen oder christliche Werke aufzuteilen.
Drittrangige Lehren sind für die Theologie wichtig, aber rechtfertigen keine Trennungen oder Spaltungen unter Christen.
Viertrangige Lehren sind für Evangelisation, Mission und die Zusammenarbeit unter Christen unwichtig.
In diesem Buch betrachte ich etwa die Dreieinigkeit als eine erstrangige, die Taufe als zweitrangige und das Tausendjährige Reich als drittrangige Lehre. Ein älterer, aus dem Griechischen entlehnter Begriff, der in etwa der vierten Kategorie entspricht, ist Adiaphora, was wörtlich übersetzt »nicht Unterschiedenes« bedeutet. In lutherischen und puritanischen Kreisen wurde dieser Begriff verwendet, um Praktiken oder Ansichten zu bezeichnen, die in der Bibel weder geboten noch verboten sind. Beispiele für viertrangige Fragen wären, wie viele Engel es gibt oder welche Instrumente im Gottesdienst verwendet werden sollen. Diese Dinge mögen praktisch relevant oder intellektuell anregend sein, aber sie sind theologisch nicht wichtig.
Natürlich passt nicht alles immer genau in eine dieser vier Kategorien.3 Dennoch bieten sie uns einen Rahmen, innerhalb dessen wir bei Bedarf weitere Unterscheidungen vornehmen und Nuancen berücksichtigen können.
Ich hoffe, dass dieses Buch für dich ein Gewinn ist – besonders, wenn du bereits mit Fragen wie diesen gerungen hast:
Wie können wir die Einheit der Gemeinde anstreben, für die Jesus betete (vgl. Joh 17,21), und gleichzeitig alles halten, was er uns befohlen hat (vgl. Mt 28,20)?
Welche Partnerschaften und Bündnisse sind unter Christen verschiedener Denominationen und Netzwerke sinnvoll?
Welche Haltung und Wortwahl ist unseren Geschwistern gegenüber angebracht, mit denen wir erhebliche theologische Meinungsverschiedenheiten haben?
Wie sollen wir mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb unserer Gemeinde, innerhalb unseres christlichen Werks oder innerhalb unserer Denomination umgehen?
Vielleicht kommt dir auch eines dieser Szenarien bekannt vor:
Du bist relativ neu im Leitungskreis einer Gemeinde. Bei einem bestimmten Lied, das beim Gottesdienst oft gesungen wird, hast du inhaltliche Vorbehalte. Du fragst dich, ob das Problem groß genug ist, um es anzusprechen, und wenn ja, wie bald und wie du das angehen solltest.
Du bringst dich in ein christliches Werk oder einen übergemeindlichen Dienst ein. Dafür musst du einem bestimmten Glaubensbekenntnis zustimmen. In diesem Glaubensbekenntnis wird eine Sicht der Endzeit gelehrt, über die du dir früher nicht viele Gedanken gemacht hast. Im Laufe der Jahre hast du jedoch Zweifel an dieser Sicht bekommen, auch wenn du dir nicht ganz sicher bist. Du weißt nicht, ob du dich eingängiger damit beschäftigen solltest, weil du befürchtest, dass du dann zu einer Position gelangst, die deine Mitarbeit verhindert. Außerdem stellst du dir die Frage, wann du deine Vorbehalte gegenüber dieser Lehre äußern musst. Schon jetzt oder erst dann, wenn du dir ganz sicher bist? Und wie genau sollst du dabei überhaupt vorgehen?
Deine Gemeinde tut sich mit anderen Gemeinden zusammen, um einen evangelistischen Gottesdienst zu veranstalten. Du hast erhebliche theologische Differenzen mit einer dieser Gemeinden und fragst dich, ob du mit gutem Gewissen teilnehmen kannst. Wie entscheidest du, was zu tun ist? Wie geht man in dieser Situation mit einer gnädigen und demütigen Haltung vor, ohne seine Überzeugungen aufzugeben?
Du hörst gern die Predigten eines bestimmten Pastors im Internet an. Sie sind sowohl überführend als auch ermutigend. Eines Tages erfährst du jedoch, dass er auf Konferenzen spricht, auf denen das Wohlstandsevangelium verkündigt wird. Dadurch fallen dir Aspekte in seiner Lehre auf, die auf diese Weise interpretiert werden könnten. Inwiefern sollte sich die Teilnahme des Predigers bei dieser Konferenz (wenn überhaupt) darauf auswirken, wie und ob du seine Predigten weiterhin anhörst? Wie sehr muss seine eigene Lehre in ein Wohlstandsevangelium abdriften, bevor du damit aufhörst?
Du bist in einer ernsthaften Beziehung und überlegst zu heiraten. Ihr habt jedoch unterschiedliche Ansichten über die Rollen von Mann und Frau in der Ehe. Du hast mit anderen Christen darüber gesprochen und die Frage mit deinem potentiellen Ehepartner bewegt, aber ihr seid zu keiner Lösung gekommen. Solltet ihr euch trennen? Wie solltest du eure Unterschiede einordnen?
Dies sind einige der Szenarien, die ich im Kopf habe, während ich dieses Buch schreibe, obwohl wir hoffentlich mehr erreichen werden als eine Reihe von schnellen Antworten auf Fragen wie diese. Vielmehr möchte ich, dass wir theologische Instinkte entwickeln, die uns in verschiedenen Situationen helfen können. Die in diesem Buch behandelten Themen sollen daher nur zur Veranschaulichung dienen.
Mit manchen davon – wie der Schöpfung oder der Taufe – habe ich mich selbst intensiv auseinandergesetzt. Ich möchte aber von vornherein klarstellen, dass es nicht mein Ziel ist, dich in diesem Buch von meinen Überzeugungen zu diesen Lehren zu bekehren. Mir geht es vielmehr um die Art und Weise, wie wir Theologie betreiben, wie wir unsere Überzeugungen bilden und wie wir dann im Lichte dieser Überzeugungen unser Leben gestalten und miteinander umgehen. Ich hoffe aufrichtig, dass dieses Buch dir dabei helfen wird, deine eigenen Überzeugungen darüber zu bilden, wie theologische Triage in deinem Leben und deinem Dienst zur Anwendung kommen sollte.
Ich schreibe aus einer evangelikalen Perspektive und stütze mich dabei vorwiegend auf Quellen aus der reformierten Tradition. Trotzdem haben die hier behandelten Prinzipien und Themen eine breite Relevanz, und ich würde mich freuen, wenn Christen aus anderen Traditionen oder Nichtchristen einen Nutzen aus diesem Buch ziehen würden.
Ein Hinweis zur Vorsicht: Einige der Fragen, die Christen am meisten spalten, sind nicht theologischer Natur, sondern müssen schlichtweg mit Weisheit erwägt werden oder betreffen Kultur bzw. Politik. Sollten wir vorwiegend traditionelle Hymnen oder modernere Lieder im Gottesdienst singen – und sind auch englische Lieder erlaubt? Dürfen Christen Alkohol trinken? Und wenn ja, in welchem Rahmen? Wann und wie (wenn überhaupt) sollte in einem Gottesdienst Bezug auf aktuelle politische und kulturelle Ereignisse genommen werden? Dies sind wichtige Fragen, aber in diesem Buch konzentriere ich mich mehr auf Fragen, die im engeren Sinn theologisch sind.
In den ersten beiden Kapiteln zeige ich zwei gegensätzliche Irrtümer auf, um einen allgemeinen Rahmen zu schaffen, in dem man sich Gedanken über die Bedeutung von theologischer Lehre machen kann. In Kapitel 3 erzähle ich aus meinem eigenen Leben. Meine Geschichte soll erklären, wie ich auf dieses Thema gekommen bin und warum ich es für so wichtig halte.Auch werden wir dabei bereits manchen konkreten Lehrfragen begegnen. In den Kapiteln 4 bis 6 untersuche ich bestimmte Lehren unter dem Gesichtspunkt der theologischen Triage. Diese Kapitel sind mein Versuch, Kriterien zu ermitteln, anhand derer man die Gewichtigkeit verschiedener Themen einstufen kann.
Es ist leicht, das Gleichgewicht zu verlieren, wenn man nur auf einem Fuß steht. Am sichersten stehen wir hingegen, wenn wir unser Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilen. Deshalb legen Boxer so viel Wert auf ihre Beinarbeit.
Auch in unserem theologischen Leben brauchen wir Gleichgewicht und Ausgewogenheit. Das Wesen des Evangeliums ist komplex. Es enthält sowohl Wahrheit als auch Gnade, sowohl Überführung als auch Ermutigung, sowohl unübersehbare Kanten der Logik als auch in dichten Nebel eingehüllte Geheimnisse. In einem Moment ist es so erfrischend wie eine kalte Brise und im nächsten so nahrhaft wie eine warme Mahlzeit. Die Treue zum Evangelium erfordert also mehr als nur eine einzelne Tugend. Manchmal müssen wir mutig kämpfen und manchmal vorsichtig untersuchen. In einer Situation müssen wir das Offensichtliche betonen, in einer anderen müssen wir Nuancen erkennen.
Jesus ist die perfekte Mischung aus diesen verschiedenen Eigenschaften – er ist »sanftmütig und von Herzen demütig« (Mt 11,29) und dennoch unerschrocken, um den Tempel zu reinigen (vgl. Mt 21,12–13) oder die Pharisäer anzuprangern (vgl. Mt 23). Die meisten von uns neigen hingegen dazu, entweder mutig oder sanftmütig zu sein, insbesondere wenn es um theologische Meinungsverschiedenheiten geht. So hat man vielleicht die natürliche Gabe der theologischen Klarheit, ist aber gleichzeitig blind dafür, wie zerstörerisch Streitsucht sein kann. Umgekehrt könnten wir entsetzt sein über die Lieblosigkeit mancher Christen, aber naiv in Bezug auf die Auswirkungen theologischer Fehler. Wie Martin Luther es schon sagte:»Leichtfertigkeit und Härte … Diese Hauptsünden sind’s, aus denen all die anderen Fehler der Prälaten kommen.«4 Das Gleiche könnte man über alle Christen sagen.
Dieses Kapitel befasst sich daher mit der Gefahr der theologischen Zersplitterung und das folgende Kapitel mit dem Gegenteil: der Gefahr des theologischen Minimalismus. Unter theologischer Zersplitterung verstehe ich jede Haltung, Überzeugung oder Praxis, die zu einer unnötigen Spaltung des Leibes Christi beiträgt. Theologische Zersplitterung ist oft darauf zurückzuführen, dass nicht zwischen verschiedenen Arten von Lehrfragen unterschieden wird. Wir müssen uns also zunächst fragen, welche Gründe wir haben, solche Unterscheidungen überhaupt vorzunehmen.
Sind alle Lehren gleich wichtig?
Es wird behauptet, dass alle Sünden in Gottes Augen gleich schlimm sind. Das klingt geistlich, weil es die Sünde ernst zu nehmen scheint. Auch ist es wahr, dass jede Sünde ausreicht, um uns vor einem heiligen Gott schuldig zu machen. In Jakobus 2,10 heißt es schließlich: »Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig.«
Wenn wir jedoch genauer hinschauen, finden wir viele Stellen in der Bibel, die nahelegen, dass nicht alle Sünden in einen Topf geworfen werden können. Die Propheten verurteilten einige Sünden als »schlimmer« (Jer 16,12; Hes 23,11). Jesus bezeichnete manches als »das Wichtigste im Gesetz« (Mt 23,23) und sprach von geringeren und höheren Strafen für unterschiedliche Sünden (vgl. Mt 10,15; Lk 12,47–48; Joh 19,11). Das alttestamentliche Gesetz traf Vorkehrungen für verschiedene Arten von Sünden: für solche, die »aus Versehen«, und solche, die »aus Vorsatz« begangen wurden (4 Mose 15,22–31). In 1. Johannes 5,16–17 wird die »Sünde zum Tode«von anderen Sünden unterschieden. Der kürzere Westminster Katechismus erklärt darum: »Einige Sünden sind auf Grund der zunehmenden Verderbnis schlimmer als andere in der Sicht Gottes.«5
In ähnlicher Weise mag es auf den ersten Blick richtig klingen, wenn man sagt, dass alle Lehren gleich wichtig sind. Es ist allerdings schwierig, diese Aussage biblisch zu begründen. Paulus bezeichnet das Evangelium zum Beispiel als »das Wichtigste« (1 Kor 15,3 BasisBibel). Bei anderen Themen lässt er den Christen oft mehr Spielraum für verschiedene Meinungen. In Philipper 3,15 schreibt er etwa: »Und solltet ihr in einem Stück anders denken, so wird euch Gott auch das offenbaren« (Phil 3,15). In bestimmten Fragen geht er noch weiter und gebietet den Christen, »streitet nicht über Meinungen« (Röm 14,1). Selbst bei einem so wichtigen Thema wie der Taufe räumt Paulus dem Evangelium Vorrang ein: »Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen« (1 Kor 1,17).
Warum ist es wichtig, Lehrfragen verschieden zu gewichten? Was steht auf dem Spiel? Zunächst einmal führt die Gleichsetzung aller Lehren zu unnötigen Spaltungen und untergräbt die Einheit der Gemeinde.
Unnötige Spaltungen schaden der Einheit der Gemeinde
In der Kirchengeschichte haben Theologen der reformierten Tradition aus Sorge um die Einheit der Kirche oft eine Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Glaubensüberzeugungen getroffen. Im 17. Jahrhundert lieferte Francis Turretin eine Reihe von Argumenten dafür, dass bestimmte »fundamentale Artikel« wichtiger sind als andere.6 Einige Lehren sind, wie er sagt, »primär und unmittelbar, wie die Artikel über die Dreieinigkeit, Christus als Mittler, die Rechtfertigung usw.«, während andere »sekundär und mittelbar« sind und sich als Folge dieser primären Lehren ergeben.7 Turretin stellte zudem fest, dass unterschiedliche Lehren auch unterschiedliche Funktionen haben. Einige Lehren sind notwendig, um den Glauben hervorzubringen. Andere sind notwendig, um den Glauben wachsen zu lassen und vollkommen zu machen.8 Um diese Feststellung zu untermauern, verwies er auf die Unterscheidung zwischen Milch und fester Nahrung in Hebräer 5,12–14. Er sah feste Nahrung als Metapher für differenziertere Lehren und Milch als Metapher für die »Anfangsgründe der göttlichen Worte« (V. 12).
Turretin vertrat auch die Ansicht, dass es unterschiedliche Arten theologischer Irrtümer mit entsprechenden Schweregraden gibt. Einige Irrtümer beziehen sich beispielsweise nur auf die Sprache oder die Formulierungen der Lehre (er nennt diese »verbale Irrtümer«); andere betreffen die Lehren selbst (»echte Irrtümer«).9 Außerdem macht es einen Unterschied, ob wir uns in Bezug auf den Kern einer Lehre irren oder in Bezug auf ihre Auswirkungen und ihre Anwendung. Turretin vertrat etwa die Ansicht, dass die Griechen (die wir heute als Ostkirche bezeichnen) sich in Bezug darauf geirrt haben, ob der Heilige Geist nur vom Vater oder auch vom Sohn ausgeht, dass dies aber keinen Irrtum über die Dreieinigkeit selbst oder die Gottheit des Geistes darstellt.10
Warum war es Turretin so wichtig, dass man zwischen verschiedenen Kategorien der Lehre und verschiedenen Kategorien von Irrtümern unterscheidet? Turretin erkannte zwei Bedrohungen. Erstens war er besorgt über manche Aussagen sowohl der Sozinianer als auch der römisch-katholischen Kirche, die behaupteten, dass ihre Sonderlehren grundlegende Wahrheiten des Glaubens seien. Zweitens gab es ihm zu denken, dass rechtgläubige, protestantische Traditionen sich über unwesentliche Fragen der Lehre stritten. Turretin wandte sich also nicht nur dagegen, dass jene Lehren, die er für falsch hielt, zu notwendigen Glaubensartikeln erhoben wurden, sondern auch dagegen, dass wahre, aber zweitrangige Lehren zu notwendigen Glaubensartikeln erhoben wurden. Dies beunruhigte Turretin, weil es zu einer unnötigen Trennung unter wahren Christen führte. So tadelte er beispielsweise »die strengeren Lutheraner, die (um eine Vereinigung mit uns zu erschweren) die Grundlagen weiter ausdehnen, als es gerecht ist, fast jeden Irrtum in eine Häresie verwandeln und das, was gleichgültig ist, notwendig machen«.11 Hier wird deutlich, dass Turretins Einwand, unwesentliche Lehren nicht zu erstrangigen Lehren zu machen, aus seiner zugrundeliegenden Sorge um die Einheit der Gemeinde rührte. Das Problem, jeden Irrtum zur Häresie zu erklären, besteht darin, dass es »die Einheit erschwert«.
Der protestantische Reformator Johannes Calvin äußerte eine ähnliche Sorge. In seinem berühmten Unterricht in der christlichen Religion warnte Calvin davor, sich »um irgendwelcher kleinen Meinungsverschiedenheiten willen« von wahren Gemeinden und wahren Christen zu trennen. Er vertrat die Ansicht, dass das Kennzeichen einer wahren Kirche der »reine Dienst am Wort und die reine Übung bei der Feier der Sakramente« ist. Er schrieb weiter, dass eine solche Gemeinde,»solange sie dabei bleibt, niemals zu verwerfen ist, selbst wenn sie sonst über und über mit vielen Gebrechen bedeckt ist«.12