Wolkenherz - Ein Schimmern am Horizont - Sabine Giebken - E-Book

Wolkenherz - Ein Schimmern am Horizont E-Book

Sabine Giebken

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Beschreibung

Endlich ist sich Jola sicher: Wolkenherz ist auf dem Ginsterhof aufgetaucht, um ein altes Liebespaar wieder zu vereinen. Denn Katies Großvater Max wurde im Krieg von seiner Jugendliebe Lotte getrennt und seitdem fehlt jede Spur von ihr. Doch für Jola steht fest, dass Lotte noch lebt und dass Wolkenherz sie zu ihr führen wird. Aber irgendetwas stimmt nicht mit dem weißen Hengst. Warum wird er immer blasser, manchmal fast schon durchscheinend? Für Jola und Katie beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

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Seitenzahl: 348

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Wolkenherz

Band 1: Die Spur des weißen Pferdes

Band 2: Eine Fährte im Sturm

Band 3: Schatten im Wind

Band 4: Ein Schimmern am Horizont

Inhalt

H2Oooh

Traumfänger

Wer sucht …

… der findet

Lotte 1955

Berührungspunkte

Meindein Geheimnis

Drei Spuren

Aktivradio

Spiegelschimmer

Lotte 1955

Stimmgeflüster

Sternenregen

Heugeister

Geheimnisbilder

Die verschlungenen Hufeisen

Lotte 1956

Sanduhren

Ab ins Blaue

Kein Ponyhof

Indian Summer

Feuerworte

Lotte 1957

Der Plan der Pläne

Reisefieber

Raschelfelder

Sternenzelte

Lotte 1963

Weggefährten

Hitzegewitter

Die grüne Insel

Das Pferdehaus

Wolkenherzen

Lotte 1973

Lichter im Wind

Vielen Dank …

Kapitel 1

H2Oooh

»Da vorne ist es!«

Jola machte sich groß und reckte den Hals, aber es war gar nicht so einfach, durch die dichten Farne und Sträucher zu gucken, die ihr bis unter die Nase wuchsen. Entweder stand das Gestrüpp zu hoch oder Colorado war zu klein. Oder beides.

»Wo? Ich sehe nichts.«

Katie trabte Keira an und sofort zockelte Colorado hinterher. Das alte Pony hatte einen Wackeltrab, den man schlecht aussitzen konnte, besonders wenn er keinen Sattel trug. Jola krallte beide Hände in die Mähne und ließ Colorado einfach hinterherlaufen. Etwas anderes konnte sie auch nicht machen, da sie weder Zügel noch einen Strick hatte, mit dem sie ihn hätte lenken können. Ein absolut seltsames, unwirkliches Gefühl! Auf einmal riss Colorado den Kopf hoch und galoppierte hinter Keira her.

»Katiiieee! Mach langsam!«

Katie stoppte ein paar Pferdelängen vor ihr mitten im hohen Gras und zum Glück blieb auch Colorado ganz von selbst stehen. Jola rutschte von seinem Rücken und blickte sich um.

»Und wo?«

»Na, hier!« Katie sprang ebenfalls zu Boden. Mit den Absätzen ihrer Reitschuhe trampelte sie einen Pfad durchs Gras, bis – bis sich die Halme plötzlich zur Seite neigten und einen Uferweg freigaben, der sich in verschlungenen Bogen um einen Weiher wand. Das Wasser schimmerte im Glitzerlicht der Sonne moosgrün und aus dem Schilf quakte ein Frosch.

»Oh, wow!« Jola zog im Gehen ihre Schuhe aus, trat ans Ufer und tauchte ihre Zehen in das kühle, weiche Wasser. »Das ist ja total schön!«

»Hab ich dir doch gesagt.« Katie wollte ebenfalls zum Ufer, aber Keira weigerte sich mit weit aufgerissenen Nüstern, dem seltsamen Riesenwassergraben näher zu kommen. »He, was soll das denn? Du bist ein Buschpferd, schon vergessen?«

Hinter ihnen raschelte das Gras und Miley und Taylor schoben ihre blonden Köpfe ins Sonnenlicht. Zwischen ihnen hüpfte Minnie aus der Wiese, doch als sie das Wasser bemerkte, stürmte sie wie ein kleines Kind hinein. Die beiden Haflinger kümmerten sich null um den Weiher, sondern fingen sofort an zu grasen. Stefan und Anna sprangen von ihren Rücken und lachten sich zu. Die Ponys Bonnie und Clyde folgten und mühten sich ab, um die kleine Kutsche durch das Gras zu ziehen, aber dann hatten auch sie es geschafft, und Helen und Jolas Vater luden Picknickdecken und Kühltaschen ab. Helen drehte den Kopf. Sie hatte die Stirn besorgt in Falten gelegt, aber Jola wusste, dass alles gut war, denn Opa Max war bei ihm – und bei ihm konnte ihm gar nichts passieren!

»Wolkenherz«, flüsterte sie, und schon teilten sich die Grashalme zum letzten Mal, und der weiße Hengst trat auf den Weg, anmutig und leise wie eine Erscheinung. Opa Max hatte die Augen geschlossen, aber nun, als Wolkenherz anhielt, machte er sie langsam wieder auf und stöhnte leise.

»Papa«, rief Helen. »Alles in Ordnung? Warte, ich helfe dir!«

Opa Max warf Jola einen Blick zu und sie verstand – es ging ihm gut, er wollte nur nicht runter. Er wollte am liebsten auf Wolkenherz’ Rücken sitzen bleiben, für immer und ewig, und den Bildern zusehen, die der Hengst ihm schickte! Aber Helen schleppte eine Kühlbox an und stellte sie so, dass Max ganz einfach darauf absteigen konnte.

»Also ehrlich«, schimpfte sie sanft und stützte ihn mit beiden Händen. »In deinem Alter fängst du das Reiten an!«

»Ich bin schon als Kind geritten«, entgegnete er und lehnte sich gegen den Hengst. »Ich war sogar richtig gut darin!«

»Das ist ja wohl ein paar Jährchen her. Außerdem hast du ein schwaches Herz und Wolkenherz – na, der ist immerhin ein Hengst.«

Aber Opa Max lachte nur. »Glaub mir, Helen, es gibt kein besseres Pferd als ihn. Nicht für mich.« Er hob die Hand und streichelte Wolkenherz, sacht, vorsichtig. Immer noch ungläubig.

Jola warf Katie einen Blick zu und die grinste. Sie hatten es geschafft – Max und Wolkenherz waren wieder vereint! Eigentlich war ihre Mission damit erfüllt. So hatten sie es sich zumindest gedacht. Aber Wolkenherz war immer noch hier, so als ob seine Geschichte noch nicht auserzählt wäre! Etwas fehlte, um das Rätsel zu lösen – oder besser gesagt: Jemand fehlte. Opa Max hatte ihnen von dem Mädchen erzählt, das die Vergangenheit von ihm getrennt hatte, von seiner großen Liebe: Lotte. Und Jola war sich längst sicher, dass diese Lotte der Schlüssel zu allem war, der wahre Grund, warum Wolkenherz bei Max im Stall aufgetaucht war. Max sollte dieses Mädchen von damals wiederfinden!

Bei der ganzen Sache gab es nur ein Problem: Opa Max war sehr alt, schon beinahe neunzig Jahre. Es konnte gut sein, dass diese Lotte einfach nicht mehr am Leben war.

»Komm schon«, rief Katie und packte Jola am Arm. »Willst du ewig da herumstehen?«

Sie schälten sich aus ihren Klamotten und rannten los, ins Wasser, wo Minnie bereits wie verrückt herumplanschte. Zum Glück hatten sie die Badesachen gleich drunter angezogen. Das Wasser war kühl und herrlich frisch und Jola tauchte ein Stück und ließ ihre Finger durch den schlammigen Grund gleiten. Das letzte Mal geschwommen war sie im Südpazifik, mit Delfinen am Horizont. Klares blaues Salzwasser statt grünem Moosweiher. Trotzdem hätte sie keine Sekunde lang getauscht – sie wollte hier sein, mit diesen Leuten an diesem Ort und nirgends sonst! Zu Hause. Lächelnd tauchte sie auf, schloss die Augen und drehte ihr Gesicht zum Himmel. Eine Weile trieb sie so dahin, bis sie plötzlich eine Bewegung neben sich spürte. Als sie die Augen aufschlug, schwamm Colorado neben ihr und blubberte sie freundschaftlich an.

»He, du kannst ja schwimmen!«

»Klar!« Katie kraulte auf seine andere Seite. »Als ich klein war, sind wir dauernd hier baden gegangen. Mit ihm habe ich schwimmen gelernt! Genau wie Mama.«

»Meinst du, Helen ist böse auf mich?«, fragte Jola. »Weil ich deinen Opa habe reiten lassen?«

»Ach, Quatsch.« Katie griff nach Colorados Mähne und das Pony zog sie ein Stück durchs Wasser. »Das war echt lustig, wie du plötzlich auf Colorado angeritten kamst. So ohne Zügel und alles. Das hätte Niko mal sehen müssen!«

Jola musste grinsen. »Nein, lieber nicht. Sonst zwingt er mich, bloß noch so zu reiten.«

Katie ließ Colorado los und schwamm zu Jola hinüber. »Du … diese Bilder, die du immer siehst, mit Wolkenherz … glaubst du, Opa sieht sie auch?«

»Erinnerungen«, flüsterte Jola. Sie warf einen Blick zum Ufer, wo die Erwachsenen und Anna das Picknick ausbreiteten. Nur Opa Max stand abseits, an Wolkenherz gelehnt, und schaute gedankenverloren hinaus auf den Weiher. »Oh ja. Er sieht sie. Er ist süchtig danach! Aber sie machen ihn traurig, genau wie mich.«

»Nie und nimmer lebt diese Lotte noch«, murmelte Katie. »Nicht jeder wird so alt wie Opa!«

»Sie lebt«, beharrte Jola und sah zu Wolkenherz, der jetzt am Ufer graste. »Jede Wette! Sonst … hm. Ich glaube, sonst wäre er nicht mehr hier.«

»Wie meinst du das?«

»Überleg doch mal. Wir dachten die ganze Zeit, er ist wegen deinem Opa auf dem Ginsterhof. Aber Max konnte ihn zuerst nicht sehen und dann wollte er ihn nicht sehen. Jetzt haben sich die beiden gefunden und Wolkenherz – also, er ist nicht verschwunden oder so. Er ist noch nicht fertig, seine Mission ist noch nicht erfüllt!«

»Puuuh.« Katie drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme aus. »Diese ganze Geisterpferdesache ist so verrückt, so was würde uns echt keiner glauben!«

»Aber Max glaubt sie. Und Wolkenherz!« Jola schaufelte eine Ladung Wasser in Katies Gesicht. Katie kreischte auf, und sofort war eine wilde Wasserschlacht im Gange, bei der auch Minnie begeistert mitmachte. Nur Colorado hatte keine Lust, er strampelte in aller Ruhe in die Mitte des Weihers und schüttelte die Libellen weg, die auf seinem Schopf landen wollten.

Später saßen sie alle zusammen auf der Picknickdecke, aßen Brezen mit selbst gemachtem Frischkäse oder Obazdem und dazu Fleischpflanzerl mit Senf und scharfen Radieschen. Jola beobachtete ihren Vater, der so entspannt und zufrieden aussah wie schon lange nicht mehr – er hatte sogar seine Kamera dabei und knipste Minnie, die sich im Uferschlamm wälzte, und Colorado, wie er sich ein Radieschen klaute. Helen saß an Stefan gelehnt da und lächelte vor sich hin. Anna hatte ihre Gitarre mitgebracht und spielte die langsame Melodie von »Schatten im Wind«. Nur Opa Max sah aus, als wäre er in Gedanken weit, weit fort.

»Wie lange habt ihr jetzt noch Schule?«, fragte Helen, als Anna den Song beendet hatte. »Sieben Wochen, oder?«

»Ja. So cool! Keira ist topfit, ich habe uns schon für drei Turniere gemeldet. In den Sommerferien kann ich dann endlich …«

»Katie«, fiel Stefan ein. »Du übertreibst es. Das ist ihre erste Saison!«

Aber Katie zuckte nur mit den Schultern. »Wie soll sie es denn lernen, wenn sie immer nur zu Hause über dieselben Baumstämme springt? Ihr werdet schon sehen. Im Winter ist Keira ein echtes Buschpferd!«

»Was hast du vor, Jola?« Helen sah sie an. »Hast du Pläne für den Sommer?«

Jola warf Opa Max einen schnellen Blick zu. »Ich … äh, also … zuerst muss ich noch ein Projekt für die Schule fertig machen. Die Sache mit … Ostpreußen.«

Der Großvater blinzelte, dann schaute er sie an und lächelte ganz leicht. Er hatte verstanden, was sie damit meinte!

Helen lächelte ebenfalls. »Sehr fleißig von dir. Und – also, ich meine, für die Sommerferien? Hast du da schon Pläne?«

Jola merkte, wie ihr Vater unruhig wurde. Er räusperte sich und Helen sah schnell zu Boden.

»Nein«, sagte sie unsicher. »Noch nicht. Warum?«

Aber Helen schüttelte den Kopf. »Nur so. Vergiss es! Ich wollte nur … Aber zuerst kommt die Schule, du hast völlig recht.«

Jola beobachtete ihren Vater, der plötzlich gar nicht mehr so entspannt aussah. Geheimnisse lagen in der Luft, und anscheinend waren Katie und sie nicht die Einzigen, die etwas verbargen.

Anna packte ihre Gitarre weg und stand auf. »Also, Leute, wer hilft mir, Minnie ins Wasser zu werfen? So nehmen wir das kleine Schlammschwein jedenfalls nicht mit nach Hause!«

Stefan sprang auf und dann Jolas Vater und nach kurzem Zögern streifte auch Helen ihr Sommerkleid ab und stürzte sich ins grüne Wasser. Minnie folgte ihnen begeistert. Colorado, der immer noch Radieschenkrümel spuckte, stapfte hinter ihnen her.

Katie und Jola tauschten einen Blick. Dann hockten sie sich links und rechts von Opa Max auf die Decke, so als müssten sie aufpassen, dass er sich nicht davonmachte.

»Na«, sagte Katie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Ist lange her, dass du mit uns hier warst, Opa.«

Opa Max lächelte. Er legte einen Arm um Katie und dann den anderen um Jola, als würde sie dazugehören, zu seiner Familie, zu seinem geheimnisvollen Leben.

»Was war es?«, fragte Jola leise. »Was hat er Ihnen heute gezeigt?«

Opa Max stöhnte leise. Jola spürte das tiefe Beben, das durch den Körper des alten Mannes lief, seinen Herzschlag, der sich plötzlich beschleunigte. Die Bilder von Wolkenherz konnten so lebendig sein, dass sie die Gegenwart veränderten – sie wusste das doch selbst nur zu gut!

»Ein See … unser See. Im Mondschein. Wir sind hingeritten, in einer Vollmondnacht, nur wir beide. Auf Wolkenherz. Er war silberschwarz damals, schimmernd wie die Nacht um uns. Die schönste Nacht der Welt.« Seine Augen wurden trüb, aber nicht vor Traurigkeit. Er lächelte wieder, obwohl ihm Tränen über die Wangen liefen. »Das ist so lange her … ich hätte es beinahe vergessen. Oh, Lotte! Was ist nur mit dir geschehen?«

Jola schluckte schwer. Als sie zu Katie schaute, sah sie, dass es ihr genauso ging. Sie schloss die Augen. Leichter Wind kam auf und blies ihr in den Nacken, und sie merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam.

Lotte.

Wie schwer konnte es schon sein? Sie hatten immerhin einen Namen. Es musste einfach möglich sein, sie zu finden!

Traumfänger

Am Montagmorgen weckte Jolas Vater sie mit Rührei und Speck und setzte sich damit zu ihr auf die Schlafcouch. Jola zog die Vorhänge zur Seite und rappelte sich hoch.

»Hmm. Was ist los?«

»Ich hab dir Frühstück gemacht.«

»Aber das machst du doch sonst nie.«

»Hallo? Ich bin dein Vater, ich brauch doch wohl keinen Grund, um dir Frühstück zu servieren!«

Jola grinste und probierte einen Bissen Ei. »Musst du schon zum Maierhof? Was macht der Hopfen?«

»Wächst.« Ihr Vater schob sich eine zu volle Gabel Speck-Rührei in den Mund und die Hälfte purzelte zurück auf den Teller.

Jola musste lachen. »Also ehrlich, du könntest dir bei Minnie ein paar Benimmregeln abgucken.«

Ihr Vater lachte auch mit, aber plötzlich wurde er ganz ernst und legte die Gabel auf den Teller. »Jola, ich …«

Auch Jola ließ die Gabel sinken. Etwas verstopfte auf einmal ihre Kehle, ein Gefühl – eine Ahnung. »Was?«

»Also, die Hopfenernte steht demnächst an, aber danach … Das Schuljahr ist bald um. Und wir können nicht ewig als Gäste auf dem Ginsterhof bleiben.«

Jola schluckte. Kein Wort brachte sie heraus. Sie wusste, was kam. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst und trotzdem verdrängt. Stumm sah sie ihren Vater an, der jetzt unsicher seine Speckstreifen herumschob.

»Ich könnte für eine Hilfsorganisation arbeiten. In Peru. Es gibt Schulen dort, auf die du gehen könntest, und wir wären auch nicht die ganze Zeit unterwegs, so wie in Neuseeland. Wir würden eine ganze Weile am selben Ort bleiben. Du könntest neue Freunde finden und in den freien Wochen erkunden wir zusammen das Land und ich kann endlich meinen Bildband … Jola?«

Aber Jola hörte ihn gar nicht mehr richtig. Ihr Blick war durchs Fenster gewandert, zur Koppel hinüber, wo Wolkenherz stand. Der schöne Hengst hatte den Kopf gehoben und sah sie an, fast so, als hätte er jedes Wort mitbekommen. Jola hatte das Gefühl, er würde von ihr wegrutschten, kleiner werden, wie ein Traum, den man mit aller Macht festzuhalten versucht und doch niemals fangen kann. Sie schluckte, aber das Gefühl in der Kehle blieb.

»Wir haben darüber geredet«, sagte ihr Vater sanft. »Der Ginsterhof war immer nur eine Zwischenlösung. Es wird Zeit, Jola. Zeit, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Für mich, aber auch für dich. Sieh mal, in Peru gibt es auch tolle Pferde! Wenn das so wichtig für dich ist, werden wir dort drüben eine Möglichkeit finden, dass du reiten kannst. Versprochen!«

Jola nickte langsam. Sie wollte ihrem Vater nicht alles kaputtmachen, doch genauso wenig wollte sie hier wieder weg. Und Peru? Das würde ja doch kein Zuhause werden. Nirgendwo auf der Welt würde sich ihr Vater an einen Ort binden. Das Speck-Ei auf ihrem Teller wurde kalt, aber das war ihr egal. Sie brachte jetzt sowieso keinen Bissen mehr herunter.

»Wann?«, brachte sie mühsam hervor. »Wie lange bleiben wir noch hier?«

Ihr Vater lächelte. »Im September geht es los. Du hast also noch den ganzen Sommer Zeit, um mit Katie Abenteuer zu erleben.«

Jola nickte langsam und stand auf. Sie schob ihrem Vater den vollen Teller hin.

»Danke für das Frühstück«, sagte sie leise, dann huschte sie ins Bad, schloss die Tür hinter sich und sank auf den Boden, wo sie sitzen blieb und ihre Beine umklammerte.

September! Viel Zeit war das nicht. Im letzten September war Wolkenherz plötzlich im Stall aufgetaucht, wie aus dem Nichts, und hatte alles durcheinandergewirbelt. Sie würde hier nicht weggehen, ehe sein Geheimnis gelöst war – und das hieß, sie musste sich jetzt doppelt und dreifach beeilen, diese Lotte aufzuspüren!

Als sie aus dem Haus trat, war Katie gerade dabei, Keira zu satteln. Verwundert lief Jola zu ihr hinüber.

»Was hast du denn vor?«

»Bei dem schönen Wetter habe ich echt keine Lust auf den Schulbus.« Katie grinste. »Keine Sorge. Ich weiß einen Stall in der Nähe der Schule. Der ist ausbruchsicher. So was wie beim letzten Mal passiert uns nicht mehr!«

Jola schulterte ihren Rucksack. »Okay. Und wen soll ich reiten?«

Die Stalltür knarrte und Opa Max streckte den Kopf heraus. »Dein Pferd ist gleich fertig, Jola.«

Überrascht sah Jola zu, wie Opa Max den Sattelgurt um Wolkenherz’ Bauch festzog und zufrieden einen Schritt zurücktrat. Wolkenherz kam zu ihr und blies ihr gegen die Wange, so als wüsste er genau, was sie bedrückte. Hastig legte sie ihre Hände um seinen Hals und drückte ihr Gesicht in seine Mähne.

»Muss das sein, Katie?« Helen kam mit einer vollen Schubkarre aus dem Durchgang von der Koppel und blieb vor dem Stall stehen. »Du kannst doch den ganzen Nachmittag reiten.«

Opa Max schmunzelte. »Soll ich dich daran erinnern, wer früher immer zur Schule geritten ist? Sogar heimlich, ohne Erlaubnis?«

Helen wurde rot und murmelte etwas und Katie zwinkerte ihrem Opa verschwörerisch zu. »Wir sind dann mal weg. Bis später!«

Es tat gut, Wolkenherz’ weiche, fließende Bewegungen unter sich zu spüren. Er trug sie durch die Welt, und Jola wünschte, sie könnte ewig so weiterreiten.

Katie plapperte die ganze Zeit gut gelaunt, erzählte von einem Turnier, das bald anstand, von Lea, die mit ihr laufen gehen wollte, und Opa Max, der so cool und locker geworden war. »Er ist schon ganz früh im Stall aufgetaucht und hat sich einfach nur in den Auslauf gesetzt, um Wolkenherz anzusehen. Mama hat gefragt, ob ihm etwas fehlt. Da hat er nur gelacht!«

Jola hätte ihr gern von Peru und ihrem bevorstehenden Abschied erzählt, aber irgendwie fand sie keine Gelegenheit, und Katie hatte so sprudelnd gute Laune, dass sie ihr den Morgen auch nicht vermiesen wollte. Auf einem Feldweg trabten sie an, und als der Boden weich und sandig wurde, galoppierten sie schließlich, richtig schnell, und Wolkenherz streckte sich und schnaubte, als hätte er sich seit Wochen nicht bewegen dürfen. Auch er war verändert – genau wie Opa Max. Ihre Begegnung hatte sie endlich zu Verbündeten gemacht.

Dafür fiel es Jola an diesem Tag unglaublich schwer, dem Unterricht zu folgen. In Mathe rechnete sie solchen Unsinn, dass Jonas ihr schließlich das Heft wegzog und die richtigen Ergebnisse hinter ihre Gleichungen kritzelte. In Bio wurde sie abgefragt, aber obwohl sie gelernt hatte, fiel ihr einfach nichts mehr zu Sporenpflanzen ein, und der Lehrer entließ sie mit einem müden Kopfschütteln und verkündete, dies sei wohl nicht ihr Tag.

Die letzten beiden Stunden hatten sie Englisch, und Jola war froh, weil Herr Ernst sie für gewöhnlich in Ruhe ließ. Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster. Immerhin kamen diesmal keine wild gewordenen Haflinger über den Schulhof galoppiert, zertrampelten das Blumenbeet und kackten in das Hüpfspiel am Boden – so eine Aktion konnte sich Katie nicht noch einmal erlauben! Nein, Wolkenherz und Keira standen sicher in einem ehemaligen Kuhstall gleich um die Ecke und mümmelten ihr Heu. Nach dem Malheur vom letzten Mal hatte Helen darauf bestanden, die Pferde einzusperren, während sie in der Schule waren.

Wolkenherz. Sie malte den Namen in verschlungenen Buchstaben auf ihren Block, zeichnete Wolken drum rum, in denen ein M und ein L schimmerten, und umrahmte alles mit einem riesigen Herz. Eigentlich musste sie Katie gar nichts von Peru erzählen, auch sonst keinem – es würde ja doch nichts ändern. So konnten sie sich wenigstens auf ihre Aufgabe konzentrieren, und sie wollte die verbleibende Zeit auch gar nicht mit Trauermiene erleben, sondern Spaß haben, reiten, schwimmen und die letzten Wochen mit Katie genießen! Genau. Peru kam im September, aber der Ginsterhof war jetzt, hier, Gegenwart – nur das zählte doch, oder?

»… oder was meinst du, Jola?«

Jola fuhr zusammen. »Ähm, Entschuldigung. Was?«

»Was meinst du dazu?« Herr Ernst stemmte die Hände in die Hüften. »Let us know your opinion on this topic, please.«

Jola biss sich auf die Lippe und schaute Hilfe suchend zu Jonas, aber Herr Ernst stellte sich genau vor ihren Tisch, und so konnte Jonas ihr auch nichts auf seinen Block kritzeln.

»Sorry«, murmelte Jola kleinlaut. »I was dreaming.«

»I know.« Herr Ernst starrte sie mit gerunzelter Stirn an. »And I don’t like to waste my time. Please, Jonas, let her know what I just told you. Jola will write an essay about it until tomorrow.« Damit wandte er sich von ihr ab und Jola sank in ihrem Stuhl zusammen. Die restliche Stunde versuchte sie, nicht mehr aus dem Fenster zu schauen, obwohl ihre Gedanken immer noch abschweiften und die Stimme des Lehrers in ihrem Kopf leiser und leiser wurde.

»He«, fing Katie sie nach dem Gong ab. »Was war denn mit dir los?«

»Ach, ich hab nur …« Jola verstummte, weil Katies Blick auf ihren Block fiel und ein wissendes Lächeln auf ihre Lippen huschte. »Ich muss dauernd an Max und Lotte denken«, flüsterte sie schnell.

»Dann komm mal mit. Ich weiß nämlich, wer uns helfen kann.« Sie packte Jola am Arm und zerrte sie mit sich, nach vorn zum Lehrerpult, wo Herr Ernst seine Sachen zusammenräumte. Katie wartete, bis der Lehrer aufsah, und räusperte sich.

»Ähm … Herr Ernst, wir hätten da eine Frage. Wo sucht man jemanden, der im Zweiten Weltkrieg verschollen ist? Wenn man nichts von ihm weiß, also, was aus ihm geworden ist.«

Herr Ernst legte seine Tasche aufs Pult und sah Katie überrascht an. »Gibt es da einen Fall in deiner Familie, Katie?«

»Also, nicht direkt … oder doch. Irgendwie schon.«

»Habt ihr einen Namen?«

Jola und Katie tauschten einen Blick. Sie wollten dem Lehrer nicht zu viel erzählen, das hätte sich irgendwie falsch angefühlt. Also nickten sie nur.

»Dann solltet ihr es beim DRK probieren. Das Deutsche Rote Kreuz hat nach den Kriegsjahren einen Suchdienst eingerichtet, der Familien und Angehörige wieder zusammenführt.« Er runzelte die Stirn. »Wenn ihr mir sagt, um wen es sich handelt, könnte ich euch …«

»Danke«, warf Katie schnell ein, und Jola fügte hinzu: »Das ist sehr persönlich, wissen Sie? Aber vielen Dank. Jetzt wissen wir Bescheid!«

Wer sucht …

Sie ritten nicht gleich nach der Schule nach Hause, sondern folgten der Hauptstraße bis zum Reiterladen und von dort weiter in den kleinen Ortskern von Steinbach. Keira, die es nicht kannte, über Pflastersteine zu laufen, scheute vor jedem Gullideckel und machte einen höllischen Aufstand, als sie an einer Litfaßsäule vorbeigehen sollte.

»Guck mal, da!« Jola streckte den Arm aus. »Ein Konzert mit Sunset Barn, präsentiert von Radio Active. Ich wusste gar nicht, dass sie …«

Die Bilder in ihrem Kopf explodierten so plötzlich, dass Jola erschrocken die Luft einsog.

Kopfsteinpflaster. Sie ritt durch eine zerstörte Stadt, eine enge Gasse, Leute, die vor seinen Hufen herumliefen und ihm den Weg abschnitten. Ein Gefühl durchströmte sie, eine bange Hoffnung – dann ein Junge, der Wolkenherz festhielt und vor sich hin pfiff, ein Trab über harten Boden, hallend, schnell, immer schneller …

»Jola, he! Was ist denn los? Du bist ganz weiß um die Nase.« Katie sprang von Keiras Rücken und versuchte, die aufgeregte Stute zu der Plakatsäule zu führen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast einen Geist gesehen.«

»Haha. Sehr witzig.« Jola schüttelte den Kopf. »Lotte … Ich glaube, ich habe gerade Lotte gefühlt! Sie hat Wolkenherz geritten. Aber ich konnte nicht sehen, wo. Da lagen überall Trümmer, alles war kaputt und irgendwie … grau. Macht das Sinn?«

»Na ja. Es war Krieg, oder? Das könnte überall gewesen sein.« Katie hob die Schultern. »Los, reit noch mal zurück und komm wieder her! Vielleicht passiert es wieder und du kannst die Stadt erkennen.«

Jola wendete Wolkenherz, der weder mit Gullideckeln noch mit Litfaßsäulen ein Problem hatte, und ließ ihn in einem Bogen auf Keira zugehen. Aber diesmal strömten keine Bilder auf sie ein, gerade so, als hätte sie einen Film gesehen, der nun zu Ende war.

»Wäre ja auch zu einfach gewesen.« Katie schaute Keira streng an. »Komm schon, du kleine Irre. Auf zur Eisdiele! Du kriegst auch ein Stück Waffel ab.«

»Wo wart ihr denn so lange?« Stefan kam aus seiner Werkstatt, als sie durch das Tor auf den Hof ritten.

»Eisessen reiten«, berichtete Katie gut gelaunt. Auf dem Heimweg hatte sich Keira wieder vorbildlich benommen und war sogar mit Katie über einen kaputten Gartenzaun gesprungen. Das reichte Katie als Aussöhnung, sie glitt aus dem Sattel und streichelte die Stute ausgiebig.

»Dann hättet ihr ja fast Helen getroffen. Die ist eben auch zur Eisdiele gefahren.« Stefan trat an Wolkenherz heran und schob die Hand unter seinen Sattel. »Jetzt habe ich ihn extra so gebaut, dass ich ganz leicht nachpolstern kann. Aber Wolkenherz hat sich überhaupt nicht verändert.«

»Kann er doch auch nicht«, platzte es aus Jola heraus. Als Stefan sie verwirrt anguckte, wurde sie rot und schüttelte schnell den Kopf. »Ähm, ich meine … so wie wir uns um ihn kümmern …«

»Er hätte aber längst Muskeln aufbauen müssen durch euer Reittraining.« Stefan machte einen Schritt zurück und musterte Wolkenherz eingehend. »Seltsam. Jedes Pferd verändert sich, wenn es eine Zeit lang unter dem Sattel läuft.«

Katie und Jola tauschten einen Blick und Jola biss sich auf die Lippe. Sollten sie Stefan einweihen? Aber würde er ihnen glauben oder sie nur auslachen?

Katie schüttelte ganz leicht den Kopf, dann fragte sie: »Warum fährt Mama allein in die Eisdiele?«

Stefan warf noch einen letzten kritischen Blick auf Wolkenherz, blinzelte dann und lächelte. »Nicht allein. Sie trifft sich dort mit dem Leiter vom Kreisjugendring. Wegen dem Zeltlager, das kurz vor den Sommerferien hier stattfinden soll.«

»Dieses Indianerzeug?« Katie verdrehte die Augen. »Machen wir doch lieber noch ein Turnier!«

»Das Indianerzelten ist eine feste Institution. Helen hat den Ginsterhof dafür angeboten, weil es doch hier spuken soll.« Er schmunzelte und rollte mit den Augen. »Was glaubt ihr, wie sich die Kids gruseln werden?«

Jola musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut loszulachen.

Besagter Geist steht vor dir, dachte sie, und er ist alles andere als gruselig!

»Na, von mir aus«, brummte Katie. »Die Geisternummer kriegen wir hin, was, Jola?«

Sie sattelten und trensten die Pferde ab und führten sie hinter den Stall, wo Katie einen langen Gartenschlauch ausrollte und beide mit Wasser abspritzte. Keira warf den Kopf hoch und versuchte, die Tropfen mit der Zunge zu fangen, während Wolkenherz völlig ruhig stand und die kühle Dusche kaum wahrzunehmen schien.

»Ob er das Wasser nicht fühlen kann?«, fragte Jola flüsternd.

»Dann würde er es ja auch nicht merken, wenn man ihn anfasst.« Katie wendete Keira, lief dann aber noch mal zum Stall und kam mit einer Dose Fliegenspray zurück. Keira hasste es, eingesprüht zu werden. Sie tanzte so lange um Katie herum, bis sie aus dem Führstrick einen Knotensalat gezwirbelt hatte.

Als Katie mit der Dose auf Wolkenherz zutrat, schüttelte Jola den Kopf.

»Warum? Glaubst du, es schadet seiner Aura?«

»Er braucht es nicht.«

»Was?«

»Fliegen. Also, sie meiden ihn. Er braucht das Spray nicht.«

Katie starrte Wolkenherz an. »Echt jetzt?«

»Ja, schon immer. Im Winter habe ich das vergessen, aber es ist mir im Herbst schon aufgefallen. Die Fliegen stürzen sich immer nur auf mich, wenn ich mit ihm zusammen bin.«

»Dann sprühen wir eben dich das nächste Mal damit ein!« Kopfschüttelnd stellte Katie das Spray weg und sie brachten die Pferde auf die Koppel. Sofort ließ sich Keira im Paddock in den Sand fallen und puderte sich ein. Ein pferdischer Fliegenschutz – und trotzdem musste sie ständig den Kopf schütteln, als sie zu grasen begann, weil die Fliegen um ihren Kopf schwirrten und ihr in die Ohren krabbelten.

Wolkenherz brauchte kein Sandbad. Er fing in aller Ruhe an zu fressen, und sein Fell sah so wolkenweich aus, als hätte es nie eine Dusche gegeben. Sein Schweif zuckte ein wenig, aber er schwang nicht hin und her wie bei den anderen Pferden, und egal, wie genau sie auch hinsahen – nicht eine einzige Mücke verirrte sich auf Wolkenherz’ strahlend weißes Fell.

»Manchmal ist er mir unheimlich«, verkündete Katie, als sie den Laptop auf dem Esszimmertisch aufklappten und hintereinander auf die runde Bank rutschten. »Dir nicht?«

»Nein«, meinte Jola. »Nie.«

»Genau wie Opa.« Katie wartete, bis der Laptop hochgefahren war, und tippte das Passwort ein. »So. Also wie hieß diese Suchseite noch mal?«

»DRK«, murmelte Jola. »Deutsches Rotes Kreuz.«

Katie rief den Browser auf und tippte. Sofort der erste Treffer zeigte den Suchdienst des DRK an, wo Angehörige nach Vermissten suchen konnten, die sie durch Flucht, Vertreibung oder Krieg in ihrem Heimatland verloren hatten. Es gab sogar eine Seite für Verschollene aus dem Zweiten Weltkrieg. Katie klickte darauf, und Jola lief es kalt den Rücken hinunter: »Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben unzählige Menschen in Mitleidenschaft gezogen: Viele verschwanden spurlos und nach wie vor sind allein 1,3 Millionen deutsche Schicksale ungeklärt.«

Sie waren nicht die Einzigen, im Gegenteil – es suchten immer noch Leute nach Familienangehörigen, die sie im Zweiten Weltkrieg verloren hatten! Und es gab eine richtige Datenbank, in der die Namen all der Leute gesammelt waren, die in den Kriegsjahren eine Suchkarte ausgefüllt hatten. Ob sie diese Lotte hier finden würden? Wenn sie die Flucht aus Ostpreußen überlebt und hier ein neues Zuhause gefunden hatte, für sich und für Wolkenherz – dann musste sie doch versucht haben, Max zu finden! Auf einmal war Jola so aufgeregt, dass sie kaum noch still sitzen konnte.

»Es gibt ein Online-Formular.« Katie klickte weiter und hob die Hand. »Aber viel wissen wir nicht über sie, oder? Nur dass sie Lotte hieß.«

»Lotte Thaler.« Jola zog den Laptop zu sich heran und tippte erst den Familiennamen und dann den Vornamen in die Suchmaske. Ein rotes Sternchen markierte alle Pflichtfelder, die man ausfüllen musste. »Geburtsdatum? Oje.«

»Ich frage Opa!« Katie stemmte sich auf die Sitzbank hoch, lief über die Kissen und sprang hinter dem Tisch zu Boden. Nur fünf Minuten später kehrte sie außer Atem zurück und ließ sich wieder neben Jola plumpsen. »Er weiß es nicht«, keuchte sie. »Aber sie war zwei Jahre jünger als er, also muss sie 1930 geboren sein!«

Jola tippte das Geburtsjahr ein und setzte an die Stellen, die sie nicht wussten, ein X. »Grund der Suche … Das ist leicht.«

»Unglückliches Geisterpferd sucht seine Besitzerin.« Katie kicherte.

Jola versetzte ihr einen Knuff. »Jetzt bleib doch mal ernst! Wie schreiben wir das am besten?«

»Hmm.« Katie schaute zum Fenster. »Vielleicht: verlorene große Liebe. Das sagt doch alles, oder?«

»Genial.« Jola tippte, und ihr Herz klopfte so laut dabei, dass sie es hören konnte. »Seine große Liebe …«

»Schreiben wir was von Wolkenherz?«

»Warum sollten wir?«

»Na, falls Lotte das liest! Sie muss doch wissen …«

Jola sah Katie zweifelnd an. »Glaubst du im Ernst, sie meldet sich bei uns, wenn wir behaupten, ihr verstorbenes Pferd hätte uns zu ihr geführt?«

Katie grinste. »Nee. Wahrscheinlich eher nicht.«

»Also.« Jola klickte auf Weiter. »Jetzt noch Angaben zum Antragsteller! Soll ich dich nehmen? Immerhin bist du Max’ Enkelin.«

Katie nickte abwesend und Jola schickte das Formular ab. Anschließend schauten sie beide auf den Bildschirm, so als würde die Antwort auf ihre Frage, ihren Suchauftrag, jeden Moment wie durch Zauberhand dort erscheinen.

»Und jetzt?«, fragte Katie nach einer Weile.

»Warten«, seufzte Jola und klappte den Laptop zu. »Mehr können wir ja gerade nicht tun.«

… der findet

Niko fragte, ob Jola am Wochenende mit auf den Ausritt kommen wolle. »Es sind so viele Kinder dabei, die zum ersten Mal im Wald reiten. Katie ist doch auf ihrem Turnier, und mir wäre echt wohler, wenn noch jemand dabei ist, der mitschaut.«

Voller Stolz hatte Jola zugesagt – sie, die vor einem Jahr selbst noch blutige Anfängerin gewesen war, sollte nun die Aufsichtsperson spielen? Vor lauter Aufregung konnte sie in der Nacht auf Samstag kaum schlafen, und als der Morgen endlich anbrach (nur der Hahn war vor ihr wach und scheuchte seine Hennen herum), war sie die Erste im Stall. Sie mistete den Paddock ab – ohne die volle Schubkarre umzuwerfen –, verteilte Heu in den Raufen und sammelte die Eier heil aus dem Hühnerstall. Helen grinste nur, als sie Jola dort fand.

»Du bist ja schlimmer als meine Tochter. Wobei Aufregung bei ihr selten in Arbeitswut umschlägt. Wo ist sie überhaupt? Sag bloß, sie schläft noch.«

Jola legte den Kopf schräg. »Im Stall habe ich sie heute noch nicht gesehen.«

»Na, wenn sie kommt, sag ihr, ich fahre schon mal den Hänger raus.« Helen wandte sich um, blieb dann aber noch mal stehen und zögerte. »Jola, ich wollte mal mit dir reden. Wegen …«

»Guten Morgen!« Katie hüpfte durch das Stalltor und umarmte ihre Mutter. »Na, Mamilein? Startklar?«

Helen warf Jola einen entschuldigenden Blick zu und schob ihre Tochter von sich. »Ja, gleich. Bedank dich bei Jola, sie hat die ganze Arbeit allein gemacht.«

»Danke, Jola!« Katie tanzte einmal um sie herum, dann schnappte sie sich einen Führstrick und verschwand pfeifend nach draußen.

»Wir reden ein andermal«, murmelte Helen, und Jola sah ihr nach, wie sie das Scheunentor aufschob und den Pferdehänger ein Stück ins Freie zog.

Als Helen mit Katie und Keira im Anhänger davongefahren war, legte sich eine wohlige Ruhe über den Ginsterhof. Jola frühstückte auf den Stufen vor dem Haus in der Morgensonne und kraulte Minnie, die sich neben ihr ausstreckte und zufrieden grunzte. Was hatte Helen mit ihr besprechen wollen? Ob sie von Peru wusste? Oder ging es um Wolkenherz, durfte sie ihn am Ende nicht mehr reiten? Wollte Helen den Hengst vielleicht lieber mit Katie auf den Turnieren sehen? Schließlich war Keira noch jung und unerfahren. Auf einmal wurde die Hitze unerträglich, und sie war froh, als Niko endlich angeknattert kam und sie die Pferde von der Weide holen konnten.

Im Wald war es herrlich kühl und die Luft roch nach Erde und Moos. Unzählige Schatten tanzten durch die Wipfel der Bäume. Die Pferdehufe machten kein Geräusch auf dem weichen Boden, nur das aufgeregte Geplapper der sieben Reitschulkinder hallte durch die grüne Luft.

Jola hielt sich ein Stück hinter der Gruppe, damit sie alle Ponys im Blick hatte. Eigentlich machten sich alle gut, nur das Mädchen, das unbedingt Billy haben wollte, musste ziemlich kämpfen. Der Sturkopf blieb andauernd stehen und fing an, am Wegrand zu grasen. Wenn Jola ihn dann weiterscheuchte, machte er einen Satz, sodass seine Reiterin fast zu Boden segelte. In einer Kurve fiel ihm plötzlich ein, von der Gruppe weg in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Aber Wolkenherz hatte schon verstanden, was seine Aufgabe war, und schnitt dem gefleckten Pony gekonnt den Fluchtweg ab.

»Soll ich dich lieber an den Strick nehmen?«, bot Jola dem Mädchen an, aber es winkte nur lachend ab. Ihr machten Billys Eskapaden wohl auch noch Spaß.

»Wer will traben?«, rief Niko von vorn und erntete ein vielstimmiges »Oh jaaaaa!«.

Jola versuchte, genau hinter Billy zu reiten, so dicht, dass er gar nicht auf die Idee kam, wieder Blödsinn zu machen. Wolkenherz schüttelte ganz leicht den Kopf und trabte los. Für ihn war das Tempo viel zu gering, Jola merkte, wie die Energie durch seinen Körper strömte. Und dann – dann war sie plötzlich nicht mehr im Wald, sondern auf einer Wiese, umrahmt von wogenden Gräsern, die sich flüsternd im Wind wiegten. Ein altes, halb verfallenes Haus stand dort – ein Haus wie aus einem Traum. Das Pferd unter ihr hob den Kopf und spitzte die weißen Ohren. Dieser Ort sah so friedlich aus, dass sie wie verzaubert darauf zu trabte. Ein alter Eichenbaum streckte sich schützend über das Dach und überall blühten wilde Blumen. Sie stellte sich in die Steigbügel, um besser sehen zu können, lauschte auf Geräusche, aber sie hörte nur …

»Billyneeeeiiiin!«

Der Schrei riss Jola aus der Erinnerung, Gräser wurden zu Ästen, Bäumen, Wald. Sie sah nur noch einen grau-schwarzen Blitz an der Gruppe vorbeidüsen und um die Kurve verschwinden. Jola parierte Wolkenherz durch und sprang von seinem Rücken. Das Mädchen, das Billy geritten hatte, lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen.

»Ist dir was passiert?«, fragte Jola und legte vorsichtig den Arm um ihre Schultern.

»Nein«, schniefte das Mädchen und rappelte sich hoch. »Aber kacke ist das!«

»Mach dir nichts draus«, tröstete Jola. »Was glaubst du, wie oft ich schon von Billy runtergeflogen bin?«

»Aber ich hab ihn doch so lieb«, heulte die Kleine. »Immer bring ich ihm was mit, was Superleckeres!«

Niko lief auf sie zu, Taylor am Zügel. Erschrocken schaute er Jola an. »Was ist passiert?«

Jola merkte, dass sie rot wurde. Oje! Da hatte er sie als Aufpasserin mitgenommen, und ausgerechnet als ein Mädchen vom Pferd fiel, hatte sie – ja, was? Geträumt? Es hatte sich so echt angefühlt, so real, als würde sie wirklich auf diesem schwarzen, energiegeladenen Pferd sitzen, voller Aufregung, was die Gestalt bei dem Haus wohl sagen würde …

»Jola?« Niko sah sie stirnrunzelnd an.

»Ich …«

»Billy hat plötzlich angefangen zu bocken«, berichtete das Mädchen am Boden. »Ich hab nix falsch gemacht!«

Jola nickte vage. »Ja, so war es«, bestätigte sie schwach.

Niko seufzte. »Na super. Dann musst du jetzt wohl Taylor reiten.«

»Und Billy?«, fragte das Mädchen erschrocken. »Fängst du ihn gar nicht ein?«

»Sicher nicht.« Niko streckte ihr die Hände hin und half ihr auf. Zum Glück hatte sie sich nicht verletzt, nur ihre Ellbogen waren ein wenig aufgeschrammt. Niko legte ihr die Hand auf die Schulter. »Keine Angst, er kennt den Weg. Ein Pferd läuft immer heim zu seinem Stall, weißt du?«

Das Mädchen nickte. Dann wischte sie sich die Tränen ab und fragte scheu: »Und wie sollen wir noch mal traben, wenn du kein Pferd mehr hast?«

Niko musste lachen und Jola lachte ebenfalls. Größtenteils vor Erleichterung, weil nicht mehr passiert war.

»Weißt du, was? Du kannst bei mir aufsteigen. Wolkenherz kann uns auch beide tragen.« Und wenn noch jemand auf seinem Rücken sitzt, kommen die Bilder vielleicht nicht zurück, dachte sie. Sosehr sie diese Erinnerungsfetzen liebte – auf diesem Ritt brauchte sie einen klaren Kopf!

Auch Helen war erleichtert, dass dem Mädchen nicht mehr passiert war, aber sie schimpfte ein bisschen mit Billy, der natürlich in aller Seelenruhe unter den Quittenbäumen gestanden und Gras gefuttert hatte, als sie am Hof ankamen.

Katie hatte beim Turnier den zweiten Platz belegt und verkündete beim Abendessen lautstark ihre Pläne für die restliche Saison. Jola war froh, dass der Tag für sie gut gelaufen war … so gut, dass Helen nun bestimmt nicht auf die Idee kommen würde, Katie mit Wolkenherz auf den Turnieren starten zu lassen!

Nach dem Essen half Jola beim Abwasch, weil sie hoffte, mit Helen sprechen zu können, aber Stefan schnappte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und berichtete so lang und breit von seinem Kundentermin am Nachmittag, dass Jola beschloss, lieber Wolkenherz noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Sie wollte gerade zur Tür hinaus, als Katie nach ihr rief.

»Jola, Jola, komm schnell her!«

Jola streifte ihre Sneakers wieder ab und lief ins Esszimmer, wo Katie vor dem Laptop hockte. »Was ist denn los?«

»Wir haben Antwort.« Katie drehte den Bildschirm so, dass Jola mit darauf schauen konnte. »Vom DRK. Der Suchdienst!«

»Echt?« Jola biss sich vor Aufregung auf die Lippe. »Und? Haben sie Lotte gefunden?«

Katie las die Nachricht und runzelte dabei immer mehr die Stirn. »Ach, Mist! Die schreiben, es gibt niemanden mit dem Namen, auf den unsere Angaben passen. Wie kann das sein, Jola? Warum ist sie dort nicht vermerkt? Meinst du … oh Gott.«

Jola starrte sie an. »Was?«

Katie war käseweiß geworden. »Sie ist doch mit Wolkenherz geflohen, oder? Das wissen wir von Opa. Sie war die Letzte, die mit ihm zusammen war. Danach verliert sich ihre Spur. Und anscheinend hat sie nicht versucht, Opa über den DRK-Suchdienst zu finden, sonst müsste ihr Name hier auftauchen! Ich fürchte, es gibt nur eine Erklärung dafür!«

»Jetzt sag schon!«

»Wolkenherz!«

»Hä?«

»Es ging ihr die ganze Zeit nur um ihn! Überleg mal, sie war ein Stallmädchen auf einem riesigen Gut, ein Handlanger, und plötzlich beschert ihr das Schicksal diesen supertollen Hengst, von dem niemand so recht weiß, wem er gehört, weil die Papiere natürlich verschollen sind. Sie wäre doch schön dumm, wenn sie seinen wahren Besitzern ihren Aufenthaltsort verrät! Die wären doch sofort gekommen und hätten ihn abgeholt und was hätte sie dann noch gehabt?«

Jola schüttelte ganz langsam den Kopf. »Nein, Katie. Niemals! Dein Opa hat doch gesagt, sie war seine erste große Liebe. Niemals hat sie ihn wegen einem Pferd aufgegeben, auch nicht für Wolkenherz!«

Katie schnaufte entrüstet. »Pah. Und warum findet man sie dann nirgends? Ich sag dir, warum. Entweder deine tolle Theorie stimmt nicht, und sie ist längst tot, oder sie hat Wolkenherz für sich behalten, und danach war es ihr zu peinlich, nach Opa zu suchen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte oder Angst vor den Konsequenzen oder so!«

»Das glaube ich einfach nicht!«

»Sie hat Wolkenherz eben mehr geliebt als Opa.« Katie drückte die Nachricht weg und starrte missmutig auf den Bildschirm. »Wir ändern jetzt unsere Strategie, Jola. Das hätten wir längst machen sollen! Wir suchen nach dem Reiter, diesem Neumann. Und ich weiß auch schon, wo!«

Jola sah zu, wie Katie auf die Website einer Pferdezeitschrift surfte. Von genau der lagen unzählige Exemplare in ihrem Zimmer verstreut. In ihrem Kopf drehte sich immer noch alles.

Lotte, dachte sie. Niemals hast du Wolkenherz klammheimlich für dich behalten! Wäre er sonst hier? Was für eine Mission sollte das sein – seine Rache? Wurde am Ende doch noch ein böser Geist aus ihm?

»Die Zeitschrift gibt es schon eeewig«, murmelte Katie, während sie tippte. »Die haben auch immer Turnierlisten abgedruckt. Ich frage die einfach, ob der Name Ch. Neumann mal irgendwo aufgetaucht ist.«

Ein Gedanke schlich durch Jolas Kopf, die ganze Zeit schon. Aber er versteckte sich, immer wenn sie glaubte, ihn irgendwo zu entdecken. Sie sah aus dem Fenster, wo Wolkenherz im weichen Abendlicht stand und in die Ferne sah, und versuchte, sich Lotte vorzustellen, aber in der Reflexion der Scheibe sah sie nur sich selbst.