Wohin Liebe fällt - Thomas A. Sandmann - E-Book

Wohin Liebe fällt E-Book

Thomas A. Sandmann

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Beschreibung

Wohin Liebe fällt – Toms verrückte Reise durchs Schicksal Teil eins der Wohin-Serie Aus einem Bauchgefühl heraus und dem Impuls, dass alles im Leben auch mal genug ist, entstand dieses Buch. Eine Geschichte aus Wahrheit, Fiktion und Spiritualität, die uns lehren soll, nicht den größten Fehler unseres Lebens zu begehen, indem wir alles richtig machen wollen und am Ende genau aus diesem Grund scheitern. Wie viel Thomas Sandmann selbst letztlich in diesem Werk steckt und wie sein Leben in diese Geschichte hineingeraten ist, das bleibt ein Geheimnis. Tom Sandmann steckt in einer Midlife-Crisis und hat es satt, den netten Mittvierziger zu mimen. Gefrustet lenkt er sein Auto nach einer durchzechten Nacht in das Schaufenster des örtlichen Nachtclubs. Sein Kanzleipartner Richard verfrachtet ihn daraufhin zu einem Selbstfindungstrip in eine finnische Blockhütte. Allerdings kommt Tom nicht dazu, dort seinen Frust abzuladen, denn aufgrund einer versehentlichen Doppelbelegung schwirrt Nancy ins Haus. Mit ihrer aufsässigen und zugleich charmanten Art stürzt sie Toms verbitterte Gefühlswelt ins Chaos. Zurück im Alltag kann Tom Nancy nicht vergessen. Er sucht vergeblich nach ihr und verrennt sich dabei in sein Schicksal, das ihn mehr mit Nancy verbindet, als er ahnt.

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Thomas A. Sandmann

 

Wohin

Liebe

fällt

Toms verrückte Reise durchs Schicksal

 

Liebesdramödie

 

Teil eins der Wohin-Serie

 

Aus einem Bauchgefühl heraus und dem Impuls, dass alles im Leben auch mal genug ist, entstand dieses Buch.

Eine Geschichte aus Wahrheit, Fiktion und Spiritualität, die uns lehren soll, nicht den größten Fehler unseres Lebens zu begehen, indem wir alles richtig machen wollen und am Ende genau aus diesem Grund scheitern.

Wie viel Thomas Sandmann selbst letztlich in diesem Werk steckt und wie sein Leben in diese Geschichte hineingeraten ist, das bleibt ein Geheimnis.

 

Inhalt

01 Das Arschloch bin jetzt ich

02 Ankunft

03 Erster Tag

04 Zweiter Tag

05 Dritter Tag

06 Vierter Tag

07 Zurück in den Alltag

08 Der Perlentaucher

09 Das Geheimnis der ersten Perle

10 Voll verkackt!

11 Die Magie der zweiten Perle

12 Sisu

13 Aber sowas von Sisu!

14 WTF bei WTA

15 Workaholic

16 Die Akte Rachus WTA

17 Wie die Zeit vergeht

18 Der Geist auf der anderen Seite

19 Die Befreiung der Señora Gomez

20 Druidenstein

21 Gefühlschaos

22 … und zwischen uns die Zeit

23 Flieg, Drache!

24 Das alte Leben hinter uns

25 Einsamkeit pur!

26 Gemeinsam einsam

27 Zum letzten Mal Sisu

28 Feuer, Wasser, Luft und Erde – Dazwischen ist die Zeit

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Andreas.

 

Und für alle, die sich fragen, wie viel Zeit zwischen zwei Menschen liegen darf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anmerkung

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

Diese Geschichte ist so, wie sie ist. Zu hundert Prozent. Sie wurde in den Handlungen nicht dem Mainstream oder einem bestimmten Genre angepasst. Diese Geschichte ist wie das Leben: eigenwillig, lebendig, lustig und traurig.

Der Protagonist ist ein Mann, daher wird er auch handeln und denken wie ein Mann. Seien Sie gewarnt, denn demzufolge fühlt er sogar wie ein Mann!

Alle Hinweise, diesen rotzigen Kerl an verschiedensten Stellen mit Weichspüler zu behandeln, habe ich wohlwollend geprüft, konnte dem aber nicht zustimmen.

Dennoch ist es eine Liebesgeschichte.

Aus der Perspektive einer Frau hätte der Roman möglicherweise dreihundert Seiten mehr Platz für innere Monologe, fünfzehn Tierarten weniger und nur eine weibliche Hauptrolle benötigt.

 

Leider konnte ich aber nicht aus meiner Haut.

 

Herzlich

Thomas A. Sandmann

 

 

 

 

 

 

 

 

An dieser Stelle dankt der Pudel dem Pauli und der Pauli dem Pudel, die sich in ihrer Reise durchs Schicksal gegenseitig aufrecht halten und auf die Zeit dazwischen pfeifen.

 

01 Das Arschloch bin jetzt ich

 

 

Vergangenes Silvester, Altenkirchen – Westerwald

 

Tom knallte den Laptop zu. Das fiese Krachen ersparte ihm nachzusehen, ob der Bildschirm zerbrochen war.

Er riss die Kühlschranktür auf und zog die Stirn in Falten. Bis auf eine Wodkaflasche und eine Tube Senf herrschte gähnende Leere im kalten Innern des metallenen Kolosses. Bereit, sich seinem Schicksal zu ergeben, ergriff Tom die Flasche, drehte den Deckel ab und trank. Die Flüssigkeit ran kühl in seiner Kehle hinab. Erst als er die Flasche absetzte, begann der Alkohol in seinem Hals zu brennen.

Er schlug die Kühlschranktür zu, taumelte bis zum Küchentisch und kippte auf dem Stuhl sitzend den restlichen Inhalt der Flasche in sich hinein, ehe er sie ans andere Ende der Tischplatte schob. Tief sog Tom den Atem ein, in Erwartung des erlösenden und befreienden Gefühls, das er sich vom Alkohol versprach. Das war nicht sein erster Versuch an diesem Tag, sich Linderung von seinem sorgenverursachten Gedankenkarussell zu verschaffen. Angespannt starrte Tom die Flasche an.

»Ich habe die Schnauze voll von dieser abgefuckten und beschissenen Welt. Intrigante Spielchen, wohin man sieht. Kranke, verfickte Scheiße. Ist es nicht so?«

Die Flasche starrte hohl zurück.

»Ich spiele dieses Spiel nicht länger mit!«

Tom blinzelte sein glasiges Gegenüber an. »Schweig nur, mein diabolischer Freund. Mein Entschluss steht fest!«

Sein Kopf schmerzte, als er auf dem Küchenboden aufschlug. Endlich versank sein Leben in Dunkelheit. Tom wollte alles vergessen – bis auf das, was er sich gerade vorgenommen hatte. Um nichts auf der Welt wollte er einen Filmriss und damit diesen brillanten Gedanken verlieren, endlich den Zwängen des Alltags und der Gesellschaft zu trotzen.

 

Das Pfeifen des Windes weckte ihn auf. Tom fühlte das Kissen unter seinem Kopf. Offenbar hatte er sich irgendwann in sein Bett geschleppt.

Erschrocken sammelte er seine Gedanken. Was er nicht hatte vergessen wollen: Es war noch da. Ehe Tom sich jedoch darüber klar werden konnte, wie er sein Vorhaben am besten in Angriff nahm, verspürte er Übelkeit. Er eilte ins Badezimmer. Unsicher, ob sein Magen oder sein Darm sich zuerst entleeren musste, platzierte er sein Hinterteil auf die Toilette und packte sich den Mülleimer zwischen die Knie. Eine weise Entscheidung, wie sich umgehend herausstellte.

Tom fühlte sich völlig im Arsch. Stöhnend schleppte er sich in die Küche. Kaffee und Zigaretten mussten her. Sofort. Vergeblich durchwühlte er die Schubladen nach einem Zigarettenpäckchen. Er hielt inne und ahnte Fürchterliches. Sein Blick peilte die Kaffeedose auf dem Regal an. Hastig grapschte er danach und starrte entgeistert auf das leere Bodenblech.

Verflucht!

Musste er das Haus verlassen, um nicht an Koffeinentzug zu sterben? Erst jetzt sah er durch das Fenster nach draußen. In der letzten Nacht waren dreißig Zentimeter Schnee gefallen. Auch das noch!

»Soll ich etwa in meinem Zustand diese Scheiße räumen?« Er starrte die leere Wodkaflasche an, die noch immer geduldig auf dem Tisch verharrte und zeigte ihr einen Vogel. »Kannst du vergessen.«

Kaffee musste herbei. Aber an diesem verfluchten Neujahrstag waren die Geschäfte geschlossen. Zur Tankstelle zu fahren, würde bedeuten, sich zuvor den Zwängen der Natur zu beugen und die Einfahrt zu räumen. Das kam gar nicht infrage! Tom ergriff das Telefon.

»Taxizentrale«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Ich brauche Kippen und Kaffee«, brummte Tom.

»Hier ist die Taxizentrale.«

»Jo. Da wollte ich anrufen!«, sagte Tom.

»Und?«, erkundigte sich die Dame.

»Und ich will Kippen und Kaffee.«

»Und?«, fragte sie erneut.

»Kippen und Kaffee fahren im Taxi zu mir?«, erklärte Tom langsam und deutlich.

»Nö!«, zischte die Frau.

»Schlampe!«, rief Tom in den Hörer.

»Ihnen auch ein frohes neues Jahr.«

Die Idee mit dem Taxi hatte sich somit erledigt. Tom stieg mit nackten Füßen in die Gummistiefel und ging zur Tür hinaus – geradewegs hinüber zu Gabi. Schnee wehte ihm unter das Shirt, das er zur Jogginghose trug, doch das war einem echten Mann auf der Suche nach überlebenswichtigen Grundnahrungsmitteln egal.

An der frischen Luft, einem weiteren Anflug von Übelkeit ausgesetzt, drückte er auf Gabis Klingel und hörte den Gong. Die verspielte Melodie entlockte ihm einen entnervten Seufzer, gefolgt von einem Augenverdrehen, welches wiederum einen herrlichen Schwindel hervorrief.

Nichts rührte sich. Noch mal presste er den Daumen auf die Klingel. Wieder nichts. Sicher hatte Gabi Silvester gefeiert mit ihren Freunden, diesen spießigen Arschlöchern von der Bank. Lauter verlogene Mistkäfer. Wie gut, dass sie Tom erst gar nicht eingeladen hatte!

Tom bollerte mit der Faust gegen die Haustür. Dass es noch früh am Morgen war, interessierte ihn nicht.

Noch mal trommelte er an die Tür. Endlich öffnete Gabi und blinzelte ihn mit ihren braunen Rehäuglein verschlafen an.

»Was ist passiert?«, murmelte sie. Ihre Augen weiteten sich. »Tom? Wurdest du überfallen? Da ist Blut in deinem Gesicht«, fügte sie in einem nahezu hysterischen Tonfall hinzu.

»Ich brauche Kippen und Kaffee«, sagte Tom. Zack, zack!

Gabi zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. »Oh. Äh. Warte.« Hastig trappelte sie in die Küche.

Nach einer Minute kam sie mit einem Päckchen Zigaretten und einem Pfund Kaffee zurück. Tom grapschte die Sachen aus ihrer Hand.

»Geht doch!« Er ignorierte Gabis Frage nach seinem Wohlbefinden und begab sich auf den Rückweg. Erst jetzt registrierte er die Irren um sich herum, die emsig damit beschäftigt waren, den Bürgersteig von Schnee zu befreien. Wohl oder übel musste er an seinem sechsundachtzig Jahre alten Nachbarn vorbei, dessen Einfahrt so trocken wie im Hochsommer wirkte.

»Frohes neues Jahr, Tom«, grüßte der Nachbar.

»Mh.« Warum zur Hölle machte ein Wodkakater nicht unsichtbar?

»Schöner Mist mit dem Schnee.« Der alte Mann seufzte.

»Mh.« Tom nickte, ohne den Neujahrsgruß zu erwidern oder stehenzubleiben.

»Sicher denkst du daran, gleich den Gehweg zu räumen?«

Tom war bereits an dem Kerl vorüber, als ihn die Worte wie ein Dolch in seinen Rücken trafen. Das war zu viel! Er stoppte und wirbelte herum.

»Hör zu, du alter verbiesterter Hornochse. Ich räume meine Einfahrt, wann immer mir das passt. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, hier jedem Staubkorn hinterherzurennen, geschweige denn, jeder Schneeflocke. Ich muss nebenher noch Woche für Woche arbeiten, damit du schön deine Rente bekommst. Was aus meiner verfickten Rente wird, daran will ich gar nicht denken. Und jetzt hol deine Zahnbürste und fege den Schnee noch aus den Fugen deiner Einfahrt. Wenn du damit fertig bist, kannst du gern bei mir räumen. Du scheust dich ja auch sonst nicht davor, dich an meinen Sachen zu vergreifen!«

Der Nachbar schwieg mit offenstehendem Mund.

Tom dampfte ab. Er riss die Haustür auf, füllte die Kaffeemaschine und zündete sich eine Zigarette an.

Wie ein Raubtier im Käfig wanderte er durch die Wohnung. Warum noch gleich hatte er beschlossen, jemand anderes zu sein? Im Wohnzimmer angekommen, widmete er seine Aufmerksamkeit der Krippe – da fiel ihm der Grund wieder ein!

Tom fühlte sich wie Joseph! Der arme Kerl hatte diese Schlampe kennengelernt, dann war Maria mir nichts, dir nichts schwanger geworden, und Joseph hatte sich gefreut – bis zu dem Tag, an dem Maria verkündet hatte, sie habe einen anderen. Joseph hatte von seinem Gehalt üppig Unterhalt gezahlt und immer klein beigegeben, wenn es um seinen Sohn Chesus gegangen war.

Eines Tages war Tom schließlich darüber gestolpert, dass Chesus gar nicht sein Sohn war. Ja, aber Pustekuchen! Einmal die Vaterschaft anerkannt – Pech für Joseph, nein, – leider auch für Tom. Noch mehr Pech, dass er an seinem Kuckuckskind hing.

Das Weihnachtsfest war gekommen. Tom hatte sich auf sein – wenn auch – Kuckuckskind gefreut, doch Maria hatte ihm Chesus nicht vorbeigebracht. Damit hatte sie Joseph, alias Tom, tief getroffen. Am liebsten hätte Tom sich damals erhängt, und zwar direkt neben dem Weihnachtbaum, unter dem das Geschenk für seinen Sohn gelegen hatte: ein Flugzeug. Tom hatte es liebevoll für den kleinen Scheißer ausgesucht.

Er starrte in die Krippe auf das gütige Gesicht Marias. »Schlampe!« Unbeeindruckt, dass Tom sie anbrüllte, glotzte sie weiter voller Güte und Barmherzigkeit auf den Säugling. Tom griff in die Krippe und riss das Kindlein heraus. Er legte den Windelscheißer vor Joseph, der draußen bei den Hirten stand. Sicher hatte er dort die Geburt seines Sohnes mit den Hirten begossen und dazu gutes Gras geraucht. Immerhin war Joseph zu diesem Zeitpunkt noch gutgläubig gewesen!

Tom kam der richterliche Beschluss in den Sinn, den Maria im Laufe des letzten Jahres erwirkt hatte, und der ihm den Umgang mit Chesus verbot.

Dieses Jahr hatte Tom zum ersten Mal keinen Weihnachtsbaum. Aber das Geschenk für Chesus vom letzten Jahr hatte er zusammen mit der Krippe auf das Sideboard gestellt. Diese Erlebnisse waren der Grund für seinen jetzigen Entschluss. Er war fertig mit dem Gutmenschentum. Die Zeit war reif, ein Arschloch zu werden.

Nachdem er im Badezimmer seine Blase erleichtert hatte, betrachtete er sich im Spiegel. Geronnenes Blut zierte sein Gesicht, das graue Shirt war voller Flecken und sein aschblondes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen musterte er sein Erscheinungsbild. Gehörte es zum Dasein eines Arschlochs, ungepflegt zu sein? Wohl nicht zwingend. Er wollte lieber eines der gut aussehenden Arschlöcher sein! Aalglatt, arrogant und unnahbar. Was sprach gegen den Auftritt gleichsam eines Filmstars? Nichts! Er stellte sich unter die Dusche und rasierte sich dort an allen erdenklichen Körperstellen. Nur sein Kopfhaar blieb von der Umsetzung seines neuen Aalglatt-Images verschont.

Fertig gewaschen, von einer Rasierwasserwolke des Herstellers Bad Boy by Banana umgeben, schmiss er sich in Hemd und Jeans. Er musste unter Menschen! Ihm war danach, seine neue Rolle zu üben. Umgeben von jenen euphorischen Wesen, die am Neujahrstag dem so Heil bringenden Jahr voller guter Vorsätze entgegen taumelten, und sich verlogen ein erfolgreiches ebensolches wünschten, wo sie doch ihren Mitmenschen nicht einmal den Dreck unter den Fingernägeln gönnten. Oh, was könnte Tom da seine Rolle üben!

Zähneknirschend stellte er fest, dass er zwar ein wohlhabendes Arschloch war, dennoch eines ohne Personal. Er würde seinen Toyota Land Cruiser freischaufeln müssen, wenn er aus der Einfahrt wollte. Allrad hin oder her. Der Schneepflug hatte einen Wall vor seinem Grundstück aufgeschoben. Aber ein Geländewagen, der für Afrika gebaut war? Ein Auto, das vier Tonnen Zugkraft besaß? Drauf geschissen! Er würde den Wall auch ohne Schaufel bezwingen.

Tom schlüpfte in die Winterjacke und ergriff die Handschuhe. Bereits die Hand auf der Türklinke der Haustür besann er sich und eilte zurück ins Wohnzimmer. Tom zog Maria aus der Krippe. Gutgläubig grinste sie ihn an.

»So, Schlampe. Jetzt bist du fällig. Ich werde dir die Welt zeigen und wenn du denkst, sie gehört dir, werde ich dir alles entreißen und dich mutterseelenallein aussetzen. Und vergiss den Jungen. Der bleibt bei Papa und lernt etwas Anständiges. Sollst mal sehen, dass er dann auch nicht ans Kreuz genagelt wird!«

Voller Vorfreude, seinen Mitmenschen den Abend zu verderben, riss Tom die Autotür auf. Eine ordentliche Portion Schnee wehte ihm ins Gesicht und auf den Sitz. Verstimmt klopfte Tom auf dem Bezug herum. Was vom Schnee dennoch übrig blieb, würde dummerweise ausreichen, um ihm einen feuchten Hintern zu bescheren. Na ja, wenigstens etwas zur Bescherung, wenn auch zu spät.

Maria bekam einen Ehrenplatz auf dem Armaturenbrett. Tom startete den Motor des Toyotas. Die Scheiben waren zugefroren. Bis er freie Sicht bekommen würde, musste das Gebläse einige Zeit laufen. Eigentlich genug Zeit, um die Einfahrt freizuschaufeln. Aber Tom war stur. Lieber saß er im Wagen und trotzte den Regeln. Sollte doch Schnee schaufeln, wer wollte. Er hatte die Sauerei nicht bestellt!

Genervt sah er zu Maria. Sie hatte die Hände gefaltet und strotzte noch immer vor Güte.

»Ja, mach nur. So ekelhaft war ich früher auch. Immer nett und zuvorkommend. Deine Barmherzigkeit wird dich nicht weiterbringen. Und in diesem Fall wird sie dir auch nicht helfen. Keine Gnade!«

Tom wischte den Belag vom Innern der Frontscheibe, bevor er den Allrad zuschaltete. Der zweieinhalb Liter Dieselmotor brüllte gleichsam eines wutentbrannten Eisbären. Die Reifen fraßen sich durch die weiße Pracht in Richtung des Walls. Unaufhörlich bewegten sie sich durch die vereisten Schneemassen. Mit roher Gewalt durchbrachen schließlich zwei Tonnen Metall den Widerstand der Natur. Tom war endlich auf der Straße.

Genugtuung breitete sich in ihm aus, da er der Urkraft hatte strotzen können. Maria war vom Armaturenbrett gerutscht und hatte sich auf den Beifahrersitz verkrümelt. »Nix da. Sieh deinem Untergang ins Auge.« Tom platzierte sie erneut hinter der Frontscheibe.

 

»Tom? Tom!« Richards Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken blinzelte Tom seinen Freund an.

»Was zur Hölle ist los mit dir?« Sein Kanzleipartner schüttelte den Kopf.

»Um was geht es?« Tom war kaum in der Lage, sich daran zu erinnern, wie er in die Kanzlei gelangt war. Wie sollte er sich da auf den zehnminütigen Vortrag eines Anwalts konzentrieren!

»Worum es geht? Du fährst am Neujahrstag mit zwei Promille ins Schaufenster des stadtbekannten Puffs. Das ist los!« Richard rieb sich angespannt über die Stirn.

Tom richtete seinen Krawattenknoten, bevor er aufstand. »Dann weißt du ja schon alles. Kann ich an die Arbeit?«

»Nein, verflucht! Setz dich! Ich will wissen, wie das passieren konnte!« Richards Gesicht lief rot an.

Durch seine korpulente Erscheinung, die sein Freund und Kanzleipartner in einen zwischenzeitlich zu eng sitzenden Maßanzug gequetscht hatte, wirkte Richard wie eine Karikatur seiner selbst. Mister Tomato. Tom verkniff sich ein Grinsen und setzte sich.

»Ich hatte Durst, habe etwas getrunken, danach hatte ich keine Hand mehr frei, wegen des Telefonats. Im Schnee verlor ich die Fahrtrichtung, rutschte von der Kupplung, das war’s.«

»Und dann bist du einfach so in die Scheibe gekracht?« Richard schüttelte erneut den Kopf.

»Genau. Daraufhin hat die feuchte Lena die Verbindung unterbrochen. Allerdings war das egal, da mir das Handy von irgendeiner hysterischen Puffmutter aus der Hand gerissen wurde. Das Schlimme ist – seit dem Unfall ist Maria verschwunden.« Tom hatte alles abgesucht und dieses Miststück nicht finden können. War Maria ins Rotlichtviertel der Stadt geflüchtet? Das wäre der Hammer!

Richard atmete schwer, während er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Du hast gestern einem unserer besten Kunden gesagt, er solle es sich selbst machen.«

»Die Buchhaltung. Er jammerte über unsere Preise, die – wie ich selbst finde – völlig überzogen sind.«

»Tom. Du bist Steuerberater, achtundvierzig Jahre und Teilhaber dieser Kanzlei. Was ist los? Erst die ganzen Frauengeschichten und jetzt das! Ist es immer noch wegen dieses Balgs?«

»Dieses Balg ist mein Sohn. Ich habe ihm die Windeln gewechselt, das Laufen beigebracht und nach der Trennung seine goldenen Löffel bezahlt. Und jetzt …« Tom unterdrückte mühsam ein Schluchzen. Er war nun achtundvierzig. Wie groß war wohl die Chance, in diesem Alter noch einmal eine Familie gründen zu können? Dieser Gedanke trieb ihn in den Wahnsinn, doch er durfte sich vor Richard keinen emotionalen Ausbruch leisten.

Sein Gegenüber keuchte angestrengt. »Noch einige andere Kunden haben sich beschwert. So geht das nicht weiter. Ich habe mit Doktor Braun gesprochen.«

»Fuck! Was bildest du dir ein, hinter meinem Rücken mit meinem Arzt über mich zu reden?« Tom ballte seine Hände zu Fäusten.

»Das hat sich so ergeben. Der Doktor kam beim Golfspielen von ganz allein auf dieses Thema. Er war besorgt um dich. Herrgott, die ganze Stadt redet über den Vorfall mit dem Puff!« Richard schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

»Das war ein Vorfall mit einer Scheibe, einem Auto und Maria. Okay, da die Schlampe dabei eventuell ihr Leben gelassen hat – vielleicht …« Tom grübelte erneut über den Verbleib von Maria.

»Genug von diesem Gefasel! Du bist ja nicht mehr du selbst!« Richard zog aus dem Regal neben sich einen Prospekt heraus, den er vor Tom auf den Tisch klatschte. »Hier fährst du hin. Doktor Braun hat gesagt, so eine Auszeit sei Erfolg versprechend und genau das Richtige in deiner Verfassung. Er befürchtet ein Burn-out. Entweder du trittst noch morgen diesen Trip an, oder du bist für mich als Partner in dieser Kanzlei nicht länger haltbar.«

Tom starrte regungslos auf den bunten Prospekt. Als er schwieg, sprang Richard auf und ging zur Tür. »Vier Wochen Auszeit auf meine Kosten, oder du bist raus!«, rief Richard.

Tom kniff die Augen zusammen und stieß den Atem aus, als sein Freund den Raum verlassen hatte. Widerwillig ergriff er das Papier.

 

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Entspannung pur!

Einmalig im Anna-minun-olla-Park!

 

Gerade, als Tom geneigt war, den Fetzen Papier in Stücke zu reißen, entdeckte er die Buchungsbestätigung.

Er war hin- und hergerissen. So gern wollte er einhalten, was er sich am Neujahrstag vorgenommen hatte. Doch tatsächlich kotzte ihn die Kanzlei unglaublich an. In seiner Hand hielt er ein Ticket in die Freiheit. Vier Wochen, in denen er sich nicht um die Belange dieses blöden Ladens kümmern musste. Vielleicht war das die Lösung. Er würde die Reise antreten und alle zurücklassen. Konnte er mehr Arschloch sein?

02 Ankunft

 

 

Anna-minun-olla-Park – Finnland

 

Tom setzte sich aufs Ledersofa und beobachtete das knisternde Feuer im offenen Kamin des Blockhauses. »Entspannung pur«, hatte die Werbung proklamiert. »Erfolg versprechend«, hatte sein Arzt beteuert. Worte wie »Burn-out« waren ausgesprochen worden. Dinge, die Tom nicht hören wollte.

Er würde sich jetzt zurücklehnen und entspannen. So einfach war das. Kein Strom. Kein Mobiltelefon. Kein Laptop. Einfach nichts.

 

Los! Fang endlich an! Entspann dich!

 

Das Feuer prasselte, Funken sprangen heraus und sprühten bis auf den Teppich. Nicht, dass dieser Abklatsch eines Persers ein gutes Stück gewesen wäre. Das Muster war verblichen, die Fasern ausgetreten.

Tom beugte sich nach vorn und beobachtete, wie ein Funke ein winziges Loch in den Flor brannte. Das war die Höhe! Reflexartig sprang er auf und wollte das Licht einschalten. Erst als Tom vergeblich den Schalter entlang der Wände suchte, fiel ihm ein, dass beim Bau dieser Hütte auf elektrisches Licht verzichtet worden war.

Er wandte sich um und begutachtete erneut sein neues Domizil. Da stand der Wohnzimmertisch nebst Sofa und Beistelltisch vor dem Kamin, daneben ein Sessel. Links gab es eine Tür, die allerdings verschlossen war. Rechts stand ein Holztisch von zwei Sitzbänken gesäumt in einem spartanischen Essbereich, in dem es den einzigen Schrank in diesem Raum gab. Im nächsten Zimmer befand sich eine winzige Küche. Die Begutachtung der Schlafkammer, mit angrenzendem Badezimmer, hatte Tom ein Hohngelächter entlockt: Die Bezeichnung Badezimmer war maßlos übertrieben – es war schlicht und einfach ein Waschplatz.

Tom spürte Unruhe in sich aufsteigen und atmete tief durch. Warum ließ er nicht einfach los? Erneut startete er den Versuch, zu entspannen, setzte sich auf das Polster und lehnte sich zurück. Was sollte er hier unternehmen, so verlassen? Wobei Tom seit geschlagenen dreißig Minuten die Einsamkeit genoss.

Er reckte sich nach der Zeitschrift auf dem Tischchen neben dem Sofa. Wie gut, dass er sich genug zum Lesen mitgebracht hatte! Kritisch blätterte Tom im Magazin Unternehmen im Fokus. Sekunden später rieb er sich bereits tief seufzend über sein Gesicht. Durch das Tanzen der Buchstaben im Kerzenschimmer wurde ihm klarer denn je, dass er eine Lesebrille benötigte. Sosehr er sich auch dagegen wehrte, er wurde nicht jünger.

Erneut beobachtete er argwöhnisch einen Funken, der den Teppich verkokelte, legte die Zeitschrift auf den Sofatisch und lehnte sich zurück.

Gleich eine heiße Dusche, dann direkt ins Bett. Allein bei dem Gedanken wäre er beinah eingenickt. Doch schmerzlich erinnerte er sich, gelesen zu haben, dass dieses Etablissement kein warmes Wasser führte, es sei denn, er sorgte mit einem Feuer im Kessel dafür.

Was für ein Witz! »Entspannung pur«, hatte auf dem Prospekt gestanden. Okay. Er würde sich entspannen und diesen Aufenthalt zum echten Männerurlaub umdeklarieren: sich wie ein Barbar aufführen und stinken wie ein Bär. Feuerholz hacken und die Beute darüber von außen schwarz und von innen blutig zubereiten. Dabei keine Frau weit und breit, die darüber meckern konnte, was er tat und vor allem wie. Das allerdings versprach pure Entspannung. Tom fielen die Augen zu.

 

Der Wind riss an den Fensterläden und schreckte ihn auf. Sollte sich diese Wetterlage zu einem Sturm entwickeln, war an Schlaf nicht zu denken. In seinem Koffer steckten Notizbuch und Bleistift. Vielleicht konnte Tom in einer regsamen Nacht daran arbeiten, seine Gedanken zu ordnen. Er stand auf, um das Licht einzuschalten. Desillusioniert glitten seine Finger über das nackte Holz neben der Tür, bei der wiederholten Erkenntnis, dass nicht mehr Licht als das des Kaminfeuers und der Kerzen zur Verfügung stand.

Entspannung! Sofort!

Wenn er sich nicht augenblicklich abreagierte, dann würde er … Was eigentlich? Hier stand kein Auto vor der Tür, befand sich kein Telefon und das nächste Dorf lag – er hatte keinen Schimmer, wo.

In einer Woche würde ein Versorgungstruck vorbeikommen und Toms Vorräte auffüllen. Wenn er hier wegwollte, musste er warten. Daran ging kein Weg vorbei.

War es tatsächlich erlaubt, jemanden ohne Notrufmöglichkeit fernab der Zivilisation im Wald auszusetzen? Ein Funkgerät hätten sie ihm wenigstens geben können! Was, wenn er einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitt? Immerhin war er fast fünfzig. Da war so eine Attacke statistisch gesehen nichts Besonderes mehr.

Verflucht!

Fing er etwa so an wie seine gleichaltrigen Mitmenschen und quälte sich mit den Gedanken, welche Gebrechen sein Alter typischerweise mit sich brachte? Sicher hatte der Betreiber dieses bescheuerten Einsame-Hütten-Parks das Risiko bewertet, und Tom für würdig beurteilt, um allein hierzubleiben.

Einigermaßen beruhigt ging er zu seiner Winterjacke, die am Haken neben der Eingangstür hing. Er kramte in den Taschen und zog ein Zigarettenpäckchen samt Feuerzeug heraus. Dabei entdeckte er den Zwei-Euro-Stück-großen, ins Holz eingelassenen roten Plastikknopf neben der Garderobe: »Emergency«, stand in kaum lesbarer Größe darauf.

Was für ein Elend: Tom gehörte also doch zur Risikogruppe! Warum sonst hatte er eine Hütte mit einem bescheuerten Notfallknopf bekommen? Einen Teufel würde er tun, ihn zu drücken. Da konnte kommen, was wollte. Er würde allen beweisen, dass er sich hier auch allein durchschlagen konnte.

Erneut rüttelte der Wind an den Fensterläden. Tom sah durch das winzige Fenster hinaus in die Finsternis. Vielleicht sollte er die Läden schließen. Möglicherweise brachte das nicht nur eine Heizkostenersparnis, sondern dämpfte auch die Geräuschkulisse.

Vergeblich suchte er nach dem Fenstergriff. Der Blick zu den weiteren drei Öffnungen auf der gegenüberliegenden Seite des Raums bestätigte ihm, dass er zum Schließen der Läden nach draußen würde gehen müssen. Tom hatte ohnehin vorgehabt, eine Zigarette zu rauchen.

Vor der Tür tobte der Schneesturm. Windstärke ätzend war zusammen mit Monsterschneeflocken angesagt. Sie wirbelten bis unter seinen Jackenkragen. Tom genoss den Schutz des Windfangs vor der Haustür dennoch, da dieser ihm wenigstens genug Deckung bot, um die Zigarette anzünden zu können. Genüsslich zog er den Rauch in seine Lunge und hustete.

Verdammter roter Emergency-Knopf!

Jetzt schmeckte ihm der Glimmstängel nicht mehr. Er warf die Zigarette in den Sturm. Missmutig klappte er den Kragen hoch, schloss den Reißverschluss bis zur Nasenspitze und verließ den schützenden Windfang. Der Sturm blies binnen Sekunden jegliche Wärme aus seinem Körper.

Achthundertfünfzig Euro hatte Tom für diese Jacke eines, wie er dachte, namhaften Herstellers für Outdoorbekleidung hingeblättert. Wie er gerade am eigenen Leib erfuhr, stand der Preis lediglich für das bekannte Logo. Er war auf die Marketingstrategie hereingefallen. In Deutschland hatte ihn die Firma einzig als Werbeträger missbrauchen wollen, denn hier draußen versagte das Kleidungsstück kläglich.

Tom hatte den ersten Fensterladen erreicht. Mittlerweile rieselte der Schnee an den Jeans vorbei in die Stiefel, für deren Anschaffungskosten er in diesem Augenblick gedanklich nach einer Möglichkeit suchte, sie in den Betriebsausgaben der Kanzlei so zu verstecken, dass er sie steuerlich absetzen konnte. Das würde ihm die Genugtuung bringen, sich nicht mehr über die Sinnlosigkeit dieser Ausgaben ärgern zu müssen. Nicht, dass ihm das Geld wehgetan hätte, vielmehr war sein Stolz verletzt, auf das Marketing hereingefallen zu sein.

Tom schloss die Flügel des nächsten Fensterladens und sehnte sich seine Handschuhe herbei, die er törichterweise in der Hütte gelassen hatte.

Er begutachtete sein Domizil aufmerksam. Der Außenwand nach zu urteilen, hatte dieses im Innern noch einiges an Fläche zu bieten, denn die Hütte ragte mehrere Meter in Richtung See.

Tom beschloss, den Anbau von innen in Augenschein zu nehmen, um nicht augenblicklich in der Kälte zu erfrieren. Irgendwie würde er die verschlossene Tür, die vom Wohnraum in diesen Teil der Hütte führte, schon geöffnet bekommen.

Er hatte sein neues Zuhause einmal umrundet, als er erfolglos am Knauf der Haustür drehte. Verzweifelt warf er sich mit der Schulter gegen die Tür. Vergeblich.

Sein Stresspegel schoss sogleich in solche Höhen, dass er sich bei jenem nervösen Blinzeln erwischte, das ihn sonst nur überkam, wenn er in der Kanzlei einen Mandanten anlog.

Hatte sich diese verfluchte Tür selbst verriegelt? Wo zur Hölle war der Schlüssel? Tom hatte keinen gesehen. Warum auch sollte irgendwer hier draußen etwas abschließen wollen! Damit kein Bär hereinkam und sich vor das Kaminfeuer legte? – Das Feuer, das vermutlich gerade erlosch.

Wie lange war er jetzt hier? Egal. Er war bereit, auf den Emergency-Knopf zu drücken und aufzugeben. Seine Körpertemperatur schien jede Minute ein Grad weiter zu fallen. Tom beschloss, noch eine Runde um die Hütte zu gehen. Vielleicht hatte er einen weiteren Eingang übersehen.

Der abschüssige Boden hinter dem Anbau war vereist. Tom rutschte und fiel in den Tiefschnee. Wütend schlug er um sich, bekämpfte den unsichtbaren Feind in sich, der sich nicht entspannen wollte, nicht vergessen konnte und dessen bescheuertes Verhalten ihn erst hierhergebracht hatte. Beinah hatte er die Hoffnung, dieser unsägliche Schweinehund würde sich zeigen, doch der schien nicht bereit, sich aus ihm herauszulösen.

»Arschloch!« Der Hall dieses unschönen Wortes wurde von den Schneeflocken sanft zu Boden getragen und erstarb ungehört. Sollte er hier draußen auf diese Weise enden? Wenigstens würde Richard den Park auf ein hübsches Sümmchen verklagen können. Oder hatte Tom unterschrieben, dass er sich auf diesen Unfug ohne Wenn und Aber einließ?

Und wenn schon! Er würde nicht aufgeben. Nicht heute! Wenn überhaupt, würde er sich von einem Bären fressen lassen. Da der Parkeinweiser ihm allerdings erklärt hatte, dass Bären Winterschlaf hielten, würde er wohl bis in den Frühling ausharren müssen. Warum auch nicht. Er hatte kein Leben mehr, in das es sich lohnte, zurückzukehren.

Um sich als Bärenopfer aufzusparen und nicht in der Kälte zu erfrieren, raffte sich Tom auf und kämpfte sich weiter um die Hütte herum.

Ein greller Schrei hallte durch den Wind. Tom blieb stehen und lauschte in den Schneesturm hinein. Hatte er sich verhört? Noch einmal vernahm er das unwirkliche Geräusch, bei dem sich seine Nackenhaare aufstellten. Entstammte dieser Laut der Kehle eines Tieres oder war sein Hirn bereits so eingefroren, dass er halluzinierte?

Erneut trug der Sturm einen Schrei an sein Ohr, diesmal deutlich tiefer und näher. Tom stapfte zur Ecke und spähte in Richtung Haustür. In seiner Fantasie hatte er einen Bären erwartet. Was er allerdings sah, hatte zwar einen Pelz, weitere bärige Attribute fehlten jedoch.

»Verfickte Scheiße, hast du mich erschreckt!« Der braune Pelz hatte ein solch lautes Organ, dass der Ausruf mühelos den Schneesturm durchdrang. Tom erstarrte, ohnehin von der Kälte halb erfroren.

»Hätte ich mir denken können, dass das im Prospekt nichts als heiße Luft ist. Von wegen einsam in der Wildnis«, plärrte das Pelzknäuel mit weiblich schriller Stimme.

Als Tom sich nicht von der Stelle rührte, fuchtelte sie mit den Armen herum. »Machst du endlich die Tür auf und trägst den Koffer rein oder was?«

Tom ging näher an das eingeschneite Knäuel heran. »Oder was?«, murrte er.

Mit handschuhbepelzten Fingern zog sie die Skibrille nach oben und beäugte ihn aus großzügig schwarz geschminkten Augen. »Oder ich beschwer’ mich über dich, Alter!«

Tom war im Begriff gewesen, ausgesperrt vor der Hütte zu erfrieren, und hatte bisher nur die stark geschminkten Augen seines Gegenübers gesehen. Bei dem Gedanken, dass sie sich über ihn beschwerte, ging ihm allerdings das Herz auf, denn das bedeutete, dass er nicht als Bärentiefkühlkost enden würde. Durchgefroren und das Nervenkostüm zerfetzt, prustete er los. Schließlich sollte sie allen Grund haben, sich zu beschweren!

»Oh fuck. Du Freak gehörst zum Programm. Hätte ich mir denken können!« Die Fremde stellte sich vor den Eingang.

Als sie das rechte Handgelenk samt Pelzhandschuh vor den Knauf hob, mutete das an, als sei sie eine Braunbärin, die ihre Pranke hob. Tom grinste. Offenbar war er soeben erfroren und erlebte das Jenseits als Gesellschafter einer ungezogenen Jungbärin. Ein Summen riss ihn aus den Gedanken. Die Besucherin öffnete die Eingangstür und trat über die Schwelle.

Tom sprintete nach vorn und gelangte gerade noch hinter ihr in die Hütte, bevor die Tür ins Schloss fiel. Wie er befürchtet hatte, war das Feuer erloschen. Der Raum kühlte bereits aus.

Dennoch galt seine Aufmerksamkeit zunächst dem Handgelenk der Fremden. Wie hatte sie das angestellt?

Die Bärin schlüpfte aus Handschuhen und Pelz, drapierte beides über dem Emergency-Knopf an der Garderobe und entledigte sich Skibrille und Mütze. Die Augen zu Schlitzen verengt, fauchte das nun filigran anmutende Wesen in seine Richtung.

»Warum bringst du Penner nicht meinen Koffer mit rein? Fuck!« Sie packte Tom am Oberarm und schob ihn zur Seite, um die Tür zu öffnen.

Tom entdeckte das grüne Gummiband um ihr rechtes Handgelenk, durch das ihr anscheinend das Öffnen der Tür gelungen war. Warum hatte er so etwas nicht bekommen?

Die Bärin zog den Koffer herein, als handle es sich um den leblosen Körper eines von ihr erlegten Tieres. Die Tür fiel erneut geräuschvoll ins Schloss. »Bist du dumm oder so? Hat mein Vater dich geschickt?«, keifte sie.

Wie knapp hatte er die Chance verpasst, im Eis zu erfrieren! Dann wäre ihm diese Person erspart geblieben. »Halt einfach deine unreife Klappe!« Tom ließ die Bärin, die sich unter dem Pelz als junge Frau in zerrissenen Jeans, gespickt mit Nasenpiercing und schulterlangen lila Haaren, erwies, unbeachtet stehen und widmete sich dem Kaminfeuer. Erfreut über die noch vorhandene Glut legte er ein paar Späne darauf, um sie mit gezieltem Pusten anzufachen.

»Blasen kannst du gut. Siehst gar nicht danach aus.« Die Bärin ließ sich aufs Sofa fallen und starrte ihn an.

»War das Richards Idee?«, murrte Tom, während er Holzscheite auf die Flammen packte.

»Wer ist Richard?«, knurrte die Bärin.

Tom sprang auf und sah sie erbost an. »Denkt dieser Perversling, ich steh’ auf kleine Mädchen?«

Sie war sichtlich zusammengezuckt. »Ey, Arschloch! Ich habe keinen Schimmer, wer Richard ist. Komm wieder runter. Außerdem bin ich einundzwanzig!«

Tom bemerkte, dass er noch immer Mantel, Stiefel und Mütze trug. Er pellte sich aus seinem Schneeoutfit und hängte alles neben den Pelz der Bärin.

»Ich brauche verflucht noch mal etwas Alkoholisches!«, murrte er.

»Bist du etwa ein Alki?« Die mit einem Kilo schwarzem Eyeliner geschminkten Augen stierten ihn geringschätzig an.

»Nur weil jemand mal einen Schluck trinkt, ist er nicht gleich ein Alki.« Noch während er sprach, fragte sich Tom, warum er sich vor dieser furchtbaren Person überhaupt rechtfertigte.

»Das sagen sie alle, die beschissenen Alkis.« Sie schürzte die passend zum lila Haar angemalten Lippen zu einem Schmollmund, dabei fielen Tom die Piercings in der Oberlippe und am Kinn auf.

»Halt deine Klappe!«, entfuhr es ihm aggressiver als beabsichtigt. Er strich sich durch sein lichtes Haar und begann, in den Schränken neben dem Kücheneingang herumzuwühlen.

»Wenn du mich schlägst oder vergewaltigst, macht mein Vater dich fertig.« Unsicherheit klang in ihrem Tonfall mit.

Tom empfand ihre Vorwürfe mitsamt der Drohung als lächerlich. Endlich fand er eine Flasche Whiskey. Er riss das Plastik vom Korken und nahm zwei der Gläser aus dem Schrank. Geräuschvoll stellte er alles vor der Bärin auf dem Wohnzimmertisch ab. Den Blick auf sie gerichtet, setzte sich Tom ihr gegenüber auf den Sessel.

»Vergewaltigen? Ich steh’ nicht auf Kinder. Aber übers Knie gelegt zu werden, würde dir gewiss nicht schaden.« Tom ließ die Flüssigkeit in die Gläser laufen und schob eines in ihre Richtung.

»Arschloch!«, keifte sie.

Nach einem großen Schluck stellte Tom wohlwollend fest, dass der Parkbetreiber seinen Geschmack in Bezug auf Whiskey getroffen hatte. Im Hinblick auf seine Besucherin war das jedoch gründlich misslungen. Tom beabsichtigte, die Bärin grimmig anzusehen und sie für ihr »Arschloch« zurechtzuweisen, als ihm in den Sinn kam, dass er genau das hatte sein wollen. Offenbar war ihm dies vortrefflich gelungen. Daher entschied er sich für ein süffisantes Grinsen.

»Danke.«

»Gern geschehen«, murmelte sie. Die Bärin beäugte das Glas auf dem Tisch, griff danach und trank zögerlich einen winzigen Schluck. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihm sodann zuprostete. »Danke.«

Dieses dämonische kleine »Danke« zerrte an Toms aufgekeimtem Hochgefühl. Wie sollte er ein Arschloch sein, wenn sie sich bedankte? Niemand bedankte sich bei einem Arschloch! Lag genau das in ihrer Absicht? Wollte sie ihn zähmen?

Zu allem Übel reckte sie ihm nun die Hand über den Tisch hinweg entgegen und lächelte – für eine Bärin – recht scheu. Tom beugte sich nach vorn, ergriff statt ihrer Hand erneut sein Glas und trank es in einem Zug aus.

Enttäuschung huschte über das junge Gesicht, als sie sich gegen die Rückenlehne fallen ließ. »Ich bin Nancy. Mein Dad hat mich hierhergeschickt, weil ich nicht seiner Meinung bin, was meine Karriere betrifft.«

Tom genoss das heiße Gefühl des Whiskeys in seiner Kehle. Er versuchte, damit seinen Beschützerinstinkt hinunterzuschlucken, den Nancy mit ihrem betrübten Blick hervorgelockt hatte. Wenn er das nicht unter Kontrolle bekam, würde er nie lernen, ein Arschloch zu sein.

»N-a-n-c-y«, wiederholte er in spöttischem Tonfall und beschloss, lieber bei der Bezeichnung Bärin für dieses sonderbare Wesen zu bleiben.

»Ich wäre froh, wenn du mir nicht das Leben schwer machst. Warum auch immer du hier bist oder was mein Vater dir zahlt. Und ich kenne keinen Richard.«

»Richard ist der, der mich hierhergeschickt hat«, murmelte Tom.

Nancy blinzelte nach seiner konfusen Aussage. »Und wer bist du?«

Einen Teufel würde er tun, dieser Göre seinen richtigen Namen zu verraten. Er wusste ja nicht einmal, warum sie tatsächlich hier war. »Legatus«, sagte er und grinste dreist.

»Ein Irrer. Ich werde mich bei den Parkbetreibern über die Doppelbuchung beschweren.« Nancy verdrehte die Augen und trank ihr Glas leer.

»Nur zu. Unter den Mänteln befindet sich irgendwo der Emergency-Knopf.«

»Never. Sonst habe ich die Wette gegen meinen Vater verloren und muss dieses beschissene Wirtschaftsstudium antreten. Vielleicht hat er dich ja doch geschickt.«

»Richard!«, keifte Tom wie ein kleiner Junge, um ihr zu verdeutlichen, dass auch er Misstrauen bezüglich ihrer Angaben hegte. Dann schenkte er sich Whiskey nach. »Woher hast du dieses Band?«, besann er sich auf das, was ihm gerade am wichtigsten erschien.

»Was für ein Band?«, fragte sie und runzelte die Stirn.

Tom deutete auf sein rechtes Handgelenk und Nancy starrte das Gummiband um ihren Arm an. »Das war im Informationsbrief mit den Hüttenbeschreibungen. Damit lassen sich die elektrischen Geräte bedienen«, erklärte sie bereitwillig.

»Häh?«, murrte Tom. Er hatte geglaubt, es gäbe keine elektrischen Geräte in dieser verfluchten Hütte.

»Hast du keins?«, fragte die Bärin.

Tom schüttelte den Kopf. Er hatte nichts von dem gelesen, was man ihm als Bedienungsanleitung für seinen Urlaub in die Hand gedrückt hatte. Er war ein Mann! Der Umschlag steckte im Koffer auf dem Bett im Schlafzimmer. Später würde er nach dem Band suchen.

Nancy hob ihre linke Augenbraue beachtlich in die Höhe und Tom fiel auf, dass auch dort ein Piercing glänzte. »Eindeutig ein Notfall. Du solltest den Knopf drücken!« Aufmunternd deutete sie in Richtung Garderobe.

»Ich werde niemals diesen Knopf drücken.« Tom winkte ab.

Auf Nancys Lippen breitete sich ein dämonisches Lächeln aus. »Wir werden sehen.« Sie stand auf und reckte die Arme in die Höhe. »Ich gönne mir jetzt eine heiße Dusche. Dann gehe ich ins Bett. Gute Nacht.«

Fix hatte sie ihren Koffer ins Schlafzimmer gezerrt. Bevor Tom realisierte, was geschah, hörte er, wie die Tür von innen verriegelt wurde.

»Hey! Was soll das werden?«, rief er.

»Drück einfach den Knopf!« Nancy kicherte hinter der Tür.

Tom hatte ihr Spiel durchschaut. Desillusioniert ließ er sich auf den Sessel sinken. Mit allen Mitteln würde sie versuchen, ihn dazu zu bringen, diesen Knopf zu drücken. Aber das würde nicht geschehen! Allerdings hatte sie ihm nicht nur den Weg zu seinem Koffer verriegelt, was bedeutete, dass Tom nicht nachsehen konnte, ob das Band in seinem Informationsbrief war, sondern auch den Zugang zum Badezimmer abgeschnitten.

Er hatte es doch so gewollt! Urlaub wie ein Mann! Stinkend wie ein Bär vor dem Feuer schlafen.

Tom legte Holz nach und streckte sich auf dem Sofa lang.

03 Erster Tag

 

 

Kaffeeduft weckte Tom aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Das Feuer war erloschen, die Temperatur im Wohnzimmer dennoch angenehm. Die Morgensonne hatte den Schneesturm vertrieben und schien durch die Fenster herein. Tom war im Begriff, sich zu entspannen, als nackte weibliche Beine im Eingang zur Küche auftauchten. Sein Blick scannte das untere Ende des wandelnden Unheils: An den Füßen trug sie Wollsocken. Mit angehaltenem Atem stellte er fest, dass ein langes Sleepshirt mit der Aufschrift Fuck Off, den Rest des weiblichen Körpers verdeckte. Toms am Abend in Whiskey getränkte graue Zellen benötigten einen Augenblick, bis sie ihm den Namen Nancy verrieten.

Nancy mit den lila Haaren. Das Auftauchen der Bärin war also kein übler Traum gewesen. In den Kaffeeduft mischte sich Zigarettenqualm. Tom setzte sich auf und reckte die schweren Glieder.

»Nehmt euch in Acht, ihr Römer! Legatus – das von Richard gesandte Arschloch – ist erwacht!«, zischte Nancy vom Kücheneingang.

Tom sah erbost auf und erkannte ein Zigarettenpäckchen in ihrer linken Hand. »Sind das etwa meine?«

Nancy grinste breit. »Jetzt nicht mehr.«

Augenblicklich war er hellwach und stürmte an Nancy vorüber ins Schlafzimmer. Die sich auf dem Bett stapelnde Spitzenunterwäsche schmiss er in ihren Koffer, der geöffnet am Boden lag. Den Inhalt seiner Reisetasche kippte er auf das Bett und wühlte darin herum. Zu seiner Beruhigung fand er zwischen den Socken ein weiteres Päckchen Zigaretten nebst Feuerzeug.

Wo aber war dieser verflixte Umschlag, den man ihm gegeben hatte, bevor er zur Hütte gefahren worden war?

Vergeblich durchsuchte er seine Sachen, dann sah er verärgert auf Nancys Koffer. Konnte ein Mädchen dieses Alters so unverfroren sein? Eilig stopfte er seine Sachen zurück in die Reisetasche.

Er hatte sich vorgenommen, ein Arschloch zu sein. Was sprach also dagegen, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen? Kurzerhand leerte er Nancys gesamten Kofferinhalt auf dem Bett aus und durchwühlte alles. Zwischen Make-up, Kondomen und Tampons fand er tatsächlich einen Umschlag mit dem Symbol des Parks darauf. Hastig zog er den Inhalt aus dem bereits geöffneten Begrüßungsbriefumschlag. Fehlanzeige. Tom fühlte sich beobachtet und sah zur Tür. Ein Grinsen auf den Lippen stand die Bärin auf der Schwelle und wedelte mit etwas, das sie in den Fingern ihrer linken Hand hielt. »Suchst du das, Legatus?«

»Gib das sofort her!«, rief Tom aufgebracht.

»Drück zuerst den Knopf.« Nancy kicherte boshaft.

»Gib es mir!«, brummte Tom zornig.

»Der Knopf!« Sie deutete auf die Garderobe.

Tom sprintete los. »Her damit!«

Nancy sprang katzengleich und völlig unbärig zur Haustür und riss sie auf. »Drück den Knopf, oder ich versenke dieses wunderschöne Accessoire in den Schneeverwehungen der letzten Nacht!«, warnte sie ihn.

»Das wagst du nicht, du …« Noch bevor er seine Drohung ausformulieren konnte, flog der Inhalt aus Nancys Hand in hohem Bogen durch die Luft.

»Du!« Tom baute sich vor ihr auf.

»Drück den Knopf, Spießer! Dann bist du mich für immer los.« Nancy blinzelte, dabei sah er Furcht in ihren Augen aufkeimen.

Tom überlegte hinauszulaufen, allerdings trug er nur Socken und war sich der Gefahr bewusst, dass sie ihn aussperren könnte. Als er jedoch bemerkte, dass sein Auftritt bei ihr Angst auslöste, trat er einen Schritt zurück. Sie zitterte. Was dieses Band ihm auch für Vorzüge verschaffen würde, zunächst benötigte er einen Kaffee und eine Dusche. Allerdings hätte er einen Whiskey bevorzugt, um den erneut aufsteigenden Beschützerinstinkt hinweg zu spülen, doch das war um diese Uhrzeit unangebracht.

Auf seinem Weg in die Küche hüpfte die Bärin hinter ihm her. »Scheiße. Gibst du so schnell auf?«

»Hab’ ich den Knopf gedrückt?«, murrte Tom und suchte die Arbeitsplatte vergeblich nach der Kaffeemaschine ab, ehe er auf Nancys Tasse starrte. »Woher zur Hölle hast du den Kaffee?«

»Tja, Legatus. Das ist hier die Frage«, sagte sie schulterzuckend.

Beruhigt stellte er fest, dass ihr diabolisches Grinsen in ihm den Drang weckte, sie auf der Stelle zu erwürgen, anstatt vor der bösen Welt zu beschützen, was allerdings auch am Koffeinentzug und dem damit einhergehenden Kater lag.

Tom schnappte sich ihre Tasse und trank den lauwarmen Kaffee ohne abzusetzen aus.

»Spielverderber«, murrte sie.

Nancys Schmollmund entlockte Tom ein Grinsen. Offenbar war auch sie ein Kaffee-Junkie. Sie zückte willig den Arm und hielt das Band vor einen Button, der auf der Rückwand der Arbeitsplatte eingelassen war. Tom hatte den Knopf zuvor nicht wahrgenommen, da er wie ein Astloch aussah. Eine hölzerne Abdeckung fuhr in der Wand nach oben und eine vollautomatische Kaffeemaschine kam zum Vorschein, aus der das heiße Gebräu in einen Becher lief. Tom überrumpelte Nancy, schob sie zur Seite und griff sich auch diese Tasse.

»Glaub ja nicht, dass das zur Gewohnheit wird«, brummte die Bärin und betätigte den Kaffeeautomaten erneut.

»War beinah nett.« Genüsslich schlürfte Tom am Heißgetränk.

»Ich wette, du hast bis morgen diesen verfickten Knopf gedrückt.« Erbost deutete Nancy in Richtung Garderobe.

»Ich halte dagegen.« Tom erhob die Hand.

Sie wollte einschlagen, zögerte, und warf stolz ihr lila Haar zurück. »Und wenn du gewinnst, was willst du dafür?«, fragte sie.

Tom deutete auf ihr Handgelenk. »Ich bekomme das Band.«

»Materialist, wie? Was machst du von Beruf, Legatus? Sklaventreiber?« Sie mustere ihn von oben bis unten.

Tom fühlte sich trotz Shirt und Jeans nackt. »Was ist nun mit der Wette?« Er nippte an seinem Kaffee, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.

»Angenommen.« Die Bärin hob ihre Pranke.

Tom ging näher an sie heran und schlug ein. Er hörte die junge Frau schlucken. »Hast du Angst vor mir, Nancy? Das musst du nicht«, versuchte Tom die Situation zu entspannen.

»Jetzt nicht mehr, Legatus, Gesandter des Richard, denn ich weiß jetzt, dass du kein Arschloch bist«, sagte sie.

»Warum?« Tom wunderte sich über die plötzliche Selbstsicherheit in ihrer Stimme.

»Weil du mir das Band auch mit Gewalt hättest abnehmen können.« Scheu senkte sie den Blick und wich einen Schritt zurück.

Wieder klopfte Toms Beschützerinstinkt an seinem Herzen an. Um ihn zu bekämpfen, trank er den noch viel zu heißen Kaffee aus. Hastig stellte er die Tasse auf die Arbeitsplatte und eilte ins Badezimmer, wo er sich einschloss.

Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Waschtisch ab, während er sich nah vor sein Spiegelbild beugte. Bartstoppeln wuchsen und sein lichtes Haar war zerzaust. Abgerundet wurde sein angestrebtes Bad-Boy-Image durch ein unterschwelliges Grinsen. Das Erste seit Wochen. In der letzten Zeit hatten ihn viele Dinge bereits in der Vorstellung überfordert. Sogar der Gedanke daran, allein in dieser Hütte zu sein, hatte ihn geängstigt. Doch nun? Die Bärin war aufgetaucht und mit ihr eine Art Herausforderung, die er voller Erwartung annahm. Nicht als Frau forderte sie ihn heraus, sondern als Mensch. Schließlich könnte sie seine Tochter sein, und sie war ohnehin in ihrer ganzen Art nicht sein Typ. Der Beschützerinstinkt, der immer wieder in ihm hochkam, war sicherlich auf ihr Alter und Geschlecht zurückzuführen.

Tom rasierte sich. Auf keinen Fall würde er diesen verfluchten Knopf drücken. Viel zu sehr genoss er die neue Situation. Er stellte das Wasser in der Dusche an und hielt die Hand darunter: eiskalt. Vor der Tür erklang ein unbäriges Kichern.

»Verflucht! Warum konntest du duschen und ich nicht?«, rief er.

»Legatus, Gesandter des Richard. Du bist kein Auserwählter. Du musst im Kessel Feuer machen, wenn du den Freuden des warmen Wassers frönen willst. Uh, uh, uh!«

Es klang, als trommle sie sich wie ein Gorilla mit den Fäusten auf den Brustkorb. Tom riss die Tür auf. Erneut sah er Angst in den Augen der Bärin aufblitzen. »Das ist mir so was von egal! Wenn ich stinke, wen würde das stören?« Er neigte den Kopf und fixierte sie. »Wohl … nur dich?«, murmelte er.

Nancy stürmte aus dem Schlafzimmer. »Wenn du glaubst, ich komme zu dir ins Bad und sehe dir beim Duschen zu, nur, damit ich den Gestank nicht ertragen muss, liegst du falsch.«

Auf die Idee war Tom gar nicht gekommen. Diese Hütte war ein Fluch. Ein Durchlauferhitzer musste in dieser Wand eingelassen sein, der nur ansprang, wenn eines der Bänder nah genug war. Würde Nancy also daneben stehen, könnte er warm duschen. Oder eben wenn sie mit ihm unter der Dusche stehen würde und … »Fuck!« Tom schüttelte das Bild von der Bärin und sich unter der Dusche aus seinen Gedanken. Krank war das!

Frauengeschichten hatte er etliche hinter sich. Ein Kind von Traurigkeit war er sicher nicht, wenn er auch nie verstanden hatte, wie er sich im beschaulichen Altenkirchen den Ruf eines Herzen brechenden Machos eingehandelt hatte. Über die Jahre ruhiger geworden, verspürte er gewiss nicht den Drang, sich mit männlichem Balzgehabe vor einer deutlich jüngeren Frau lächerlich zu machen. Doch was zur Hölle sollte er mit Nancy anfangen, fernab jeglicher Zivilisation?

Langsam schlich er zur Wohnzimmertür und erstarrte. Nancy lag reglos auf dem Rücken mitten im Zimmer. Die Haustür stand offen. Doch Spuren eines Eindringlings waren nicht zu erkennen. Tom kniete sich neben sie. Die Bärin atmete, was ihm den ersten Schrecken nahm. Er fühlte ihren Puls, dann versuchte er, eines ihrer Augenlider anzuheben. Sie drehte brummend den Kopf weg.

»Nancy?«, fragte Tom.

»Bist du ein verfickter Arzt?«, zischte sie.

»Was …?« Tom zuckte zurück.

»Warum drückst du Wichser nicht den Knopf, wenn ich hier bewusstlos liege!«, rief die Bärin erbost.

»Du blödes Gör hast mir einen scheiß Schrecken eingejagt!« Tom sprang auf, schnappte sich das Päckchen Glimmstängel von der Arbeitsplatte, schlüpfte in seine Stiefel und eilte vor die Tür.

Im Windfang zündete er sich eine Zigarette an. Tief sog er den Rauch ein, in der Hoffnung, sein Herzschlag möge sich verlangsamen. Eine Flutwelle von Sorgen, Ängsten und Erinnerungen hatte die Bärin mit ihrer blödsinnigen Aktion an die Oberfläche geschwemmt. Hatte er nicht schon genug mit dem Gedanken zu kämpfen, dass er einen Sohn verloren hatte? War es das, was er glaubte, dass es ihm zu seinem Glück fehlte: eine Familie? Musste diese unverschämte Göre sosehr an den mühsam errichteten Mauern rütteln, dass sich die alte Angst, am Tod eines Menschen schuld zu sein, nach Jahren des Friedens ungehindert in ihm ausbreiten konnte? Tom zog erneut an der Zigarette und erlangte allmählich seine Fassung zurück.

Mit einem Grinsen erschien Nancy auf der Schwelle. »Ich könnte jetzt die Tür schließen.«

»Wirst du aber nicht.« Mühsam unterdrückte er ein Husten, während er versuchte, sie so bedrohlich wie möglich anzusehen.

»Wie kommst du darauf?«, fragte sie. Ihre Hände lagen bereits auf dem Holz der Tür.

»Weil ich dann nicht den verfluchten Knopf drücken kann!«, erklärte er.

Nancy kniff ein Auge zu und musterte ihn. »Du ziehst es also in Erwägung?«

»Nein.« Tom bemerkte, dass es in der Sonne nur halb so kalt war wie am Tag zuvor während des Schneesturms. Er konzentrierte sich auf die Stelle, wo Nancy das Band hingeworfen hatte. Sah er da ein Loch im Schnee? Die Zigarette im Mund hastete er zur Schneeverwehung und buddelte darin herum. Zu seinem Erstaunen lehnte die Bärin lässig am Türrahmen und beobachtete ihn, anstatt den Versuch zu unternehmen, ihn aufzuhalten. Tom streckte den Arm tiefer und tiefer in den Schneehaufen. Tatsächlich fühlte er etwas, das sich wie ein Band anfühlte. Er zog es heraus. Triumphierend hielt er seinen Fund in die Höhe. Seltsamerweise lachte die Bärin so sehr, dass sie sich den Bauch hielt.

Tom watete zurück in den Windfang und betrachtete den Gegenstand eingehend, bis Nancy sich das schwarze Etwas schnappte und ins Haus hopste. »Danke. Das Haargummi hab’ ich heute Morgen doch glatt verloren.«

Geistesgegenwärtig stellte Tom den Fuß in die Tür, als diese zuzufallen drohte. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen. Das Licht der Sonne, das der Schnee reflektierte, blendete ihn. Das Lachen der jungen Frau hallte in seinen Ohren. Und er? Er fühlte sich seit langer Zeit zum ersten Mal lebendig. Vielleicht, weil diese junge Frau ihn dazu zwang, sich mit Emotionen auseinanderzusetzen, die er vor vielen Jahren unter dem Deckmantel des smarten Steuerberaters begraben hatte. Tom war es gewohnt, alles unter Kontrolle zu haben. Mit Nancy jedoch funktionierte das nicht.

Er stürmte ins Wohnzimmer. Nancy klapperte in der Küche herum. »Was kann man hier unternehmen?«, rief er und lugte zu ihr in den Nebenraum.

Die Bärin hantierte ungeschickt am Gasherd herum, offenbar in der Absicht, ein Spiegelei zu braten. Tom hörte das Gas ausströmen, während Nancy seelenruhig eine Pfanne im Schrank suchte.

Er schubste sie alarmiert zur Seite und stellte das Gas ab. »Herrgott noch mal! Willst du uns in die Luft sprengen und die Hütte abfackeln, nur, damit ich auf diesen bescheuerten Knopf drücke?«, murrte er.

Seltsamerweise erwiderte Nancy nichts. Tom sah zu ihr und stellte erschrocken fest, dass sie sich den Kopf hielt. Sie musste sich bei seinem Schubs an der offenen Schranktür gestoßen haben. Angst stand erneut in ihren Augen, ihr Körper zitterte und ihr Atem ging stoßweise.

»Ich wusste nicht, dass der Herd sich nicht von allein entzündet. Ich wusste das doch nicht«, wimmerte sie.

Wie gelähmt sah Tom sie an und fühlte sich hilflos. Nancy stürmte an ihm vorbei aus der Küche.

Tom holte die Pfanne aus dem Schrank. Zündhölzer fand er in der Schublade unter der Arbeitsplatte. Als er sein Ei im Fett brutzelte, wurde die Haustür zugeknallt.

Er zog die Pfanne vom Herd und sah ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag Nancys Armband. An der Garderobe fehlte ihr Pelz, ebenso Mütze, Handschuhe und Skibrille. Tom rieb das Plastik des Bandes zwischen den Fingern, während er grübelte, was das Zurücklassen desselben zu bedeuten hatte.

Der Geruch einer Sommerwiese stieg ihm in die Nase. Tom schnupperte am Band: Es roch nach duftenden Blüten und Nektar. Sosehr er verleugnen wollte, den Geruch einer Person zuordnen zu können, er wusste genau: Das war Nancys Duft.

Etwas an der frischen Luft zu sein, hatte noch keiner seiner bisherigen weiblichen Bekanntschaften geschadet, daher versuchte Tom keine Gedanken an Nancy zu verschwenden und streifte sich das Band über sein Handgelenk.

Doch es ohne weitere Herausforderungen gewonnen zu haben, hinterließ bei ihm ein Gefühl von Unmut. Arschloch sein hin oder her. So etwas war nur spaßig, wenn er einen ebenbürtigen Gegner hatte.

Tom starrte hinaus in den Schnee und überlegte, ob er die Bärin doch suchen sollte, dann aber setzte er sich aufs Sofa. Dort griff er zur Zeitschrift Unternehmen im Fokus und las einen Artikel über den tragischen Selbstmord des Herausgebers Lando Sensenmann, bei dem er eine Frau namens Antonia Bergen mit sich gerissen hatte. Tom war dieser Frau zwar erst einmal begegnet, doch ihr Tod schmerzte ihn aus unerfindlichen Gründen, als hätten sie sich nahegestanden.

Um die daraus resultierenden finsteren Gedanken loszuwerden, duschte Tom, trank Orangensaft, nachdem er den Kühlschrank entdeckt hatte, und beschloss kurz vor der Dämmerung, den Schnee aus dem Windfang zu schaufeln. Dabei würde er sicher auch auf Nancy treffen, die irgendwo vor der Hütte das Wetter genoss. Weit konnte sie nicht sein.

Tom stapfte ein paar Meter von der Hütte weg und bewunderte den See unterhalb des Schuppens, der von einer Eisdecke verschlossen wurde. Er hielt inne und beobachtete, wie der Himmel sich rot färbte. Im Sommer war diese Hütte sicher ein wahres Idyll, gerade aber kroch ihm die Kälte in den Nacken. Langsam frischte der Wind auf. Wo zur Hölle hatte seine Bärin sich verkrochen?

Tom schüttelte den Kopf. Hatte er gerade seine Bärin gedacht? Und warum kümmerte ihn das überhaupt? War es der Beschützerinstinkt, der sich in ihm regte, wenn er sie ansah, oder war da etwas ganz anderes? Etwas, das ihn den Duft des Armbandes mit dem Duft von Blumen vergleichen ließ?

»What the fuck!«, stieß er hervor. Er war doch keine achtzehn mehr!

Tom drehte sich um. Fußstapfen führten ins Dickicht nah der Hütte. Der Wind verwehte allmählich die Spuren. Nancy war jung und unerfahren. Was auch immer sie so aufgebracht hatte, er musste sie vor Einbruch der Dunkelheit finden. Sollte ihr Verschwinden jedoch in der Absicht geschehen sein, dass Tom panisch den Knopf drückte, damit sie die Doppelbuchung melden konnte, würde er sie übers Knie legen.

Eilig stapfte er zurück zur Hütte, um für alle Fälle eine Taschenlampe zu suchen, da erkannte er im Windfang den Pelz seiner Bärin. Mit hängenden Schultern würdigte sie ihn keines Blickes, als er die Tür öffnete. Nancy zog ihre Wintersachen aus und verschwand im Schlafzimmer. Tom setzte sich ans Kaminfeuer. Gedankenversunken genoss er den Rest des Whiskeys.

Nach einiger Zeit spähte er ins Schlafzimmer. Seine Bärin lag zusammengerollt auf dem Bett und schlief. Er breitete eine Decke über ihr aus. So hatte Tom sich den Wettsieg und den Erhalt des Bandes nicht vorgestellt. Was hatte ihr so zugesetzt?

04 Zweiter Tag

 

 

Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ den Schnee leuchten. Das Kaminfeuer brannte bereits seit Stunden. Hin und wieder hatte Tom sogar die Haustür geöffnet, um Wärme entweichen zu lassen. Während er den siebten Kaffee trank und das Magenknurren ignorierte, las er in einem Buch, das er im Wohnzimmerschrank neben dem Whiskey gefunden hatte. Doch die Geschichte langweilte ihn zunehmend.

Warum kam die Bärin nicht aus dem Schlafzimmer? Tom hatte ein paar Mal hineingesehen und war einmal an ihr vorbei ins Badezimmer geschlichen, aber sie hatte tief geschlafen. Sicherlich war es bereits Nachmittag. Er beschloss, für Klarheit zu sorgen, dabei in alte Verhaltensmuster zurückzufallen und ausnahmsweise kein Arschloch zu sein.

Einige Zeit hantierte er in der Küche herum und platzierte auf einem Tablett ein Frühstück für zwei Personen. Sosehr, wie sein Magen knurrte, würde er nicht zusehen können, sollte die Bärin auf sein Essensangebot anspringen. Zum Schluss griff er ein Glas, füllte Schnee hinein und stellte es in die Mitte zwischen Orangensaft und Kaffee.

Dieses Mal bemühte er sich, mit großem Getöse das Zimmer zu betreten. Die Tür prallte gegen die Wand, als er sie aufstieß. Tom setzte sich aufs Bett, während er das Tablett auf dem Nachttisch abstellte. Ihr lila Haar war zerzaust, das Augen–Make-up zusammen mit den Piercings verschwunden.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie jung sie tatsächlich war, nun, da sie ungeschminkt und wehrlos in seinem Beisein schlief.

»Rieche ich Kaffee? Echt jetzt?« Die Bärin blinzelte und Tom versuchte, die Hitze zu unterdrücken, die bei ihrem friedfertigen Tonfall in ihm aufstieg.

»Mh.« Er räusperte sich.

---ENDE DER LESEPROBE---