Woodwalkers (4). Fremde Wildnis - Katja Brandis - E-Book
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Woodwalkers (4). Fremde Wildnis E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Ein Traum wird wahr! Carag, Holly, Brandon und Co reisen zu einem Schüleraustausch nach Costa Rica. Doch hier warten nicht nur liebenswerte Brüllaffen, geheimnisvolle Schnappschildkröten und turbulente Regenwaldausflüge auf die Schüler der Clearwater High. Von Jaguarwandler King erfahren sie, dass der gefährliche Andrew Milling auch in Mittelamerika sein Unwesen treibt. Was plant Carags Widersacher nur und warum ist er ihm immer einen Schritt voraus? Für den Pumajungen steht fest: Er muss handeln, ehe die Gefahr unaufhaltsam wird.

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Seitenzahl: 323

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Katja Brandis

Woodwalkers

Fremde Wildnis

Zeichnungen von Claudia Carls

 

Bücher von Katja Brandis im Arena Verlag: Woodwalkers. Carags Verwandlung Woodwalkers. Gefährliche Freundschaft Woodwalkers. Hollys Geheimnis

 

 

 

 

 

Katja Brandis, Jahrgang 1970, hat Amerikanistik, Anglistik und Germanistik studiert und als Journalistin gearbeitet. Schon in der Schule liehen sich viele Mitschüler ihre Manuskripte aus, wenn sie neuen Lesestoff brauchten. Inzwischen hat sie zahlreiche Romane für Jugendliche veröffentlicht, zum Beispiel Gepardensommer, Floaters – Im Sog des Meeres oder Ruf derTiefe. Bei der Recherche für Woodwalkers im Yellowstone- Nationalpark lernte sie eine Menge Bisons persönlich kennen, stolperte beinahe über einen schlafenden Elch und durfte einen jungen Schwarzbären mit der Flasche füttern. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen, von denen eine ein bisschen wie ein Puma aussieht, in der Nähe von München. www.katja-brandis.de

 

Für Jonathan

1. Auflage 2018 © Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München) Cover und Illustrationen: Claudia Carls ISBN 978-3-401-80757-7

Besuche uns unter: www.arena-verlag.dewww.twitter.com/arenaverlagwww.facebook.com/arenaverlagfans

Inhaltsverzeichnis

Panik

Achtung, Verwandlung!

Unerwarteter Besuch

Erste Überraschung

Zweite Überraschung

Überzeugungskraft

Ahnungslos

Nervenflattern

Der Geruch des Fliegens

La Chamba

Spinnenliebe

Geheimbesprechung

Tumult im Regenwald

Das Grauen hat einen Namen

Freund oder Feind?

Immer diese Reptilien

Wer übers Wasser laufen kann

Die Wette

Schuld und Strafe

Eine Entscheidung und ein Kampf

Carag live

Liebesalarm

Tovis Freundin

Ein fellsträubender Plan

Katzenaugen

Krise

In der Stille der Nacht

Held

Rache und Kaffee

Kamikaze

Jäger und Beute

Scherben

Vermisst

Bad Taste

Mini-Wörterbuch Spanisch

Danksagung

Mein Feind Andrew Milling wird immer stärker und jetzt unterstützt ihn auch noch dieser hinterhältige Tripel-Wandler. Nicht gut! Lieber denke ich daran, wie schön es war, endlich meine Puma-Familie wiederzutreffen. Aber wird sich mein Vater jemals damit abfinden, dass ich die Menschen mag? Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir – er und ich – ihnen früher mal richtig Ärger gemacht haben …

Panik

Meine Eltern hatten mich immer gewarnt, dass in der Wildnis nur der überlebt, der stark, schnell und wachsam ist. Aber damals war ich noch viel jünger als jetzt und oft genug nicht sehr vorsichtig. Als ich eine Maus durch den sonnigen Kiefernwald verfolgte, raste das Blut heiß durch meine Adern und ich sah nichts mehr außer diesem kleinen braunen Vieh, das direkt vor mir zwischen abgefallenen trockenen Ästen, Gras und Kiefernzapfen davonhuschte. Prankenschlag, Sprung, gleich hatte ich es, mein erstes selbst gefangenes Frühstück!

Carag, pass auf! Keine Bewegung!

Mein Vater brüllte es so laut in meinen Kopf, dass ich verdutzt stehen blieb.

Ich wollte mich umwenden, ihm einen fragenden Blick zuwerfen, aber zum Glück tat ich es nicht.

Es gab noch jemanden, der es auf die Maus abgesehen hatte. Jetzt erst, während mein Jagdfieber verebbte, bemerkte ich das Rasseln und sah den braun-gelblich gemusterten Körper der Klapperschlange keine Pfotenlänge von mir entfernt. Hätte Xamber mich nicht gewarnt, wäre ich voll in sie hineingelaufen.

Es war ein Männchen und es hielt den Kopf gereizt erhoben, während die Hornringe an seiner Schwanzspitze drohend vibrierten. Sein Reptiliengeruch stieg mir in die Nase, so nah war er, so furchtbar nah. Würde ich jetzt sterben? Würde das sehr wehtun?

Beweg dich nicht!, wiederholte mein Vater und ich konnte seine Angst um mich in seinen Gedanken spüren. Dann zieht sie vielleicht ab.

Doch die Klapperschlange hatte anderes im Sinn. Sie hatte anscheinend entschieden, dass ich ihr feindlich gesinnt war, obwohl ich in Wirklichkeit nur eins wollte – weg hier! Halb gelähmt vor Entsetzen sah ich, wie sich ihr muskulöser Körper zusammenzog, wie sie sich bereit machte, zuzustoßen.

Auch mein Vater hatte das wohl gesehen. Schnell, zurück!, schnauzte er mich an, und dann stieß er sich vom Boden ab. Eben noch war sein geschmeidiger zimtfarbener Körper ein ganzes Stück von mir entfernt gewesen, doch nun kam er neben mir auf und holte im gleichen Moment mit einer Vorderpranke aus. Während ich zurücksprang, schleuderte sein Schlag die Klapperschlange von mir fort. Wütend wand sie sich, während ihr langer Körper einen Bogen in der Luft beschrieb. Mit einem Knistern landete sie in einem Wacholdergebüsch und wir zogen uns vorsichtig zurück.

Danke, sagte ich zittrig zu meinem Vater und konnte kaum begreifen, dass wir beide noch lebten. Sie hat dich nicht gebissen, oder?

Nein, alles in Ordnung. Xamber beugte sich zu mir herunter, um mir über den Kopf zu schlecken, und einen Moment lang schmiegte ich mich an ihn und fühlte mich wunderbar geborgen bei ihm.

Du hast diese Schlange nicht bemerkt, weil du …, begann er streng. Ich ließ Ohren und Tasthaare hängen, weil jetzt bestimmt die Standpauke kam, die ich verdient hatte. Doch mein Vater sprach nicht weiter, stattdessen schrak er zusammen, wandte den Kopf und duckte sich. Na wunderbar. Diesmal haben wir beide nicht aufgepasst!

Erst begriff ich nicht, was er meinte, doch dann fingen meine Ohren ferne Hufschläge und den Klang von Stimmen auf. Ich spürte, wie mein Fell sich sträubte. Weil wir durch die Klapperschlange abgelenkt gewesen waren, hatten wir verpasst, dass Eindringlinge in der Nähe waren! Es gab einen Pfad, der durch unser Revier führte und auf dem hin und wieder Menschen auf Pferden vorbeikamen. Als ganz kleines Kätzchen hatte ich gedacht, jeder Reiter sei ein einziges Wesen, das eben vier Beine und zwei Arme hatte, wieso sollte es so etwas nicht geben? Aber so blöd war ich längst nicht mehr.

Ich glaube, es sind sechs oder sieben Leute – nichts wie weg!, flüsterte mein Vater mir zu und begann, sich geduckt und mit unendlicher Vorsicht durchs Unterholz vorzuarbeiten. Seine Pranken verursachten kein Geräusch auf dem trockenen, warmen Sandboden.

Ich wusste, dass es ihm zuwider war, wenn Menschen ihn bemerkten – noch nie war er in seiner Pumagestalt von ihnen gesehen worden. Ein paarmal hatte ich schon versucht, ihn darüber auszuhorchen, ob ihm das mal in seiner Menschengestalt passiert war. Doch darüber redete er ungefähr so gerne, wie er sich auf einem Stachelschwein wälzte.

Instinktiv änderten wir die Richtung, damit der Wind unsere Witterung von uns forttrug … nur leider waren wir damit arg spät dran. Die Pferde hatten uns bemerkt, ich hörte, wie mehrere von ihnen ängstlich schnaubten und scheuten. Hoffentlich gab das keinen Ärger! Ein kleiner aufgeregter Schauer durchrann mich. Nicht nur Schlangen, auch Menschen waren beängstigend, doch immerhin bissen sie nicht.

Neugierig reckte ich den Hals, um einen Blick auf die Leute und ihre Pferde zu erhaschen, und mein Vater warf mir einen missbilligenden Seitenblick zu.

»Ganz ruhig, Shanti«, hörte ich einen der Menschen sagen, eine junge Frau. Sie saß sehr aufrecht im Sattel und hielt die Lederdinger, die zum Maul ihres Pferdes führten, stramm. Wahrscheinlich, um ihre tänzelnde, nervös mit den Augen rollende braune Stute unter Kontrolle zu halten.

»Ben, was ist los? Sind hier Wölfe in der Nähe?«, rief ein anderer aus der Gruppe. Das Fell seines Pferdes hatte die Farbe fünf Tage alten Schnees.

»Kann sein – oder ein Berglöwe, vielleicht auch ein Grizzly.« Ein bärtiger Mann auf einem dunkelbraunen Pferd hielt Ausschau, aber ich war sicher, dass er uns nicht entdecken würde. Und das war auch gut so, er trug nämlich eine gebogene Holzstange – einen Bogen, wie mir mein Vater mal erklärt hatte – und einen Behälter mit Pfeilen auf dem Rücken. Brauchte er die für die Jagd? Das verstand ich, denn mit diesen lächerlich kleinen Menschenzähnen konnte man keine Beute reißen.

Komm schon – du benimmst dich, als wären deine Pfoten am Boden festgefroren!, beschwerte sich mein Vater.

Ja, gut, gab ich gehorsam zurück und wandte mich um. Immerhin hatte er mir vorhin das Leben gerettet, da konnte ich kaum protestieren, wenn er mich herumkommandierte.

Doch ein schrilles Wiehern und ein Schrei ließen mich zögern – die Stute der jungen Frau hatte sich aufgebäumt, nun preschte sie los! Ziellos, in Panik, galoppierte sie einen sehr schmalen Trampelpfad entlang, den normalerweise Wapitis benutzten und der voller Wurzeln war. Eulendreck, das sah gefährlich aus! Als die Stute über eine dieser Wurzeln stolperte, konnte die Reiterin sich nicht mehr festhalten, sie stürzte aus dem Sattel und blieb stöhnend auf dem Boden liegen.

O nein, das ist unsere Schuld! In meinem Magen wühlte ein dumpfes, dunkles Gefühl. Wir müssen den Leuten helfen!

Guter Witz, wie sollen wir das denn anstellen?, fragte mein Vater, er klang beunruhigt. Ich spürte, dass auch er nicht gewollt hatte, dass so etwas geschah. Wenn wir uns nähern, drehen auch die anderen Pferde durch.

Doch ich hatte schon eine Idee. Der jungen Frau konnte ich nicht helfen, da hatte mein Vater recht, aber wenn ich schnell war, konnte ich vielleicht wenigstens verhindern, dass sich die Stute auf diesem Pfad ein Bein brach.

Ohne Zögern jagte ich los, in langen, weiten Sprüngen. Ich wusste, dass der Waldpfad einen Bogen beschrieb, und wollte versuchen, die Stute abzufangen und zu den Leuten zurückzutreiben. Wenn sie mich bemerkte, würde sie sicher umkehren. Oder war ihr alles egal vor lauter Angst?

Mir wurde mulmig zumute, als ich merkte, dass jemand mich gesehen hatte, und zwar ausgerechnet der Mann mit dem Schießwerkzeug. Er rief etwas und ließ sein Pferd angaloppieren – dachte er etwa, ich wollte diesen ängstlichen Vierbeiner fressen? Aber ich doch nicht, ich wusste nicht mal, wie Pferd schmeckte!

Noch während des Reitens spannte der Kerl seinen Bogen, ein Sonnenstrahl glänzte auf der metallenen Spitze des Pfeils. Bei diesem Anblick war mir einen Moment lang nach Umkehren zumute, aber nur kurz. Ich musste in Ordnung bringen, was wir angerichtet hatten! Und wenn ich weiter Tempo machte, konnte ich es schaffen, der braunen Stute den Weg abzuschneiden. Zum Glück sah ich den bewaffneten Reiter bald nicht mehr.

Pferde sind scheußlich schnell und ich war außer Atem, als ich endlich die richtige Stelle erreicht hatte. Als die Stute mich als große Raubkatze auf dem Pfad kauern sah, blieb sie zitternd stehen, alle vier Hufe gegen den Boden gestemmt. Dann rannte sie mit fliegender Mähne zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Dort können ihre Leute sie einfangen, dachte ich zufrieden.

Bevor ich ins Unterholz davongleiten konnte, sah ich mich dem bewaffneten Reiter gegenüber. Wo war der plötzlich hergekommen? Beim großen Gewitter, der kannte die Gegend auch und hatte den gleichen Weg genommen wie ich, um die Stute abzufangen!

Einen endlosen Moment lang blickten wir uns in die Augen, während die Pfeilspitze auf mein Herz zielte. Ich bewegte keinen Muskel und hörte mein noch unverletztes Herz klopfen. Würde der bärtige Mann mich erschießen? Würde er so wie die Klapperschlange denken, dass ich ihn angreifen wollte? Hoffentlich versuchte mein Vater jetzt nicht, mich zu verteidigen, er durfte diesen Menschen nicht töten! Schon beim Gedanken daran entwich mir ein Fauchen. O nein, ich hatte gefaucht, er würde glauben, dass ich ihm feindlich gesinnt war!

»Ben? Alles in Ordnung?«, brüllte jemand aus der Entfernung.

»Es ist ein Puma, ein junges Männchen, glaube ich!«, rief der bärtige Mann zurück und ließ den Bogen ein wenig sinken. »Noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, scheint mir. Besser, ihr bleibt zurück, ich versuche, ihn zu vertreiben.«

Wie bitte? Natürlich waren meine Ohren trocken, schließlich hatte es nicht geregnet!

Und mich zu vertreiben, war ja wohl unnötig, ich wollte sowieso weg!

Beleidigt wandte ich mich um und zeigte dem Mann mein Hinterteil. Dann rannte ich davon, so schnell meine Pfoten mich trugen.

Auf dem Weg zurück zu meinem Vater hörte ich ein seltsames, knatterndes Geräusch, das immer näher kam. Kurz darauf war ich es, der in Panik geriet. Über mich schwebte eine Art Riesenlibelle hinweg, die einen unglaublichen Krach machte!

Was ist das? Ist das gefährlich? Fauchend, mit angelegten Ohren, suchte ich nach einem Fluchtweg und grub meine Krallen in den Boden.

Nein, in diesem Fall nicht, das ist ein Hubschrauber, der die Frau abholt, entgegnete mein Vater und drängte mich in Deckung, sodass wir von oben nicht zu sehen waren. Sie hat sich anscheinend das Bein gebrochen.

Wieder drückten mir diese Schuldgefühle die Kehle zu. Das wollte ich nicht!

Weiß ich – mach dir keine Gedanken, Menschen sind sowieso hinterhältig und gemein. Mein Vater klang grimmig. Aus so einem Hubschrauber heraus hat schon einmal jemand versucht, mich zu verletzen, vielleicht sogar zu töten. Obwohl ich ihnen nichts getan hatte, ich war einfach nur auf der Jagd.

Betroffen blickte ich ihn an, nicht ganz sicher, ob ich ihm glauben sollte. Dieser Mann eben … er hatte nicht vorgehabt, mir etwas anzutun. Im Grunde war er freundlich gewesen. Aber vielleicht waren manche Menschen anders.

Wir konnten nicht fliehen, ohne dass sie uns entdeckten, deshalb versteckten wir uns unter einem Felsüberhang, bis die vielen Leute hoffentlich bald verschwunden waren. Das schreckliche Hubschrauberknattern schien kein Ende zu nehmen und ich war noch immer völlig durcheinander von all dem, was geschehen war. Hör zu, ich erzähle dir eine Geschichte, sagte mein Vater. Er lag dicht neben mir und wärmte mich mit seinem Körper, um mich zu beruhigen. Du wolltest doch immer wissen, ob mich schon mal ein Mensch in meiner anderen Gestalt gesehen hat, oder?

Ja, klar, gab ich zurück und blickte mich nervös um.

Es war weiter im Nordwesten, im Revier meiner Familie, erzählte Xamber. Ich hatte ein Gerücht gehört, dass ein Stück entfernt eine Puma-Wandlerin leben sollte, und ich wollte sie unbedingt kennenlernen. Also machte ich mich auf den Weg dorthin.

Diese Wandlerin, das war Mama, oder? Er hatte geschafft, mich neugierig zu machen. Ganz langsam glättete sich mein gesträubtes Fell.

Genau. Mir war klar, dass sie mich sicher auch mal alsMensch sehen wollte, nur war ich außer Übung, was den Gestaltenwechsel anging. Also verwandelte ich mich auf dem Weg zu ihr immer wieder, ein Mal davon am Flussufer. Weil ich sowieso gerade da war, versuchte ich, mit den Händen einen Fisch zu fangen.

Und dann?, fragte ich gespannt.

Mein Vater rollte mit den Augen, was in seiner Pumagestalt witzig aussah. Dann kam leider ein Schlauchboot mit einer Horde Menschen vorbei. Wahrscheinlich, weil ich kein Stoffzeug anhatte, fingen sie alle an zu glotzen und zu rufen und mit dem Finger auf mich zu zeigen. Es war furchtbar!

O je! Richtig lachen konnte ich in meiner Pumagestalt leider nicht, nur amüsiert schnaufen.

Und stell dir vor, deine Mutter war schon in der Gegend, sie hatte aus dem Weidengebüsch heraus alles gesehen! Sie fand es sehr lustig und anscheinend gefiel ich ihr genauso gut wie sie mir. Mein Vater wirkte ein bisschen verlegen. Einen Sommer später wurde Mia geboren, dann kamst du.

Draußen wurde das Knattern leiser. Die Riesenlibelle verschwand und nahm die verletzte junge Frau mit sich. Irgendwann war auch die Witterung der Pferde verschwunden.

Im Schutz der Dämmerung kehrten Xamber und ich zurück zu Mia und meiner Mutter.

Heute kenne ich die Menschen besser als damals, aber ich habe immer noch keine Ahnung, ob sie gut oder böse sind. Irgendwie beides. Auch Woodwalker sind ja nicht nur nett, zum Beispiel ein gewisser Pumawandler, der – wie ich seit Neuestem wusste – einen schwarzen Hubschrauber in seiner Flotte hatte.

Immerhin hatte ich mir zusammengereimt, warum damals jemand aus der Luft auf meinen Vater geschossen haben könnte. Ich vermute, er war außerhalb des Nationalparks und hatte sich auf seiner Jagd einer Farm genähert. Noch immer war es erlaubt, Pumas zu schießen, wenn sie Siedlungen oder Farmtiere bedrohen. Genau das, wogegen Andrew Milling kämpfte.

Eigentlich hätte ich ihn gerne dabei unterstützt. Aber ich konnte nicht akzeptieren, dass er gleichzeitig Rache suchte und den Menschen schaden wollte, in welcher Weise auch immer! Würde er noch einmal versuchen, mich zu töten, weil ich seinen Plänen im Weg stand?

Woran denkst du?, fragte meine beste Freundin Holly, als wir uns in unserem Baumhaus entspannten. Sie steckte den Kopf halb in eins meiner pelzigen Ohren. Wow, guter Hall hier drin!

An meinen Vater habe ich gedacht, und übrigens, das kitzelt. Ich schüttelte den Kopf, um sie wegzuschleudern. Früher hatte das manchmal geklappt, doch inzwischen hatte sie dazugelernt und klammerte sich mit den Pfötchen fest. Aua! Und was machte sie jetzt, steckte sie etwa den Kopf noch tiefer in mein Ohr?

Hast du schon gewusst, dass du Ohrenschmalz hast?, fragte sie fasziniert.

Ja, wusste ich, du Terrorhörnchen! Ich grub die Krallen in die Planken der Baumhaus-Plattform.

Kommen deine Eltern eigentlich zum Besuchstag?, fragte Brandon mich und scharrte mit den Hufen. Er hatte den Versuch vorerst aufgegeben, der Wiese irgendetwas Schmackhaftes abzugewinnen. Stattdessen rammte er den Kopf gegen den schweren, sandgefüllten Ledersack, den wir am Rand der Wiese für ihn aufgehängt hatten.

Er meinte meine richtigen Eltern, nicht meine Pflegefamilie. Beim Gedanken daran, wie mein Vater auf mein neues Leben reagiert hatte, krampfte sich mein Herz zusammen. Ich glaube nicht, dass sie kommen werden. Sie finden es nur mäßig toll, dass ich auf die Clearwater High gehe.

Aber meine werden auftauchen, verkündete Brandon.

Holly ließ mein Ohr los. Ich hörte auf, die Planken mit den Krallen zu bearbeiten. Dann starrten wir beide verblüfft unseren Freund an. Brandons Eltern hatten nach dem Motto »Was sollen denn die Nachbarn denken!« bisher standhaft verdrängt, dass sie Wandler waren, weil sie ihre klobige Bison-Zweitgestalt scheußlich fanden. Und jetzt kamen sie zum Elternbesuchstag! Na, das konnte interessant werden.

Zu welchem Termin kommen sie, zu dem für die Eingeweihten oder dem für die Ahnungslosen?, fragte ich gespannt. Die meisten Eltern wussten Bescheid, aber die andern ahnten nicht, dass es Woodwalker gab oder was es mit der Clearwater High auf sich hatte. Und das sollte auch so bleiben.

Ein Seufzen in meinem Kopf. Eigentlich wollten sie zu dem Termin für die Ahnungslosen kommen, aber Miss Clearwater hat sie überredet, bei den anderen Woodwalker-Eltern dabei zu sein.

Oh, fiel mir dazu nur ein. Meinst du, sie verwandeln sich bei dieser Gelegenheit mal?

Never ever! Doppelt so heftig wie sonst rammte Brandon den gehörnten Schädel gegen seinen Boxsack. Die Douglasfichte, an dem wir ihn befestigt hatten, erzitterte.

Meine neuen Eltern wollen auch vorbeischauen, sagte Holly selig. Gerade erst hatte ein nettes Ehepaar namens Silver sie adoptiert, seither bekam sie regelmäßig Fresspakete und machte Ausflüge an den Wochenenden, die sogar Jeffrey, dem Möchtegern-Chef des Wolfsrudels, ein neidisches Winseln entlocken würden. Nein, kein Besuch in einer Würstchenfabrik, aber zum Beispiel eine Schneemobil-Tour und Klettern in den Grand Tetons.

Natürlich habe ich ihnen nur das Datum gesagt, an dem die Ahnunglosen dran sind, fuhr Holly fort und zerzauste gut gelaunt mein Nackenfell. Sie dürfen nicht wissen, was wir sind, also benehmt euch gefälligst, wenn sie da sind, klar?

Versteht sich von selbst, entgegnete Brandon würdevoll, senkte den Kopf und nahm wieder Anlauf, um es seinem Boxsack richtig zu zeigen.

Ich seufzte. Na klar, das mache ich aus eigenem Interesse – meine Pflegefamilie hat sich auch angesagt.

Holly senkte die Gedankenstimme zu einem dramatischen Flüstern. Habt ihr übrigens gehört, dass Lissa Clearwater am Elternbesuchstag etwas ganz Besonderes verkünden will? Eine Überraschung?

Nein, was denn?, fragte ich und bekam eine Kopfnuss mit einer winzigen rotbraunen Pfote. Wenn wir das wüssten, wäre es doch keine Überraschung, du Pelzwurst!

Lass das, du Horrorhörnchen!, beschwerte ich mich, und diesmal schaffte ich es mit einer schnellen Bewegung, sie von meinem Kopf zu befördern und unter meiner Pranke zu fangen. Während sie draufloszeterte, schnupperte ich sie ganz in Ruhe ab. Du riechst soo lecker, hat dir das schon mal jemand gesagt?

Dann schleckte ich sie mit meiner langen, feuchten Pumazunge einmal von oben bis unten ab. Punkt für mich, würde ich sagen.

Achtung, Verwandlung!

Ihr wisst, was ihr zu tun habt?« Lissa Clearwater blickte mich forschend an.

»Ja, bekommen wir schon hin«, antwortete ich und fummelte an meinem brandneuen schwarzen Sweatshirt mit dem hellgrün-weißen Schullogo herum, damit es auch richtig saß. Hatte ich es tatsächlich geschafft, beim Frühstück Eigelb daraufzukleckern?

»Na dann, viel Spaß euch beiden!«, meinte unsere Schulleiterin, nickte uns aufmunternd zu und ging zurück ins Schulgebäude.

Euch beiden … das bezog sich auf das Mädchen, das neben mir stand und so wie ich die Aufgabe hatte, die eingeweihten Eltern zu begrüßen und ihre Fragen zu beantworten. Nicht irgendein Mädchen, ich war ausgerechnet mit Lou eingeteilt. Lou Ellwood, das schönste Wapiti-Mädchen der Welt, Lou mit den langen dunklen Haaren und den klugen, heiteren Augen. Ein bisschen schüchtern lächelte sie mich an, dann hielt sie wieder Ausschau nach den ersten Besuchern. Wir hatten jede Menge für sie vorbereitet, die ganze Woche lang hatten wir geprobt und an der Dekoration gearbeitet.

Ich genoss das Gefühl, als blonder Junge mit grüngoldenen Augen neben Lou zu stehen, und beobachtete neugierig, wie nach und nach mehrere Autos auf dem Rasenplatz neben der Schule parkten. Die aussteigenden Eltern sahen trügerisch wie normale Menschen aus, nur ihre Bewegungen wirkten weicher, geschmeidiger. Andere Besucher hatten auf Verkehrsmittel verzichtet – ein Otter galoppierte auf seinen kurzen Beinen über die Wiese neben der Schule, aus dem Wald schwebten zielstrebig zwei Elstern heran und ein Pärchen Weißwedelhirsche stakste unbekümmert zwischen den eintreffenden Menschen umher, die Platten und Schüsseln fürs Büfett trugen.

Lou und ich tauschten noch einen schnellen, fröhlichen Blick, dann setzten wir unser Begrüßungslächeln auf. »Herzlich willkommen an der Clearwater High!«, wiederholten wir wieder und wieder, während Woodwalker aller Größen und Gestalten an uns vorbeiströmten. »Dort vorne ist der Plan, in welchem Raum welche Aktionen stattfinden, die nächste Schau der Fliegerstaffel findet um 15 Uhr statt …«

Oh, das ist aber nett, dass ihr uns begrüßt! Der Otter richtete sich vor mir auf die Hinterbeine auf, seine munteren blanken Augen betrachteten mich. Könnt ihr mir sagen, wo mein Sohn Frankie sich gerade herumtreibt?

Ah, das war also Frankies alleinerziehende Mutter! Ich zog eine Liste aus meiner hinteren Jeanstasche. Er ist gerade bei seinem Snake-River-Modell im Klassenraum 8, gab ich zur Auskunft. Später ist er am Büfett eingeteilt und bietet bestimmt allen seine berühmten Lachsröllchen an.

Mein Rezept!, erwiderte die Otterdame stolz, stupste mir dankend mit der Nase ans Bein und lief durch die offen stehenden Eingangstüren nach drinnen.

Gespannt hielt ich Ausschau nach Brandons Eltern, aber ich sah niemanden, der vom Aussehen und der Witterung her gepasst hätte.

Lou quiekte auf und taumelte erschrocken zurück, als etwas von oben auf ihr landete. Bevor ich ganz begriffen hatte, was ich tat, war ich schon mit teilverwandeltem Gebiss an ihrer Seite. Lou machte mir hektische Zeichen, schnellstens etwas an meinen Zähnen zu ändern, dann verrenkte sie sich fast den Hals, als sie versuchte, den beiden Opossums zuzulächeln, die ihr auf dem Kopf und einer Schulter hockten. Herzlich willkommen, ihr seid bestimmt die Eltern von Cookie. Nur hereinspaziert!

Hallihallo! Habt ihr zufällig ein paar Klamotten für uns? Falls wir uns verwandeln wollen, während wir hier sind? Eins der Opossums, das auf ihrem Kopf, schaute ihr von oben vergnügt in die Augen.

Aber natürlich, Sie bekommen Leih-Kleidung bei Mrs Parker in der Bibliothek, gab Lou freundlich Auskunft, während ich mit heißem und wahrscheinlich knallrotem Kopf dafür sorgte, dass meine Fangzähne wieder verschwanden.

»Wolltest du mich verteidigen? Sehr lieb von dir, aber das musst du wirklich nicht«, flüsterte Lou mir zu, während sie weiteren Gästen zulächelte.

Eine große, stämmige, nicht sonderlich hübsche Frau, die ihre schlichte Kleidung mit einem Seidentuch und einer Edelsteinbrosche geschmückt hatte, kam leicht hinkend auf uns zu. Vielleicht eine Bärin, überlegte ich, doch dann rief Lou ihr entgegen: »Mama! Hallo, hier bin ich!«

Verblüfft glotzte ich die Frau an. Das war die Mutter des schönsten Wapiti-Mädchens der Welt? Mir fiel ein, dass sie dieses Hinken einem Berglöwen-Angriff verdankte, und mein Magen sackte in die Tiefe.

Mrs Ellwood winkte ihrer Tochter fröhlich zu … doch dann schien sie zu spüren, wer oder was ich war, und das Lächeln rutschte ihr aus dem Gesicht. Auch Lou wirkte etwas verkrampft, als sie sagte: »Mama, das ist Carag aus meiner Klasse. Er ist echt nett.«

Echt nett? Das ging mir runter wie das feinste Filetsteak.

»Ah ja«, sagte Lous Mutter steif und musterte mich von oben bis unten. Das war wohl der erste und einzige Moment, in dem ein Berglöwe gerne vor einem Wapiti geflüchtet wäre. Obwohl – ihrem Mann, unserem Verwandlungslehrer, wäre ich auch oft gerne aus dem Weg gegangen.

»Schön, dich kennenzulernen«, fuhr Mrs Ellwood fort, doch sie konnte nicht sehr gut lügen. Ich war froh, als sie weiterging und ich die anderen Gäste begrüßen konnte. Hoffentlich kam bald unsere Ablösung! Aus meinem Begrüßungslächeln war inzwischen eine Grimasse nach der Art geworden, über die ich mich zu Anfang in Menschenzeitschriften gewundert hatte. Aber Anna, meine Pflegemutter, hatte mir erklärt, dass diese Promis auf den Bildern nicht wirklich angriffslustig die Zähne fletschten.

Ein schwarzhaariges Ehepaar, das eine lederne, mit Perlen bestickte Stammestracht und dazu Baseballmützen und Trekkingstiefel trug, baute sich vor mir auf. Der Mann war etwas kleiner als ich, aber solide und muskulös gebaut, er wirkte ernst und würdevoll. »Bist du Carag?«, fragte er mich und ich nickte etwas überrumpelt. Wer war das und woher kannten sie mich?

»Edwin und Merana Blue Cloud«, stellte der Mann sich und seine Frau vor, und als ich den Anhänger mit dem Wolfspfoten-Abdruck um seinen Hals sah, wusste ich Bescheid. Der Mann fuhr fort: »Tikaani hat schon viel von dir erzählt.«

»Im Ernst?«, fragte ich verblüfft und in den schwarzen Augen von Tikaanis Mutter schimmerte ein verschmitzter Funke. »O ja – erst nichts Gutes, du hättest sie mal schimpfen hören sollen. Aber inzwischen …«

»Mama!« Jemand war neben mir aufgetaucht. Tikaani, die pünktlich vor Ort war, um uns an der Tür abzulösen. Ich hatte sie vorher noch nie rot werden sehen, aber jetzt war es so weit. Haha, ich hatte nicht mal gewusst, dass sie das konnte.

»Alles gut, Schatz – wir schauen uns einfach mal um«, sagte ihr Vater gut gelaunt. »Bis später.« Dann schlenderten die beiden Wolfs-Wandler ins Innere der Schule.

»Sag mal, was genau hast du ihnen über mich erzählt?«, fragte ich Tikaani und Lou spitzte neugierig die Ohren. Aber die weiße Wölfin warf uns nur einen ihrer gewohnten finsteren Blicke zu und sagte: »Habt ihr Nell gesehen? Die ist mit mir hier eingeteilt. Mäuse haben einfach kein Zeitgefühl!«

»Haben sie wohl«, sagte Nell spitz, als sie sich zu unserer Gruppe gesellte.

Lou und ich überließen sie ihrer Arbeit und schauten uns noch einen Moment lang die Flugvorführung an – wir hatten mehrere Greifvogel-Wandler an der Schule, außerdem eine Elster und die beiden Rabenzwillinge.

»Wow, das sieht gefährlich aus«, meinte Lou, als unsere Mitschüler nach dem Formationsflug auch ein paar Luftkämpfe und waghalsige Sturzflüge zeigten.

»Ach, das haben die doch die ganze Woche geübt«, meinte ich, während ein Falke, ein Adler und eine Eule bei einer inszenierten Verfolgungsjagd dicht über das Publikum hinwegjagten. Dann verabschiedete ich mich von Lou und drängte mich durch das Wandler-Gewimmel im Schulgebäude in Richtung Kampfraum, dort war ich bald für die Vorführungen eingeplant.

Heute war wirklich unglaublich viel los in der Clearwater High! Vom Büfett wehten mir Düfte von Frikadellen, Käseplätzchen, Pizza und … uäh! … Gemüsekuchen entgegen. In jedem Klassenraum waren Stationen aufgebaut worden und in der Aula lief ein kurzes Theaterstück, in dem Jeffreys Rudel und Viola das Märchen vom Wolf und den kleinen Geißlein aufführten, eingeübt von unserer Kunst- und Sei-dein-Tier-Lehrerin Mrs Parker. Nur waren diesmal die Rollen vertauscht, weil wir an der Schule nur eine Ziegen-Wandlerin hatten und dafür ziemlich viele Wölfe. Aber als Geschichte von der bösen Ziege und den drei kleinen Wölfchen war das Stück sowieso viel lustiger und unser Jungwolf Miro war superstolz darauf, dass er mitspielen durfte.

Nur Jeffrey – in seiner Zweitgestalt als dunkelgrauer Timberwolf – wirkte nicht ganz glücklich mit seiner Rolle. Er trug ein Lätzchen um den Hals und Söckchen an den Pfoten.

»Bravo, der reinste Filmstar!«, rief ich ihm am Schluss zu und klatschte begeistert. Jeffrey zog die Lefzen hoch und knurrte. Doch nicht das war es, was mir einen Schauer über den Rücken jagte. Sondern sein kalter Blick und der Gedanke, dass Jeffrey ein Spion von Andrew Milling in dieser Schule war. Alles, was ich hier tat, meldete er garantiert weiter, und wer wusste, wie Jeffreys Leute Milling noch unterstützen würden? Zwar hatte Miss Clearwater ein ernsthaftes Wörtchen mit den Wölfen geredet, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es etwas geholfen hatte.

Im Innenhof hatte Mr Bridger seine Verhalten-in-besonderen-Fällen-Station, bei der Holly als Helferin eingeteilt war. Hier wurde viel gelacht, denn Mr Bridger hatte ein lehrreiches Rollenspiel vorbereitet: Jeweils ein Woodwalker-Elternteil spielte ein wildes Tier und ein paar andere Leute, darunter Holly, gaben die nervigen Yellowstone-Touristen. »Ich geh noch näher ran, dann wird mein Foto besser!«, rief Holly gerade und näherte sich Leroys Skunk-Vater mit gezückter Kamera.

»Hallo, du kleines Stinketierchen, magst du was fressen?« Unser Katzen-Wandler Dorian tat, als versuche er, Leroys Vater mit Chips zu füttern. Doch der schaffte es, die Nerven zu bewahren und sich richtig zu verhalten, nämlich für ein einzelnes Foto zu posieren und sich dann langsam zurückzuziehen.

Noch zehn Minuten, bis ich mich für meine Vorführung umziehen musste. Genug Zeit, mich weiter umzuschauen. In Klassenraum 3 konnten sich Eltern von Mr Ellwood Nachhilfe in Verwandlung geben lassen. Mehrere Woodwalker hatten das Angebot angenommen und übten fleißig. Von der geöffneten Tür aus schaute ich einen Moment lang zu. Gerade mühte sich Bertas rundlicher Vater, in seine zweite Gestalt zu gelangen, aber der Erfolg war bisher nur, dass er zu seinem menschlichen Oberkörper einen braunen, pelzigen Grizzly-Hintern vorweisen konnte.

»Hm, ob ich so noch auf ein Klo draufpasse?«, brummte Bertas Vater skeptisch.

»Keine Panik.« Mit Anfängern war Mr Ellwood – wie so oft im makellos gebügelten braunen Anzug – immer sehr geduldig. »Konzentrieren Sie sich auf das Kribbeln, das Sie spüren, wenn Sie an Ihre Bärengestalt denken. Sie spüren es doch, oder?«

»Ja, äh, aber ich dachte, das sind vielleicht Flöhe.« Bertas Vater kratzte sich verstohlen an einem Teil seines Körpers, den normalerweise die Hose verbarg.

»Entschuldigung?« Plötzlich stand ein fremdes Ehepaar neben mir in der Tür: die Frau im Kleid und mit hochhackigen Schuhen, das lockige braune Haar perfekt frisiert, der breitschultrige Mann mit Jackett und Schlips. Sie wirkten, als würden sie sich unwohl fühlen. »Wir suchen Brandon Herschel … haben Sie ihn zufällig gesehen?«

Brandons Eltern! Neugierig musterte ich sie von der Seite. Brandon hatte mir erzählt, dass sein Vater Anwalt war und seine Mutter einen Beauty-Salon führte. Nein, man sah ihnen den Bison überhaupt nicht an. Aber ich spürte, dass sie Woodwalker waren, und zwar beide. Wie schade, dass sie das nicht wahrhaben wollten!

»Nur herein, nur herein«, sagte Mr Ellwood freundlich. »Hier bekommen Sie Unterstützung bei der Verwandlung.«

Die Herschels blickten drein, als hätte er ihnen zum Frühstück einen Teller lebender Kakerlaken angeboten. »Ach nein, vielen Dank, aber wir müssen weiter, wir …«

Eulendreck! Wenn sie schon hier waren, dann sollten sie sich auch mal verwandeln – vielleicht brachten sie dann mehr Verständnis für ihren Sohn auf!

Ich tat so, als würde ich stolpern, und sagte »Oh, sorry!«, während ich gleichzeitig mit einem kleinen Schubs von hinten nachhalf. Schon waren sie drin im Klassenzimmer und Mr Ellwood winkte sie näher, während er in seinem Materialschrank kramte. »Moment … ah, hier habe ich es! Gründlich hinschauen, als wollten Sie darin eintauchen, ja?« Ellwood hielt ihnen ein Bison-Bild vor die Nase.

Der Effekt ließ nicht lange auf sich warten – Knack! machte es, als zwei hochhackige Schuhe unter Hufen abknickten, Peng!, als eine wollige Flanke eine Schautafel aus dem Weg rammte.

Bitte achten Sie darauf, wo Sie hintreten!, hörte ich eine Stimme aus der Richtung des Fußbodens und zwei Spinnen liefen hastig einen Arbeitstisch hoch. Ah, auch Juanitas Verwandtschaft war angereist.

O nein, so passe ich doch nie im Leben in meine Tennisklamotten!, jammerte Brandons Mutter und schaute mit großen braunen Büffelaugen an ihrem nun eher kräftigen als eleganten Körper herab.

»Ich fürchte, das ist richtig, meine Liebe«, versicherte ihr Gatte und befühlte mit beunruhigtem Gesichtsausdruck die beiden Hörner, die ihm aus dem Menschenkopf gesprossen waren. Dann warf er Isidore Ellwood einen Blick zu, der Blumen auf der Stelle verdorrt hätte. »Sie da – wie machen wir das wieder rückgängig?«

»Schließen Sie die Augen und spüren Sie noch einen Moment Ihre zweite Gestalt!«, erwiderte Ellwood ungerührt und malte ein Diagramm der einzelnen Verwandlungsschritte an die Tafel. »Schließlich ist sie ein wichtiger Teil von Ihnen.«

Fühlt sich doch gut an, so stark zu sein, oder? Bertas Vater hatte nun auch geschafft, seinen Oberkörper zu verwandeln. Er wühlte mit der Schnauze im Mülleimer, fischte eine Blechdose heraus und zerdrückte sie mühelos zwischen den Grizzly-Pranken. Das müssten meine Kumpels in Fairbanks mal sehen, der Hammer!

Brandons Vater schien seine Begeisterung nicht zu teilen. Er schnaubte wütend, sein Menschenfuß im braunen Lederschuh scharrte über den Boden des Klassenzimmers und sein Zeigefinger zielte auf Mr Ellwood. »Sie! Wenn Sie meiner Frau nicht sofort helfen, sich zurückzuverwandeln, verklage ich Sie wegen unterlassener …«

O je, war dieser Schubs vorhin ein Riesenfehler gewesen?

Manchmal hilft einem der Zufall. Auf dem Flur ging jemand mit gerösteten Maiskolben und frischem Klee für das Pflanzenfresser-Büfett entlang. Von einem Moment auf den anderen schien Mr Herschel zu vergessen, dass er eben noch jemanden hatte verklagen wollen. »Na ja, also gut. Komm, meine Liebe, holen wir uns erst mal etwas zu essen«, sagte er zu seiner Frau, hob ihre Kleidung vom Fußboden auf und legte sie sich über den Arm. »Und vielleicht einen Kaffee.«

Unter leisem Gedankengejammer, dass sie viel lieber Quellwasser hätte und übrigens ihre Fingernägel ganz sicher ruiniert wären, trottete sie hinter ihm her. Zum Glück waren die Türen in der Clearwater High doppelt so breit wie in normalen Schulen.

Als mir kurz darauf Brandon begegnete und er fragte: »Sag mal, hast du meine Eltern schon entdeckt?«, konnte ich ihm zur Auskunft geben: »Ja, eben hatten sie die Nase tief in einem Korb mit Bergwiesen-Heu.«

»Sie haben sich verwandelt?« Ein hoffnungsvolles Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Mist, und ich hab’s verpasst!«

»Vielleicht sind sie noch in zweiter Gestalt, allerdings sah es nicht so aus, als hätten sie Lust, längere Zeit so zu bleiben«, meinte ich, und mit einem schnellen Abschiedsgruß rannte er los, um sie zu suchen.

Meine Eltern waren nirgendwo in Sicht. Klar, das hatte ich mir schon gedacht, aber enttäuscht war ich trotzdem. Was stellst du dich so an, immerhin kommen Anna und Melody übermorgen zum Besuchstag für Ahnungslose, redete ich mir gut zu. Doch viel half es nicht, in meinem Bauch ballte sich ein Knoten der Traurigkeit.

Natürlich war auch Miros Rudel nicht erschienen, obwohl unser Kampflehrer Bill Brighteye es riskiert hatte, ihnen in seiner Wolfsgestalt eine Einladung zu überbringen. Zum Glück war Miro, der von Cliff betreut wurde, viel zu aufgeregt, um niedergeschlagen zu sein. In den Pausen zwischen den Theateraufführungen lief er schwanzwedelnd und Besucher abschnüffelnd hierhin und dorthin. O Carag, das ist so toll, schwärmte er mit glänzenden Augen. Ich wusste gar nicht, dass es so viele Woodwalker gibt!

So viele sind es gar nicht, diese hier kommen aus ganz Amerika, erklärte ich ihm. Nells Großeltern zum Beispiel sind extra aus New York angereist, das ist eine große Stadt weit entfernt im Osten. Ihre Eltern mussten leider arbeiten.

»Meine auch – tja, die Firma geht immer vor«, sagte Betawolf Cliff knapp, er wirkte traurig. Wie es aussah, hatte auch seine Verwandtschaft auf einen Besuch der Clearwater High verzichtet.

Die Menschen sagten manchmal, dass Liebe durch den Magen geht. Falls das stimmte, galt es für Trost garantiert auch. Also steuerten Miro, Cliff und ich das Büfett an, wo unter dem Schild Fellwertkost unter anderem ein Stapel meiner geräucherten Lieblingswürstchen aufgetürmt war. Der ideale Snack, um mich für meine Vorführung zu stärken. In fünf Minuten musste ich mich auf den Weg zu unserem Kampfraum machen und probehalber spannte ich meine Muskeln an. Ich würde gegen Theo antreten, Puma gegen Elch, und es war kein Ergebnis abgesprochen. Bitte, bitte keine Blamage vor all diesen Gästen!

Doch bei den Würstchen kam ich nicht an. Auf halbem Weg zu den Fressalien sah ich etwas Unerwartetes … und blieb stehen, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

Nein, das konnte nicht sein.

Das glaubte ich einfach nicht!

Unerwarteter Besuch

Dort vorne in der Eingangshalle, ein Stück vom Büfett entfernt, schlich sich ein Puma durch das Gedrängel von Menschen und Tieren! Im ersten Moment erschrak ich furchtbar, und es fühlte sich fast an, als würden mir Ameisen das Rückgrat hinunterlaufen. Milling? Wollte er endlich mit mir quitt werden, jetzt, hier, vor all diesen Leuten?

Dann endlich erkannte ich den Puma und eine heiße Welle der Freude durchflutete mich. Ich beschleunigte meine Schritte und ließ Miro und Cliff hinter mir. Schob Leute und Tiere beiseite, mir war alles egal.

»Mia!«, rief ich und dann warf ich die Arme um den Hals der jungen Pumadame, die ich so gut kannte. Unwillkürlich wechselte ich zur Gedankensprache. Was machst du denn hier? Wie bist du überhaupt hergekommen?

Wie schon, per Pfote natürlich, erwiderte meine ältere Schwester und schnupperte höchst interessiert an unserem Kaninchen-Wandler Nimble, der sich gerade neben uns in menschlicher Gestalt einen Teller Rohkost und einen Karottensaft holte. Nimble warf Mia einen kurzen Blick zu, dann machte er, dass er wegkam.

Aber … wie lange hast du denn gebraucht?, fragte ich sie, knuddelte sie noch ein bisschen und küsste sie auf den Kopf.

Drei Tage, sagte Mia. Kein Problem. Aber jetzt habe ich Hunger. Gibt’s hier auch Steaks, du weißt schon, diese Dinger aus dem Supermarkt damals?

Ja, bestimmt. Fahrig, völlig durcheinander vor Freude, suchte ich das Büfett ab und lud Würstchen, Frikadellen und ein rohes Steak auf einen Teller. Es ist so schön, dass du da bist!

Ach, ich dachte mir, wenigstens einer aus der Familie sollte zu diesem Besuchstag kommen und sich deine komische Schule mal anschauen, sagte Mia und krallte sich mit einem präzisen Prankenschlag das Steak vom Teller herunter. Ganz hübsch, euer Haus. Was lernst du hier so?

Sie ist nicht komisch, wiederholte ich zum gefühlt tausendsten Mal und ging rasch im Geist durch, was ich ihr zeigen konnte. Wir könnten mal im Klassenraum 1 vorbeigehen, da haben wir mit Miss Calloway eine Menschenkunde-Station aufgebaut, oder wir …

Mr Bridger kam vorbei, um Mia zu begrüßen. »Na, wie geht’s daheim?«, fragte er sie freundlich.

Mia zögerte mit der Antwort. Nicht so gut, mein Vater kann immer noch nicht jagen – er hat so eine Wunde am Bein, die nicht heilt, erzählte sie schließlich. Da hat ihn ein Wolf gebissen.

»Stimmt, davon hat Carag erzählt.« Mr Bridger verzog das Gesicht.

Ich holte tief Luft. »Wenn ich das nächste Mal bei meinen Eltern bin, werde ich ihn überreden, dass er sich von mir in ein Menschenkrankenhaus bringen lässt.«

Mein Lieblingslehrer seufzte tief. »Du hast diese Idee immer noch nicht aufgegeben?«

Was ist ein Krankenhaus?, fragte Mia fasziniert.

»Da schneiden sie Leute auf, holen die Krankheit raus und nähen sie wieder zu«, informierte ich sie. Ich hatte das mal bei den Ralstons im Fernsehen gesehen.

Aber das ist nur für Menschen, oder?, fragte Mia unsicher.