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Als die Herausgeberin Heide Kampffmeyer von ihrer Mutter alte Tagebuchaufzeichnungen und Briefe bekam, die diese während der Nachkriegsjahre 1945/46 von ihrer Großmutter erhalten hatte, wurde schnell klar, wie wichtig es war, diese Zeitdokumente zu erhalten. Sie gibt damit einen Einblick in die Nachkriegszeit aus der unmittelbaren Sicht ihrer Urgroßmutter: Helene Nowacki erlebte das Kriegsende auf Rügen von 1945 bis 1946 im K.d.F-Seebad Prora und Binz. Sie hat ihre Erlebnisse in aufwühlenden Tagebuchaufzeichnungen und vielen erschütternden Briefen dokumentiert. Die Handschriften wurden abgeschrieben und der Inhalt im Original belassen. Diese Zeitdokumente spiegeln das Elend, die Hoffnungen, Sorgen und Nöte dieser Zeit wider. Weitere Informationen zur Zeit und Umgebung runden das Werk ab.
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Meiner lieben Mutti und ihrer Lieblingsoma gewidmet
Vorwort
Die Familie
Geschichtliches
Worte ins Leere
Briefe
Erinnerungen von Ingeborg Stutz
Eines Tages erhielt ich von meiner Mutter, Ingeborg Stutz, gesammelte Tagebuchaufzeichnungen (Kapitel IV) und Briefe (Kapitel V).
Ihre Großmutter, Helene Nowacki, hatte diese ab Kriegsende bis zu ihrem Tod im Dezember 1946 auf der Insel Rügen niedergeschrieben.
Meine Mutter musste die Briefe ihrer Großmutter 1983 noch einmal abschreiben, damit sie als „gelebte Geschichte“ für ihre Kinder und Enkel erhalten bleiben. Denn inzwischen waren das Originalpapier vergilbt, die Schrift kaum noch lesbar.
Zusammen mit alten Fotos, Postkarten, Erklärungen über die damalige Zeit und die nationalsozialistischen Pläne für das KdF-Seebad Prora (Kapitel III), ist dieses Zeitdokument entstanden. Dadurch können spätere Generationen erfahren, welche Mühsalen und Schicksale Menschen auch noch nach Kriegsende erleiden mussten.
Ausschnitt aus dem Stammbaum der Familien Nowacki – Kruse
Helene Nowacki
Theodor Nowacki
beide um 1890
Die Großeltern meiner Mutter Helene und Theodor Nowacki hatten zunächst in Landsberg an der Warthe im heutigen Polen gelebt, wo der Großvater eine Drogerie besaß. Zusammen hatten sie die Töchter Ella und Margarete.
Ella lebte geschieden mit ihrem Sohn Dieter in Berlin. Margarete war mit Wilhelm Kruse in Breslau verheiratet.
Als deren Kinder Ingeborg (meine Mutter) und Helmut von zuhause ausgezogen waren, zogen Helene und Theodor Nowacki schließlich zu ihrer Tochter Margarete und Schwiegersohn nach Breslau.
Wilhelm Kruse leitete später in Braunschweig ein Lager, in dem die Arbeiter für die Errichtung des VW-Werks wohnten.
„Das Volkswagenwerk Braunschweig ist das älteste Werk der Volkswagen AG. Es wurde ab Februar 1938 als sogenanntes „Vorwerk“ errichtet.“
Quelle: Wikipedia
Die Großeltern zogen deshalb zusammen mit ihren Kindern nach Braunschweig um.
Anschließend wurde Wilhelm Kruse im Jahre 1939 Lagerleiter im KdF-Seebad Prora, wo er Führungsaufgaben beim Bau des KdF-Seebades übertragen bekam.
Er war dort auch für die gesamte Bett- und Tischwäsche des Seebades verantwortlich.
Die damals schon ca. 80-jährigen Großeltern mussten also wieder mit ihnen zusammen umziehen! So kam die Briefschreiberin auf die Insel Rügen, wo die Tagebücher und Briefe entstanden sind.
Ella und Margarete, Wilhelm Kruse, Eltern Nowacki um 1918/19
Von der ersten bis zur letzten Seite der Tagebücher und Briefe war ich gefesselt, aber auch berührt und ergriffen. Helene Nowacki hatte sie am Ende des 2. Weltkrieges begonnen und wusste lange Zeit gar nicht, ob sie jemals von einem Mitglied ihrer Familie gelesen werden könnten. Denn in diesen wahnsinnigen Zeiten waren die Menschen überallhin zerstreut, keiner wusste etwas vom anderen, und erst ganz allmählich kehrte eine Art Normalität ein.
Das Deutsche Rote Kreuz führte unzählige Familien zusammen; Besuche blieben jedoch schwierig, denn Deutschland war durch die Siegermächte in 4 Besatzungszonen aufgeteilt, die russische, englische, amerikanische und französische Zone.
Aber es gab zumindest einen regelmäßigen Postverkehr.
Helene Nowacki (1916)
Theodor Nowacki (1926)
So schildert also eine alte, kranke Frau zunächst tagebuchartig, danach dann in Briefen an ihre Enkelin die letzten Jahre ihres Lebens von Mai 1945 bis Dezember 1946 auf der Insel Rügen, wo sie von allen alleine gelassen war - krank und trostlos, in einer hoffnungslosen Zeit, voller Ungewissheit und ohne Aussicht auf Besserung.
Erst im Dezember 1945 findet sie den Kontakt zu ihrer Enkelin Ingeborg Kruse, meiner Mutter, und beschreibt in den Briefen ihre Situation und ihr mühseliges Leben.
Margarete und Wilhelm Kruse (1919)
Um den Eindruck der Schreiberin unverfälscht wiederzugeben, wurden die Aufzeichnungen in Interpunktion, Grammatik und Wortlaut original wiedergegeben, lediglich einige Erläuterungen zum besseren Verständnis hinzugefügt. Die Überschneidungen zwischen dem Abschnitt der Tagebuchaufzeichnungen und den Briefen selbst wurden bewusst beibehalten.
Manche Einstellungen und Bemerkungen sind aus der nationalsozialistischen Zeit und Prägung heraus zu verstehen, die vielleicht in der heutigen Zeit befremdlich wirken.
Heide Kampffmeyer
Die nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF) war eine politische Organisation mit der Aufgabe, die Freizeit der deutschen Bevölkerung zu gestalten, zu überwachen und gleichzuschalten.
Heutige Ansicht von Prora
Der Ortsteil Prora auf Rügen ging aus dem zwischen 1936 und 1939 gebauten KdF-Seebad Rügen hervor, das jedoch unvollendet geblieben war. Es gehört zum Ostseebad Binz und liegt an der Prorer Wiek, der schönsten Bucht der Insel Rügen.
Quelle: Dokumentationszentrum Prora
Der Name Prora ist vermutlich slawischen Ursprungs, seine genaue Bedeutung ist unbekannt. Ursprünglich bezeichnete er nur eine bewaldete Hügelkette im Süden der Schmalen Heide. Im 19. Jahrhundert wurde ein Forsthaus gebaut, das ebenfalls den Namen Prora erhielt.
In diesem Komplex sollten durch die Organisation KdF 20.000 Menschen gleichzeitig Urlaub machen können. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Bauarbeiten eingestellt. Um 1950 begann der Aus- und Umbau weiter Teile des nunmehr Prora genannten Torsos zu einer der monumentalsten Kasernenanlagen in der DDR. Das unbefugte Betreten des Strandes war streng verboten.
Im Krieg (1939–1945) diente ein Teil der späteren Wohnhäuser der Anlage als Ausbildungsstätte für Luftwaffenhelferinnen und ein Polizeibataillon. Die Rohbau-Blöcke des Kolosses an sich blieben unbewohnbar. 1943 wurden Teile des südlichen Blocks ausgebaut, um Ersatzquartiere für im Rahmen der Operation Gomorrha ausgebombte Hamburger zu schaffen. Ab 1944 unterhielt die Wehrmacht in Prora ein kleines Lazarett. Gegen Ende des Krieges fanden auch Flüchtlinge aus den Ostgebieten in Prora eine Bleibe, wiederum zumeist in den späteren Wohnhäusern.
Heute ist der „Koloss von Prora“ der Kern des Komplexes: fünf von ursprünglich acht auf einer Länge von etwa 4,5 Kilometern entlang der Küste aneinandergereihte baugleiche Häuserblocks, die zur stalinistischen Großkaserne ausgebaut worden waren, ursprünglich jedoch Gästehäuser werden sollten. In einem der Blöcke befindet sich eine Jugendherberge. Weitere Teile des Bauwerks werden zu Ferienwohnungen ausgebaut. Die auch heute noch sichtbare Gesamtkonzeption der Anlage ist ein Beispiel dafür, wie der Nationalsozialismus seinen Machtanspruch sowohl mittels Architektur demonstrieren als auch über eine gleichgeschaltete Bevölkerung umfassend ausüben wollte.
Quelle: Wikipedia
Auszüge aus:
Joachim Wernicke und Uwe Schwartz:„Der Koloss von Prora auf Rügen“ (S. 72, 73):
„Am 4. Mai 1945 landeten sowjetische Truppen in Altefähr auf Rügen und rückten entlang der Reichsstrasse 96 auf die Insel vor. Eine SS-Einheit wollte die Halbinsel Wittow „verteidigen“ und begann noch am 4. Mai mit dem Stellungsbau bei der Ortschaft Wiek. Bürger des Dorfes konnten sie von der Sinnlosigkeit ihres Vorhabens überzeugen – die SS-Männer flohen per Schiff nach Westen. Mit der Einnahme des Luftwaffenstützpunktes Bug auf der Halbinsel Wittow am 8. Mai 1945 war die kampflose Besetzung Rügens abgeschlossen.“
„Der Zweite Weltkrieg war in Europa beendet. Der „KdF“-Chef Ley erhängte sich vor Beginn der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse in seiner Zelle.“
„1945 und danach: Während der letzten Kriegsmonate, vor allem aber nach Kriegsende, wurde Prora Zwischenstation für viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus den Ostgebieten.“
„Die meisten Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten erwarteten die baldige Rückkehr in ihre Heimat nach dem Ende der Kämpfe. Auch befahl die sowjetische Besatzungsmacht vielen von ihnen im Mai und Juni 1945 die sofortige Rückkehr.“
„Die in Prora verfügbaren Unterbringungsmöglichkeiten – für rund 20 000 Personen – wurden ab August 1945 genutzt. Prora sollte eine eigenständige Gemeinde werden. Doch dazu kam es nicht, denn Mitte November befahl die sowjetische Militärverwaltung die Räumung Proras binnen weniger Stunden. Die gerade einquartierten Neueinwohner wurden daraufhin in Binz untergebracht, in Hotels und Pensionen, die allerdings nicht winterfest waren. Durch die fehlende Heizung, durch Unterversorgung und mangelnde Hygiene kam es zu einer weit verbreiteten Verlausung und zur Ausbreitung von Flecktyphus. Weil der kleine Binzer Friedhof für die Opfer der Seuche nicht ausreichte, wurde zwischen Binz und Prora ein Notfriedhof eingerichtet und als Gräberfeld erhalten.“
„Bis 1947 wurden Materialien aus der Seebad-Anlage demontiert und als Reparationen für die Sowjetunion verladen. Anschließend war die Anlage für die allgemeine Plünderung zugänglich als Baustoffquelle.“
Bericht von Oma Nowacki über die Zeit vom Mai 1945 bis Dezember1946
„Oma“ Helene Nowacki (1924)
Binz, Anfang Mai 1945
...Kartoffeln waren im Keller, Vorrat an Mehl, Grieß, Zucker und Salz auch da. Eine Einwohnerin hat ein Baby und bekommt Milch von einem Förster, da gibt sie uns ¼ l ab. Dann kamen unsere neuen Mitbewohner. Erst waren es 4 Erwachsene und 2 Kinder, die bekamen das große Schlafzimmer von Willi und Gretel – dann kamen noch die Schwiegereltern der jungen Frau dazu, eine ganze verwandte Familie von Lyk und so – also Ostpreußen. Aber da haben wir Glück gehabt. Tüchtige Leute alle, fleißig und bescheiden mit 2 Kindern von 5 und 3 Jahren, die gut erzogen sind. Ganz mittellos vielleicht nicht, haben sich Geld von einer Kasse geholt, aber nur das, was sie an hatten im Januar bei -20 Grad Kälte. Die nahmen gleich selbstverständlich alle Arbeiten vor, hielten Großreinemachen bis zum tz (veraltete Redensart für „überall“, „bis in den letzten Winkel“ HK) Das große Schlafzimmer wurde umgebaut und umgestellt. Die Betten behielten sie, und noch eins kam dazu: Ich musste ja sämtliche Betten hergeben, auch alle, die noch im Keller waren. Alles haben sie ins Freie an die Sonne geschafft, die Möbel im Zimmer abgeledert, alle Schränke mir leeren geholfen, sehr gewandt mit aller Garderobe, zusammengehängt und gepackt, um Platz zu schaffen. Als dann noch die Schwiegereltern der jungen Frau dazu kamen, gab ich noch die kleine Wohnstube der Kruses ab. Da beschafften sie sich 2 Betten (wie Soldaten übereinander) aus dem „Lager“, Teppiche wurden gerollt, mein alter hingelegt. Nun sagen sie, sie haben einen Salon und ein Schlafzimmer. Ich habe viel fort räumen müssen mit ihrer Hilfe – aber meine Arbeitswut reichte aus und betäubte mich sozusagen. Und endlich verschaffte sie mir auch etwas Nachtruhe. Alle Anzüge von Willi hat die Frau akkurat in einen anderen Schrank geräumt, nebst allem Drum und Dran, wollten nicht woanders hin. Davon werde ich tagebuchähnlich in diesen Blättern berichten.
11.5.45
Nun will ich also fortfahren zu schreiben. Ich habe es schon 2 Nächte im Halbschlaf vor Übermüdung und mit innerer Unruhe im Bett im Geiste getan und es scheint mich zu beruhigen, wenn ich mir alles vom Herzen „rede“. Also wie es mir gerade in die Feder kommt; wer von unseren Kindern oder Ella wieder zu uns zurück findet, hat darin eine kleine Übersicht von der schrecklichen Zeit, die wir durch zu machen hatten – und noch haben.
Willi und Gretel hatten es gut gemeint und unsere Entlastung und Betreuung bei seiner Sekretärin veranlassen wollen. Sie hatte auch die Absicht, seine Bitte zu erfüllen, aber es ergab sich ein Hindernis. Davon schreibe ich vielleicht ein anderes Mal.
Seit wir Stromsperre haben (schon die letzte Woche war das), müssen wir den kleinen Anbau an unserem elektrischen Herd, 1/3 davon ist Feuerung, benutzen. Der funktionierte nicht richtig bei unserer Unkenntnis, auch Gretel hatte Not damit, und das Holz ging zur Neige, und die Briketts waren gezählt, fast alle Gemüse waren nicht richtig gar geworden. Nun geht alles glatt und gut. Die Platte wird ohne die Ringe raus zu nehmen benutzt und gibt eine Glut wie nie zuvor bei geschlossener Ofen- und Aschentür. Ganz anders als bei uns – gelernt ist gelernt! Dann sammeln alle Holz in den Wäldern, davon gibt es eine schwere Menge dort.
Geplündert wird mächtig. Das Holz blieb also liegen. Nun haben sich alle Hausbewohner selbst davon gemacht. Sägeböcke gab’s auf einmal, große Handsägen für 2 zum Bedienen. Das ist ein richtiger Arbeitsbetrieb draußen. Auch „unsere Leute“ haben sich gestern schon davon gemacht. Da sind ein 63-jähriger Großvater nebst Frau, eine junge Frau mit 2 Kindern, ihre Mutter und Schwester, also 5 Erwachsene und 2 Kinder.
Vorhin war Besuch da: Ein Herr von der früheren Bauleitung, Herr Direktor Heiderich, (Baudirektor und Oberbauleiter Willi Heidrich) der sich hier ein Landhaus gebaut hat und jetzt die Oberleitung übernommen hat. Erzählte von doller Überlastung. 400 Flüchtlinge liegen direkt auf der Straße, mussten Russen weichen, die die Baracken beanspruchten. Er hat uns seinen Schutz und sein Interesse versprochen und nimmt von Herzen teil an unserm Schicksal.
...Oberbauleiter Willi Heidrich war im Krieg nicht eingezogen worden, da er der Wehrmacht für technische Beratungen zur Verfügung stehen sollte. Deshalb erlebte er das Kriegsende in Prora als stellvertretender Ortsgruppenleiter der NSDAP.
Als Herr Schulten, ebenfalls aus der Bauleitung, von seiner zeitweiligen Tätigkeit auf einer „kriegswichtigen Baustelle“ im Rheinland 1945 nach Rügen zurück kam, war er den Russen vertrauenswürdig, da er in Prora als „Nichtparteigenosse“ galt. Die Russen machten ihn zum Bürgermeister von Binz und später zum Bezirksbürgermeister in Sellin. In diesem Amt konnte er die Hand über seinen ehemaligen Chef Heidrich halten, der häufig denunziert wurde, und als das auch nichts mehr nützte, ihn rechtzeitig warnen. Dadurch konnte der ehemalige Baudirektor mit seiner Familie und wenigen Habseligkeiten auf einem Handwagen Richtung Köln fliehen...
Quelle: unbekannt
Dann war noch ein Angestellter hier, der die Oberleitung der KdF-Gärtnerei hat. Er verlangte Hilfe von meinen Hausbewohnern, um die Frühjahrsarbeiten in Gang zu bringen, was dringend Not tut. Wer hilft, bekommt Gemüse, Gurken usw., sonst keiner.
Herr Inzelmann war bei der Suchkommission und hat bei dem Fund der Eltern helfend teilgenommen. Kann man sich vorstellen, dass man ruhig über so was sprechen muss. Ruhig nicht, aber mit zitterndem Herzen!
12.5.45
Nach einer sehr unruhigen und schlaflosen Nacht will ich fortfahren, damit meine Leser ein Bild dieser Tage haben. Wer wird es sein? Wir sind Wochen von allen abgeschnitten, Strom ist nicht, Radio geht nicht, Zeitungen gibt’s nicht, Post ist nicht, schon laufende Post kommt als unbestellbar und gesperrt zurück. Unsere Ella und Dieter haben die schlimmen Wochen in Berlin aushalten müssen. Ob sie verschont geblieben sind? Sie sollten hier her kommen beide. Das Mansardenstübchen wartet schon auf sie, ebenfalls ein Reichtum an Fischen, großen Heringen, Dorsche und Bücklinge gab’s in den Tagen im Überfluss. Wir sagten immer: Das wäre was für die Berliner. Alles was es auf der Insel gab, musste hier verbraucht werden. Im Reich verhungerten vielleicht schon manche. Aber Dieter war sehr krank mit Fieber und Mittelohrentzündung. Der letzte Zug kam ohne sie trotz Briefen und Telegramm, z.T. schon mit Sperrverbot. Ebenso kam überhaupt keine Nachricht von Inge und Helmut. Die arme Inge – dort sollen die Amerikaner eingefallen sein (bei Nürnberg war sie seit der Flucht aus Schlesien im 3. Lager und wartete auf neuen Einsatz) mit Sehnsucht nach dem Elternhause. Was mag aus ihr geworden sein?
Der Arbeitsdienst für die weibliche Jugend (RADwJ) war - wie sein bedeutenderes Pendant für die männliche Jugend - von Beginn an als Herrschaftsinstrument des NS-Staates angelegt. Nach freiwilligen Vorläuferformen sollten dann seit 1935 per gesetzlich festgelegter Dienstpflicht die weiblichen Jugendlichen, sofern „arisch", vom RAD erfasst und während sechsmonatiger Lageraufenthalte „zu pflichtbewussten deutschen Staatsbürgern" erzogen werden. Anders als beim männlichen RAD blieb der Einsatz zunächst jedoch freiwillig; erst am 4. September 1939 wurde die Dienstpflicht faktisch auch für die jungen Frauen zwischen 17 und 25 Jahren eingeführt.
Quelle: NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Ingeborg Kruse war Arbeitsdienstführerin gewesen, musste im Krieg schließlich mit 45 „Arbeitsmaiden“ aus dem Osten fliehen und brachte sie wohlbehalten in den Westen (HK).
Margarete Kruse (Mitte) mit Tochter Ingeborg und Sohn Helmut (ca.1936)
Und Helmut hat noch kein Lebenszeichen von sich gegeben, seit einem kurzen Gruß von der Ostseeküste. Willi meinte, es wäre eine sehr gefährliche Lage. Nichts wie Kummer und Elend und herzzerreißende Angst und Befürchtungen vor dem Schlimmsten. Das kann einen Menschen zermürben und schlimme Gedanken und Absichten zeitigen.
Dann kamen hier die ersten Maitage. Die verliefen verhältnismäßig ruhig. Wenigstens hier in unserer Wohnstraße merkte man nichts, nur Gerüchte liefen um.
Barackenstraße
In der Barackenstraße ging’s lauter zu. Auch Plünderungen, und zwar von denen, die jahrelang hier Gutes genossen hatten im Reiche und auf der Insel. Willi musste seine ganze Autorität aufbieten, sogar handgreiflich welche an den Kragen nehmen, die parierten schließlich. Nachts war dann Verfolgung der Ausgerückten und Streife rings um die Häuser. Die Russen rückten immer näher. Der Rügendamm war in Sprengabsicht, der ganze Damm gespickt von Geschützen usw., von wem wussten wir nicht. Fliegeralarm usw.
Die Mädels, die hier als Nachrichtenhelferinnen ausgebildet wurden, sogar das Matrosenrevier der Abteilung, neu eingewiesene Kriegsinvaliden und Genesungssäle wurden geräumt und abtransportiert, und tausende von Flüchtlingen in den Räumen untergebracht.
Nachrichtenhelferinnen
Die Flüchtlinge waren in großer Not, kamen aus den bedrängten Gebieten Pommerns, hatten nichts zu essen und mussten 5 Tage in Binz auf der Bahn liegen, ehe sie nach hierher abtransportiert werden konnten. Dort in Lage des Kaufladens bekamen sie die Räume in den notdürftig fertig gestellten Hotelblocks angewiesen, Brot gab’s auch für uns nicht, auch machten sich schon Plünderungen der Ukrainer und Polen bemerkbar. Ein Jammer, dass die KdF-Verwaltung diese nicht vorher abgeschoben hatte – die waren die Triebfeder allen Unheils, das kommen sollte.
Vor den Häusern entwickelte sich ein richtiges Zigeunerlager, viele Feuerchen wurden angezündet, Holz konnte sich jeder in Massen aus den Wäldern holen. Wir Einwohner waren auch darauf angewiesen und machten es ebenso. Die vielen verwundeten Soldaten hatten vorher die Räume inne. Sie waren alle vorher abtransportiert worden, nachher erfolgte die Sprengung des Rügendammes, und dann kamen die Russen immer näher. Willi hatte noch veranlasst, dass jedes Haus in unserer Siedlungsstraße für ihre Mieter mit Holzstämmen versorgt wurde. Die bleiben draußen liegen, denn die Ausländer verweigerten die Arbeit.
Poststelle
Willi und Gretel hatten dolle Laufereien und Vorbereitungen. Die ganzen Leinenschätze lagerten unter seiner Obhut noch in den Vorratshäusern. Die hatte Gretel mit anderer Frauen Hilfe noch wenige Wochen vorher alle kontrolliert und die Bestände aufgenommen. Sie sagte, ich mache mir keinen Begriff davon, was da alles verwahrt würde an tausenden von Bezügen, (z.T. Damast), Laken, Kopfkissen, Frottier- und anderen Handtüchern, Küchenwäsche usw. Aber dann verfügte Willi, dass die Bewohner von KdF bedacht werden sollten, unter Berücksichtigung aller Parteien und Personen. Wir waren auch dabei, ehe alles den Russen in die Hände fiel. Dann ging die Verteilung vor sich in aller Ordnung und Ruhe. Unser Anteil wurde uns gebracht, in ein Rolltuch eingewickelt. Es waren wunderbare Sachen. 4x Bettbezüge (für 4 Personen), Handtücher usw. wie ich oben sagte. Das bleibt vorläufig in meiner Obhut liegen, unberührt. Als dann das Chaos losging, soll alles ausgeräubert sein von den Russen und Polenweibern. Wie mancher armen Flüchtlingsfamilie wäre damit gedient. Wir selbst im Reich litten ja schon lange an Wäschezerfall und Armut nach den langen Kriegs- und Elendsjahren. Und hier wurde mit dem teuren Gut so geaast.
Das haben Willi und Gretel nicht mehr erlebt, geahnt muss er es schon haben.
Ich habe die Beiden in den Tagen Donnerstag und Freitag (3. und 4. Mai) nur wenig zu Gesicht bekommen. Sie waren immer mit Rat und Tat unterwegs. Hier in der Wohnung war er immer am Telefon, und eine Abordnung nach der anderen kam: Bauernführer, Soldaten, Bittsteller.
Hier waren nämlich Lastwagen mit allerhand Gütern eingetroffen, wahrscheinlich Räumungsware von anderen Lagern. Wir hörten auch von Burg Crössinsee und seinen Beständen.
Die NS-Ordensburg Krössinsee (auch Crössinsee) liegt in der Nähe der Stadt Falkenburg in Pommern (poln.: Zocieniec) im heutigen Polen. Sie war Schulungsstätte für NS-Junker. Heute wird die Anlage von der polnischen Armee genutzt.
Quelle: Wikipedia
Und nun war große Nachfrage nach Schuhwerk. Alle Soldaten wollten sich noch equipieren, wo es möglich war. Unheimliche Mengen soll es gegeben haben in allen Sorten, meistens aber kleine Nummern von 40 an, weil die Junker dort noch kleine Füße hatten. Aber es sind wohl alle versorgt worden. Willi gab seine Einwilligung. Sogar Damenschuhwerk war dabei. Was sollte er da auch Widerstand leisten, es ging ja zum Ende. Das Letzte bekamen schließlich die Plünderer.
Abends kamen dann noch seine engeren Mitarbeiter her. Willi hatte noch etwas Wein. Olli musste auch noch ein Glas trinken, ich blieb im eigenen Zimmer und verzichtete auf ein Glas. Ich konnte nicht mehr ruhig mit anhören, wie Willi erklärte, dass er seinen Posten so lange als möglich ausfüllen wollte – bis zum bösen Ende. Auch Gretel war seiner Meinung und Ansicht, und wollte ihn bis zuletzt nicht verlassen. Willi hielt sich wunderbar, immer hilfsbereit und freundlich voll Rat für alle. Gretel sah furchtbar aus, blass und verhärmt, aber gefasst und tränenlos. Ich bekam auch schon hier und dort Anweisungen, was „nachher“ sein sollte. Wo ich manches finden konnte, wie ich über die neue Wäsche verfügen sollte – alle Vollmacht wurde mir erteilt im Haushalt und Olli von Willi in geschäftlichen Eigensachen. Allen meinen heimlichen Jammer musste ich unterdrücken, um ihr den Entschluss nicht schwerer zu machen. Meine so leicht überquellenden Augen konnte sie nicht ertragen. „Mut“ sagte sie, ihnen beiden würde es auch nicht leicht, aus dieser Welt zu gehen, hätten noch gern gelebt, aber sie müssten hart bleiben. Ob es wirkliche Not war? Wer weiß?
5.5.45
Dann kam der letzte Tag. Wir bekamen alle Vollmachten. Gretel sagte noch nicht wohin und was – legten alle Verfügungen uns ans Herz für die Kinder und gingen „noch einen Spaziergang in den Wald“ zu machen, wovon sie nicht zurückkamen. Sie hatten mal von einem schönen Punkt im Walde erzählt, hoch oben auf einem Berge hinter Prora, mit Blick über den Bodden, mit einem Weitblick über See und Wald bis nach Bergen hin. Da bedauerten sie, dass sie es uns nicht mehr alles zeigen könnten bei unserer Fuß- und Beinschwäche und –Beschaffenheit. Den Platz hatten sie sich ausgesucht.
