WorldRunner (1). Die Jäger - Thomas Thiemeyer - E-Book
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WorldRunner (1). Die Jäger E-Book

Thomas Thiemeyer

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Beschreibung

Sie nennen sich Runner und spielen vor laufender Kamera das gefährlichste Spiel der Welt. Im Grenzbereich zwischen Gesetz und Kriminalität treten einhundert Jugendliche an, um sich in einem Kampf um Rätsel, Schätze und verborgene Orte zu messen und zu inszenieren … Es ist ein Rennen gegen die Zeit, bei dem der größte Gegner die eigene Furcht ist. Überall lauern Gefahren. Eine einzige falsche Entscheidung und das Spiel ist verloren. Vielleicht sogar das eigene Leben. Doch das Risiko schreckt sie nicht, denn auf sie wartet ein Preis, der größer ist als alles, wovon sie zu träumen gewagt haben. Tim ist einer von ihnen. Ein Runner aus Leidenschaft, bereit über Grenzen zu gehen. Als er eines Tages einen Brief von GlobalGames erhält, zögert er keine Sekunde, die Challenge anzunehmen. Sieben Caches wurden an sieben Orten versteckt. 100 Jugendliche jagen ihnen nach. Einer gegen den anderen. Doch Tim merkt bald, dass er es nicht alleine schaffen kann. In der faszinierenden Annika, genannt Sakura, findet er eine Verbündete. Doch kann er ihr wirklich trauen? Oder rennt am Ende doch jeder für sich allein? Wer ist bereit am Weitesten zu gehen, um am Ende den größten Cache der Welt zu finden? Lies die ganze Dilogie: WorldRunner (1). Die Jäger WorldRunner (2). Die Gejagten

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Thomas ThiemeyerWorldRunnerDie Jäger

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Liebe/r Leser/in,

alle in diesem Buch beschriebenen Orte existieren wirklich und können offiziell besichtigt werden. Allerdings nicht auf die Weise, wie es die Personen in diesem Roman tun. Bitte halte dich immer an die Warnhinweise. Autor und Verlag distanzieren sich ausdrücklich von allen Zuwiderhandlungen und übernehmen keine Haftung für eventuelle Unfälle oder Beschädigungen.

Für nähere Informationen wende dich bitte an die zuständigen Eigentümer oder Behörden.

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Evolution. Die Stadt der Überlebenden

Evolution. Der Turm der Gefangenen

Evolution. Die Quelle des Lebens

Thomas Thiemeyer,

geboren 1963, studierte Geologie und Geografie, ehe er sich selbstständig machte und eine Laufbahn als Autor und Illustrator einschlug. Mit seinen preisgekrönten Wissenschaftsthrillern und Jugendbuchzyklen, die mittlerweile in dreizehn Sprachen übersetzt wurden, ist er eine feste Größe in der deutschen Unterhaltungsliteratur. Seine Geschichten stehen in der Tradition klassischer Abenteuerromane und handeln des Öfteren von der Entdeckung versunkener Kulturen und der Bedrohung durch mysteriöse Mächte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Stuttgart.

www.thiemeyer.de

www.thiemeyer-lesen.de

Ein Verlag in der westermann GRUPPE

1. Auflage 2020

© 2020 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Text: Thomas Thiemeyer

Cover und Illustrationen: Jann Kerntke

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

E-Book ISBN 978-3-401-80884-0

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

»Wissen ist ein Schatz, der dich überallhin begleitet.«

Chinesisches Sprichwort

»Im Spiel verraten wir, wes Geistes Kind wir sind.«

Ovid, 43 v. Chr. bis 17 n. Chr., römischer Dichter

»A straight line is not always the easiest path.«

Mortimer Hansen, Gründer und CEOvon GlobalGames-Incorporated

50° 56′ 29.09″ N 6° 57′ 56.495″ E

1

Das Ziel war fünf Meter entfernt. Eine kleine gelbe Box, gut versteckt hinter einem dicken Stahlträger. Ein rotes Licht blinkte beständig an seiner Seite. Das Zeichen, dass der Mechanismus aktiv war und darauf wartete, geöffnet zu werden.

Fünf Meter. Es hätte genauso gut das Ende der Welt sein können.

Von oben betrachtet, war die Box unsichtbar. Man musste runterklettern, um sie zu entdecken. Ein geniales Versteck. Schwierigkeitsgrad zehn. Gelegt von Sakura. Natürlich.

Warum dieser Claim »Nimm Zwei« hieß, war Tim nicht klar. Vermutlich weil die Box gelb war und den Bonbons eines bekannten Süßwarenherstellers ähnelte. Seltsam war es trotzdem.

Tim versuchte, ruhig zu atmen, und blickte auf die Uhr. Noch vier Minuten. Vier lausige Minuten, dann würde sich das Zeitfenster schließen und der Claim wäre für die nächsten vierundzwanzig Stunden verriegelt. So lange wollte er nicht warten. Er konnte nicht.

Eine knappe halbe Stunde hatten er und Farid gebraucht, um den Weg hierher zu finden und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Drei Tage Vorbereitungszeit hatte sie das gekostet. Jetzt wollten die Freunde die Sache zum Abschluss bringen.

Tim blickte hinunter.

Zehn Meter unter ihnen rauschte das Wasser des Rheins vorbei. Pechschwarz und gluckernd, schlug es gegen die Fundamente des Brückenpfeilers. Ein durchdringender Teergeruch stieg Tim in die Nase. Ringsherum waren Lichter angegangen, die Abenddämmerung setzte ein. Die Außenbeleuchtung des Museums Ludwig ließ die Oberfläche des Rheins glänzen wie Öl. Vielleicht war es auch Öl. Abgelassen von einem der vielen Lastschiffe, die in regelmäßigen Abständen unter ihnen hindurchfuhren. Momentan war keins zu sehen, aber das konnte sich jederzeit ändern. Ein weiterer Grund, aufs Tempo zu drücken.

»Also ich würde es lassen, viel zu riskant.« Farids Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Für einen Moment hatte Tim seinen Freund ganz vergessen. »Hm? Was hast du gesagt?«

»Na, das hier«, sagte Farid. »Wahnsinn, wenn du mich fragst. Und streng verboten obendrein. An der Stelle hätte es Arrow35 letzte Woche fast erwischt. Ist mit der Hand von der Strebe abgerutscht und wäre beinahe abgestürzt. Hat nicht viel gefehlt.«

Farid hockte zwischen zwei Eisenstangen, die schwarzen Haare wild nach allen Seiten abstehend. Seine Haut glänzte rötlich im Abendlicht. Er war sichtlich außer Atem. Mehr noch als die Anstrengung stand ihm Panik ins Gesicht geschrieben.

»Arrow ist ein Idiot, ich habe mir das Video angesehen«, sagte Tim. »Er hätte Kletterhandschuhe anziehen sollen, dann wäre ihm der Stunt vielleicht geglückt. Tja, sein Pech ist mein Glück.«

Hoffentlich, dachte er. Im Film wirkte das alles anders als in der Realität. Die Szene hatte sich in seine Erinnerung gebrannt. Wie Arrow an einer Hand über dem Abgrund baumelte und versuchte, Halt zu finden. Das war schon krass. Irgendwann hatte er es endlich geschafft und war zurück zum Pfeiler gehangelt. Zitternd wie Espenlaub hatte er am Ende des Films dagehockt und geheult wie ein Kleinkind.

Konnte Tim auch passieren. Er musste vorsichtig sein. Immerhin hatte sich Arrows Stunt gelohnt. Es war ihm zwar nicht gelungen, den Claim zu bergen, die Aktion hatte ihm aber zehntausend Klicks gebracht. Und Klicks bedeuteten bares Geld. Mit jedem einzelnen stieg die Chance auf einen Sponsor.

Tim presste die Lippen zusammen. »Nimm Zwei« war immer noch aktiv und blinkte still vor sich hin.

»Lass es sein, bitte.« Farids Stimme bekam etwas Flehendes. »Sieh dir die Scheiße doch mal an. Du müsstest nur wie ein Affe von Stahlstrebe zu Stahlstrebe hangeln. Und die sind mindestens einen halben Meter auseinander.«

»Achtzig Zentimeter, schätze ich.«

»Sag ich ja. Viel zu weit. Das schafft kein Mensch.«

»Sie hat es geschafft. Sie hat den Claim gesetzt. Und was ein Mädchen schafft, kriegen wir doch wohl auch hin.«

»Woher willst du wissen, dass Sakura ein Mädchen ist? Hinter dem Nickname könnte sich jeder verstecken.«

Tim wiegte den Kopf. »Ich habe mir die Videos mehrfach angesehen. Ich bin mir ziemlich sicher. Abgesehen davon, welcher Junge würde sich freiwillig Kirschblüte nennen?«

»Auch wieder wahr«, grummelte Farid. »Wir haben noch zwei Minuten. Gehst du jetzt da rüber oder nicht? Ich wär ja für nicht.«

Ein Donnern ertönte. Die Brücke zitterte wie bei einem Erdbeben. Tauben flatterten hoch. Ein weiterer Zug donnerte über ihren Köpfen hinweg. Einer von tausend, die täglich über die Hohenzollernbrücke fuhren.

Der kühle Wind strich über Tims glühendes Gesicht. Sein Entschluss stand fest. Er zog das Mundtuch hoch und die Kapuze über den Kopf. »Lass die Kamera laufen«, sagte er.

»O Gott, du willst es wirklich tun. Du …«

Tim ignorierte Farid und schaltete den Musikplayer ein. Er nickte grimmig. Zurzeit fuhr er voll auf die Achtziger ab. Bands wie The Police, Blondie, Depeche Mode und The Cure.

Tim konnte nichts mit den aktuellen Charts anfangen. Die Musik früher war einfach besser.

Er sprang vor bis zum dritten Stück und drückte auf Play. Walking on the Moon war genau der richtige Soundtrack für diesen Stunt.

Er visierte sein Ziel, hakte seine Finger in den Stahlträger und schwang ein bisschen hin und her. Kräftetechnisch kein Problem. Er war ein geübter Kletterer, der aus dem Stand zwanzig Klimmzüge schaffte. Allerdings war das Metall mit einem Schmierfilm aus Fett, Staub und Taubenkot überzogen, was seine Aufgabe erschwerte. Vermutlich war Arrow deswegen abgerutscht. Tim durfte nicht zu schnell vorgehen. Erst mit den Fingern den Untergrund prüfen, dann hangeln. Meter für Meter.

Allen Mut zusammennehmend, tat er den Schritt ins Nichts.

Die Spannung in seinen Armen nahm zu. Seine Finger krallten sich wie Haken ins Metall. Hing er an beiden Händen, war das Gewicht gut verteilt. Rutschte er mit einer Hand ab, war da immer noch die zweite, die ihn vor dem Sturz bewahrte. Die schwierigsten Momente waren die, in denen er hinüber zum nächsten Querträger schwang. Nicht nur, weil sich der Körper dann in einer Schaukelbewegung befand, sondern, weil Tim für einen Moment loslassen und mit der anderen Hand hinübergreifen musste.

Er dachte an Sakura und fragte sich, wie Farid nur so blind sein konnte. Man musste kein Spezialist sein, um zu erkennen, dass sie ein Mädchen war. Ihre Proportionen waren im Overall gut zu erkennen. Außerdem bildete Tim sich ein, zwischen Baseballmütze und Gesichtstuch eine rotbraune Locke entdeckt zu haben. Wie alle Runner tat Sakura alles, um anonym zu bleiben. Wichtig war ohnehin nur, dass sie hier gewesen war. Sie hatte an den Stahlträgern gehangen, genau an dieser Stelle.

Der Gedanke spornte ihn an. Sakura war nicht irgendeine Spielerin, sie war eine Göttin. Mutig, sportlich und verdammt clever. Und sein Vorbild. Vermutlich stammte sie auch aus Köln oder aus der Umgebung. Wie hätte sie sonst den Claim hier anbringen können? Wenn es einen Runner gab, den Tim wirklich bewunderte, dann war sie es. Und er würde sie nicht enttäuschen. Den Blick fest auf die Box gerichtet, arbeitete er sich weiter voran.

Der Song war fast zu Ende, als Tim an eine Stelle geriet, an der sein Handschuh abrutschte. Vielleicht war hier früher mal ein Nest gewesen, jedenfalls war der Kot frisch und schmierig. Tim hätte es erkennen müssen, wenn er seinen Blick weniger nach vorne und stattdessen mehr nach oben gerichtet hätte. Zum Glück hatte die andere Hand festen Halt.

Angewidert von der Schmiere verzog er das Gesicht. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Kehle war staubtrocken. Er räusperte sich und spuckte aus. Der Speichel flog und flog – der Abstand zum Wasser unter Tim schien dabei immer größer, die Schwärze des Flusses unter ihm immer bedrohlicher zu werden.

Reiß dich zusammen, dachte er. Nur noch zwei Meter. Gleich hast du’s geschafft. Denk an Sakura.

Er biss die Zähne zusammen, spannte seine Muskeln und atmete tief durch. Seitlich ausweichend, hangelte er um die schlüpfrige Stelle herum, suchte einen neuen Ankerpunkt und schwang vorwärts. Diesmal hatte er die richtige Entscheidung getroffen. Der Stahl war an dieser Stelle trocken und griffig.

Ging doch. Noch zwei Querträger.

Wie ein Roboter arbeitete er sich voran. Maß nehmen, vorwärtsschwingen, umgreifen. Perfekt.

Tim kniff die Augen zusammen. »Nimm Zwei« lag jetzt direkt vor ihm. Das stetige Blinken schien sich mit seinem Herzschlag zu synchronisieren. Noch war die Zeit nicht abgelaufen, der Mechanismus war weiterhin aktiv. Tim schwang vor und zurück, während er die Box ins Visier nahm. Sie klemmte in der Kreuzung zwischen zwei Trägern. Vermutlich war sie dort mit Magneten befestigt. Er wollte sich hochziehen, um den Auslöser zu bedienen, als er ein Detail bemerkte, das ihm aus der Ferne verborgen geblieben war. Da war ein Schloss. Ein Zahlenschloss. Winzig zwar, aber wirkungsvoll. Es versperrte den Zugriff.

Mist.

Fassungslos blickte Tim auf die Viererkombination, die im Moment auf 0-0-0-0 stand. In der Beschreibung hatte nichts davon gestanden. Eine vierstellige Zahl. Eine unendlich große Menge an Kombinationen.

Das war ein schlechter Scherz, oder? Wie sollte er jetzt auf die Schnelle die Kombination herausfinden?

Entsetzt über die unerwartete Wendung, hätte er um ein Haar den kleinen Zettel übersehen, der rechts neben dem Zahlenschloss klemmte. Er zupfte ihn raus und las die Worte, die da standen.

Was dachtest du, warum dieser Claim»Nimm Zwei« heißt? Nomen est omen. Jetzthast du was zum Kombinieren. Good luck, S.

Tim konnte es nicht fassen. »Nimm Zwei« bedeutete also, dass man das Rätsel erst im zweiten Durchlauf lösen konnte.

Die Erkenntnis raubte Tim alle Energie. Während er noch auf das Zahlenschloss starrte, verlosch das Licht über seinem Kopf. Die Box hatte sich geschlossen. Das Spiel war aus, vorbei. Die ganze Mühe, der ganze Aufwand, umsonst. Und er hing hier wie eine überreife Kokosnuss.

Hilfe suchend blickte er über seine Schulter zu Farid. Sein Freund filmte mit seinem Handy und beobachtete ihn dabei fragend. Er rief ihm etwas zu, das Tim über die Musik hinweg aber nicht verstehen konnte. Seine Arme fühlten sich an wie Gummi. Die Finger in den Handschuhen wurden rutschig vom Schweiß. Er musste zurück, und zwar schnell.

Vorsichtig griff er um, machte eine Hundertachtzig-Grad-Drehung und wollte gerade nach vorne schwingen, als etwas aus einer dunklen Ecke neben der Box herausgeflattert kam und über seinen Arm kratzte. Tim erschrak dermaßen, dass er ins Leere griff.

Eine Taube, schoss es ihm durch den Kopf, dann fiel er.

Er wollte schreien, doch sein Hals war wie zugeschnürt. Wind brauste ihm um die Ohren. Dann klatschte er mit den Füßen voraus ins Wasser.

Kalt war es, dunkel und hart wie ein Brett. Der Rhein presste ihm die Luft aus den Lungen. Das Letzte, was Tim sah, ehe die dunklen Fluten über seinem Kopf zusammenschlugen, war Farid, der immer noch das Handy auf ihn gerichtet hielt und alles filmte.

2

Die halbe Stunde nach dem Klingeln des Weckers war für Tim reine Routine. Duschen, Zähne putzen, frühstücken.

Wie an jedem normalen Wochentag half er seiner kleinen Schwester Emily beim Anziehen und Packen und schickte sie zur Schule. Danach hatte er noch ein paar Minuten für sich. Sein Dad war zu diesem Zeitpunkt meistens schon fort. Er arbeitete in einem Architekturbüro und kam erst abends zurück. Auf dem Klo blätterte Tim noch in einem Comic, dann verließ er die Wohnung und radelte los.

In der Metzgerei an der Ecke wurde das Mittagessen vorbereitet. Ein verführerischer Duft wehte auf die Straße und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Verglichen mit dem, was er täglich in der Schulkantine vorgesetzt bekam, war Meister Müllers Mittagstisch ein Drei-Sterne-Essen.

Beim Bäcker nebenan traten sich die Leute auf die Füße. Viele wollten sich auf dem Weg zur Arbeit noch rasch etwas zu essen holen und verstopften mit ihren Autos Straße und Bürgersteig. Tim fuhr in halsbrecherischem Slalom an ihnen vorbei, trat ordentlich in die Pedale und schaffte es, die ganze Strecke in unter zehn Minuten zurückzulegen. Das war ein neuer Rekord und gut so, denn wie immer war er spät dran.

Sein Gymnasium lag am Inneren Grüngürtel, einer Parkanlage, die dem ehemaligen Festungsring der Stadt folgte und sie in einen inneren und äußeren Bezirk unterteilte. Links ragte der Fernsehturm in die Höhe, rechts kam zuerst der Aachener Weiher, dahinter die Universität.

Tim war zwar nur ein mittelmäßiger Schüler, aber er mochte den Weg zur Schule. Die Fahrt durch die Grünanlagen verschaffte ihm jeden Tag die Möglichkeit, im Park schon am Morgen den einen oder anderen guten Fund zu machen. Die Bäume, Denkmäler und Spielplätze erinnerten ihn daran, dass es überall Geheimnisse gab, die man entschlüsseln konnte. Verborgene Botschaften, Claims und Rätsel. Wenn man das einmal begriffen hatte, sah man die Welt mit anderen Augen. Vor allem jetzt, wenn die Tage endlos waren und die Luft erfüllt mit dem Vorgeschmack auf den Sommer.

Der Gedanke an die bevorstehenden Ferien machte Tim wehmütig. Viele seiner Freude würden wegfahren. Nur die wenigsten blieben den Sommer über zu Hause. Sechs lange Wochen und kaum jemand da, mit dem man etwas unternehmen konnte.

Er stellte sein Fahrrad ab und eilte auf den Haupteingang zu.

Farid wartete bereits auf ihn.

»Na, Alter«, begrüßte er ihn mit breitem Grinsen. »Alles gut überstanden? Keinen Ärger gekriegt?«

»Um den zu kriegen, müsste ja erst mal jemand zu Hause sein«, sagte Tim. »Aber Dad war nicht da. Emily hat sich natürlich gewundert. Hat angefangen, Fragen zu stellen. Ich hab ihr erzählt, ich wäre beim Ruderclub am Decksteiner Weiher gewesen und gekentert. Hat sie sofort geglaubt, schließlich weiß sie, wie schlecht ich mit Booten zurande komme.«

»Dann weiß sie von nichts?«

»Niemand weiß das, nur du und ich«, sagte Tim. »Und dabei soll es auch bleiben, okay?«

Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte die Aktion alleine durchgezogen. Dass Farid seine Niederlage live miterlebt hatte, war nun wirklich nicht nötig gewesen. Nicht, weil Tim wie ein nasser Sack ins Wasser gefallen war – so etwas konnte immer mal passieren –, sondern, weil er schlecht vorbereitet gewesen war. Zumindest fühlte es sich so an. Dieses verdammte Zahlenschloss! Aber wie hätte er das auch ahnen können? Er hatte zu Hause alles noch einmal nachgelesen, nirgendwo hatte es einen Hinweis auf ein zusätzliches Schloss gegeben.

Egal, Farid war sein Freund und würde die Klappe halten. Auf ihn war Verlass. Und den Film konnte man löschen.

Den Kopf voller Gedanken, betrat er das Schulgebäude.

Es war Montag. In der ersten Stunde hatten sie Deutsch bei Frau Limmer. Seine letzte Arbeit hatte Tim in den Sand gesetzt. Er musste dringend mündlich ein paar Punkte machen, um nicht kurz vor der Zeugniskonferenz noch auf die Vier abzurutschen. Einziges Problem: Auf dem Lehrplan stand Lyrik. Deutscher Expressionismus am Beispiel von Gottfried Benn. Der Name des Gedichtes lautete Krebsbaracke.

Ausgerechnet!

Tims Mom war letztes Jahr gestorben. Leukämie. Seitdem war das Thema Krebs tabu für ihn. Immer wieder hatte er diese Anfälle nackter Panik, die wie eine Flut über ihn hinwegbrandeten. Er konnte nichts dagegen tun. Sie kamen völlig unangekündigt und meist in den unpassendsten Momenten. Dann kochten die Emotionen unaufhaltsam in ihm hoch. Er bekam einen Kloß im Hals, sein Herz raste, Tränen schossen ihm in die Augen. Tim kostete es seine ganze Kraft, um nicht loszuheulen wie ein Mädchen. Der Gedanke an einen weiteren Panikausbruch reichte, um seine Hände schweißnass werden zu lassen. Er vergrub sie tief in seine Hosentaschen und trabte hinter Farid her. Montage. Er hatte sie schon immer gehasst.

Das erste Mal, dass ihm auffiel, dass etwas nicht stimmte, war, als sie die Abkürzung über den Glaskasten nahmen. Glaskasten nannten sie das eigenständige Treppenhaus, über das die oberen Stockwerke leichter zu erreichen waren. Der Weg führte gefährlich nahe am Lehrerzimmer vorbei, weshalb die meisten Schüler den Umweg über das Haupthaus in Kauf nahmen.

Eine Gruppe Schülerinnen aus der oberen Jahrgangsstufe lief vor ihnen, vermutlich auf dem Weg zu den naturwissenschaftlichen Räumen. Schnatternd und sich über irgendwelche Internetstars unterhaltend, breiteten sie sich über die gesamte Treppe aus. Als sie ihn und Farid sahen, verstummten die Gespräche und die Mädchen blieben stehen. Eine von ihnen, eine Schönheit mit haselnussbraunem Haar, sah Tim an, öffnete den Mund und brach in Kichern aus. Zwei andere machten große Augen, ehe sie Farid und Tim durchließen.

Das war merkwürdig. Normalerweise guckten die Mädchen aus der Oberstufe Jungs aus den unteren Klassen wie sie nicht mal mit dem Arsch an. Dass sie stehen blieben, um sie vorbeizulassen, fand Tim eigenartig. Dass sie sogar ihre Gespräche unterbrachen, verdächtig.

Kaum hatten sie die Gruppe hinter sich gelassen, begann das Geschnatter und Gelächter wieder von vorn. Lauter als zuvor. Tim blickte zurück. »Was war denn da los? Hast du so was schon mal erlebt?«

»Was denn?«, murmelte Farid.

»Na, das da eben. Erzähl mir nicht, das wäre dir nicht aufgefallen.«

Sein Freund blickte starr zu Boden. »Kein Plan, wovon du redest.«

»Du verarschst mich …«

»Tue ich nicht. Was weiß ich, was in deren Köpfen abgeht. Ist mir auch egal.«

»Hm.« Tim war nicht überzeugt. Mädchen waren ein Dauerthema bei ihnen. Je unerreichbarer, desto interessanter. Aber es war Montagmorgen, da tickten die Uhren scheinbar anders. Schweigend gingen sie ein paar Meter, dann fing Farid wieder damit an, den letzten Abend durchzukauen. »Dir ist doch nichts passiert, oder? Ich meine bei dem Sturz. Nichts verstaucht oder so?« Er tastete an ihm herum. Tim nervte diese übertriebene Fürsorge. »Mir geht’s prima«, sagte er. »Mach dir mal nicht ins Hemd.«

»Na ja, es war ein ganz schön tiefer Fall. Hättest dir mal den Film ansehen sollen. Da kann man echt Angst kriegen.«

»Jetzt hör aber auf«, sagte Tim. »Gegen einen Kopfsprung vom Zehn-Meter-Turm war das gestern ein kleiner Plumpser.« Er verschwieg, dass er für einen kurzen Moment echte Todesangst empfunden hatte. »Nur schade, dass es mein MP3-Player nicht überstanden hat«, sagte er. »Gibt keinen Mucks mehr von sich.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Farid. »Ein Glück, dass du dein Handy nicht dabeihattest. Das wäre sonst auch im Arsch gewesen.«

»Allerdings. Um den Player ist es nicht schade. Er war alt und nicht mehr besonders gut. Vermutlich ist er deswegen verreckt, weil ich so lange gebraucht habe, um aus dem Wasser rauszukommen. Ich hab echt die Strömung unterschätzt.«

»Ich auch«, sagte Farid hastig. »Ich bin das ganze Ufer mit dem Rad abgefahren und habe dich nicht gefunden. Mann, was habe ich mir Sorgen gemacht. Wer kommt auch drauf, dass du zur anderen Seite rüberschwimmst.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass man dort besser rausklettern kann«, sagte Tim mit gesenkter Stimme. »Vermutlich hast du mir wieder mal nicht richtig zugehört. Ist auch egal jetzt. Mir wäre es lieber, wenn wir von was anderem sprechen. Muss ja nicht gleich die ganze Schule erfahren, was wir gestern getrieben haben.«

»Äh, jetzt, wo du es erwähnst«, Farid sah sich panisch um. »Es gibt da etwas, was ich dir sagen wollte …«

Tim stieß ein genervtes Grunzen aus. »Nicht jetzt, okay? Ich habe echt andere Probleme.«

»Wovon redest du?«

»Ich habe mich doch bei der Limmer für die mündliche Prüfung angemeldet, schon vergessen? Damit ich meine Note aufpolieren kann. Ich muss mich jetzt echt konzentrieren.« Er verschwieg, dass ihn dieses Gedicht so runtergezogen hatte, dass er keine Lust mehr auf irgendwas gehabt hatte. Nicht mal auf einen Chat mit seinem besten Kumpel.

»Na ja, dann eben später.« Irgendetwas lag Farid auf der Seele, das konnte Tim sehen. Aber was immer das war, es musste warten.

Als sie das Klassenzimmer erreichten, waren die meisten ihrer Mitschüler schon da und wieder hatte Tim ein etwas ungutes Gefühl, als er die anderen sah. In allen Ecken des Klassenzimmers wurde aufgeregt geredet und getuschelt. Als sie eintraten, erstarben die Gespräche – als hätte man bei einem Radio den Lautstärkeknopf auf null gedreht. Viele seiner Mitschüler warfen Tim interessierte Blicke zu, manche flüsterten hinter vorgehaltener Hand. Offensichtlich waren Farid und er die Einzigen, die keine Ahnung hatten, worum es ging. Oder?

Tim sah seinen Freund an. »Farid?«

Der schuldbewusste Blick verriet ihn sofort. »Ja?«

»Was hast du getan?«

»Ich …«

Weiter kam er nicht. Frau Limmer betrat den Raum und alle huschten auf ihre Plätze.

3

Los jetzt, raus mit der Sprache. Zeig es mir.«

Tim klopfte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Zeit bis zur großen Pause war ihm wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Immerhin hatte er die Prüfung gut über die Bühne gebracht. Kein Weinkrampf, kein Blackout, keine sonstigen Aussetzer. Frau Limmer war beeindruckt gewesen. Sie lobte ihn und versprach, es bei der Drei zu belassen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass er sich im nächsten Schuljahr mehr anstrengte.

»Ich warte«, sagte er.

Farid und er hatten sich ins Nebenzimmer des Physiksaals zurückgezogen. Der Raum war während der Pause unbewacht, hier hatten sie ihre Ruhe. Farid hatte seinen Laptop aufgebaut und sich ins schulinterne WLAN eingehackt. Der Zugriff auf die WorldRunner-Plattform funktionierte nicht übers Smartphone, sondern nur über einen gesicherten Zugang im Darknet. Dafür brauchte es deutlich mehr Rechenpower, als sein Smartphone aufbringen konnte. Was allerdings nicht bedeutete, dass Videos oder Beiträge von der WorldRunner-Plattform nicht später auch im normalen Internet landeten und für alle Welt sichtbar waren. Hatte es schon oft gegeben.

»Ich wollte es dir noch sagen«, stammelte er. »Aber du hast mich ja nicht gelassen.«

»Wie hätte ich auch ahnen können, was du getan hast?« Tim war fassungslos. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass Farid das wirklich online gestellt hatte.

»Schau es dir am besten selbst an.« Sein Freund drehte den Rechner zu ihm. Gelbe Lettern auf blauem Untergrund, Tim wusste sofort, was er hier vor sich hatte.

WorldRunner war die offizielle Kommunikationsplattform für alle Scavenger, Hunter und Runner sowie deren Fans, die sich diesem abenteuerlichen Spiel verschrieben hatten. Hier waren die neuesten Veranstaltungen und die aktuellsten Claims verzeichnet. Hier gab es Secrets, Eastereggs und Videotagebücher sowie die aktuellen Highscore-Listen. Hier konnten Spieler Erfolge posten und sich von ihren Fans feiern lassen. Hier sorgten Patreon-Konten dafür, dass die Unterstützung nicht nur wortreich in den Kommentarspalten erfolgte, sondern sich auch finanziell auszahlte. Wer immer seinen Lieblingsspieler unterstützen wollte, konnte einen Betrag direkt auf das Konto des Betreffenden spenden. Zusätzlich konnten Zuschauer Wetten darauf abschließen, welche Runner auf- und welche absteigen würden. Wer würde am Stichtag die Charts anführen? Jeweils am Monatsende wurden auf dem Scoreboard die finalen Listen präsentiert und teils sehr hohe Beträge wechselten binnen Minuten ihre Besitzer.

Tim hatte sich während des letzten Jahres unaufhaltsam an die magische Grenze der besten einhundert Spieler herangearbeitet. Ihm fehlte nur noch Sakuras unlösbares Rätsel, um die Hürde zu knacken.

Diese Top 100 waren der Heilige Gral. Hier reinzukommen, bedeutete, dass man nicht nur clever und mutig sein musste, sondern auch, dass man Personality besaß. Es genügte nicht, nur ein guter Spieler zu sein, man musste seine Fans begeistern. Nur dann spendeten sie Geld für einen.

Eigentlich hatte er dieses Ziel noch vor Beginn der Sommerferien erreichen wollen, aber die neueste Entwicklung warf ihn garantiert um Jahre zurück.

Er starrte auf den Bildschirm.

Das Video war gleich auf der Startseite von WorldRunner zu finden. Betitelt war es mit: »Cliffhanger des Tages«. Daneben ein Emoji mit zusammengekniffenen Augen. Haha.

Tim drückte auf Play und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Ihm bereitete es immer Schmerzen, sich selbst im Video zu sehen. Sosehr es ihn reizte, die Claims und Challenges zu lösen – das hatte er noch nie leiden können. Doch es machte die Bergung eines Claims natürlich viel glaubwürdiger. Nur wer sich dabei filmen ließ, konnte sicher sein, dass ihm nicht irgendein Neider die Beute streitig machte. Doch das hier besaß eine neue Qualität. Bei der Szene, in der er ins Leere griff und abstürzte, musste er schlucken. Das Gefühl war sofort zurück: Er spürte den Schlag in der Magengrube. Der Moment, als seine Füße die Wasseroberfläche durchstießen – es quetschte ihm die Luft aus den Lungen. Er meinte, den Rhein wieder riechen zu können, schmeckte den Ölfilm, atmete die feuchte Luft. Platschend und prustend trieb er den Fluss runter, bis er nur noch ein kleiner Punkt war, der verschwand.

Er hob seinen Kopf und starrte Farid an. Fassungslos.

»Warum«, fragte er. »Wie konntest du das tun?«

»Ich dachte, wir hätten das so besprochen«, polterte Farid mit hochrotem Kopf. »Ich bin dein PR-Manager. Ich filme, schneide, mache die Interviews. Ich sorge dafür, dass der Laden läuft und du gut aussiehst.«

»Gut aussiehst?« Tim hätte sich um ein Haar an seiner eigenen Spucke verschluckt. »Findest du, dass ich gut aussehe? Ich hänge da wie ein nasser Sack. Vom Finale ganz zu schweigen. So wie sich alle vorhin benommen haben, steht das Teil sicher schon längst auf allen Videokanälen.«

»Tut es, ja …«

Er schüttelte den Kopf. »Du hättest mich auf jeden Fall fragen müssen.«

»Das mache ich doch nie«, konterte Farid. »Wenn ich es für gut halte, geht es online. Und das hier ist gut. Saugut. Nicht für einen Moment hätte ich geglaubt, dass du etwas dagegen haben könntest.«

»Das ist Bullshit und das weißt du«, sagte Tim. »Dein schuldbewusstes Getue heute Morgen. Ich habe sofort gemerkt, dass du ein schlechtes Gewissen hast. Wäre mir klar gewesen, was du vorhast, hätte ich sofort alles rückgängig gemacht. Eine Lachnummer, das bin ich. Ich habe mich vor aller Welt zum Horst gemacht.«

Er betrachtete das Bild von sich, wie er mit beiden Händen am Stahlträger hing. Zum Glück hatte er sein Mundtuch bis über die Nase gezogen, sein Gesicht wäre sonst in allen Einzelheiten zu erkennen gewesen. Trotzdem ahnten die meisten in seinem näheren Umfeld, wer sich hinter dem Nickname Achenar versteckte. Der Flurfunk in der Schule war ausgesprochen effektiv. Tim war hier inzwischen zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Viele verfolgten seine Abenteuer, unterstützten ihn und hinterließen Botschaften. Aber für die vielen Neider, die es auch gab, war dieses Video ein gefundenes Fressen.

»Vollspast«, stand in einem der Kommentare unter dem Video. »Hochmut kommt vor dem Fall« und »Fallobst«.

Die wenigsten wussten seinen Mut und das Risiko zu würdigen. Hätte er es geschafft, ja, dann wären sie auf seiner Seite gewesen. So aber feierten sie seine Niederlage. The winner takes it all, the loser standing small, hieß es nicht so?

»Nimm es raus«, sagte er geknickt. »Nimm den Scheiß offline und dann verlieren wir nie wieder ein Wort darüber.«

»Ich soll was?« Farid starrte ihn ungläubig an.

»Bist du taub? Rausnehmen habe ich gesagt. Hier und jetzt. Vielleicht können wir den Schaden noch begrenzen.«

»Von was für einem Schaden faselst du da?« Farid sah ihn aufgebracht an. »Hast du dir mal die Klickzahlen angesehen? Das Video ist in den letzten zwölf Stunden dreiundzwanzigtausendmal aufgerufen worden. Ehe du hier durchdrehst, würde ich vorschlagen, mal einen Blick auf dein Patreon-Konto zu werfen. Ich bin sicher, dass du dir inzwischen zehn neue MP3-Player kaufen kannst. Und zwar nicht so einen gebrauchten Billigmist. Ich rede von dem richtig geilen Scheiß.«

Mit großen Augen starrte Tim auf die Zahl. Farid hatte recht. Unfassbar, wie viele sich inzwischen den Film angeschaut hatten. Und mit jeder Minute wurden es mehr.

In diesem Moment klingelte die Schulglocke. Tim zuckte zusammen.

Farid stand auf und steckte den Laptop ein. »Schluss jetzt, die Show ist vorbei. Wir müssen zurück, ehe der Helbing uns entdeckt.«

Tim stand ebenfalls auf. Seine Beine zitterten. Er wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Seit er gestern von der Brücke gefallen war, schien alles außer Kontrolle.

»Darüber reden wir noch«, murmelte er halbherzig.

Zu Hause angekommen, konnte Tim es kaum erwarten, seinen Computer hochzufahren. Er stürmte durch die Wohnung, pfefferte seine Tasche aufs Bett und eilte zurück in die Küche, um sich rasch etwas zu essen zu holen. Sein nervöser Magen brauchte dringend eine Grundlage. Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Er war so in Gedanken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass er nicht alleine war. Emily stand wie ein Ausrufezeichen in der Tür.

»Dir auch ein freundliches Hallo«, maulte sie vorwurfsvoll. »Schön, dich zu sehen.«

Für ihre zehn Jahre war sie ganz schön frech.

»Wieso bist du schon zu Hause?«, fragte Tim verblüfft. »Die Betreuung geht doch bis vier.«

»Läuse«, lautete die lapidare Antwort. »Ich habe Hunger.«

»Hm.« Tim durchsuchte den Schrank. »Wie wär’s mit Ravioli?«

»Klaro. Ruf mich, wenn’s fertig ist.« Wusch, weg war sie.

Tim war viel zu sehr in Gedanken, um sich über ihr Benehmen aufzuregen. Er war es gewohnt, von ihr wie ein Dienstbote behandelt zu werden. Dreiundzwanzigtausend. Das war vor einigen Stunden gewesen. Wie der Stand wohl inzwischen sein mochte? Das Internetportal WorldRunner bewegte sich in einer rechtlichen Grauzone. Manche Länder akzeptierten sie stillschweigend, andere, so wie Deutschland, beobachteten die Aktivitäten mit Argusaugen. Was auch der Grund war, warum man die Seite nur über ein ausgeklügeltes System erreichte. Mit einem Handy war das unmöglich. Ständig wurden die Serverstandorte verändert. Modernste Verschlüsselungsalgorithmen verschleierten den Ursprungsort der Betreiber. Tim hatte Gerüchte gehört, dass die Spielefirma GlobalGames-Incorporated in San Francisco dahintersteckte, doch ihr CEO, ein Mann namens Mortimer Hansen, wies alle Anschuldigungen von sich. Was die Behörden so alarmierte, war nicht der Umstand, dass Jugendliche bei dem Spiel mitunter in Lebensgefahr gerieten, sondern dass rund um die Spiele gewettet wurde. Illegales Glücksspiel um hohe Geldbeträge mochten die Gesetzeshüter nicht.

Tim war’s egal, er wettete ohnehin nicht. Er war Runner, kein Viewer. Aber die, die auf seinen Erfolg gewettet hatten, waren jetzt möglicherweise um ein paar Hunderter oder Tausender ärmer. Vielleicht war das der Grund für den lauten Spott. Dreiundzwanzigtausend!

Er konnte es kaum erwarten, die neuesten Zahlen abzurufen. Am Esstisch sah Emily ihn neugierig an, während er hastig die Ravioli runterschlang.

»Du bist echt komisch heute«, sagte sie mit schiefem Blick.

»Bin nicht komisch«, murmelte er mit vollem Mund.

»Von wegen. Andauernd schielst du rüber in dein Zimmer. Ist was mit deinem Computer?«

»Hab nur viel um die Ohren.« Er spülte den Bissen mit einem Schluck Apfelschorle runter und schob dann den Topf zu Emily rüber. »Ist für dich.« Hastig trank er noch einen letzten Schluck und wollte gerade aufstehen, als Emily die Bombe platzen ließ.

»Es hat mit dem Spiel zu tun, oder?« Sie grinste.

Er hob eine Braue. »Was meinst du?«

»Ich weiß, was du machst. Ich weiß, dass du gestern nicht am Decksteiner Weiher warst.«

Tim zuckte zusammen. »Wovon redest du?«, fragte er möglichst beiläufig.

»Ich bin nicht blöde, ich habe den Film gesehen.«

Um ein Haar hätte er das Glas fallen lassen. »Was für ein Film? Keine Ahnung, wovon du redest.« Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Was nicht einfach war. »Ich habe jetzt keine Zeit für so einen Kinderkram. Die nächste Stunde will ich nicht gestört werden, verstanden?« Er stand auf, ging in sein Zimmer und wollte die Tür hinter sich schließen, doch Emily kam ihm zuvor. »Ich sag’s Papa, wenn du es mir nicht erzählst. Max aus unserer Klasse hatte seinen Laptop dabei und hat uns den Film in der Pause gezeigt. Niemand wusste, dass du das bist, aber ich habe dich gleich erkannt. Deswegen warst du auch so nass.« Voller Stolz strahlte sie ihn an.

Tim wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Seit wann durften die kleinen Kröten ihre Rechner mit in die Schule nehmen? Und wie zum Henker hatten sie es geschafft, sich in das Netzwerk von WorldRunner einzuloggen?

»Also dann, das ist der Deal …« Emily trat auf ihn zu. »Du sagst mir, was du da getan hast, und lässt mich mitmachen oder ich erzähle Papa heute Abend alles. Der findet das bestimmt gar nicht gut.« Ihr Grinsen wurde breiter.

»Das wagst du nicht!«, war alles, was ihm einfiel. Eine ziemlich halbherzige Drohung, die Emily sofort durchschaute.

»Sonst noch was?«, fragte sie. »Willst du mich etwa verhauen?« Sie sah ihn herausfordernd an. »Ich bin hier diejenige, die Aikido macht. Dich habe ich in zehn Sekunden auf der Matte.«

Tim versuchte, sie mit seinen Blicken zu vernichten, spürte aber, dass er keine Chance hatte. Emily war viel sturer als er. Was das betraf, kam sie ganz nach ihrer Mom. Davon abgesehen, traute er ihr durchaus zu, dass sie ihn notfalls wirklich verpetzte.

»Was du hier machst, nennt man Erpressung«, murmelte er mit hängenden Schultern.

»Weiß ich doch.« Sie fing an abzuräumen. Das tat sie sonst nie. »Ich kann schweigen wie ein Grab«, verkündete sie mit tiefernster Miene. »Von mir erfährt niemand was. Hauptsache, du lässt mich mitmachen. Stimmt es, dass ihr alle falsche Namen habt und man damit Geld verdienen kann?«

»Falsche Namen, ja«, sagte er. »Geld verdienen, eher nicht. Aber es macht Spaß, deshalb tue ich es.« Er biss sich auf die Unterlippe. Sollte er ihr erzählen, dass er damit angefangen hatte, weil Mom selbst eine begeisterte Geocacherin gewesen war – eine Vorform der GlobalGames? Er tat es, um sich an sie zu erinnern und sich ihr nah zu fühlen.

Nach und nach begann er zu erzählen und ertappte sich dabei, dass er nicht mal mehr versuchte, nicht zu viel preiszugeben.

Irgendwie tat es gut, sich mal jemand anderem als Farid anzuvertrauen. Trotz der Zugehörigkeit zu einer Community waren Runner einsame Kämpfer. Das lag in der Natur der Sache. Eine Verbündete im eigenen Haus wäre durchaus von Vorteil, überlegte er. Emily könnte ihm den Rücken freihalten, wenn Dad peinliche Fragen stellte. Sie könnte seine Geschichten bestätigen, ihm notfalls vielleicht sogar ein Alibi verschaffen. Vorausgesetzt, sie hielt dicht.

»Unter einer Bedingung«, sagte er. »Du erzählst niemandem etwas und du stellst keine dummen Fragen. Ich entscheide, was und wie viel ich dir sage. Und ich entscheide, wann. Sollte ich merken, dass du mir hinterherspionierst oder anderen davon erzählst, ist unser Deal geplatzt.«

»Verstanden.«

»Und kein Sterbenswörtchen zu Dad. Seit Moms Tod hat er so viel um die Ohren, da kann er nicht noch zusätzlichen Stress brauchen.«

Emily nickte ernst. »Okay.«

»Und wir teilen uns die Arbeit im Haushalt.«

Sie schnaubte empört. »Übertreib’s nicht!«

4

Im achttausend Kilometer entfernten Seattle ließen Hunderte von Bürolampen die oberste Etage der Space Needle erstrahlen. Wie eine fliegende Untertasse schwebte der Turmkopf über der Stadt und verlieh dem Bauwerk sein unverwechselbares Aussehen.

Mortimer Hansen, Chief Executive Officer der Firma Global-Games-Incorporated und inoffizieller Betreiber der Internetplattform WorldRunner, fegte einen Krümel von seinem Jackett, während er mit dem Aufzug nach oben sauste.

Die Space Needle war eines der Wahrzeichen Seattles. Lange Zeit im Besitz der Stadt, war sie vor einigen Jahren von einer privaten Unternehmerin gekauft worden, die sich jetzt auch Hansens Firma einverleibt hatte. Mortimer Hansen hatte im Laufe seines Berufslebens jede Menge Spiele produziert. Einige davon waren recht erfolgreich, jedoch keines so sehr wie dieses Handygame, das er und sein damaliger Partner sich während ihrer Zeit an der Universität ausgedacht hatten. GlobalGames. Eine Goldgrube und der Startschuss für seine Karriere.

Der Fahrstuhl hielt an. Mortimer warf einen letzten Blick in den Spiegel, dann glitten die Türen auseinander.

In der Vorstandsetage herrschte reger Andrang. Menschen verschiedenster Nationalität liefen herum oder gruppierten sich um schlanke Stehtische. Manche hielten Sektgläser in der Hand, andere aßen Häppchen. Mortimer hatte keinen Appetit, ihm war flau im Magen. Er meldete sich am Empfangstisch. Sein Name wurde vermerkt und er bekam ein Namensschild. Die meisten der Schildchen waren bereits vergeben, vermutlich kam er als einer der Letzten.

Links von ihm stand eine Gruppe gut gekleideter Herren beieinander. Es wurde gelacht, Gläser klirrten, dann tauchte eine blonde Frau auf. Shenmi Stevenson. Lächelnd, gut aussehend, alle überstrahlend, mit unzweifelhaft asiatischen Gesichtszügen. Sie trug ein fußlanges goldenes Kleid, das wie eine zweite Haut um ihren Körper floss. Es schien aus unzähligen Goldpailletten zu bestehen. Dass sie sich in diesem Kleid überhaupt bewegen konnte, erstaunte Mortimer. Er fühlte sich bei ihrem Anblick an eine Meerjungfrau erinnert. In ihren Armen trug sie einen kleinen weißen Hund. Das Tier hatte spitze Ohren und stechende Augen. Mortimer war es sofort unsympathisch.

Als seine neue Chefin ihn sah, steuerte sie auf ihn zu. Die Männer folgten ihr wie ein Schwarm Clownsfische.

»Morti«, rief sie. »Wie schön, dich zu sehen. Ich hatte schon Sorge, du würdest dich verspäten.« Küsschen links, Küsschen rechts. Ihr Parfüm vernebelte seinen Verstand. Er senkte verlegen den Kopf und deutete eine Verbeugung an. »Ich danke Ihnen, Ms Stevenson.«

Angesichts ihrer überwältigenden Persönlichkeit fühlte er sich befangen. Mutter Chinesin, Vater Amerikaner. Ein geistiges Produkt der besten Schulen beider Länder, mit zwei enorm reichen Familien im Hintergrund. Shenmi Stevenson war eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen der Welt. Eine Frau, die schon in ihrer Jugend erreicht hatte, wovon andere ihr ganzes Leben träumten. Als Gründerin einer Internetsuchmaschine mit integrierter Social-Media-Plattform war sie bereits vor ihrem dreißigsten Lebensjahr Milliardärin gewesen. Mit ihrem Spürsinn für gute Investitionen hatte sie einen Hersteller von Elektroautos, eine Firma für Weltraumraketen sowie etliche Fernsehsender übernommen. Ihr Ziel war die Besiedelung des Mondes, später des Mars, und das binnen der nächsten fünfzehn Jahre. Wenn man in ihrer Nähe stand, spürte man, dass nichts diese Frau aufhalten konnte.

»Mein Flieger hatte Verspätung«, entschuldigte sich Mortimer. »Ist normalerweise nicht meine Art, zu spät zu kommen.«

»Hauptsache, du bist bereit, unser Baby an den Start zu bringen«, sagte Shenmi lachend und kraulte den Hund zwischen den Ohren. »Du wirst begeistert sein, was wir daraus gemacht haben. Es wird dich überwältigen.«

Der Schwarm von Männern folgte jeder Bewegung mit hingebungsvoller Bewunderung. Wie Motten, die das Licht umschwirren, dachte Mortimer. Ob sich der eine oder andere vielleicht Chancen bei ihr ausrechnete? Schließlich war Shenmi noch unverheiratet.

»Um nichts in der Welt hätte ich das verpassen wollen«, sagte er. »Wobei es ja nicht mehr mein Baby ist. Es gehört jetzt Ihnen.«

Sie zwinkerte ihm mit ihren silbergrauen Augen zu, dann erhob sie ihre Stimme. »Herrschaften, bitte alle mal herhören. Wenn Sie sich jetzt auf Ihre Plätze begeben würden? Die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten. Komm mit, Morti. Ich möchte, dass du vorne sitzt. Heute werden wir beide Geschichte schreiben.«

Geschichte, das klang fast zu schön, um wahr zu sein. Die Frau hatte wahrlich Großes mit seiner Firma vor.

Er beeilte sich, zu seinem Stuhl zu kommen. Shenmi trat nach vorne auf die Bühne. Ein goldenes Hundekörbchen stand dort, in das sie ihren Liebling setzte.

»Haben Sie alle einen Platz gefunden? Prima, dann kann es gleich losgehen. Andrew, verdunkelst du bitte den Saal?«

Die Beleuchtung wurde auf ein sanftes Maß gedimmt und es kehrte Ruhe ein. Je dunkler es unter der Kuppel wurde, umso intensiver leuchteten die Lichter Seattles. Mortimer kam sich vor wie auf einem Schiff, das bei sternklarer Nacht durch ein Meer aus leuchtendem Plankton fuhr.

Das gebogene Panoramafenster hinter Shenmi wurde erst matt, dann erstrahlte es in sanftem Licht. Clever, die Verglasung als Projektionswand zu benutzen. Das Firmenlogo von Stevenson-Enterprises wurde riesengroß an die Leuchtwand projiziert. Auf der Bühne war Shenmi vor dem heller werdenden Hintergrund nur als schwarzer Scherenschnitt zu sehen.

Musik setzte ein. Erst leise, dann nach und nach lauter werdend. Mortimer kannte das Stück. Also sprach Zarathustra von Richard Strauss.

Als die Streicher und die Pauken einsetzten, erstrahlte Shenmi im Licht eines Scheinwerfers wie eine goldene Statue. Eine Mensch gewordene Göttin. Etwas Überirdisches ging von ihr aus. Sie hob ihre Hand und die Musik verstummte.

»Ich habe einen Traum«, sagte sie, die Worte Martin Luther Kings benutzend, und ihre Stimme hallte von allen Seiten wider. Mortimer konnte kein Mikrofon erkennen, also ging er davon aus, dass es irgendwo in ihrem atemberaubenden Kleid vernäht sein musste.

»Ein Traum, der mir eines Tages ermöglichen wird, diese Erde zu verlassen und zu neuen Welten aufzubrechen. Ich möchte davonfliegen und meinen Fuß auf unberührten Boden setzen. Ich möchte dorthin gehen, wohin noch nie ein Mensch zuvor gegangen ist. Und ich möchte Sie dorthin mitnehmen.« Sie deutete nach oben.

Über ihren Köpfen waren die Aufnahmen zweier Himmelskörper zu erkennen. Die eine zeigte den Mond, die andere den Mars. Wie gewaltige außerirdische Artefakte hingen sie dort, ausgestaltet bis ins letzte Detail. Mortimer erkannte Krater und Gräben, Hügel und Berge, Wüsten, ja sogar Salzseen. Die Bilder waren von solcher Schärfe, dass man sich gut vorstellen konnte, tatsächlich eines Tages dort entlangzuspazieren.

»Wer mich kennt, weiß, dass ich keine leeren Versprechungen mache«, sagte Shenmi und lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf sich. »In etwas mehr als sechs Monaten wird eine bemannte Raummission in Richtung Mond starten, um dort feierlich unser erstes Luna-Hotel zu eröffnen, dessen Grundsteinlegung vor einem Jahr erfolgte. Die Baumaßnahmen wurden mit größtmöglicher Geheimhaltung durchgeführt. Die Erfahrungen, die wir auf unserem Trabanten sammeln, werden uns bei unserem nächsten und noch ehrgeizigeren Ziel nützlich sein: der Besiedelung des Mars. Bis dahin liegt noch viel Arbeit vor uns. Vor allem müssen wir gewaltige Summen von Geld für dieses Vorhaben aufbringen. Nur wenn es uns gelingt, die Kosten auf Sponsoren, Spender und private Investoren zu verteilen, werden wir erfolgreich sein. Unser Gewinn wird ein Gewinn für die gesamte Menschheit.«

Shenmi nahm den Beifall mit einem bescheidenen Lächeln zur Kenntnis. Diese Frau wusste, wie man sich in Szene setzte.

Ein paar Sekunden genoss sie den Beifall, dann hob sie ihre Hand. »Als Unternehmerin weiß ich natürlich, dass der Schlüssel zum Erfolg in einer gut durchdachten Werbekampagne liegt. Weltweite Aufmerksamkeit zu generieren, ist nicht eben einfach. Wir brauchen etwas, das die Menschen vor ihren Bildschirmen zu Hause fesselt. Das sie mitreißt und untrennbar mit unserem Namen verbunden ist. Wir brauchen eine Show. Die größte Show, die dieser Planet jemals gesehen hat.«

Das Publikum applaudierte lauter denn je. Einige der Zuhörer wollten aufspringen, wurden aber von ihren Hintermännern zurück auf ihre Plätze gezerrt. Ein kurzer Moment der Unruhe trat ein.

»Mein Plan ist es, ein Event ins Leben zu rufen, das sämtliche Nationen dieser Welt vereint«, übertönte Shenmi den Lärm. »Das Spiel soll spannend sein, aufregend und neu. Vor allem aber soll es uns die Schönheit unserer Erde vor Augen führen. Wenn wir den Mut aufbringen wollen, neue Welten zu erobern, dann wird uns dies nur mit dem Wissen gelingen, eines Tages nach Hause zurückkehren zu können. Auf einen Planeten, den wir wirklich lieben.« Lächelnd fuhr sie fort: »Liebe ist ein Kind der Freiheit, das hat mir mein Vater beigebracht und daran glaube ich fest. Und weil niemand die Welt mit so großen Augen betrachtet wie Kinder und Jugendliche, wird dieses Spiel nicht von Erwachsenen ausgetragen. Ich werde Ihnen gleich erklären, was mir vorschwebt. Vorher aber möchte ich meinen geschätzten Kollegen Mortimer Hansen auf die Bühne bitten. Morti, wärst du so gut?« Sie deutete herüber zu ihm. »Ich bin stolz, Ihnen den geistigen Vater vorstellen zu dürfen. Willkommen zum Vorentscheid der Worldchampionship von GlobalGames – dem Wettrennen rund um die Erde.«

Hinter Shenmi tauchte das Logo von Mortimers Firma auf. Ein Lichtspot schwenkte auf ihn herab und hüllte ihn in gleißende Helligkeit. Geblendet wie ein Maulwurf, stand er auf, unsicher und ein bisschen wackelig in den Knien. Er hatte nicht damit gerechnet, eine Rede halten zu müssen. Zum Glück besaß er genug Erfahrung, um ein paar Worte aus dem Stegreif sagen zu können.

Während er nach vorne ging, fiel sein Blick auf den kleinen Hund, der ihn argwöhnisch betrachtete. Die Lefzen zurückgezogen und seine kleinen Zähnchen entblößend, starrte er Mortimer an und stieß ein bedrohliches Knurren aus.

5

Tim starrte fassungslos auf seinen Computerbildschirm. Dreihundertzwanzig Euro und fünfundsiebzig Cent! Die Zahl brannte sich in seine Netzhaut. Irgendwann fing sie an zu flimmern, sodass er seine Augen schließen musste. Auf seinem Patreon-Konto war zum ersten Mal ein wirklich nennenswerter Betrag erschienen. Für ihn, der nur wenig Taschengeld bekam und grundsätzlich pleite war, eine unvorstellbare Summe.

Farid hatte recht gehabt. Es wäre ein Riesenfehler gewesen, das Video aus dem Netz zu nehmen. Tatsächlich war noch keins ihrer Videos auf solch eine überwältigende Resonanz gestoßen.

»Woher hast du das viele Geld?« Die helle Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte Emily völlig vergessen. Genau genommen, hatte er alles um sich herum vergessen.

»Von Sponsoren«, murmelte er. »Von Leuten, die glauben, dass ich zu den besten Spielern des Landes gehöre, und die mich unterstützen wollen.«

»Gehörst du denn zu den besten?«

Er lächelte etwas unsicher. »Noch nicht, aber vielleicht bald. Wenn ich etwas Glück habe.«

»Erklär’s mir«, bat sie.

»Das kann ich nicht. Jedenfalls nicht auf die Schnelle.«

»Bitte, versuch’s!«, bettelte sie.

Er stöhnte. Wie sollte er seiner kleinen Schwester begreiflich machen, was GlobalGames für ihn bedeutete?

»So schwierig wird das schon nicht sein«, teilte sie ihm mit. »Ich muss es verstehen, wenn ich dir den Rücken freihalten soll.«

So ganz unrecht hatte sie nicht. Eine Verbündete, die keine Ahnung hatte, worum es ging, war sinnlos. Aber wo sollte er anfangen? Er griff in die Tasche und legte sein Handy auf den Tisch. »Siehst du das hier?«

»Klar, bin ja nicht blind.«

»Damit fing alles an. Mitte der Achtzigerjahre kamen die ersten Handys auf den Markt. Riesenapparate, mit denen man nur telefonieren konnte. Später kamen weitere Funktionen dazu. Kamera, Taschenrechner, Musicplayer. Mit der Mikroprozessortechnologie wurden die ehemaligen Telefone aber immer mehr zu kleinen Computern. Im Jahre 2005 fand dann die Revolution statt. Weißt du, was GPS ist?«

Emily schüttelte den Kopf. »Nicht genau.«

»Das Global Positioning System ist ein weltweites Navigationssystem, das über Satelliten gesteuert wird und dazu dient, punktgenau deine Position auf der Erde zu bestimmen. Beim Militär wurde es schon lange genutzt, für uns Normalsterbliche war es erst ab 2005 verfügbar. Da kam nämlich das erste Handy mit GPS auf den Markt, das Siemens SXG75.«

»Ich weiß, was ein Smartphone ist«, unterbrach sie ihn. »Das Technikzeug ist mir egal.«

Tim schluckte. Emily halt. »Na ja, jedenfalls ist GPS nun in allen Smartphones und Smartwatches fest verbaut. Dadurch dass wir Standorte bis auf einen Meter genau ermitteln können, sind wir in der Lage, Spuren zu legen, Schätze zu verstecken und andere Spieler mit Rätseln in die Irre zu führen. Irgendjemand kam dann auf die Idee, dass man daraus ein Spiel machen könnte. Sie nannten es Geocaching …« Tim lächelte. »Erinnerst du dich, dass Mom früher immer Stress gemacht hat, wenn ich zu lange am Computer saß? Stubenhocker hat sie mich genannt …«

Emily nickte, doch Tim konnte sehen, wie ihr Lächeln verschwand. »Ich vermisse sie.«

»Ich doch auch. Was denkst du denn?« Nachdenklich beobachtete Tim seine kleine Schwester. Natürlich tat sie ihm leid, aber sie hatte es ja unbedingt wissen wollen. Und es gab nun mal keinen anderen Weg, ihr seine Leidenschaft für Global-Games zu erklären, als über ihre Mutter. Immerhin hatte sie maßgeblichen Anteil daran gehabt.

»Sie fehlt mir. Ganz schrecklich sogar«, sagte er. »Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie es gehasst hat, wenn ich stundenlang vorm PC oder Handy gehockt habe.«

»Oder wir zusammen vor dem Fernseher …«

Er nickte. »Sie wollte, dass wir raus vor die Tür gehen und Spaß haben, weißt du noch?« Tim machte eine Pause. »Einen Satz von ihr werde ich nie vergessen …«

Emily schniefte und rieb ihren Ärmel an der Nase. Ein dünner Schmierfilm entstand. Tim reichte ihr ein Papiertaschentuch.

»Holt euch die Sterne vom Himmel, erinnerst du dich? Das hat sie gesagt.«

Emily nickte.

»Anfangs wusste ich gar nicht, was sie damit meinte«, gab er etwas widerwillig zu. »Aber dann … dann hab ich es begriffen. Sie wollte uns damit Mut machen. Sie wollte, dass wir rausgehen und die Welt entdecken. Wusstest du, dass sie selbst eine Geocacherin war?«

Emily riss die Augen auf. »Echt?«

»Ja. Sie hat mir gezeigt, wie das funktioniert – lange bevor es GlobalGames gab. Sie hat mich ermahnt, es bloß nicht Dad zu erzählen. Sie wusste genau, dass er kein Verständnis dafür haben würde.«

»Und was macht man da so?« Sie kramte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich kräftig. Tim hatte selbst einen Kloß im Hals.

»Na ja, es ist ein Spiel, das man draußen in der Natur spielt. In den Parks und Gärten, auf Friedhöfen und anderen Orten, an denen Geheimnisse verborgen sein könnten. Verstecke, die andere Spieler dort hinterlegt haben.«

»Auf Friedhöfen?« Emily verzog das Gesicht. »Ist das nicht verboten?«

Tim knabberte an seiner Unterlippe. Er musste vorsichtig sein, wie viel er ihr erzählte. Klar war das verboten. Und wie. Über die Hälfte aller Claims befand sich auf Privatgelände oder an Orten, die zu erreichen eine Gefahr darstellte. Aber das musste er ihr ja nicht auf die Nase binden.

»Wir haben so eine Art Kodex«, sagte er. »Das heilige Regelbuch der Runner. Darin stehen die zehn goldenen Regeln. Solange du dich daran hältst, ist alles in Ordnung.«

»Und was sind das für Regeln?«

»Mal sehen, ob ich sie noch zusammenbekomme. Die ersten drei lauten: Beachte die örtlichen Gesetze und Warnschilder. Betritt kein Privatgelände. Hinterlasse keinen Müll und schütze die Umwelt.«

»Finde ich gut«, sagte Emily. Sie zählte die Regeln an ihren Fingern ab.

»Regel vier lautet: Benütze nur ausgeschilderte oder vorhandene Wege und Pfade. Fünf: Claims sollten nie vergraben oder an einem Ort versteckt sein, bei dem das Erreichen eine Gefahr darstellt.« Er verschwieg, dass Sakuras Rätsel ganz klar dagegen verstieß. Wie die meisten wirklich spannenden Claims.

»Was sind Claims?«

»So nennen wir unsere Schätze. Meist stecken sie in wetterfesten Boxen, die für das bloße Auge unsichtbar versteckt sind. Selbst wenn man weiß, wo sie sind, muss man manchmal höllisch lange suchen, um sie zu finden. Manche von ihnen sind so groß wie eine Butterbrotbox, andere hingegen so klein wie eine Streichholzschachtel. In den Beschreibungen findet man meistens Hinweise und Tipps, die einem weiterhelfen. Notfalls muss man in den Userkommentaren nachlesen.«

»Und was sind das für Schätze? Gold, Edelsteine, Diamanten?« Emily sah ihn mit großen Augen an.

»Quatsch, nur Kleinigkeiten. Ein Glücksanhänger, eine kleine Taschenlampe, ein Radiergummi – irgendetwas, das dem Besitzer was bedeutet hat. Man kann es rausnehmen, aber dann muss man etwas von gleichem oder höherem Wert zurücklassen. Das ist übrigens Regel sechs.«

»Auch Kaugummis?«

Tim schüttelte den Kopf. »Regel sieben: keine Lebensmittel. Keine Sprengkörper, Messer, Drogen, Alkohol oder ähnliche Gegenstände. Claims dürfen nur familienfreundliche Gegenstände enthalten.«

»Wie langweilig.« Emily blickte enttäuscht. »Was ist Regel acht?« Sie hob drei Finger. So viele Regeln fehlten noch.

»Log dich auf WorldRunner ein, poste deinen Erfolg mit Videobeweis und zeige damit den anderen, dass du das Rätsel gelöst hast.«

»Versteh ich nicht.«

Tim seufzte. Es war schwerer, als er sich das vorgestellt hatte. Am besten, er zeigte es ihr. Er öffnete die Seite und gab sein geschütztes Passwort ein. Es dauerte eine Weile, dann ploppte das gelbe Logo auf blauem Untergrund auf.