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Vor mehr als 25 Jahren sind die ersten Wölfe nach langer Abwesenheit wieder in der Schweiz gesichtet worden. Die Irritationen in der Berglandwirtschaft waren gross. Und bis heute wird kontrovers diskutiert, ob der Wolf oder auch andere Raubtiere hier wieder ein Existenzrecht haben sollen. Umso mehr, als sich mittlerweile über hundert Tiere, teils in Rudeln, in verschiedenen Teilen des Landes etabliert haben und immer öfter auch im Mittelland und im Jura gesichtet werden. Der Wolf polarisiert. Die Autoren haben sich mit Wildhütern, Behörden, Fachstellen und Nutztierhaltern ausgetauscht. Ihr Buch lotet die vielschichtigen, sich verändernden und oft verborgenen Beziehungen zwischen Menschen und wilden Tieren aus. Es erkundet nicht die wildtierbiologischen Aspekte des Wolfs, sondern beleuchtet Fakten und Emotionen. Damit trägt es zum besseren Verständnis der Konflikte rund um das Nebeneinander von Mensch, Nutztier und Wolf bei.
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Seitenzahl: 244
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Eine Rückkehr mit Folgen
Elisa Frank, Nikolaus Heinzer
Mit Beiträgen von Lukas Denzler und Bernhard Tschofen sowie einem literarischen Text von Gianna Molinari
Bernhard Tschofen
Die Rückkehr der Wölfe als Kulturthema. Eine Einleitung
Lukas Denzler
Von der Ausrottung zum Schutz des Wolfs
Elisa Frank, Nikolaus Heinzer
Die ersten Rückkehrer im Wallis. Eine Region neu denken
La Bête du Val Ferret
Veränderte Landschaften und Lebenswelten
Neue Routinen in der Alpwirtschaft?
Schafe und Menschen: soziale Gefüge und politisierte Nutztierkörper
Wallis, Wolf und «Üsserschwiiz»: regionale Identitäten und sozialräumliche Beziehungen
Die Anfänge des Wolfsmanagements in der Schweiz
Lukas Denzler
Die Wiederansiedlung des Luchses
Elisa Frank, Nikolaus Heinzer
Das erste Rudel am Calanda. Natur- und Kulturräume ordnen
Wolfsmonitoring: Wölfe überwachen
Wölfe im Labor
Fotofallen, Jahresberichte, GPS-Sender: Wölfe sichtbar und greifbar machen
Wolfsmanagement: Wölfe administrieren
Bundesgesetz, Naturschutz und lokale Gemeinschaft: Konfliktlinien
Über Wölfe informieren: komplexe Kommunikation
Machtkämpfe und angefochtene Deutungshoheiten
Was ist «normales» Wolfsverhalten?
Vergrämung und Abschuss: Wölfe regulieren und disziplinieren
Gefährliche Wölfe?
Wölfe schützen und kontrollieren: ein Paradox?
Natur- und Kulturräume managen
Lukas Denzler
Die Rückkehr des Bären nach hundert Jahren
Elisa Frank, Nikolaus Heinzer
Mit Wölfen leben? Koexistenzen verhandeln
Herdenschutz: ein Überblick
Auf der Alp Ramuz: ein Feldbericht
Herdenschutz: Möglichkeiten, Herausforderungen, Probleme
Herdenschutzhunde und Tourismus
Herdenschutz: ein Zwischenfazit
Jagdgesetzrevision: von der Motion Engler zur Volksabstimmung
Abwehren oder anpassen: unterschiedliche Kontrollansätze
Föderalismus und die Frage nach der Kompetenzverteilung
Wölfe zwischen Stadt und Berggebiet
Alpine Zukunftsszenarien in ökologischen, ökonomischen und kulturellen Kreisläufen
Ein zeitgemässer Umgang mit Natur und eine fortschrittliche Schweiz?
Nach dem Nein zur Jagdgesetzrevision: neue Handlungsspielräume ausloten
Wölfe in der Schweiz: eine gesellschaftliche Frage
Gianna Molinari
Wege des Wolfs
Anhang
Facts and Figures
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Dieses Buch folgt der Fährte eines Tiers. Es nimmt seine Spur auf und beobachtet seinen Platz in verschiedenen Habitaten. Es verfolgt, wo dieses Tier vorbeikommt, bietet Panoramen seiner Räume, zeigt Wege und Orte und «zoomt» gelegentlich auch ganz nahe heran, es fokussiert auf Ausschnitte und zeigt Details. Und dennoch ist es kein naturkundliches Buch, sein Zugang unterscheidet sich grundlegend von Büchern oder Fernsehsendungen, die sich mit der heimischen Natur und ihren Wildtieren beschäftigen.1 Dieses Buch verfolgt vielmehr die Spuren eines Tiers in der Gesellschaft, genauer des Wolfs in der Schweiz, und interessiert sich für die kulturellen Umgangsweisen mit dessen Rückkehr seit Mitte der 1990er-Jahre. Mit seiner zunächst zögerlichen, in den vergangenen Jahren aber unaufhaltsamen Etablierung begann der Wolf auch seinen Platz in der sozialen Welt zu reklamieren.
Die Zahl der dauerhaft in der Schweiz lebenden Wölfe ist mittlerweile dreistellig, die der Rudel zweistellig. Diese Zahlen mögen, so wenig dieses Buch seine Zugangsweisen an ihnen festmachen will, gemessen an den Beständen anderer Wildtiere gering erscheinen, gemessen am Anspruch der Menschen, über andere Arten, ihre Präsenz und Bestände nahezu unbeschränkt verfügen zu können, sogar verschwindend gering. Nimmt man aber die Spuren in den Blick, die diese vergleichsweise wenigen Tiere in den vergangenen Jahren in den Vorstellungs- und Lebenswelten der Schweizer Bevölkerung und in der Folge in Politik und Öffentlichkeit dieses Landes hinterlassen haben, ergibt sich ein gänzlich anderes Bild. Die Rückkehr der Wölfe hat, so unbemerkt sie sich de facto für viele vollzogen hat, zumindest für Irritationen gesorgt. Sie hat Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und Konfliktlinien aufgebrochen, die zum einen unmittelbar mit der Lebensweise dieses Grossraubtiers zu tun haben, zum anderen mittelbar und oftmals nur kulturell vermittelt durch seine Präsenz erst sichtbar und spannungsgeladen werden konnten.
Dies ist in etwa das Feld, in dem sich dieses Buch bewegt und das es in seinen zahlreichen Widersprüchen zu verstehen helfen möchte. Es ist aus einem vom Schweizerischen Nationalfonds 2016–2019 geförderten Forschungsprojekt «Wölfe: Wissen und Praxis» hervorgegangen, das die Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz erstmals als kulturellen Prozess untersucht hat. Ihm ging es nicht um biologische Vorgänge oder die ökologischen Bedingungen und Folgen der Eingliederung der geschützten Grossraubtiere in unserem Raum, sondern um die gesellschaftlichen Umgangsweisen mit diesen Veränderungen und damit darum, wie sich die Beziehungen der Menschen nicht allein zu den lange abwesenden Wölfen, sondern auch zu anderen Nutz- und Wildtieren und der Menschen untereinander formen und wandeln. Das Projekt versuchte damit zugleich ein erweitertes Konzept von «Wolfsmanagement» vorzuschlagen, verstanden als breit gelagerte Formen sozialer Praxis, ihrer kulturellen Grundierungen und Ausdrucksmodi.2 Es rückte damit bewusst Dimensionen alltagsweltlicher und politischer Denk- und Handlungsweisen ins Zentrum, die im klassischen Verständnis von Wildtiermanagement, wie es im Anschluss an den in den USA der Zwischenkriegszeit geprägten, primär ressourcenorientierten Begriff des Game oder Wildlife Management geformt worden ist, weitgehend ausgeblendet bleiben. Diesen Ansatz hat auch die generelle, auf einen Dialog mit dem Feld und seinen heterogenen Akteuren zielende Ausrichtung des Projekts verfolgt – etwa in den (mit-)kuratierten Ausstellungen «Der Wolf ist da» (Bern, Brig, Luzern, Zernez, Chur) und «Von Menschen und Wölfen» (Hamburg), in denen die zahlreichen Widersprüche, ungleichen Machtverhältnisse und kulturell situierten Wahrheiten im Umgang mit dem Wolf einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt wurden.3
Indirekt sind die Forschungen des Projekts aber dann doch wieder zu Arbeiten über Natur und Wildnis geworden, nämlich weil sie exemplarisch untersuchen und zeigen konnten, in welchem dynamischen Verhältnis Natur und Kultur generell stehen und wie sehr Wildnis eine kulturelle Kategorie ist, die nicht natürlich definiert ist und für die auch kein allgemeingültiges Verständnis vorausgesetzt werden kann. Selbst was ein Wolf ist, was ihn genetisch ausmacht und was als «wölfisch», also der Art entsprechend, oder als «unwölfisch» gilt, ist nicht von vornherein klar. All dies ist nicht gegeben, sondern Gegenstand von Aushandlungen, bei denen kulturelle Positionen eine zentrale Rolle spielen. Der jüngst in Graubünden erfolgte Abschuss eines sogenannten Hybriden ist nur ein Beispiel dafür: Das Tier war einerseits nicht Wolf genug, um dessen absoluten Schutz zu geniessen, andererseits machte der Abschuss das Spannungsfeld zwischen der biologischen Vorstellung eines genetischen Kontinuums und einer gesetzlich festgelegten Grenze zwischen Wolf und Hund deutlich.
Die Spuren des Wolfs führen solchermassen durch sehr unterschiedliche Felder. Dem trägt dieses Buch in seiner Konzeption Rechnung, indem es die Ausbreitung der Wölfe nicht als ein Kontinuum in Raum und Zeit zu rekonstruieren versucht, sondern entlang eines Zeitstrahls von knapp drei Jahrzenten jeweils räumliche und thematische Akzente setzt. So widmen sich die drei grossen, von Elisa Frank und Nikolaus Heinzer auf der Grundlage der im genannten Projekt entstandenen Dissertationen verfassten Kapitel zunächst den primär mit dem Wallis verbundenen Anfängen der etappenweisen Wiederkehr und gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Tatsache. Im zweiten Kapitel stehen mit dem ersten, seit 2012 im Calandagebiet nahe Chur nachgewiesenen Rudel regional Graubünden und St. Gallen und thematisch die Administration und Aushandlung der durch das Auftreten der Wildtiere irritierten Ordnungen von Natur und Kultur im Zentrum. Das dritte Kapitel verlässt schliesslich – nach einigen beispielhaften Inspektionen in den politisierten Feldern der Alpwirtschaft und des Herdenschutzes – das unmittelbar «betroffene» Berggebiet und beschäftigt sich mit den jüngsten Konflikten und Bemühungen um die Koexistenz von Mensch und Tier auf den politischen Bühnen der föderalen Schweiz. Wie sich zeigt, geht es dabei aber um weit mehr: um Perspektiven für ein Nebeneinander von Landwirtschaft und Naturschutz, ein Miteinander von Stadt und Berggebiet, um Fragen nach einem zeitgemässen gesellschaftlichen Umgang mit Natur und mit nicht immer gänzlich zu kontrollierenden «wilden» Rückkehrern – und vielleicht auch um den Zusammenhalt der Schweiz, jedenfalls so etwas wie ihren identitätsstiftenden «Kitt».
Unterbrochen werden diese ethnografisch-kulturwissenschaftlichen Tableaus von knappen historischen und ökologischen Einschüben, für die Lukas Denzler verantwortlich zeichnet. Sie fassen überblicksartig Fakten zum Status des Wolfs von der Ausrottung bis zur Unterschutzstellung zusammen und beleuchten kontrastierend den Kontext der beiden anderen hierzulande relevanten Grossraubtiere Luchs und Bär. Ein Anhang liefert – verstanden als Lesehilfe für die mehr erzählerische Grundausrichtung dieses Buches – die wichtigsten Daten in übersichtlicher Form. Auch die Bebilderung folgt dem Grundsatz der Vielstimmigkeit, die sowohl dem Gegenstand als auch dem hier verfolgten Verständnis von Wissenschaft in Gesellschaft geschuldet ist: Neben bewusst reduziert und einfarbig wiedergegebenen Illustrationen mit vorwiegend dokumentarischem Charakter stehen Bildstrecken, die auch atmosphärisch in die beschriebenen kulturellen Szenen einführen wollen.
Schliesslich kommt in dem Band nicht nur die Wissenschaft zu Wort, sondern mit der Literatur auch jenes gesellschaftliche Feld, das von Anbeginn an besonders sensibel die Wiederkehr der Wölfe in Europa begleitet hat – gerade auch mit Blick auf die metaphorischen Dimensionen der sozialen Auseinandersetzung mit irritierender «Wildnis». Die Schriftstellerin Gianna Molinari, deren für den Schweizer Buchpreis 2018 nominierter Roman «Hier ist noch alles möglich» bereits der Spur des Wolfs in einer spätmodernen und krisengeschüttelten Welt gefolgt war, hat dem Band den eigens verfassten literarischen Epilog «Wege des Wolfs» beigesteuert – ein bewusster Hinweis nicht zuletzt darauf, dass auch künstlerische Annäherungen an das brisante Thema Erkenntnis generieren können und solches Wissen auch wieder auf die Vorstellungen und Positionen der auf diese oder jene Art «Betroffenen» zurückwirkt.
1Zu Wölfen in der Schweiz in den letzten Jahren u. a. erschienene Publikationen: Baumgartner, Hansjakob; Gloor, Sandra; Weber, Jean-Marc; Dettling, Peter A. (Fotografien): Der Wolf. Ein Raubtier in unserer Nähe. Bern 20112. Dettling, Peter A.: Wolfsodyssee. Eine Reise in das verborgene Reich der Wölfe. Thun 2020. Stiftung KORA: 25 Jahre Wolf in der Schweiz. Eine Zwischenbilanz (KORA Bericht Nr. 91). Muri 2020.
2Vgl. Fenske, Michaela; Tschofen, Bernhard (Hg.): Managing the Return of the Wild. Human Encounters with Wolves in Europe. London 2020.
3Vgl. Alpines Museum der Schweiz; Universität Zürich – ISEK (Hg.): Der Wolf ist da. Eine Menschenausstellung. Bern 2017. Ertener, Lara Selin; Schmelz, Bernd (Hg.): Von Wölfen und Menschen. Hamburg 2019.
«Der letzte Wolf soll 1695 im Walde von Steinegg bei Teufen erlegt worden sein», verkündet die Inschrift in der Wolfsgrube mitten in einem Wald zwischen Teufen und Speicher im Appenzellerland. In den Sandsteinfelsen eingehauen und verewigt wurde das Ereignis aber erst knapp 200 Jahre später anlässlich der Waldvermessung 1882. Auch in anderen Ländern, vor allem in Deutschland, erinnern sogenannte Wolfssteine seit dem 17. Jahrhundert an besondere Wegmarken im Zusammenhang mit der Jagd auf Wölfe. Oft wird dabei an die Erlegung des angeblich letzten Wolfs in einer Region gedacht. Dabei ist nicht immer klar, was Legende ist und was tatsächlich stattgefunden hat.
Bignasco im hinteren Maggiatal. Das aus groben Steinen errichtete Bauwerk wird im Tessiner Dialekt «Lüèra» genannt. Es ist eine alte Wolfsfalle: oben durch eine natürliche Felswand begrenzt, unten durch einen grossen Felsblock, auf den beiden verbleibenden Seiten durch bis zu sieben Meter hohe Trockenmauern. Ausser einem kleinen Durchgang gibt es keine Öffnung ins Innere. Mit einem im Innern angebundenen lebenden Tier als Köder wurden die Wölfe angelockt. Tappte ein Wolf in die Falle, löste er einen Mechanismus aus, der die Öffnung verschloss – das Raubtier war gefangen. Von der Mauerkrone konnte man in die Falle blicken. Die «Lüèra» von Bignasco ist in Urkunden aus dem 15. Jahrhundert erwähnt. Der jahrhundertelange Kampf gegen das Raubtier hat Spuren in der Landschaft hinterlassen und sich in das kollektive Bewusstsein der Menschen eingebrannt.
Auch in der Sprache hat der Wolf seine Spuren hinterlassen. Angesichts der gegenwärtigen Probleme auf den Schafalpen erscheint die Redewendung «ein Wolf im Schafspelz» in neuem Licht. «Mit den Wölfen heulen», sich also opportunistisch nach der Mehrheit richten, hat hingegen nur wenig mit dem eindrücklichen «Wolfsgeheul» in der Natur zu tun. Dieses dient den Tieren nämlich zur sozialen Kommunikation. Auch in anderen Sprachen ist der Wolf präsent, so etwa im Italienischen: «In bocca al lupo» (viel Glück, toi toi toi) und «Crepi il lupo» (Packe es, töte den Wolf) sind bekannte und gebräuchliche Redewendungen.
Mensch und Wolf sind durch ein sehr emotionales und spannungsvolles Verhältnis verbunden. Der Hund, oft als bester Freund des Menschen bezeichnet, stammt vom Wolf (Canis lupus) ab. Bezeichnenderweise heisst der Haushund mit wissenschaftlichem Namen denn auch «Canis lupus familiaris». Die Domestikation des Wolfs geschah vor mehr als 10 000 Jahren, als der Mensch sesshaft wurde; gemäss genetischen Analysen vielleicht auch schon deutlich früher. Wie es genau dazu kam – ob der Wolf die Nähe zum Menschen suchte oder ob die Menschen dessen Nutzen für seine Zwecke erkannten – ist ungeklärt.
Abb. 1Die «Lüèra» oberhalb von Bignasco im hinteren Maggiatal, eine Wolfsfalle, die seit dem Spätmittelalter bekannt ist.
Bei den Germanen war der Wolf respektiert. Die Römer hatten hingegen ein ambivalenteres Verhältnis zum Raubtier. Der Gründungsmythos Roms hängt jedoch eng mit einer Wölfin zusammen. Diese nahm die Zwillinge Romulus und Remus in ihre Höhle auf, und Romulus soll später die Stadt Rom gegründet haben.
Im Mittelalter kam es zu einer Umdeutung. Möglicherweise wurde der Wolf vermehrt als Konkurrent wahrgenommen. Damit begann die schonungslose Jagd auf ihn. Der Zürcher Universalgelehrte Conrad Gessner schrieb in seinem «Tierbuch» 1551 vom Wolf als einem räuberischen, schädlichen und gefrässigen Tier. Der Wolf wurde zur Bestie und in den Märchen zum Bösewicht, etwa in «Rotkäppchen und der böse Wolf» oder «Der Wolf und die sieben Geisslein».
Trotzdem kamen Mensch und Wolf relativ lange mehr oder weniger aneinander vorbei. Offenbar gab es genug Lebensraum. Und wildlebende Huftiere wie Rehe, Gämsen und Hirsche waren reichlich vorhanden, sodass die Wölfe genügend Nahrung hatten. In strengen Wintern konnte es allenfalls kritisch werden, wenn sich hungrige Tiere bis an die Siedlungen vorwagten.
Die Jagd auf Huftiere war lange ein Privileg der Obrigkeit. Nach der Französischen Revolution erkämpfte sich die einfache Bevölkerung dieses Recht. Weil kaum Regeln für die Jagd erlassen wurden, schrumpften die Huftierbestände und erreichten im 19. Jahrhundert einen absoluten Tiefpunkt. Der Rothirsch war in der Schweiz praktisch ausgerottet. Damit wurde den Wölfen ihre wichtigste Nahrungsgrundlage entzogen. Angriffe auf Nutztiere und Risse wurden zu einem grösseren Problem.
Wann in der Schweiz der letzte Wolf erlegt wurde, ist schwierig zu sagen. Klar ist, dass es im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weniger Wölfe gab. So schreibt Friedrich von Tschudi, der als Pfarrer, Gelehrter und Politiker im 19. Jahrhundert in der Ostschweiz wirkte, in seinem 1853 publizierten und mehrfach aufgelegten Werk «Tierleben der Alpen» im Kapitel über den Wolf: «Die Wölfe sind seit Beginn unseres Jahrhunderts in der Schweiz seltener geworden, und man bezweifelte, ob man sie überhaupt noch zu den ständigen, bei uns sich fortpflanzenden Raubtieren des Gebirges zählen dürfe.» Seine Haltung zum Wolf ist jedoch eindeutig. «Widerlich und unangenehm in seinen Manieren, gierig, boshaft, verschlagen, misstrauisch, gehässig in seinem Naturell, unerträglich durch seinen abscheulichen Geruch, ist er ein Schrecken der Tierwelt, der er sich naht.» Nach einer seitenlangen Aufzählung negativer Eigenschaften und Episoden mit Wölfen in allen Landesteilen findet von Tschudi doch noch etwas Lob: «Die einzige gute Eigenschaft der Wölfin ist ihre treue Sorge für die Jungen. Sie versorgt und schützt diese mit Anstrengung und Mut und kehrt von grossen Märschen stets wieder zu ihnen zurück.»
Für das Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft Zürich verfasste Konrad Bretscher 1906 einen Beitrag zur Geschichte des Wolfs in der Schweiz. Er listet säuberlich Quellen mit Wolfsbegegnungen von 1377 bis 1900 auf. Gemäss seinen Recherchen waren die letzten Wölfe gejagt und erlegt worden: 1648 in Zürich, 1695 in Appenzell, 1707 in Zug, 1712 in Schaffhausen, 1731 in Schwyz, 1793 in Glarus, 1808 im Aargau, 1834 in Obwalden, 1837 in Freiburg und im Wallis, 1853 in Uri und 1865 in Luzern. Im Jura seien nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 wieder vermehrt Tiere aufgetaucht. Als Schlussfolgerung fügt Bretscher an: «Die ganze Geschichte des Wolfs zeigt vielmehr, dass die alten Bekämpfungsmittel, die Gruben, die Fallen, die umständlichen Treibjagden ihn nicht zum Aussterben gebracht hätten – in den gebirgigen Teilen der Schweiz sind sie ja zum Teil unmöglich – wenn ihm nicht ein weit wirksamerer Feind entstanden wäre in den weitreichenden modernen Schusswaffen, denen alles grössere Gewild unwiderstehlich zum Opfer fallen muss, sofern der Mensch nicht von sich aus seiner Jagd- und Verfolgungslust Schranken setzt. Dem Wolfe gegenüber allerdings wäre Sympathie und Schonung wenig angebracht gewesen und wir wollen unseren Vorfahren Dank wissen, dass sie uns von dieser Plage befreit haben.»
Johann Niederer publizierte gut 30 Jahre später im Bündnerischen Monatsblatt 1940 einen Aufsatz mit dem unzweideutigen Titel «Der Wolf und sein Vernichtungskampf in Graubünden». Mit etwas mehr Distanz und wesentlich neutraler in der Wortwahl präsentierte Clemens Hagen 1980 – also rund 15 Jahre vor der Rückkehr der ersten Wölfe in die Schweiz – eine Zusammenstellung über «Die thurgauische Wildfauna im Wandel der Zeit». Nach seinen Angaben betrug noch 1641 die Schussprämie für Wolf und Bär 40 Gulden. Für diesen Betrag habe man fünf Kälber kaufen können. Neben einigen Schilderungen zur Verfolgung des Raubtiers im Thurgau weist Hagen darauf hin, dass viele Lokalnamen wie etwa Wolfsgrueb oder Wolfswinkel auf ehemalige wölfische Präsenz hindeuteten.
Im 20. Jahrhundert tauchten in der Schweiz auf mysteriöse Art und Weise vereinzelt Wölfe auf. Woher stammten diese? Anhand von DNA-Proben, die fünf erlegten und in Museen ausgestellten Tieren entnommen wurden, konnten Wissenschaftler zeigen, dass die Wölfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den letzten Abkömmlingen der massiv geschrumpften europäischen Wolfspopulation gehörten, während sich diejenigen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genetisch davon unterschieden und deshalb vermutlich freigelassen worden oder aus Tierhaltungen entwichen waren.
Nach der jahrhundertelangen Phase der Ausrottung begann um 1900, ausgehend von neuen bürgerlich-städtischen Naturvorstellungen, eine neuerliche Umdeutung. Am Anfang dieser Entwicklung steht vielleicht das 1894 erschienene «Dschungelbuch» von Rudyard Kipling. Der kleine Mogli, ein Findelkind, wächst bei den Wölfen auf, wie einst Romulus in der Gründungslegende von Rom. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Wolf schliesslich zur Ikone des Naturschutzes.
Der wohl bedeutendste europäische Meilenstein auf dem Weg zum strengen Schutz des Wolfs ist die Berner Konvention, ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarats über den Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen in Europa aus dem Jahr 1979. Der strenge Schutz zeigt Wirkung. Wölfe breiten sich in Gebiete aus, die sie während rund 200 Jahren nicht besiedelt haben. Da sich die Bestände des Schalenwilds im 20. Jahrhundert erholt haben und teilweise sehr hoch sind, finden die Wölfe derzeit genügend Nahrung. In verschiedenen Regionen Europas dehnte sich auch der Wald aus. Dank den Rückzugsmöglichkeiten für die Aufzucht vermehren sich die Wölfe erfolgreich. Damit wird ein neues Kapitel in der Geschichte zwischen Mensch und Wolf aufgeschlagen.
Quellen und verwendete Literatur
Gessner, Conrad: Thierbuch. Zürich 1551 / Von Tschudi, Friedrich: Das Tierleben der Alpenwelt. Leipzig 1853/1890 / Bretscher, Konrad: Zur Geschichte des Wolfes in der Schweiz. Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft Zürich. Zürich 1906 / Niederer, Johann: Der Wolf und sein Vernichtungskampf in Graubünden. In: Bündnerisches Monatsblatt, Nr. 11. Chur 1940 / Hagen, Clemens: Die thurgauische Wildfauna im Wandel der Zeit. In: Feld – Wald – Wasser. Schweizerische Jagdzeitung, Nr. 3. 1980 / Ahne, Petra: Wölfe. Ein Portrait. Berlin 2016 / Heurich, Marco (Hg.): Wolf, Luchs und Bär in der Kulturlandschaft – Konflikte, Chancen, Lösungen im Umgang mit grossen Beutegreifern. Stuttgart 2019 / Dufresnes, Christophe; Miquel, Christian; Taberlet, Pierre; Fumagalli, Luca: Last but not beast. The fall of the Alpine wolves told by historical DNA. In: Mammal Research Vol. 64. 2019. S. 595–600 / Stiftung KORA: 25 Jahre Wolf in der Schweiz. Eine Zwischenbilanz (KORA Bericht Nr. 91). Muri 2020 (siehe auch: www.kora.ch).
Der Schauplatz liegt im Südwesten der Schweizer Alpen. Im Val Ferret im Unterwallis haben zwei Schafhalter im Spätherbst 1994 insgesamt zwölf gerissene Tiere zu beklagen. Im folgenden Alpsommer werden im gleichen Tal und im benachbarten Val d’Entremont an die 100 Schafe und Lämmer tot oder verletzt aufgefunden. Von manchen ist nur noch das Skelett übrig, oder die Kadaver sind bereits stark verwest; bei anderen Schafen sind die Bisse in der Kehle oder der aufgerissene Bauch und entsprechende Blutspuren noch gut sichtbar. Mehrere Tiere werden verletzt angetroffen und müssen erlöst werden, einige Schafe stürzen bei der Flucht die Felsen hinunter in den Tod. Schweizweit berichten die Medien daraufhin über die Verzweiflung der betroffenen Schafhalter und die unternommenen Anstrengungen, um die Nutztiere zu schützen und den Verursacher dingfest zu machen. Auch über die Identität des Tiers, das bald den Übernamen «La Bête du Val Ferret» erhält, wird in der medialen Berichterstattung gerätselt. Denn welches Tier für die Schäden verantwortlich ist, ist zu jenem Zeitpunkt noch nicht klar. Ein Luchs? Ein verwilderter Hund? Ein Wolf? Das Tierspital Bern untersucht im August 1995 eines der getöteten Lämmer und meldet: «Le prédateur le plus probable est un chien.»1 Wahrscheinlich also ein Hund, während ein Luchs als Verursacher weitgehend ausgeschlossen werden kann. Im Verlaufe des Sommers können Schafhalter, Wildhüter, Polizisten und Grenzwächter, die in der Zwischenzeit zur Bewachung der gealpten Schafe anwesend sind, einige Male kurz ein hundeartiges Tier beobachten.2
Der Nachweis, dass sich in der Region des Grossen St. Bernhards tatsächlich ein Wolf bewegt, gelingt schliesslich am 5. Februar 1996: Um 2:03 Uhr tappt das Tier in eine oberhalb von Liddes (Val d’Entremont) installierte Fotofalle (Abb. 2). Nur zwanzig Stunden später gibt ein Wildhüter einen Schuss auf den Wolf ab – aufgrund der grossen Schäden hatte der Kanton Wallis in Abstimmung mit der Sektion Jagd und Wildtiere des zuständigen Bundesamts bereits Mitte August 1995 eine Abschussbewilligung für das Tier ausgesprochen. Der Schuss ist jedoch nicht tödlich, sondern verletzt den Wolf lediglich am linken Vorderbein. In den folgenden Tagen versuchen Wildhüter mit der Unterstützung zahlreicher Jäger aus der Region, das verletzte Tier zu finden und zu schiessen – erfolglos. Das Medieninteresse an dieser «Wolfsjagd» ist riesig, und die Bilder eines eigensinnigen Völkchens und vom Wallis als dem Wilden Westen der Schweiz werden dabei gerne bemüht. Im Wochenmagazin L’Illustré vom 14. Februar 1996 heisst es beispielsweise:
Abb. 2Zurück in der Schweiz: Ein Wolf tappt am 5. Februar 1996 in eine Fotofalle im Val d’Entremont.
«Dépités, les chasseurs s’étaient alors réfugiés dans quelque pinte, à Issert ou à Praz-de-Fort, Tartarin vexés et jurant qu’ils n’abandonneraient pas. De battue en battue (20 participants mercredi, 30 jeudi, 50 samedi!), ils répandaient quelques nouvelles confuses et quelques parfaits mensonges: ‹Elle a fui vers le haut; elle a fui vers le bas; on a vu des traces dans la neige, du sang; on a tiré.› En réalité, ils se retranchaient dans leur camp, murés contre l’opinion, la presse, les autorités ‹et ces écolos de tous poils prétendant faire la loi chez nous. Alors que nous la connaissons bien, notre nature.›»3
Mit dem Nachweis, dass es sich bei der «Bête du Val Ferret» um einen Wolf handelt, ist zugleich eine Diskussion um dessen Herkunft lanciert: Ist das Tier auf natürlichem Weg in die Schweiz gekommen, oder wurde es heimlich illegal freigelassen? Im Dezember 1996 werden die Resultate der DNA-Analysen von Kothaufen, die man im September 1995 neben einem gerissenen Schaf fand und an ein spezialisiertes Labor in Grenoble schickte, bekannt: In den Proben konnten zwei verschiedene Wolfsindividuen nachgewiesen werden. Die genetische Analyse zeigt ausserdem, dass die beiden Tiere mit den Wölfen, die in den Abruzzen und in den italienischen und französischen Alpen leben, verwandt sind.4 Während dies in den Augen vieler Fachleute für eine natürliche Rückkehr der Wölfe in die Schweiz spricht, ist es für den Walliser Jagdchef «pas la preuve que l’animal est venu à pied ou en voiture»,5 wie er gegenüber den Medien sagt.
Die Ereignisse in der Region des Grossen St. Bernhards von Herbst 1994 bis Frühling 1996 gelten als Beginn der Rückkehr der Wölfe in die Schweiz, nachdem die Tierart in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hierzulande ausgerottet worden war (siehe «Von der Ausrottung zum Schutz des Wolfs»). Der letzte Hinweis auf die Präsenz von Wölfen im Val Ferret und im Val d’Entremont datiert vom Mai 1996. Die nächsten Tiere sollten jedoch nicht lange auf sich warten lassen: In Reckingen im Goms wird im November 1998 ein toter Wolf gefunden. Die Untersuchung des Kadavers zeigt, dass das Tier von Schrotkugeln getötet wurde und dass auch dieser Wolf aus der italienischen Wolfspopulation stammt. Zur selben Zeit reisst ein Wolf in der Region Brig-Simplon mehrmals Nutztiere. Die Rissserie endet, nachdem am 14. Januar 1999 ein Wolf bei einem Unfall auf der Simplonstrasse – er wird von einem Schneepflug erfasst – ums Leben kommt. Auch im darauffolgenden Sommer kann im Wallis wieder ein Wolf beobachtet werden, dieses Mal in der Gemeinde Hérémence im Mittelwallis. Genetische Analysen von Kotproben weisen auch dieses Individuum als Abkömmling der italienischen Wolfspopulation aus. Im nächsten Jahr erfolgen im benachbarten Val d’Hérens mehrere Angriffe auf Schafherden. Am 25. August 2000 wird schliesslich oberhalb von Evolène mit Bewilligung des Kantons und des zuständigen Bundesamts ein Wolf erlegt. Ein weiterer Wolf, welcher einige Täler weiter östlich, in Ginals, ebenfalls grosse Schäden an Nutztieren verursacht hat, wird am selben Tag legal geschossen.6
Diese ersten Wölfe, die in die Schweiz zurückkehrten, trafen im Wallis auf ganz andere Landschaften und Lebenswelten als zur Zeit ihrer Ausrottung im 19. Jahrhundert. Während ihrer Abwesenheit hatte sich insbesondere im Oberwallis ein landwirtschaftliches System entwickelt, das durch Wölfe vor eine grosse – in den Augen vieler Schafhalterinnen und -halter unmögliche – Herausforderung gestellt wird.
Zur Zeit der letzten Wolfssichtungen im Wallis, auf dem Gemeindegebiet von Sembrancher in den 1880er-Jahren,7 war der Kanton noch stark agrarisch geprägt gewesen.8 Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebten zuerst der Tourismus, später die Industrie einen Aufschwung. Insbesondere Werke der chemischen und der Metallindustrie siedelten sich um die Jahrhundertwende in der Rhoneebene an: 1897 die Lonza in Gampel (später auch in Visp), 1904 die Ciba in Monthey und 1905 die AIAG (später Alusuisse) in Chippis. Der Bevölkerung eröffneten sich hier neue Tätigkeitsfelder als Lohnarbeiter, jedoch behielten die allermeisten zur Absicherung ein Standbein in der Landwirtschaft und bewirtschafteten weiterhin ihren Grund und Boden in den Dörfern am Berg. Der Zürcher Volkskundler Arnold Niederer beschrieb diese «Form der kombinierten Berufstätigkeit»,9 die vor allem in der Nachkriegszeit starke Verbreitung fand, mit dem Begriff des «Arbeiterbauern»: Die Haupteinkünfte der Arbeiterbauern stammten aus der Anstellung im industriellen, gewerblichen oder touristischen Sektor, und dennoch gaben sie «in ihrem Denken und Fühlen der landwirtschaftlichen Tätigkeit die Priorität».10 Gerade die Frauen waren für die Aufrechterhaltung dieser Landwirtschaften zentral, indem sie noch mehr der auf dem Betrieb anfallenden Arbeiten übernahmen.11 Als nach der Rezession der 1970er-Jahre die erneut einsetzende Hochkonjunktur das Lohnniveau im zweiten und dritten Sektor ansteigen liess, fiel die existenzsichernde Funktion des landwirtschaftlichen Betriebs nach und nach ganz weg: Das Arbeiterbauerntum wandelte sich zu einem Freizeitbauerntum. Auch die zunehmende Spezialisierung trug hierzu bei, absolvierten doch einheimische Arbeitskräfte immer häufiger eine Berufslehre und waren fortan als angestellte Facharbeiter und -arbeiterinnen tätig.
Aus dieser historischen Entwicklung erklärt sich die heutige prominente Stellung der Kleinviehhaltung im Oberwallis. Denn die Schafhaltung bot und bietet sich für Formen der Nebenerwerbslandwirtschaft an, da sie im Vergleich zur Grossviehhaltung weniger arbeitsintensiv ist. Entsprechend nahmen im Oberwallis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bestände an Kleinvieh, insbesondere an Schafen, stark zu.12 Um die teils heftigen Reaktionen auf die Rückkehr der Wölfe zu verstehen, ist es wichtig, zu sehen, wo die Motive für das heutige Freizeitbauerntum liegen: Es geht nicht mehr primär um die rentabilitätsorientierte Produktion von Fleisch, Milch oder Wolle. Vielmehr spielen das Nutzen, Bearbeiten und Pflegen des ererbten Bodens und der Landschaft, die Freude an der Tierhaltung und die Zucht lokaler Tierrassen eine Rolle. So wird eine Verbindung zum land- und alpwirtschaftlichen Erbe aufrechterhalten und gepflegt. Eine wichtige Rolle spielen dabei die beiden autochthonen, regional sehr geschätzten Walliser Rassen Schwarznasenschaf und Schwarzhalsziege. Gerade das Schwarznasenschaf gilt als Oberwalliser Kulturgut und steht symbolisch für eine traditionelle und urtümliche alpine Lebensweise.
Die Rassestandards, welche das Aussehen der Schafe massgeblich beeinflussen, haben sich in den letzten Jahrzehnten allerdings gewandelt. Das Schwarznasenschaf hat sich von einem pflegeleichten und an extreme Bedingungen angepassten Gebirgsschaf zu einer «Liebhaberrasse» entwickelt, bei der das Aussehen der Tiere im Vordergrund steht, wie Urs Zimmermann, ein ehemaliger Schwarznasenzüchter, erzählt.13 Hatten die Schwarznasenschafe früher nur sehr kurz behaarte Körper, soll die Wolle heute auch an den Beinen und am Kopf stark ausgeprägt sein und bis weit nach unten zum Boden beziehungsweise zu den Augen reichen. Die Verschiebung in den Motiven für die Haltung von Schwarznasenschafen weg von einer Subsistenzlandwirtschaft hin zu einer auf Ästhetik und kulturelle Werte fokussierten Schafzucht spiegelt sich also in der Änderung der Zuchtstandards und im dementsprechend veränderten Aussehen der Schafe wider – eine Verschiebung, die zeigt, dass das Kulturgut «Schwarznasenschaf» durchaus wandelbar ist.