Wolfsliebe - Rike Reiniger - E-Book

Wolfsliebe E-Book

Rike Reiniger

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Beschreibung

Die Wölfin Samika trifft nach entbehrungsreicher Wanderung auf Jannik, den Fremden, der einem Wolf auf verwirrende Weise ähnelt. Jannik ist ein Hund. Missverständnisse tauchen auf und Unterschiede bleiben. Trotzdem erleben die beiden einen Frühling leidenschaftlicher Liebe. Im Sommer bekommen sie Junge. Doch Menschen verfolgen ihre einzigartigen kleinen Wolfshunde. Auf der Flucht werden Samika und Jannik vor die Wahl zwischen zwei Welten gestellt. Wofür entscheiden sie sich? Aus der Perspektive der Tiere wird von Liebe, Vertrauen und Verrat erzählt. Die Geschichte ist inspiriert von einem realen Ereignis: Seit Mitte der 1990er Jahre wandern Wölfe über die Oder nach Deutschland ein. Und eine Wölfin paarte sich aus Mangel an einem Wolfspartner mit einem Hund.

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1

Der Schmerz trieb Samika an. Natürlich war es der Hunger, aber darunter lag noch etwas anderes. Samika lief dem Hunger davon und dem anderen Schmerz. Sie war durch Schnee gerannt, über zugefrorene Bäche gesprungen, war durch dichtes Gestrüpp gekrochen, hatte Lichtungen überquert. Sie war weggelaufen von allem, was sie kannte. Weg von dem Wald, dessen Anfang im Dunkeln lag, weg vom Wasser, das aus dem Eis floss, weg von der Ebene, die weit wurde im Licht der Nacht. Sie aß, was sie fand, und es reichte nie. Ein verletztes Eichhörnchen, ein paar übrige Früchte oder die verlassene Mahlzeit von Fremden. Der Hunger nahm mit jedem Tag zu. Sie klagte, und es klang schwach. Wenn sie gesprungen war, kam sie mit steifen Beinen auf und strauchelte. Büschel von Haaren blieben im Gestrüpp hängen. Ihre blicklosen Augen sahen nicht weiter als bis zum nächsten Schritt. Schlaf war nicht länger erholsam. Das Aufstehen fiel ihr schwer. Sie fror. Der Hunger zog ihren Körper zusammen.

Über dem Land, das hinter ihr lag, ging die Sonne auf. Die Strahlen des Lichts glitzerten im Schnee. Weit entfernt der Wald ohne Anfang. Ihr Land, ihr Wald. Samika schaute zurück. Die gemeinsame Jagd, damals. Rehe, Elche, Wildschweine, Hasen. In der weißen Zeit war das Wild schwach und das Jagen einfach. Genug Fleisch für alle. Hatten sie oft nicht sogar Teile der Beute vergraben können für später? Und den letzten Rest hatten sie den Füchsen überlassen, die immer in wachsamer Entfernung warteten. Samika musste zurück zu den Anderen. Zusammen könnten sie die großen Herden verfolgen, Beute erlegen, und der Hunger würde aufhören.

Samika sah das Glitzern der Sonnenstrahlen. Sie wandte sich um, setzte die Pfoten auf, eine nach der anderen. Dahin zurück, woher sie gekommen war. Eine Spur im Schnee, hin zu dem Glitzern. Leicht lief es sich. Samika fühlte ihre Beine nicht mehr. Sie begann zu schweben. Ein sanfter Luftzug strich über ihre Haare. Ihre Augen füllten sich mit Glitzern. Sie wuchs, und ihr Körper floss in die Wolken, in die Sonnenstrahlen, in den Wind. Sie fand zurück ins weiße Land. Sie fühlte die Wärme der Anderen und die gemeinsame Kraft. Sie sangen. Samika hörte den Klang ihres Liedes weit über das Land. Sie atmete den vertrauten Geruch. Den Hunger spürte sie nicht mehr. Samika war glücklich in dem heller und heller werdenden Licht.

Plötzlich rutschte sie aus. Kleine rutschen aus, wenn zum ersten Mal das Wasser zu Eis wird. Sie nicht. Sie kannte das Eis und wusste, wie sie darauf laufen musste. Aber sie war geschwebt und ausgerutscht. Samika lag da und schaute sich befremdet um. Wem gehörten diese dürren Beine, das struppige Fell? Welcher elenden alten Wölfin? Mühsam stand sie auf und stellte fest, dass es ihre Beine, ihr Fell waren. Eine leise Bewegung unter der Schneedecke lenkte sie ab. Bewegung unter dem Schnee, das hieß… Zack! Samika packte zu und erwischte die Maus. Schnell war sie verschlungen, und Samika lauschte. Wo eine Maus läuft, da findet sich noch eine andere. Dort drüben! Samika verschlang auch diese Maus. Dann bekam sie Durst. Ein Rinnsal sickerte durchs Gebüsch. Samika beugte sich über das Wasser und trank. Die Kälte machte sie empfindlich. Sie spürte sich wieder.

Die beiden Mäuse im Bauch verbreiteten ein wenig Wohlsein. Nicht ein Wohlsein, wie es eigentlich sein soll. Nicht wie das Schweben im Glitzern der Sonnenstrahlen. Nicht wie das Zusammensein mit den Anderen. Nicht wie das Wohlsein beim Liebkosen. Und auch nicht so wie das Wohlsein beim Zurückkehren zur Jagdbeute, wenn der Bauch noch voll ist vom Vortag, wenn das Essen mehr ein Schnappen, ein Springen, ein Raufen im Spiel ist. Aber ein winziges Wohlsein war es doch.

Genug für ihre innere Kraft, die der Hunger hatte verstummen lassen und die sich nun langsam wieder regte. Samika wusste nicht warum, sie wusste nicht wie, aber sie lief los. Sie hatte die Morgensonne im Rücken, als sie das weiße Land für immer verließ.

2

In der Luft lag eine Fremdheit. Die Bäume wuchsen spärlicher. Der Boden veränderte sich, wurde sandig unter einer dünnen Schneedecke. Samika kannte solche Bäume nicht, die krumm wuchsen und klein blieben. Sie wunderte sich über diesen Sandboden, der sie einsinken ließ wie Schnee. Und die Luft erregte sie. Eine weite Luft, die wie von selbst in ihren Körper strömte, ihn ausfüllte, stark machte. Weiße Vögel gehörten zu dieser Luft. Aus dem weißen Land kannte sie schwarze Vögel, die stets Ausschau hielten und zur Stelle waren, wenn es Beute gab. Die weißen Vögel hier kümmerten sich um nichts. Sie lachten wild und fröhlich, stürzten sich plötzlich herab und schwebten dann wieder hoch.

Samika lief dem Wind entgegen. Sie rutschte durch Schneeverwehungen die flachen Hügel hinunter und trabte den nächsten wieder hinauf. Langes, scharfes Gras, das in einzelnen Büscheln im tiefen Sand und Schnee stand, kitzelte sie in der Nase. Und dann sah sie das Wasser. Ohne Eis und in wütender Bewegung. Ein Wasser, das sich streckte bis zum Horizont, ein Wasser ohne Anfang. Samika rief ihr Staunen in den Wind, rannte den Hügel hinunter und näherte sich dem Wasser.

Vorsichtig streckte sie ein Bein vor. Das Wasser rollte auf sie zu, wandte sich ab, sammelte sich und stürmte wieder heran. Sie atmete die Wildheit des Wassers und trank. Was! Sie versuchte es noch einmal, trank und sprang erschrocken zurück. Das Wasser zog ihr das Maul zusammen, ließ die Zunge pelzig werden wie einen Eichhörnchenschwanz, sogleich begann der Bauch zu rumoren. Falsches Wasser!

Samika schaute nach den weißen Vögeln. Was tranken sie? War dieses Wasser für sie das richtige? Die weißen Vögel lachten oben zwischen den zerzausten Wolken. Voller Lust lebten sie über dem Wasser ohne Anfang und dem Sand, auf dem nur scharfes Gras wuchs. Was tranken diese Vögel, wo fanden sie ihre Nahrung?

Samika lief am Wasser entlang, sprang gegen das Heranrollen, ließ sich nass spritzen, schickte dem zurückweichenden Wasser ihr Erstaunen hinterher. Plötzlich stürzte neben ihr einer der Vögel herunter, griff sich etwas und flog wieder hoch. Samika gab einen überraschten Laut von sich. Der Vogel erschrak, geriet aus dem Schwung, ließ seine Beute fallen und stieg hoch auf, weit weg. Samika nahm den Geruch auf. Die Beute des Vogels war vielleicht ein Fisch. Sie näherte sich. Anders als die Fische im weißen Land, natürlich. Fast berührte sie ihn mit der Nase. Ja, ein Fisch konnte es gut und gerne sein. Samika kostete vorsichtig. Zuerst schmeckte er falsch wie das Wasser. Dann schmeckte er fremd. Schließlich schlang sie die Beute des weißen Vogels hinunter. Trotz allem eine gute Mahlzeit, dieser Fisch!

Im Wasser ohne Anfang lebten Fische, die Nahrung für sie sein konnten. Ein Bild entstand in ihr. Sie sah sich auf der Jagd zusammen mit den Vögeln. Die würden ins Wasser stürzen, sie würde die Vögel dann erschrecken, so dass sie ihre Beute verlören. Beute, die ihr aus der Luft vor die Füße fiel!

Die Sonne war am Himmel gewandert und stand jetzt vor ihr. Sie färbte sich langsam orangerot, feuerrot, herzblutrot. Kein gefährliches Glitzern mehr im Schnee, das in die Schwebe lockte, dorthin, wo das Leben verwehte. Eine Glut im Himmel, gerade vor ihr. Samika fühlte ihre innere Kraft, und dass sie ihr eine Richtung wies. An diesem Abend rollte sie sich in einer windgeschützten Kuhle auf dem fremden, sandigen Boden zusammen, fand ein wenig Ruhe. Der Wind, der über die schneebedeckten Hügel und das scharfe Gras strich, brachte ihr Träume aus einer vergangenen Zeit. Aus einer glücklichen Zeit. Und das Geräusch des bewegten Wassers hielt die schlimmen Träume in dieser Nacht fern.

3

Samika erwachte im ersten Morgenlicht. Das Wasser rollte heran und ging zurück, der Wind blies den Schnee weit über den Sand, das scharfe Gras neigte sich. Die Erinnerung sprang sie an. Sie hatte einen Vogel erschreckt, einen Fisch gegessen, in dem fremden Sand geschlafen. Und sie war aus dem weißen Land weggelaufen. Das konnte sie nicht vergessen, nicht für mehr als einen kurzen, dem Traum noch verhafteten Augenblick. Aber in der Nacht war etwas von der früheren Stärke zurückgekehrt. Ein neuer Tag. Zuversicht.

Es gelang Samika ein weiteres Mal, einem der weißen Vögel seine Beute abzujagen. Kein Hunger an diesem Morgen. Nur etwas trinken musste sie. Bald. Sie musste richtiges Wasser finden. Hier, wo die Beute aus der Luft fiel, wo die Vögel lachten, der Boden weich war und das Träumen leicht, hier konnte sie nicht bleiben. Das falsche Wasser würde ihr immer das Maul zusammenziehen, es würde die Zunge pelzig werden lassen und im Bauch rumoren, bis es aus dem Innern wieder nach draußen gefunden hätte. Sie rief den Vögeln, dem Wind und dem Sand ein Lebewohl zu und machte sich auf die Suche nach einem Wald.

Bald erreichte Samika die ersten größeren Bäume. Ein Bach, an dessen Rändern das Eis noch standhielt, gurgelte durch das Gebüsch. Samika beugte sich über den Bach und trank. Gutes Wasser. Eiskalt. Im Wald gab es hohe Bäume, die ganz oben eine dichte, weiß beflockte Nadelkrone hatten, es gab Bäume mit dicken Stämmen, es gab dunkle Bäume, eingehüllt in tiefgrüne Nadeln, die Äste schwer von Schnee, es gab Bäume, bedeckt von den Blättern anderer Pflanzen, und es gab kahle Bäume, die auf die grüne Zeit warteten. Kaum, dass etwas Tageslicht bis auf den Boden fiel, so dicht standen die vielen Bäume. In diesem Wald gab es auch Mengen von richtigem Wasser. Bäche, Tümpel, Flüsschen und Seen.

Und es gab Wild. Das spürte sie. Vom Wind, der durch die Bäume wehte, ließ sie sich die Gerüche bringen. Hin und her strich sie durchs Unterholz, versuchte dem Wild auf die Spur zu kommen. Im weißen Land hatte sie die Beute nie alleine verfolgt. Immer waren die Anderen bei ihr gewesen. Aber sie wusste, dass sie jetzt allein jagen musste, um weiter zu leben.

Ein Luftzug brachte ihr Gewissheit. Nicht weit von hier würde sie langbeinige Rehe finden, die nicht kämpften, sondern rannten. Samika schlich weiter, ließ ihr Herz pochen und die Pfoten leicht über den hartgefrorenen Waldboden streichen. Vielleicht gab es ein junges Tier, oder ein altes, ein verletztes. Sie lief geduckt vorwärts. Nichts würde ihr im Weg stehen. Sie prüfte, sah, lauschte, sie wusste das Wild vor sich. Am Rand einer kleinen Lichtung. Die Rehe würden versuchen zu fliehen, sobald sie Samika bemerkten. Aber im Wald war Samika fast genauso schnell wie sie. Jedenfalls so schnell wie ein schwaches Reh. Schneller vielleicht als das Reh dort vorne, das sich abseits hielt. Es bewegte sich langsam, scharrte steif das mit Schnee vermischte Laub beiseite und fand doch nichts, für das es sich gelohnt hätte, den Kopf zu senken. Samika spürte den sauren Geruch einer Krankheit. Dieses Reh konnte ihre Beute werden. Sie musste es von der Gruppe trennen und zwischen die dichter stehenden Bäume treiben. Das Dornengestrüpp am Ende der Lichtung würde es vielleicht sogar straucheln lassen. Dann würde sie ihm an den Hals springen. Sich verbeißen, festhalten und mit dem sterbenden Tier zu Boden stürzen.

Samika stürmte auf das Reh zu, das zu fliehen versuchte, verfolgte es ins Gestrüpp, wo es fiel, sprang es an, packte es am Hals, stürzte selbst, als es sich wehrte, kam hoch, biss sich fest, das Reh stöhnte, in seinem Hals gurgelte die Luft unter ihrem würgenden Biss, seine Kraft schwand, die langen Beine hörten auf zu zucken. Samika sprang um die Beute herum, zerrte am hellen Fell des Bauches, schüttelte den Kopf, bis es sich löste, schnappte, fetzte, schluckte das weiche, warme Innere aus dem Bauch, begann die Knochen zu knacken, riss Brocken von Fleisch los, schlang sie hinunter und schlang noch mehr, durchbiss die Hinterbeine, nagte, würgte, schluckte, bis das, was jetzt kein Reh mehr war, fast vollständig zerfetzt vor ihr lag.

Das Fleisch im Bauch sandte ein Zittern, ein Schlagen, ein Stoßen, ein Glühen durch ihren Körper. Die Kraft dehnte sich aus bis an die Grenze von Selbst und Außen. Leben durchdrang sie. Der Bauch war zum Platzen voll. Sie hatte allein gejagt!

Langsam lief sie über die kleine Lichtung, auf der vorher die Rehe gewesen waren. Jetzt war es ihre Lichtung. Dachse schnauften auf der Suche nach Nahrung. Ein Flitzen unter dem Schnee verriet Mäuse. Eichhörnchen huschten die Bäume hinauf und hinab. Abendvögel riefen in die dunkler werdende Himmelsferne. Wo die Füchse sich versteckt hielten, wusste sie noch nicht. Aber was sind schon Füchse. Das hier gehörte ihr! Samika kehrte zurück zu ihrer Beute. Sie suchte sich einen Platz für die Ruhe der Dunkelheit. Zufrieden. Bald verlor sie sich im Nichts. Das Licht der Nacht zog seine Bahn.

4

Am frühen Morgen weckten sie die leisen Geräusche des Waldes. Das Rauschen in den Nadelkronen, der dumpfe Aufprall von herabfallenden Schneebrocken, das Knacken im Gebüsch, der Windstoß durch die Äste der Bäume. Samika wusste sofort, wo sie war und wo sie die Beute gelassen hatte. Sie konnte im Heute bleiben. Von der Beute nehmen, aus dem Bach trinken, das Drumherum erlaufen. Ein Bein vor das andere, einen Fuß in die Spur des vorderen. Samika erlebte den fremden Wald, der jetzt ihr gehörte. Ihr, der Alleinjägerin.

Helligkeit und Dunkel wechselten sich ab, einmal, zweimal, viele Male. Samikas Muskeln wuchsen. Ihr braunes Fell begann zu glänzen. Ihre Augen funkelten wie die aufgehende Sonne. Sie jagte. Ein weiteres Reh wurde ihre Beute, ein einzelnes Wildschwein und auch ein Tier, das sie aus dem weißen Land nicht kannte, einem Dachs ähnlich, mit buschigem Schwanz und langen, spitzen Krallen. Es kam in der Dämmerung ohne Vorsicht vom Wasser her und trippelte direkt zu den Resten des Wildschweins. Samika beobachtete eine Weile, wie es flink kleine Fetzen Fleisch von den Knochen nagte, dann erlegte sie es mit einem Sprung und einem scharfen Biss. Auch die Füchse näherten sich, wenn sie gejagt hatte. Sie warteten in einigem Abstand und rissen sich um die Reste. Mal wurden sie von Samika fortgescheucht und manchmal auch geduldet, weil kein Anderer bei ihr war.

Samika entdeckte jeden Tag neue Gerüche, wenn sie zwischen den hohen Stämmen umherstreifte, durchs Gebüsch kroch oder über die Bäche sprang. Sie fand ruhige Orte, an denen sie sich zusammenrollen und traumlos schlafen konnte. Als sie ohne zu überlegen anfing, die Reste ihrer Beute nicht mehr den anderen Tieren zu überlassen, sondern für spätere Zeiten zu vergraben, dachte sie, dass sie tatsächlich in diesem Wald bleiben könnte. Vielleicht bis zur grünen Zeit, vielleicht auch länger.

Sie dachte daran, dass in der grünen Zeit an den niedrigen Sträuchern des Waldes Beeren wachsen und dass es dann viele kleine Hasen geben würde, die sie leicht erlegen konnte. Sie dachte sogar daran, dass sie sich an heißen Tagen in einem der vielen Bäche abkühlen und in allen Gewässern eine Fülle von Fischen finden könnte. Sie dachte an das tiefe Gebüsch, wo auch in der Zeit der hellen Nächte schützende Dunkelheit herrschen würde.

Nur daran, dass es in diesem Wald unbekannte Gefahren geben könnte, daran dachte sie nicht.

5

Der Morgen des Tages, der sie daran erinnerte, brach in einem feinen Nebel an. Samika nahm die vom Nebel gedämpften Geräusche und veränderten Gerüche auf. Sie lief durch den Wald. Kraftvoll. Ohne auf das Wild zu achten. Beute war genug da. Sie ließ die Beine laufen und reiste mit dem Kopf hoch in die Luft. Von dort sah sie sich selbst als Teil des Waldes und erinnerte sich an die weißen Vögel. Deren wilde Fröhlichkeit schien ihr sehr weit zurück zu liegen. Damals, als das falsche Wasser sie gezwungen hatte, einen anderen Weg zu nehmen. So war sie hierhergekommen und zur Alleinjägerin geworden. Samika lief den Weg entlang, auf dem sie sich wie gewohnt ihres Waldes vergewisserte. Sie hatte sich in Zufriedenheit verloren, als aus der Ferne ein unbekannter Lärm heranbrauste.

Ein unerklärlicher Schrecken fiel sie an. Gestank betäubte ihre Nase, während die Lautstärke der Gefahr zunahm, obwohl es doch nichts gab, was einen solchen Lärm hervorbringen konnte. Samika rannte los. Sie wusste nicht wohin, und deshalb rannte sie überallhin.

Der Gefahr, die sich weiter steigerte, entkam sie damit nicht. Irgendwie begriff sie, dass der Lärm und der Gestank von oben kamen. Das machte es nicht besser, denn oben ist überall, und in die Erde kann man nicht fliehen. Jedenfalls nicht, wenn man keine Maus ist. Wie war es möglich, dass es noch lauter wurde? Welche Gefahr kann sogar den Wind in Angst versetzen, dass er wild um sich selbst kreist? Gestank stach in Samikas Nase. Und dann sah sie die Gefahr über sich. Kein Vogel! Natürlich nicht! Ein nie gesehenes Ungetüm war es, ein wahnwitziges Ungetüm mit Flügeln, die sich drehten! Der Lärm zerfetzte die Luft. Der Wind warf Samika zu Boden. Ihre Beine zuckten, als ob sie noch rennen würde. Sie hörte auf, etwas zu fühlen.

Hatte die Gefahr sie verschont? Samika wusste es nicht mit Bestimmtheit. Aber irgendwann spürte sie sich wieder. Der Lärm hatte ihre Ohren betäubt, der Gestank ihre Nase. Sie versuchte den Wald zu spüren. Nichts Vertrautes war übrig geblieben. Die Bäume waren fremd, die Höhlen der Dachse waren fremd, das Huschen der Mäuse, die Eile der Eichhörnchen, die Rufe der Abendvögel. Weit entfernt spürte sie die Angst der Rehe. Die Lichtung war fremd, der Bach war fremd. Wie hatte sie glauben können, dies gehöre ihr?