Wolkenherz - Eine Fährte im Sturm - Sabine Giebken - E-Book

Wolkenherz - Eine Fährte im Sturm E-Book

Sabine Giebken

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Beschreibung

Jola ist sich sicher: Der geheimnisvolle Hengst ist ein Geist, der seit vielen Jahren auf dem Ginsterhof spukt. Aber wann hat das Pferd hier gelebt? Und wer waren seine Besitzer? Als eine Antwort auf ihre Fragen greifbar nah scheint, braut sich ein schwerer Sturm zusammen. Bald ist der Hof von der Außenwelt abgeschnitten und die Pferde in größter Gefahr. Nur der weiße Hengst kann ihnen jetzt noch helfen. Doch dann machen Jola und Katie eine Entdeckung, die ihre Suche in ein völlig neues Licht rückt …

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Seitenzahl: 332

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Wolkenherz

Band 1: Die Spur des weißen Pferdes

Band 2: Eine Fährte im Sturm

Band 3: Schatten im Wind

Band 4: Ein Schimmern am Horizont

Inhalt

Ouijahooo!

Schlotterpost

Geheimnispferde

Pferdisch für Anfänger

Lotte 1944

Weihnacht im Wald

Die Nacht der sprechenden Tiere

Geistergerede

Angsthasenstunde

Spurensuche

Lotte 1944

Pferdisch für Fortgeschrittene

Alte Geschichten, neue Rätsel

Altjahrsreiter

Schneemannschlacht

Ein Geist kommt selten allein

Lotte 1944

Gefühlschaos

Sieben Leben

Neue Geschichten, alte Rätsel

Back to basics

High Noon

Lotte 1944

Gesellschaftsspiel

Geheimniszeichen

Geisterland

Anno dazumal

Lotte 1944

Geisterschatten

Ungnade

Gewitterhimmel

Im Dunkel die Angst …

… im Herzen das Licht

Lotte 1945

Des Rätsels Lösung

M wie …

Ouijahooo!

Zerdrücktes braunes Laub klebte an Billys Hufen und hinterließ eine verräterische Spur auf der schneebedeckten Wiese. Katie hielt die Zügel lässig mit einer Hand und gestikulierte mit der anderen wild in der Luft, als sie den Kopf nach hinten drehte.

»Stell dich richtig in die Bügel, dann schaukelt es nicht so!«

Jola kämpfte mit dem Gleichgewicht, aber ihre Füße rutschten immer wieder nach vorne weg, und dann plumpste sie unsanft auf Bonnies Wirbelsäule. Die Wuschelmähne vor ihr wackelte unwillig. Ohne am Zügel zu reißen, versuchte sie, ihren Hintern wieder aus dem Sattel zu bekommen, aber schon beim nächsten Galoppsprung hing sie erneut auf Bonnies Hals.

»Okay, stopp mal.« Katie ließ Billy einmal im Kreis tanzen und kam neben Bonnie zum Stehen. Billy schlug mit dem Hinterhuf aus und bockte. Bestimmt war er tierisch genervt von dem Trödeltempo, das Katie heute von ihm verlangte.

Bonnie machte es nichts aus, stehen zu bleiben. Sie senkte den Kopf und seufzte ergeben.

»Tut mir leid«, sagte Jola zu ihr und klopfte den eierschalfarbenen Hals. Ganz flauschig war der geworden, wie Teddyfell. »Ich versau euch den Ritt. Das mit den Steigbügeln klappt einfach nicht! Vielleicht kann ich nur auf stehenden Pferden reiten.«

»Stehende Pferde sind sterbenslangweilig.« Katie kräuselte die Stirn. »Pass auf, wir tauschen jetzt. Du nimmst Billy.«

»Was?« Jola schnappte nach Luft. »Aber … ich und Billy, das klappt doch nie!« Und das traue ich mich auch nicht, dachte sie, sagte es aber nicht. Angst hatte auf einem Pferd nichts verloren, so viel hatte sie inzwischen gelernt.

»Wenn wir oben am Waldrand ankommen und du dann immer noch stehende Pferde reiten willst, fress ich einen Pferdeapfel!«

Jola musste lachen. »Okay, du verrücktes Huhn. Aber roh. Und fallfrisch.«

»Mit der Mistgabel. Und jetzt hopp, Pferdetausch!«

Jola rutschte von Bonnies Rücken und schloss für einen Moment die Augen. Ihre Knie zitterten ein wenig – das würde Billy sofort merken. Sie atmete tief ein und wieder aus.

Ein frostiger Wind pfiff durch ihre Wolljacke und ließ die weiß gepuderten Bäume flüstern und rascheln. Gespenstisch schön sah die Winterlandschaft aus. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich weich und fluffig an, fast wie ein Trampolin, auf dem man glaubte zu fliegen.

Bonnie stupste sie ganz leicht mit der Nase an und sie machte die Augen wieder auf.

»Sei nett zu Katie«, sagte sie leise und trat vorn um ihren Kopf herum.

Katie grinste. »Du brauchst nichts zu tun. Oben am Waldrand stoppen wir immer, das wird er also auch heute machen. Vorher hält er nicht freiwillig an, also versuch es gar nicht. Und jetzt guck nicht so. Das macht Spaß!«

Schöner Spaß, dachte Jola. Billy drehte ihr den Kopf zu und versuchte, an ihrer Wolljacke zu ziehen. Energisch drückte sie seine Nase weg und hievte sich mit Schwung auf seinen Rücken. Okay, immerhin das hatte sie inzwischen gelernt – mit dem richtigen Fuß im Steigbügel aufzusteigen und nicht gleich wieder auf der anderen Seite herunterzufallen.

»Zügel aufnehmen«, kommandierte Katie und schwang sich ohne Steigbügel auf Bonnies Rücken. Sofort zuckten die Ohren der kleinen Stute und sie tippelte nervös auf der Stelle. »Und, Jola … keine Angst, okay? Genieß es einfach!«

Ich hab keine …, wollte Jola noch sagen, aber da stampfte Bonnie schon wie eine kleine Dampflok an ihr vorbei. Katie stieß ein Indianergeheul aus, und dann dachte Jola nichts mehr, weil alles viel zu schnell ging. Billys Körper explodierte unter ihr, es fühlte sich an, als würde er mit allen Füßen gleichzeitig in die Luft springen.

Und dann rannte er. So schnell, dass Jola Tränen in den Augen hatte, vom Wind und dem Gefühl und überhaupt allem, sie kam gar nicht mehr dazu, Angst zu verspüren oder ihre Füße zu sortieren, sie hing wie von selbst über Billys Hals, gehalten vom Wind, getragen von Billys Energie. Nicht eine Sekunde lang wollte sie aufhören oder abspringen oder etwas anderes tun als auf diesem dahinfliegenden Pferd sitzen. Sie hörte wieder einen Schrei – aber diesmal war es ihrer. Er trieb Billy weiter an, noch schneller, noch größere Sprünge, bis der Wald vor ihr aufragte und beide Ponys langsamer wurden und schließlich vor den Brombeersträuchern zum Stehen kamen.

»Und?« Katie drehte sich zu Jola um. Bonnie, die zockelige, unscheinbare, altersmüde Bonnie, hatte Billy auf der buckeligen Schneewiese abgehängt, als hätte Katie sie verhext, indem sie auf ihren Rücken stieg. »Krieg ich heute Pferdeapfelmus zum Abendessen?«

»Nein.« Jola lachte. Sie fiel nach vorn und schlang die Arme um Billys Hals. »Das war der Wahnsinn, vielen, vielen Dank!«

Katies Wangen glänzten und sie nickte zufrieden. »Jetzt bist du infiziert. Du wirst noch eine echte Buschreiterin, wirst schon sehen.«

Jola hatte das Gefühl, über den Waldboden zu schweben. Natürlich waren das Billys Füße, die weich und federnd dahintrabten und nicht zockelten und stockten wie die von Bonnie. Trotzdem hatte der Galopp etwas in ihr gelöst, etwas ausgelöst – eine neue Sehnsucht. Es ging nicht mehr nur darum, mit Katie mitreiten zu können. Sie wollte wie Katie reiten, so sicher und so wild und ohne Angst oder Zweifel zu haben.

Sie trabten ein Stück durch den Wald und bogen dann auf einen Feldweg ab, der durch die leeren Hopfenfelder führte. Als sie an der höchsten Stelle ankamen, lag der Ginsterhof wie ein Spielzeugstall unter ihnen. Verstreut über die weiße Waldkoppel grasten winzige Miniaturpferde und -ponys.

Jola kniff die Augen zusammen. Wo war er? Sein Fell leuchtete wie der Schnee, und manchmal stand er so reglos, dass er mit der Umgebung zu verschwimmen schien. Ah, dort. Ganz unten, neben den Ginsterbüschen. Genauso fern und winzig wie die anderen, aber dreimal, nein, zehnmal so schön.

»Du glaubst also immer noch, er ist so was wie ein Geisterpferd?« Katie trieb Bonnie an Billys Seite und starrte ebenfalls zu den Ginsterbüschen hinunter. »Nur weil der Geist aus unserem Stall plötzlich verschwunden ist?«

»Nicht nur deshalb. Schau ihn dir doch an! Er ist … anders. Anders als die anderen.« Jola legte den Kopf schief. »Und wie erklärst du dir sonst, dass er praktisch aus dem Nichts bei euch aufgetaucht ist? Über Nacht? Wie ist er in den Stall gekommen, der ja abgeschlossen war, und warum vermisst niemand so ein Rassepferd? Er ist jetzt seit über zwei Monaten bei euch, das ist doch oberseltsam. Ich würde ihn vermissen, wenn er mein Pferd wäre. Ich würde ihn überall suchen und nicht aufhören, bis ich ihn gefunden hätte.«

»Deshalb glaubt meine Mama ja immer noch, dass was mit ihm nicht stimmt. Irgendwem muss er schließlich gehören!«

»Und wenn derjenige längst tot ist? Wenn der Hengst früher auf dem Ginsterhof gelebt hat und seitdem hier herumspukt? Du hast es selbst gesagt, Katie, ihr hattet einen Geist im Stall.«

Katie brummelte etwas vor sich hin. »Ich find’s trotzdem total verrückt.«

»Dann beweisen wir es eben.« Jola schob entschlossen den Unterkiefer vor. »In den Ferien stellen wir den Ginsterhof auf den Kopf und forschen nach Pferden in seiner Vergangenheit. Vielleicht finden wir ihn ja. Vielleicht ist es ganz leicht, sein Rätsel zu lösen.«

»Und was dann? Meinst du, er verschwindet danach einfach wieder? Über Nacht, so, wie er aufgetaucht ist?«

Jola hob die Schultern. »Weiß ich doch nicht. Aber alles andere hat bisher auch nichts gebracht, oder?«

»Wenn du schon ein Geist bist, könntest du wenigstens bei ein paar Lehrern herumspuken«, rief Katie laut zu dem weißen Hengst hinunter. »Mann, ich fass es nicht, dass wir ihn echt Ghost getauft haben!«

Die anderen hatten gelacht, als sie mit dem neuen Namen angekommen waren. Helen fand ihn süß, Stefan zum Fürchten und Anna klanglos, nur Niko hatte den Kopf geschüttelt und behauptet, niemand würde je einem edlen Trakehner Pferd so einen kindischen Namen geben.

»Ghost ist ja nicht sein richtiger Name«, sagte Jola fest. Billy zerrte an den Zügeln, er wollte schneller gehen, als sie es ihm erlaubte. »Aber hinter dieses Geheimnis kommen wir auch noch.«

»Und wie sollen wir das anstellen?« Katie trieb Bonnie in einen zockeligen Trab. »Wir können ihn ja schlecht fragen. Pferde können nicht reden. Nicht mal … Geisterpferde.« Das letzte Wort flüsterte sie, als habe sie Angst davor.

»Ich weiß«, sagte Jola und richtete sich auf. »Das habe ich mir auch schon überlegt. Was wir brauchen, ist so was wie ein Übersetzer.«

»Du meinst, jemanden, der geistisch spricht und uns übersetzt, was Ghost sagen will?«

Jola musste grinsen. »So ähnlich. Nur meine ich nicht jemanden. Sondern etwas.«

»Und was soll das sein?«

»Ein Ouijahooo!«

Billy machte einen Satz und zog Jola die Zügel aus der Hand, aber Katie war schneller. Sie versperrte ihm mit Bonnie den Weg und guckte ihn streng an.

»Ein bitte was?«

»Ouija. Das ist ein Brett mit Buchstaben und Zahlen und einer Plakette, auf die man seine Finger legen muss und die sich dann bewegt. Es gibt Leute, die so mit Geistern kommunizieren. Ehrlich! Ob das auch bei Pferden funktioniert, weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob es überhaupt funktioniert. Man kann so was einfach im Internet bestellen.«

»Ouija«, wiederholte Katie und schüttelte die Lockenmähne, die unter ihrem Reithelm rausguckte. »Das klingt alles total verrückt. Darauf brauche ich dringend noch mal einen ordentlichen Galopp, um den Kopf wieder durchzulüften. Was meinst du?«

Jola kam gar nicht zu einer Antwort, weil Bonnie und Billy im selben Moment die Köpfe hochrissen und wie auf ein geheimes Kommando hin losschossen.

Schlotterpost

Eine Decke aus Schnee hüllte die Krone des Kastanienbaums ein, als Jola und Katie drei Tage später aus der Schule kamen. Katie sah hoch in den Wolkenhimmel, aus dem unaufhörlich dicke weiße Flocken wirbelten.

»So viel Schnee hatten wir ja seit Jahren nicht vor Weihnachten! Weißt du, was? Dann können wir mit dem Schlitten zur Waldweihnacht fahren.«

»Was ist eine Waldweihnacht?«, wollte Jola wissen und grub ihre klammen Hände tief in die Taschen ihrer Wolljacke.

Katie hüpfte voran zum Wohnhaus. »Unser Förster schmückt jedes Jahr im Advent den schönsten Baum im Wald und an Heiligabend kommen alle aus der Umgebung dort zusammen und singen gemeinsam. Das ist so schön, ehrlich! Wir reiten normalerweise mit den Ponys hin. Einmal war sogar …«

Aber Jola hörte nicht mehr, was einmal war. Sie hatte nur Augen für den Mann in der gelben Jacke, der eben aus dem Haus trat und Helen zuwinkte. Er stieg in einen gelben Kleinwagen und fuhr durch das Tor davon. Helen blieb in der Tür stehen und wartete, und Jola konnte sehen, dass etwas hinter ihr im Flur lag. Etwas, was in braunes Packpapier gewickelt war.

»Na, die Damen … ihr seht ja aus wie Schneemännchen.« Sie zog Katie die Mütze vom Kopf und wuschelte ihr durch die Locken.

Katie stöhnte auf und duckte sich weg. »Mann, Mama – geht’s noch?«

»Wir müssen die Reitstunde für heute wohl absagen«, seufzte Helen. »Die Pferde veranstalten da draußen den reinsten Affentanz. Ich will nicht, dass jemandem was passiert.«

»Oh, super, dann kann ich ja …«

»… bei dem Schneesturm in den Wald reiten? Kommt gar nicht infrage.« Helen winkte sie in den warmen Flur und bückte sich nach dem Paket. »Hier, Jola, bevor ich es vergesse – das ist für deinen Vater angekommen. Nimmst du es nachher mit? Jetzt kommt aber schnell rein, es gibt Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat.«

Jola drückte das Paket an ihre Brust und überlegte, ob es unhöflich war, gleich damit zu verschwinden. Katie sah sie abwartend an, also stellte sie es widerstrebend vor der Verbindungstür ab und folgte ihr in die warme Wohnküche des Ginsterhofs. Anna saß bereits am Tisch und mischte Essig und Öl in den Kartoffelsalat.

»Was machst du denn schon hier?« Katie ließ sich neben ihre Schwester auf einen Stuhl plumpsen und klaute eine Kartoffelscheibe aus der Schüssel.

»Stunde ausgefallen.« Anna probierte ebenfalls, verzog das Gesicht und kippte noch eine Ladung Essig hinterher. »Ach, übrigens, der Du-weißt-schon-was ist da.«

»Boah, na endlich.« Katie rutschte näher zu Anna. »Dann können wir heute endlich anfangen, die Bilder einzukleben?«

»Pssst!« Anna linste zu Helen, die eben mit einer riesigen Packung Apfelsaft in die Küche trat, und rührte wieder heftig in dem Salat. »Machen wir gleich heute Abend«, flüsterte sie.

Jola versuchte, aus Katies Gegrinse schlau zu werden, aber die legte nur einen Finger an die Lippen und schüttelte ganz leicht den Kopf. Aha. Ein Geheimnis also. Zumindest vor Helen.

Sie musste wieder an das Paket denken. Am liebsten wäre sie sofort aufgesprungen und hätte es ausgepackt, aber das wollte sie nicht vor den Webers machen, schließlich war das Paket an ihren Vater adressiert. Sie hatte ein megamieses Gewissen, wenn sie daran dachte, was sie getan hatte. Aber jetzt war es zu spät. Jetzt war das Paket schon da.

Sie trugen die Salatschüssel ins Esszimmer und deckten den Tisch. Das Feuer im Ofen knisterte friedlich vor sich hin, während hinter den großen Fenstern der Flockensturm tobte. Die Holzdielen knarrten, als sich Minnie, die riesige, schrumpelige Shar-Pei-Hündin, unter den Tisch faltete.

»Holt der Postbote eigentlich auch Pakete ab?«, fragte Jola beiläufig, als Helen ihr zwei knusprige Fleischpflanzerl auf den Teller legte.

»Ja, manchmal macht er das. Aber vor Weihnachten hat er sein Auto immer ziemlich voll.« Helen zwinkerte ihr zu. »Hast du vergessen, dass dein Vater im Postamt arbeitet, Liebes? Er kann deine Pakete doch mitnehmen.«

Jola biss sich auf die Lippen. Das war natürlich keine Option, aber ihr würde schon was einfallen. Sie musste das Paket nur bald wieder zurückschicken, dann würde ihr Vater gar nichts davon merken.

Stefan, Katies Vater, und ihr Großvater stapften ins Esszimmer, lachend und mit öligen Hemden. Helen runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Der Geruch nach gebratenem Fleisch füllte inzwischen das ganze Untergeschoss und jedem schien das Wasser im Mund zusammenzulaufen.

»Na, Mädels, alles klar in der Schule?« Stefan streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus. »Die letzten Tage vor Weihnachten ist da sowieso nichts mehr los, oder?«

»Das war vielleicht zu deiner Zeit so«, knurrte Katie. »Der Ernst hat uns heute noch eine Englisch-Ex reingedrückt, die echt heftig war. Von wegen staade Zeit.«

»Lass mich raten – du hattest mal wieder keine Zeit zum Lernen, weil du den ganzen Nachmittag auf einem Pferd gesessen bist?«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass er jetzt noch mit seiner blöden Ex ankommt!«

Anna langte über den Tisch zum Krug und goss Wasser in ihr Glas, aber sie hatte zu viel Schwung, und die Hälfte davon schwappte auf den Tisch. »Shit.«

»Anna!«

»Sorry.« Anna rutschte von der Bank und holte ein Geschirrtuch aus der Küche. Als sie wiederkam, stieß sie sich den Zeh am Tischbein und fluchte gleich noch mal.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Helen. »So eine Laune kurz vor Weihnachten.«

»Ach, wir haben heute erfahren, dass Chris wegzieht – unser Bassist. Gerade jetzt, wo wir unsere neuen Songs aufnehmen wollten.«

Helen verdrehte die Augen und stöhnte laut. »Also echt. Gibt es für euch noch was anderes im Leben außer Pferde und Rockmusik?«

Anna und Katie tauschten einen kurzen Blick und schüttelten synchron die Köpfe. Der Großvater lachte, sogar Stefan verzog den Mund zu einem Grinsen. Und Jola fühlte sich seltsam ausgeschlossen, weil alle hier ein Ziel hatten, etwas, was einen Sinn ergab, nur sie nicht. Unwillkürlich musste sie wieder an das Paket denken, das im Flur stand und auf sie wartete, und sofort rutschte sie wieder unruhig auf ihrem Platz herum.

»Jetzt lasst uns beten.« Helen setzte sich auf einen Stuhl und sah Jola an. »Sonst kippt unser Familienzuwachs vor Hunger von der Bank!«

Es gab zwei Wohnungen im Anbau: Die eine bewohnte Katies Großvater, die andere diente normalerweise als geräumiges Gästeapartment. Eine Verbindungstür führte direkt ins Haupthaus, aber es existierte noch eine zweite Tür, ein alter Nebeneingang, den Stefan wieder freigelegt hatte, weil Jola und ihr Vater jetzt offiziell als Mieter bei den Webers wohnten. So konnte Jola auch direkt auf den Hof hinausgelangen, ohne durch das Haupthaus gehen zu müssen, was praktisch war – vor allem dann, wenn man nicht gesehen werden wollte.

Es war bereits spät am Nachmittag, aber der Schnee fing das restliche Licht ein und warf es vielfach in die Dämmerung zurück, sodass sie ihre Fußspuren auf dem frischen Winterteppich sehen konnte. Trotz der dicken Steppweste über ihrer Wolljacke und der alten Bommelmütze fror sie entsetzlich und der kalte Wind fuhr ihr in den Nacken wie Hunderte eisige Nadelstiche.

Die Stalltür quietschte, als Jola sie einen Spalt aufschob und sich ins Dunkel quetschte. Der Eiswind erstarb und der Geruch nach Heu hüllte sie ein wie eine wärmende Decke. Sie presste das Paket, das sie unter dem Arm trug, fest an sich und schloss von innen die Tür. Hufe stampften, Keira wieherte laut und irgendwo trat ein Pferd polternd gegen die Wand seiner Box. Die Unruhe unter den Tieren war so greifbar, dass Jola nervös um sich schaute, aber es war niemand hier, niemand außer ihr und ihnen.

Vor der ersten Box blieb sie stehen. Ein Schimmer lag über dem weißen Fell, als wäre es mit Schnee bedeckt. Ghost hatte kein stumpfes, wuscheliges Winterfell bekommen wie die Ponys. Katie hatte mal gesagt, das sei normal und bei Großpferden wäre eben die Unterwolle dichter, aber Jola war sicher, dass es noch eine andere Erklärung dafür gab. Ghost brauchte kein Winterfell, weil er nicht fror. Jedenfalls nicht so, wie normale Pferde es taten.

»Hey«, sagte sie leise zu ihm und streckte die Hand durch das Gitter. Ghost wandte ihr den Kopf zu und berührte sie sacht mit den Nüstern. »Ich habe was für dich. Keine Sorge, wir müssen es nicht gleich ausprobieren. Aber ich wollte es nicht allein auspacken, weißt du.« Außerdem geht es dich auch was an, dachte sie, sagte es aber nicht laut.

Ghost streifte mit seinen Lippen über ihre Hand, als suche er nach Leckerlis. Dann schnaubte er leise, und ihr ganzer Arm begann zu kribbeln, als würden hundert Schneeflocken gleichzeitig auf ihm landen.

Jola schob die Tür einen Spalt weit auf und schlüpfte hinein. Wieder erzitterte das Holz der Boxenwände unter einem Schlag und sie hörte es im Stroh rascheln und schaben. Es war nicht die Ideallösung, Ghost mit den anderen Pferden im Stall unterzubringen, aber eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben, und seit die Temperaturen unter den Gefrierpunkt gerutscht waren, wollte Helen weder ihn noch die anderen Pferde in der Nacht draußen wissen. Immerhin lebten sie jetzt schon seit Wochen Zaun an Zaun, deswegen hatte keiner damit gerechnet, dass die anderen derart nervös auf ihn reagieren würden. Außer Keira natürlich. Katies rotbraune Stute flippte regelmäßig aus, wenn er ihr zu nahe kam. Und daran hatte sich auch nichts geändert.

Jola setzte sich im Schneidersitz ins Strohbett und versuchte, das Geraschel und Gestampfe um sie herum auszublenden. Das Paket wog schwer auf ihrem Schoß, und eine Weile drehte sie es in den Händen und wagte nicht, es zu öffnen. Ghost trat einen Schritt näher zu ihr heran und senkte den Kopf, bis seine Nüstern ebenfalls an dem braunen Packkarton klebten. War es wirklich das Paket? Oder hatte ihr Vater was anderes bestellt, etwas, was zufällig ziemlich dieselbe Größe besaß, und sie kruschte jetzt an seiner Post herum?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Sie atmete tief ein und wieder aus. Das Paket war sorgfältig verschlossen, aber mit dem Fingernagel ließ sich der Klebestreifen abziehen, sodass die beiden Kartonflügel auseinanderklafften. Vor Aufregung bekam sie schweißnasse Hände. Vorsichtig schob sie ihre Finger in das Paket und spürte einen glatten, kantigen Gegenstand. Die Größe stimmte. Und auch die Rillen und Erhebungen fühlten sich richtig an. Sie hielt den Atem an und zog den Gegenstand aus seiner Kartonummantelung. Er fühlte sich schwerer an als das Paket, als ob plötzlich etwas anderes darin wäre als noch vor wenigen Sekunden. Zischend floss ihr Atem aus ihr heraus und formte sich zu einer dunstigen geisterbleichen Wolke.

»Jetzt schau dir das an«, murmelte Jola und drehte sich so, dass Ghost alles mit ansehen konnte.

Seltsame verschnörkelte Zeichen. Dreiecke und Kreise, die sich hinter fünf Buchstaben verbargen. Erhaben, sodass sie sie mit dem Finger ertasten konnte. Selbst im Dämmerlicht schienen die Zeichen zu leuchten, als ob derjenige, der sie draufgemalt hatte, genau wusste, dass man sie oft bei Dunkelheit betrachten würde.

OUIJA.

Jola stellte den seltsamen Kasten behutsam ins Stroh und versuchte, ruhig zu atmen. Ihr Herz schlug wie verrückt. Das Schnauben und Rascheln der Ponys verschwamm zu einem Hintergrundrauschen, und sie musste blinzeln, um die kleinen Buchstaben unten auf dem Kasten richtig zu entziffern.

Rufe die Geister. Tritt mit ihnen in Kontakt.

Achtung – dies ist kein Spiel. Alles, was du hiermit tust, geschieht auf eigene Verantwortung.

Geheimnispferde

Herr Ernst schritt gewohnt forsch durch die Schülerreihen und verteilte mit grimmiger Miene die Arbeitsproben aus der letzten Woche. Erst als er vor Jola stehen blieb, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Sehr schön, Jola. Deine Sätze klingen wunderbar natürlich. Hast du schon mal daran gedacht, Nachhilfe zu geben?«

Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht weiter zu ihrem Nebensitzer. Jonas stieß sich von der Bank ab und sein Stuhl schlitterte einen halben Meter rückwärts.

»Was, für mich? Keine Chance, Herr Ernst. Ich bin in den Ferien echt voll ausgebucht. Sorry.« Er grinste Jola an. Die Jungs neben ihm feixten amüsiert.

»Schaden würde es dir auch nicht, aber ich habe eigentlich an jemand anders gedacht«, knurrte Herr Ernst und wandte sich zur dritten Reihe um. Ohne ein Wort legte er Katie ihre Arbeit umgedreht auf den Tisch und runzelte die Stirn.

Katie hob vorsichtig den Blattzipfel an, beugte sich dicht über den Tisch und ließ das Papier so schnell wieder los, als habe es sie gebissen. Sie wartete, bis Herr Ernst weiterstapfte, und schaute zu Jola, zuckte mit den Schultern. Natürlich. Eine schlechte Note in Englisch konnte ihr nicht die Laune verderben, nicht zwei Tage vor Weihnachten, nicht bei dem schönen Pulverschnee, der im Sonnenlicht funkelte, und eigentlich auch sonst nicht. Jola nahm sich trotzdem vor, in den Ferien mit ihr zu üben. Wenn schon nicht für Katie, dann machte sie es eben Helen zuliebe.

»Und du? Wieder ’ne Eins?« Jonas versuchte, einen Blick auf Jolas Arbeit zu erhaschen, aber Jola ließ ihr Blatt, ohne daraufzuschauen, im Rucksack verschwinden.

»Bist doch so ausgebucht, da brauchst du dir keinen Kopf über meine Note zu machen. Trotzdem: echt nett von dir!«

Jonas grinste, aber Jola drehte ihm den Rücken zu und machte, dass sie ihre Sachen einpackte. Sie wollte endlich raus hier, endlich zurück zum Ginsterhof, endlich zu Ghost und das Geisterbrett ausprobieren! So ganz wusste sie selbst nicht, warum sie es nicht gleich ausgepackt hatte. In der Box bei Ghost. Wahrscheinlich wegen der Warnung: Achtung – dies ist kein Spiel. Was meinten die damit? Dass man mit dem Brett wirklich Geister herbeirufen konnte? Aber deshalb hatte sie es schließlich besorgt. Im Klassenraum war es warm, die Heizung bollerte auf vollen Touren, trotzdem war ihr mit einem Mal so kalt, dass sie eine Gänsehaut bekam.

Geister rufen, schön und gut. Nur: Wer garantierte einem, dass man die richtigen Geister damit rief? Und nichts … anderes anlockte?

Herr Ernst beendete den Unterricht eine Viertelstunde eher und wünschte allen ein fröhliches Weihnachtsfest. »Erholt euch gut, und denkt daran, dass wir gleich nach den Ferien die Klassenlektüre anfangen, also wer Zeit und Lust hat, kann sich gern über die Feiertage schon ein Werk überlegen.«

Lea drängelte Jola zur Seite und hakte sich bei Katie unter, als sie das Klassenzimmer verließen und in die Aula strömten.

»Englischlehrer sollten verboten werden«, tröstete sie Katie. »Und überhaupt ist das eine Gemeinheit, dir damit die Ferien zu versauen. Hallo? Weihnachten, Fest der Nächstenliebe und so?«

»Ach, ich hab grad echt andere Sorgen«, erzählte Katie und blieb vor der Betonsäule stehen. »Das Weihnachtsgeschenk für meine Mam ist immer noch nicht fertig, und ich weiß nicht, wie wir das noch schaffen sollen. Anna hat nie Zeit, immer ist irgendwas wichtiger.«

»Was macht ihr denn?«, wollte Sanne wissen.

Katie grinste nur geheimnisvoll. »Das könnt ihr euch bald selbst anschauen.«

An der Betonsäule klebten normalerweise Veranstaltungshinweise oder Spendenaufrufe, aber kurz vor Weihnachten hatte jemand all die Plakate entfernt. Alle bis auf eines, das Jola noch nie gesehen hatte. In großen schwarzen Blockbuchstaben stand da: »Wanted: Bassist!« Darunter tanzte das Schattenbild eines Menschen mit Saiteninstrument vor dem Bauch. »Du beherrschst mindestens ein Instrument im Schlaf? Hast vielleicht schon mal in einer Band gespielt? Dann komm zum Vorspielen! Wo: Ginsterhof, Steinbach.«

»Das liest doch heute sowieso keiner mehr«, sagte Katie und schüttelte den Kopf. »Mein Schwesterchen soll sich mal lieber um wichtigere Sachen kümmern.«

»Apropos wichtigere Sachen. Das wollte ich euch schon den ganzen Tag erzählen.« Lea blieb stehen und lehnte sich mit dem Rücken an die Säule. »Ihr wisst doch, dass ich mit Papa die Datenbanken durchsucht habe. Die über vermisste und gestohlene Pferde.«

Katie warf Jola einen schnellen Blick zu. »Ja … und? Sag bloß, ihr habt was gefunden.«

Nein, dachte Jola. Sie kann gar nichts über ihn finden, weil … weil er ein Geist ist und nicht mehr lebt. Aber das sagte sie lieber nicht laut.

Lea schüttelte grimmig den Kopf. »Nichts, nada, niente. Es gibt nicht ein Pferd, das auf die Beschreibung von eurem Ghost passt!« Sie sah Katie erwartungsvoll an. »Was ist? Du flippst gar nicht aus vor Begeisterung?«

Katie kaute auf ihrer Lippe herum und guckte wieder zu Jola. »Na ja, das … das habe ich mir schon gedacht. Also, dass ihr nichts findet.«

»Wir haben echt alle Kanäle angezapft, die uns eingefallen sind. Einmal bin ich sogar in Frankreich gelandet, auf so einem alten Bauernhof – aber das Pferd war viel jünger, das kann er unmöglich sein. Wie es aussieht, dürft ihr ihn wirklich behalten.«

»Und das heißt: reiten!« Sanne klatschte in die Hände. »So cool. Ich bin schon so gespannt, wie er sich anfühlt!«

»Stopp mal.« Katie runzelte die Stirn. »Du meinst, er gehört jetzt uns? So richtig?«

»Na ja, seit dieser Charly hat sich kein potenzieller Besitzer mehr gemeldet. Also könnt ihr davon ausgehen, dass ihr ihn behalten dürft. Schließlich habt ihr ihn gefunden.«

Katie grub die Hände in die Taschen ihrer Jeans. »Genau genommen hat Jola ihn gefunden.« Wieder schaute sie Jola an, unsicher, fragend. »Wisst ihr das nicht mehr? In der Nacht haben wir den Geist gehört, der im Stall …«

»Hör bloß auf mit deinen Gespenstergeschichten«, quiekte Sanne. »Im Winter ist das noch gruseliger, weil es so lange dunkel ist.«

»Bleibt doch mal ernst, Mädels.« Lea verdrehte die Augen. »Ob jetzt Jola ihn zuerst gesehen hat oder du oder ich, spielt keine Rolle. Er lebt seit Wochen auf eurem Hof, basta. Damit gehört er quasi schon zur Familie.«

»Aber kommt euch das nicht komisch vor? Diese Geräusche, die Jola gehört hat in dieser Nacht. Das Rascheln, das Schnaufen … das kam aus dem Nichts! Wie wenn … wenn plötzlich jemand … da ist, der vorher nicht da war.« Katie hob die Schultern und wurde sogar ein bisschen rot. »Kapiert ihr das?«

»Du meinst, dein Geist hat ihn angeschleppt?« Lea lachte laut auf. »Klar, ganz bestimmt. Ich sag dir was: Piepegal, wie das passiert ist! So ein Pferd, das würde jeder gern behalten. Freu dich doch einfach, dass ich nichts gefunden habe.«

»Außerdem gibt es keine Gespenster.« Sanne nieste und schaute hoch zur Uhr. »Leute, wir müssen zum Bus!«

Jola und Katie sahen sich an und Jola lächelte ganz leicht. Es war genau so, wie Katie vorausgesagt hatte: Lea und Sanne glaubten nicht an Geister. Ein warmes Gefühl durchflutete sie. Endlich gab es etwas, was sie mit Katie gemeinsam hatte. Ghost verband sie. Er und sein gespenstisches Geheimnis.

Als Jola sich umwandte, stieß sie beinah mit Jonas zusammen, der hinter Sanne an der Säule lehnte. Wie lange hing er da schon rum? Hatte er etwas mitbekommen von dem, was sie eben geredet hatten?

Jonas wurde rot, als sie ihn anstarrte. Aber dann grinste er nur, hob entschuldigend die Hände und schob sich an ihr vorbei zum Ausgang.

»Was war das denn?« Sanne schnaufte empört. »Rennt der uns jetzt nach?«

»Nee, nicht uns.« Lea kicherte. »Nur Jola.«

Jola fuhr herum. »Was? Blödsinn. Er sitzt doch die ganze Zeit neben mir.«

»Tja, das ist ihm eben nicht genug.« Lea stupste sie an. »So, wie er die ganze Zeit mit dir rumfrotzelt. Hast du das echt noch nicht geschnallt?«

Jola schüttelte den Kopf. »Das ist Quatsch, Lea. Der kann mich gar nicht leiden.«

»Wollen wir wetten?« Lea lachte, aber Jola schüttelte nur den Kopf und zog den Kragen ihrer Wolljacke bis oben hin zu. Es gab jetzt Wichtigeres als Jungs.

Wenn Ghost tatsächlich ein Geist war, dann hatte er eine Mission. Geister spukten schließlich nicht ohne Grund. Und in den Ferien würden sie endlich rausfinden, warum er auf den Ginsterhof zurückgekehrt war!

Sanne und Lea fuhren im Schulbus zum Ginsterhof mit. Helen war mit Katies Großvater zum Arzt gefahren, hatte aber einen ganzen Berg Pfannkuchen gebacken, der in der Küche auf sie wartete. Dazu gab es selbst gemachtes Quittengelee mit Vanilleschoten und jede Menge Puderzucker.

Zur Feier des ersten Ferientages wollten die Mädchen danach direkt in den Wald, Wettrennen reiten. Jola schüttelte den Kopf, als Katie ihr anbot, wieder Billy zu nehmen. Sie wollte gar nicht mit. Ihr Kopf war zu voll mit anderen Dingen, er würde platzen, wenn sie die ganze Zeit stumm nebenherreiten musste und nicht über ihren Plan reden konnte. Katie sah sie ein wenig seltsam an, sagte aber nichts. Bestimmt dachte sie, Jola hätte Schiss, wenn Lea und Sanne dabei waren. Was nur zu einem kleinen Teil stimmte.

Jola wartete, bis die drei schwatzenden und lachenden Mädchen im Wald verschwunden waren, und lief zur Koppel hinter dem Stall. Stefan lehnte am Zaun, neben ihm stand jemand mit blonden Zauselhaaren und schwarzer Motorradjacke – Niko.

»… bestimmt die beste Lösung. Damit alle wieder ruhig schlafen können.«

Jola trat an den Zaun und Nikos Kopf fuhr herum. Er grinste, so wie immer, als hätte er sie bei was Verbotenem ertappt. »Hier, Jola ist doch eh seine heimliche Freundin. Sie kann ja bei ihm einziehen.«

»Bei wem?«

»Unserem Stallgast.« Stefan deutete mit dem Kopf auf Ghost, der mitten auf der Wiese stand und die Ohren auf sie gerichtet hielt, als würde er jedes Wort verstehen. »Er darf jetzt in den Schuppen hinter meinem Lager einziehen. Der Traktor wird in den Unterstand umquartiert und so hat er ein schickes Apartment für den Winter.«

»Ihr seid dann quasi Nachbarn.« Niko warf die Longe zu Boden und stieg auf den Zaun. »Wand an Wand.«

»Stimmt nicht«, gab Jola zurück. »Dazwischen liegt die Wohnung von Katies Großvater.«

Ghost würde im Schuppen schlafen? So nah? Vielleicht brauchte sie dann gar nicht in den Stall zu schleichen. Konnte man sich mit einem Geist auch durch Wände verständigen?

»Hoffentlich gibt’s keinen Radau«, brummte Stefan. »Sonst müssen wir den am Ende auch noch umquartieren.«

»Der ist doch schwerhörig.« Niko grinste und stapfte über die Koppel auf Ghost zu.

Plötzlich kam Jola ein neuer Gedanke. Ob Stefan etwas bemerkt hatte? War ihm das Pferd etwa unheimlich geworden? Ghost verhielt sich absolut friedlich, die anderen waren es, die verrückt spielten. Sie wartete, bis Stefan gegangen war und Niko mit Ghost am Halfter zum Zaun zurückkehrte.

»Ist denn was passiert, dass er so plötzlich ausziehen muss?«

Niko drückte das Gatter auf und ließ Ghost einen kleinen Bogen laufen, damit er es wieder schließen konnte. »Keira hat sich letzte Nacht eine üble Schramme zugezogen, sie muss ewig gegen die Wand getreten haben. Die Pferde sind alle total unruhig im Stall.«

»Aber ihr könnt ihn doch nicht allein einsperren! In dem Schuppen ist es stockdunkel. Und gruselig.«

Niko lief mit Ghost zum Reitplatz hoch. »Also ehrlich. Er soll doch nur da schlafen.«

Jola musste joggen, um mit ihm Schritt zu halten. »Trotzdem darf er nicht allein bleiben.«

»Er kriegt natürlich Gesellschaft. Wahrscheinlich Clyde, der ist ziemlich umgänglich. Oder Billy. Ist ja nur für ein paar Wochen.«

Jola sah zum Himmel hinauf. Weiße Wolken zogen vor dem blassblauen Hintergrund entlang wie ein Schwarm verirrter Vögel. Die Luft war klar, aber klirrend kalt, und der frische Schnee knirschte unter ihren Schritten wie Klettverschluss. Niko legte Ghost den Kappzaum an und verschnallte einen Longiergurt auf seinem Rücken. Dann fädelte er Ausbinder ein, klinkte die Longe in die oberste Schnalle und begann, Ghost in weiten Bogen um sich herumlaufen zu lassen. Jola stellte sich so, dass sie den Waldweg im Blick hatte, den Katie und die anderen irgendwann wieder herunterkommen mussten. Das alte Pony Colorado, das hier Sonderrechte besaß und frei herumlaufen durfte, hatte seine Nase in den Schnee gebohrt und schreckte hoch, als Ghost plötzlich stoppte, den Kopf herumwarf und ein helles Wiehern ausstieß.

»Ruhig, Junge.« Niko nahm die Longe auf, aber Ghost blieb starr. »Hey, alles in Ordnung! Was siehst du, hm?«

Jola ließ ihren Blick kreisen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das war wieder einer dieser Momente, in denen der Hengst ihnen etwas mitteilte! Nur – was? Sie wirbelte herum. Von Katie und den anderen Mädels war noch nichts zu sehen. Nur Colorado stand dort und guckte fragend herüber. Irgendwo schlug eine Tür und sie hörte ferne Stimmen. Die Pferde auf der Waldkoppel scharrten in der Schneedecke oder dösten im Wind, nur Keira, Katies verrückte rote Stute, lief mit aufgestelltem Schweif herum und zuckte nervös mit den Ohren.

War sie es? Ging es um Keira? Hatte sein geheimnisvolles Auftauchen mit ihr zu tun? Wollte er Katie warnen, stimmte etwas nicht mit der Stute? Aber Ghost nahm keine Notiz von Keira oder einem von ihnen, er starrte zum Hof und wieherte so laut und durchdringend, dass Jolas Ohren klingelten.

»Okay, du kannst schreien.« Niko lotste ihn in die Mitte des Reitplatzes und strich ihm sacht über den Hals. »Aber solange wir kein Pferdisch sprechen, bringt dir dein Gebrüll nichts.«

Der Hengst tanzte ein Stück von ihm weg, aber Niko kannte das Spiel inzwischen. Beruhigend redete er auf Ghost ein, hielt die Longe fest umklammert und wartete, bis der Moment vorüber war. Jola biss sich auf die Lippe und beobachtete ihn genau. Die weißen Ohren klappten zur Seite, sein Kopf sank herab, und all seine Anspannung löste sich so plötzlich auf, als hätte man ihm ein Schlafmittel gespritzt.

»Können wir jetzt weitermachen? Bitte?« Niko schüttelte den Kopf und ließ das Halfter los. Er schnalzte mit der Zunge, und Ghost setzte sich wieder in Bewegung, aber nun waren seine Schritte nicht mehr flüssig und weich, sondern abgehackt und lustlos. Oder traurig?

»Gleich schläft er dir ein.« Helen trat an den Zaun und streckte die Hand aus. Niko beendete seine Lektion und ließ den Hengst zu ihr schlurfen. »Was ist passiert?«

»Das Übliche«, seufzte Niko. »Er wird plötzlich wild.«

Helen runzelte die Stirn. »Also ist es eine gute Idee, ihn von den anderen zu isolieren.«

Jola biss sich auf die Lippe. Ghost muss aber im Stall bleiben, wollte sie sagen – aber warum? Warum war sie sich da so sicher?

Weil er dort aufgetaucht war. Weil er schon viele Jahre dort hauste, viel länger als die meisten anderen Pferde sogar! Wie sollte sie Helen das bloß erklären?

Sie brachten Ghost zurück auf die Koppel, und Niko empfing zwei seiner Privatschülerinnen, die mit klappernden Zähnen am Stall lehnten und rot wurden, als er ihnen die Hand zur Begrüßung gab. Jola sah zu, wie Niko seine Show abzog und die beiden Haflingerstuten von der Waldkoppel holte, indem er sich ohne Sattel auf Taylors Rücken schwang und Miley vor sich hertrieb. Normalerweise hätte sie gern zugeguckt, aber die Reitstunde interessierte sie heute genauso wenig wie der Ausritt mit Katie. Sie wartete, bis Niko und die Mädchen im Durchgang in Richtung Stall verschwunden waren, dann stieg sie auf den Zaun und kletterte zu Ghost auf die Koppel.

Der Hengst prustete leise und reckte ihr den Hals entgegen, als sie zu ihm trat und die Hände unter seine lange Mähne schob. Sein weiches Fell war kurz und seidig und leuchtete wie Pulver schnee in der Sonne. Dagegen sahen die Ponys aus wie Merinoschafe.

»Ach, wenn du nur reden könntest«, flüsterte sie ihm zu. »Ich will dir so gern helfen, weißt du? Ich glaub nämlich an dich. Ich weiß, was du bist.«

Ghost ließ den Kopf auf ihren Rücken sinken und Jola hielt den Atem an. Es fühlte sich an, als würde er sie umarmen. Sie stand ganz still, um den Zauber nicht zu zerstören.

»Heute Nacht«, flüsterte sie in sein kaltes Fell. »Da probieren wir das mit dem Reden aus, okay? Hab keine Angst. Ich ruf schon keine bösen Geister zu uns.«

Im Haus war es still, nur das Feuer im Ofen knusperte leise vor sich hin. Jola lief in den Anbau und zog das Spielbrett unter ihrer Schlafcouch hervor. Eine Weile starrte sie nur darauf, so lang, bis ihre Augen flimmerten. Sollte sie es mit Katie ausprobieren? Oder lieber allein? Was, wenn sie damit unabsichtlich einen Geist rief, der nur ihr gehörte, ihr allein? Wollte sie den teilen?

Ihr Blick flog durch den Raum, in dem überall ihre Sachen verstreut lagen und der sich dennoch anfühlte wie ein Gästezimmer. Von ihrer Mutter war nichts hier, nicht mal ein Foto. Wieso sollte sie ausgerechnet hierherkommen? Das machte keinen Sinn. Geister kehrten an den Ort zurück, an dem sie gelebt hatten, so war es doch, oder? Sie hatten eine Mission. Eine unerfüllte Aufgabe, etwas, was sie zu diesem Ort zurückzog. Nach Hause.

»Ohne Scheiß«, sagte Jola laut in die Stille, »das ist gruselig.« Sie stellte die Schachtel ab und ließ sie langsam wieder unter die Schlafcouch gleiten.

Im Haupthaus lief sie fast Anna in die Arme, die wie immer Stöpsel in den Ohren hatte und einen Korb mit frisch gewaschener Wäsche schleppte.

»Ist Katie schon zurück?«, fragte sie sie.

Anna zuckte mit den Schultern. »Nicht gesehen. Aber du kannst ihr ausrichten, dass ich drüben im Probenraum auf sie warte.«

Jola biss sich auf die Lippe. Na prima! Das Weihnachtsgeschenk für Helen, das fertig werden musste. Also brauchte sie gar nicht auf Katie zu warten. Enttäuscht drehte sie sich um und wollte schon zurückgehen, aber Anna rief: »Hey!«, und als Jola sich noch mal umwandte, flog ihr ein weißes Kuscheltier entgegen. Sie riss instinktiv die Arme hoch und fing es aus der Luft.

»Kannst du ihr geben, wenn du sie siehst.«

Anna zog mit der Wäsche ab, aber Jola blieb stehen und starrte auf das Kuscheltier in ihren Händen. Ein schlafendes weißes Pferd, die Augen geschlossen, den Mund zu einem verträumten Lächeln verzogen. Ein feiner Duft nach Weichspüler stieg von ihm auf und es fühlte sich filzig und abgegriffen an. Platt geliebt. Sie hatte das Pferd schon öfter gesehen, normalerweise schlief es auf Katies Kopfkissen. Ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit wahrscheinlich. Aber sie hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht, was es bedeutete.

Ein weißes Pferd. Natürlich.

Sie hob es an und drückte es sacht an ihre Brust. Es fühlte sich warm und kuschelig an, so als ob es einen wunderbar in den Schlaf trösten konnte. Sollte sie es mitnehmen und Katie später bringen? Nein, bestimmt war das Pferd wichtig für sie. Und auch … persönlich. Besser, sie brachte es gleich hoch in Katies Zimmer.