Wörterbuch der Unruhe - Ralf Konersmann - E-Book

Wörterbuch der Unruhe E-Book

Ralf Konersmann

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Beschreibung

In seinem großen Erfolg ›Die Unruhe der Welt‹ ging Ralf Konersmann der Frage nach, wie die abendländische Kultur die Unruhe zu lieben gelernt hat. In seinem neuen ›Wörterbuch der Unruhe‹ erweitert er nun auf Basis ungenutzter Quellen und neuer Schwerpunkte seine Untersuchungen und unternimmt essayistische Streifzüge zu den Orten, an denen die Unruhe Gestalt annimmt und sich uns als normalste Sache der Welt präsentiert: von »Arbeit« über »Coolness« und »Unbehagen« bis zur »Zerstreutheit«. Es sind funkelnde, brillant formulierte Begriffsreportagen zu der Frage, welcher Argumentationslinien und Überredungsstrategien sich die Unruhe bedient, um uns so sehr für sich einzunehmen. Das ›Wörterbuch‹ – so kann man sagen – ergänzt den Blick auf die Unruhe der Welt um den Blick auf die Welt der Unruhe. »Es gibt nichts Beruhigenderes als ein Wörterbuch.« Roland Barthes

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Ralf Konersmann

Wörterbuch der Unruhe

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Inhalt

MottoEinleitung: Die Unruhe des WörterbuchsArbeitBeschleunigungCoolseinEntwicklungEssayFaulseinFlexibilitätFließenGelassenheitGeschichteKainKriseKritikKulturLangeweileModeMußeNeugierdeParadiesRuheSchicksalSitzenStillstandTrägheitUmherirrenUnbehagenUnruheVeränderungWartenZerstreuungNachwort: Der Monolog der UnruheHinweiseEinleitungArbeitBeschleunigungCoolseinEntwicklungEssayFaulseinFlexibilitätFließenGelassenheitGeschichteKainKriseKritikKulturLangeweileModeMußeNeugierdeParadiesRuheSchicksalSitzenStillstandTrägheitUmherirrenUnbehagenUnruheVeränderungWartenZerstreuungNachwortQuellen

Es gibt nichts Beruhigenderes als ein Wörterbuch.

Roland Barthes, Minou Drouet und die Literatur

Einleitung: Die Unruhe des Wörterbuchs

Wir alle haben unsere Lektionen gelernt. Aber was heißt hier schon lernen? Die Unruhe ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, ohne dass wir uns hätten anstrengen müssen. Um in die Welt der Unruhe hineinzufinden, hat es vollkommen ausgereicht, sich nicht zu widersetzen.

*

Die Wörter und Gedankenströme, von denen wir uns haben einnehmen lassen, sprechen eine deutliche und jedermann geläufige Sprache. Sie versichern uns, dass noch nicht aller Tage Abend ist und jeder es schaffen kann;

dass wir dranbleiben und aus jeder Krise gestärkt hervorgehen;

dass es so, wie es ist, nicht bleiben muss und dass das Bessere der Feind des Guten ist.

Sie ermahnen uns, dass wir den Mut nicht sinken lassen, dass wir vorwärtskommen müssen und dass, wer nicht kämpft, schon verloren hat;

dass wir in die Gänge kommen müssen und es eilig haben;

dass die Uhr tickt und es kein Zurück gibt;

dass wir nichts versäumen und nicht trödeln dürfen;

dass wir mithalten müssen und den Anschluss nicht verlieren wollen;

dass man etwas aus sich machen, dass man vorankommen und öfter mal was Neues anfangen muss;

dass wir uns immer wieder neu erfinden;

dass wir die Hände nicht in den Schoß legen;

dass wir mit der Zeit gehen und am Ball bleiben;

dass das Beste noch kommt;

dass wir niemals aufgeben und immer wieder aufstehen;

dass wir nicht einrosten, nicht trödeln, nicht stillstehen, kein Moos ansetzen, den Kopf nicht hängen lassen …

So viel unbeirrbare Geschäftigkeit, die inmitten einer Welt der Ironien, des gewohnheitsmäßigen Hinterfragens und der distanzierenden Gänsefüßchen den Blick auf den Glutkern eines arglos gelebten Glaubens freigibt – eines Glaubens, den selbst die Ungläubigen teilen. Und der Chor der Engel, der all dies mit gütigem Lächeln verfolgt, antwortet auch und spricht: »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.«[1]

 

Die Erlösungsformeln der Unruhe sind Verdichtungen, die weitläufige Gedankenhintergründe spontan zusammenziehen. Sie bewegen sich leicht wie Gerüchte, die von Mund zu Mund fliegen, und kommen uns dabei so selbstverständlich vor, als wären sie vom Himmel gefallen. Allgegenwärtig und jederzeit abrufbar, sorgen die Klugheitsregeln des Alltagslebens für jenes Einvernehmen mit der Welt, das wir Kultur nennen und dessen Fortbestand wir, indem wir sie aufgreifen und tausendfach variieren, immer neu bestätigen. Für den aufmerkenden Zuhörer sind diese Formeln vielsagend und sogar sprechend, weil sie unbefangen hervortreten lassen, was es mit den Routinen der Unruhe auf sich hat. Die Unruhe – das ist nicht nur die geläufige Sprache der Komparative, nicht nur die routinierte Zielstrebigkeit und Eile, mit der wir dieses oder jenes hinter uns bringen, nicht nur die Promptheit, mit der wir vorankommen wollen, nicht nur die Sehnsucht nach offenen Horizonten, nicht nur der Abwehrzauber gegen Ödnis und Ereignislosigkeit, nicht nur die Schnelllebigkeit der Moden, das Brennen der Neugierde oder die Aufgewühltheit, die uns am Ende des Tages nicht loslässt. Die Unruhe ist all dies und noch mehr: der rote Faden im Gewebe der westlichen, der von Europa ausgegangenen und längst schon den gesamten Globus umspannenden Kultur.*

Nichts geschieht hier heimlich oder im Verborgenen. Wie in der berühmten Geschichte von Edgar Allan Poe über den entwendeten Brief* liegt alles, worauf es ankommt, für jedermann sichtbar offen zutage. Der Konsens der Unruhe ist mit Händen zu greifen und braucht, eben weil das Einvernehmen total ist, weder überprüft noch gerechtfertigt zu werden. Und ebenso, in diesem Klima der Vertrautheit und der fraglosen Akzeptanz, dienen uns jene eingespielten Automatismen, dient uns jenes Abc der Gemeinplätze und Verhaltensregeln als Kompass, der uns durch den Tag führt und sagt, wie das moderne Leben gelebt sein will. Das Hintergrundgeflüster der Unruhe besiegelt, was uns verbindet und worüber wir uns einig sind. Tatsächlich tritt uns die Kultur, die wir Tag für Tag mit Leben füllen, nur gelegentlich in Gestalt der Hochkunst entgegen, als Feierabendbeschäftigung und alltagsferne Exotik; weitaus verbindlicher artikuliert sich ihr Eigensinn in den Glaubenssätzen der Alltagsmoral, in ihrer Grammatik und Intonation. Zusammen bilden diese Sätze ein Gehäuse aus Signalwörtern, aus Bildern und eingefleischten Gedankenverbindungen, die nur allzu vertraut sind und für die Fertigkeit des gemeinsam geteilten Grundglaubens einstehen. Kultur ist nichts, was wir haben; in ihr zeigt sich und finden wir bestätigt, was wir sind.

*

Der Konformismus der Unruhe ist von Augenblicken getragen, in denen innere Überzeugung und kulturelle Konvention, Ich und Welt, emphatisch verschmelzen und Worte zu Fleisch werden. Wir dürfen uns dieses Einvernehmens sogar da sicher sein, wo wir unsicher geworden sind und zweifeln. Ist nicht die Unruhe, die all die alten Träume vom Glück und von der Zufriedenheit an sich gerissen hat, eine zutiefst zweideutige Angelegenheit, ist sie nicht zugleich Hektik, Unrast, Atemlosigkeit, mit einem Wort: Ist die Unruhe, von der wir uns haben ergreifen lassen, nicht auch eine Plage?

Seit rund sechzig Jahren klagen die Menschen über Stress, seit der Jahrtausendwende über Burnout. Die Diagnosen seien unscharf, heißt es von fachmedizinischer Seite, und so werden die Beschreibungen der Krankheitsbilder fortlaufend nachjustiert. Dennoch erfüllt gerade diese Vagheit ihren Zweck. Nicht nur gibt sie der diffusen Unzufriedenheit vieler Einzelner einen Namen, sie verhilft auch dem Zeitalter zu seiner Formel, in dem das Empfinden der Unruhe zur Massenerscheinung geworden ist. Burnout und Stress gelten, wie vor hundert Jahren die Nervosität, als Zeichen der Zeit.

Es ist interessant zu sehen, wie viel Aufmerksamkeit die Symptomatologie der Aufmerksamkeitsstörungen in diesen Jahren erfahren hat. Seit der Popularisierung des Stresses*, also etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts, rollen die schnell fertigen, schon im Blick auf ihre Medientauglichkeit gestellten Diagnosen in Wellen über das Publikum hin, um von dort auf die Wissenschaften zurückzuwirken und die Aktivitäten der Forschung anzuheizen. Wie einst die Theologisierung, die aus der Unruhe des Menschen zunächst die Verdammnis und dann die Chance der irdischen Bewährung herauslas, erweist sich auch die Psychologisierung der Unruhe als eine bestimmte Art, sich die Dinge zurechtzulegen. Die einschlägigen und überreich kommentierten Befunde – Nervosität, Burnout, ADHS, digitale Amnesie … – orientieren sich an dem, was sich mit den Instrumenten normaler Wissenschaft ermitteln, objektiv erfassen und therapeutisch ausrichten lässt. Unter diesen Bedingungen erscheint schließlich die Unruhe als Angelegenheit vor allem der nervlichen Konstitution und des gestörten Triebapparats: als etwas, das so nicht sein sollte und leider nicht nach Wunsch funktioniert. Der Mensch ist unruhig wie eine Uhr überdreht oder ein Wasserhahn tropft.

Die geläufigen Beschreibungen der Unruhe sind Präparate eines auf Anwendung bedachten Wissens, und als solche, das heißt als Beiträge zur Leidensminderung, halte ich sie für gerechtfertigt. Das Spezifikum der Unruhe, ihre Tragweite, ihre Präsenz, ihre Funktion als Kulturmacht ist jedoch in diesen Bildern der klinischen Diagnostik, die zugleich marktgerechte Etikettierungen sind, auch nicht annähernd erfasst. Mit dem vorliegenden Wörterbuch möchte ich deshalb vorschlagen, es einmal anders zu versuchen: auf dem Umweg über die genealogische Rekonstruktion. Die Genealogie will hinter die Routinen der aktuellen Problemwahrnehmung zurückgehen, um an die Anreizsysteme, an die Erwartungen und Phantasien heranzukommen, die einst der Unruhe die Bahn freigegeben haben. Was mich interessiert, ist weniger die Symptomatologie der inneren Unruhe, die mit Joseph Conrad und Fernando Pessoa ihre detailsensiblen Schilderer längst gefunden hat.* Was mich interessiert, ist die weit weniger auffällige, da mit der Wirklichkeit der westlichen Kulturen verschmolzene Phänomenwelt der moralischen Unruhe*. Das Interesse an der moralischen Unruhe geht über Befindlichkeitsfragen hinaus und erweitert das Blickfeld um das Ganze der menschlichen Situation. Im Alltag bleibt dieses Umfeld unscheinbar; es gehört zu den Gegebenheiten, vor deren Hintergrund sich das Geflimmer all der Ereignisse abspielt, denen unsere Aufmerksamkeit eigentlich gehört. Und doch ist die Unruhe immer da gewesen. Die übliche Delegation des Problems an die fachwissenschaftlichen Experten ist deshalb, wie ich meine, im gegebenen Fall nicht angebracht. Im Fall der Unruhe sind wir alle Experten – Kenner und Komplizen zugleich.

Die Frage ist also: Wie sind wir in diese moralische, in diese einerseits gefeierte, andererseits beklagte Unruhe hineingekommen? Wie, auf welchen Wegen und aufgrund welcher Erwartungen ist die westliche Kultur dazu übergegangen, überlieferte Regeln als Reglementierungen, Hemmungen als Hindernisse, Bindungen als Behinderungen, Vereinbarungen als Fesselungen zu kommunizieren, die es je eher desto besser aus dem Weg zu räumen gilt? Kurz: Wie ist es zugegangen, dass wir, obgleich wir offensichtlich an ihr leiden, zu Enthusiasten der Unruhe geworden sind?

Anders als jene repräsentativen Werte, wie sie bei offiziellen Anlässen, in Festreden und Grundsatzerklärungen angeführt werden, ist die Unruhe in den Kellerregionen des halb Gewussten und halb Gefühlten zu Hause – im selten thematischen und der Thematisierung auch gar nicht bedürftigen Untergrund dessen, was wir für selbstverständlich halten. Es sind gerade diese Selbstverständlichkeiten, in denen uns die wiederkehrenden, die vertrauten, erwarteten und darum als authentisch erlebten Grundzüge der eigenen Kultur entgegentreten. Sie begegnen uns in Gestalt des stillschweigenden, des vorbewussten und in diesem Sinn impliziten Wissens*, auf das wir umso bereitwilliger vertrauen, als es uns, anders als das artikulierte und explizite Wissen, Zweifel und Unsicherheiten erspart. In einer unauffälligen, vom Mantel der Normalität umhüllten Signalsprache geben uns die Weisungen unseres Kulturwissens vor, was allgemein geglaubt wird, was keiner Erläuterung bedarf und ohne weiteres einleuchtet. Nicht die Wahrheit ist hier entscheidend, sondern die Unbestreitbarkeit gemeinsam geteilter Überzeugungen – und so auch im Fall der Unruhe. Wir kennen die Unruhe nicht; es genügt, dass wir sie im Rücken haben und uns von ihr getragen fühlen.* Die Kulturbedeutung der Unruhe steckt denn auch weder im isolierten Begriffswort noch in dessen Geschichte; sie entspringt aus ihrer Aktualität: aus dem, was ihr zugetraut wird und es ihr in einem generationenübergreifenden Prozess ermöglicht hat, die Wirklichkeit ihren Vorgaben gemäß einzurichten.

*

In dreißig Kapiteln geht das vorliegende Wörterbuch den Anbahnungen dieses Konsenses nach – der Unruhe, die diese ganze Kultur, einschließlich ihrer Selbstbeschreibungen, erfasst hat und sie ausmacht. Wie, so lautet die Frage, haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben? Woher dieses, man muss es wohl so sagen, ungeheure Pathos der Unruhe?

Indem ich diese Fragen stelle, greife ich die Themen meiner Unruhe der Welt von 2015 auf, um sie nun mit dem Wörterbuch der Unruhe zu ergänzen, zu erweitern und zu variieren. Im Unterschied zu der vor zwei Jahren veröffentlichten Monographie, die den historischen Gesamtzusammenhang entrollt, konzentriert sich das Wörterbuch auf ausgesuchte Themen, auf Austragungsorte und Schauplätze der Unruhe: auf die Formen der Komplizenschaft, die wir mit der Unruhe eingegangen sind. Die folgenden Streifzüge durch die Unruhekultur bieten also nicht das Gleiche noch einmal, sondern setzen eigene Schwerpunkte auf der Basis ungenutzter Quellen. Stärker noch als die Monographie schärfen sie den Blick für Ambivalenzen und suchen, wie exemplarisch mit der »Neugierde« oder der »Mode«, dem »Warten« oder dem »Fließen«, Strategien der Normalisierung auf, deren Erschließung den monographischen Rahmen gesprengt hätte. Konsequent auf Einzelthemen bezogen, wollen die nachfolgenden Begriffsreportagen herausarbeiten, welcher Mittel und Wege, welcher Argumentationslinien und Überredungskünste sich die Unruhe bedient, um uns für sich einzunehmen. Sie ergänzen, mit einem Wort, den Blick auf die Unruhe der Welt um den Blick auf die Welt der Unruhe.

Erschloss die Monographie das Faszinosum der Unruhe, so wendet sich nun das Wörterbuch den Orten zu, an denen die Unruhe Gestalt annimmt und sich uns als die normalste Sache der Welt präsentiert. Deutlicher noch als die Monographie steht damit das Wörterbuch der Unruhe in der Nachfolge eines philosophischen Unternehmens, das Hans Blumenberg, ein Wort Pascals aufgreifend, als Beschreibung des Menschen bezeichnet hat.* Der Begriff ist mit Bedacht gewählt. Eine description de l’homme fragt nicht, wie die klassische Anthropologie, nach einem zeitlosen Wesen des Menschen; sie operiert indirekt und geht den Sinnwelten, den sozialen und kulturellen Pathologien nach, die so weit ausformuliert sind, dass sie, um im Alltag zu überzeugen, der Erläuterung nicht mehr bedürfen. Sie geben der menschlichen Welt Gestalt. Der zentrale Gegenstand einer solchen Beschreibung ist das schlechthin Anerkannte und bedingungslos Geglaubte. Sollte das Bedürfnis bestehen, das Interesse an diesen Orientierungsbeständen wissenschaftssystematisch auszuweisen, würde ich sagen: Es ist kulturphilosophisch.

Vor thematischen Verstrickungen vermag allerdings kein Bekenntnis zu schützen. Es gibt, bemerkt Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags, »nichts Beruhigenderes als ein Wörterbuch«.* Der süffisante Ton enthüllt das Selbstverständnis eines Formats, das seine Aufgabe herkömmlicherweise darin erkennt, dem Gewirr der tausend Stimmen mit seinen rasch aufeinanderfolgenden Wenden, mit seinen Moden, willkürlichen Setzungen und verwirrenden Zuständigkeiten den soliden Halt des ein für alle Mal verbürgten Wissens gegenüberzustellen. Wörterbücher wollen Felsen in der Brandung sein, Orte der Verlässlichkeit, der gesicherten Information und der anerkannten Tatsachen.

Für Barthes ist dieser Anspruch, der Anspruch der Diktionarität, schon vor einem halben Jahrhundert zur Farce geworden. Und in der Tat: Die Zeiten, da Wissen und Welt fein säuberlich getrennt blieben und sich die Solidität eines Urteils der Distanz zum Gewimmel der Erscheinungen verdankte, sind vorbei. Seit Beginn der Moderne, und das heißt an dieser Stelle: mit der Entgrenzung der Unruhe, führen die Begriffe, die einmal für die Zeitlosigkeit des wahren Wissens einstanden, ein Eigenleben als Spielmarken des Weltgeschehens. Jedes Thema, jedes Wort, sieht sich hineingezogen in den Kampf um Anerkennung. Das Denken und selbst die Art des Denkens wird zugewiesen oder beansprucht, wird, wie es heißt, »besetzt«, »verortet«, »situiert«. Längst ziehen die Wissenschaften mit und prägen ihre Begriffe zu travelling concepts* um, die über inquietätskonforme Vorgaben wie das Verlangen nach Flexibilität nicht nur aufklären, sondern sie sich zu eigen machen und wie selbstverständlich propagieren. Und wie die Wissenschaften wollen auch die Philosophen nicht länger beiseitestehen, wollen selber tätig werden und mitmischen. Wissen, so die Devise der Stunde, ist und kann nur sein Wissen in und sogar als Bewegung: Wissen, das die Welt verändert.

Vor dem Hintergrund solcher Effekte gibt das vorliegende Wörterbuch den Anspruch auf, einfach aufgrund seiner Gattungstradition ein Recht auf das letzte Wort zu haben. Es ist ein Diktionär, gewiss, aber vor allem ein kritisches Lesebuch, das sich als alphabetisch geordnete Folge von Essays präsentiert. Keine dieser Promenaden durch die Unruhekultur gibt eine kanonische Lesart vor, und so anmaßend wie grotesk wäre der Anspruch, die Einzelthemen erschöpfend behandelt zu haben. Die Absicht ist eine ganz andere: exemplarische Anbahnungen, Bekräftigungen und Verfestigungen dessen freizulegen, was sich als Unruhekultur etabliert hat. Auf den nachfolgenden Seiten wird es darum gehen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit geläufige Themen und Bildstrecken aufzugreifen, die dazu beigetragen haben, das Leben – unser Leben – unruhekonform auszurichten. Das philosophische Wörterbuch der Unruhe will Herkünfte aufzeigen, Zusammenhänge herstellen, Entscheidungen nachvollziehen, Erwartungen verdeutlichen, Unwiderstehlichkeiten benennen, kurz: Es versteht sich als ein Ort, an dem das kulturelle Grundgewebe unserer geistigen Orientierungen exemplarisch zutage tritt und wir etwas mehr über uns selbst und unsere kulturelle Wirklichkeit erfahren.

Eine Strategie des Ausstiegs, die, wie der Gelassenheitsprediger von Meßkirch schrieb, ein »Jegliches aufgehen« lässt »in seinem Beruhen«*, wird also auf diesen Seiten wenig Rückhalt finden. Das Wörterbuch der Unruhe weiß sich auch selbst als Dokument der Unruhe. Es präsentiert Denkwege und Spielformen der Inquietät, bestätigt ihre Unhintergehbarkeit aber auch an sich selbst. Auf die zweifellos verdiente Ironisierung behäbiger Diktionarität antwortet es mit der eigenen Unruhe, mit der Unruhe des Wörterbuchs. Das aber bedeutet, dass es sich nicht ausnimmt – und wie sollte es auch. Das sokratische Erbe der Philosophie besteht ja genau darin, dem, was allgemein geglaubt wird, so lange und, wie Platon seinen Lehrer zitiert*, »ohne Ruhe« zuzusetzen, bis es Rede steht über sich selbst.

Arbeit

oder wie die Unruhe ein menschliches Gesicht bekam

Aufs Ganze gesehen, ist die Geschichte der Arbeit die Geschichte einer grandiosen Umdeutung, die Geschichte einer Aufwertung und, am Ende, einer vorbehaltlosen Anerkennung. In dem Maße, wie die traditionellen Vorbehalte in einem epochenübergreifenden Prozess verblassten – Vorbehalte, die namentlich die körperliche Arbeit als Plage beargwöhnten, als Auferlegung und als Schmach –, rückte die Arbeit zum Inbegriff menschlicher Weltbemächtigung auf. Aus dem Mittel der Arbeit (»arbeiten, um zu leben«), das aus Gründen der Daseinserhaltung geduldet war, wurde mit wachsender Eindeutigkeit ein Zweck (»leben, um zu arbeiten«), der inzwischen alle übrigen Lebensentscheidungen maßgeblich bestimmt.

Weit davon entfernt, lediglich das Auskommen des Durchschnittsbürgers zu gewährleisten, ist die Arbeit in den Kulturen des Westens zum Lebensmittelpunkt geworden, zu dem Ort, an dem sich der Sinn des gesellschaftlichen wie auch des individuellen Lebens entscheidet. Im Zuge dieser Anerkennungsgeschichte entwickelte sich die Arbeit zu einem autonomen und zugleich maßstäblichen Wert,* der, einmal als allgemeine Richtschnur menschlichen Handelns anerkannt, zwischen richtig und falsch, zwischen zeitgemäß und veraltet, zwischen Fortschritt und Rückschritt zu unterscheiden erlaubt. Mit der Anerkennung der Arbeit und der allgemeinen Bestimmung des Menschen als Homo laborans erschienen rückblickend die Lebensformen der Vergangenheit, in denen der soziale Status weniger über die Lebensleistung bestimmt wurde als über die Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie, als irregulär und fremdbestimmt, vor allem aber: als statisch. Das ungeheure Ansehen der Arbeit in den Kulturen des Westens geht auf diese Meta-Erzählung zurück, wonach sie die Menschen aus der vormaligen Normalität des Stillstandes herausgeführt und ihnen die Mittel der aktiven Weltgestaltung und der Selbstbefreiung in die Hand gegeben habe.

Spätestens mit Beginn der Moderne war die Umwertung vollzogen und die Arbeit allgemein anerkannt. Anfang des 19. Jahrhunderts brauchte Hegel seinen Lesern schon nichts mehr zu erklären, als er das Voranschreiten des Geistes in der Geschichte als Arbeit beschrieb. »Der Geist ist nicht ein Ruhendes, sondern vielmehr das absolut Unruhige, die reine Tätigkeit«, und werde »nur durch die bestimmten Formen seines notwendigen Sichoffenbarens in Wahrheit wirklich«. In der Arbeit des Begriffs, heißt es dazu in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, zeige sich sein von äußeren Antrieben unabhängiges, rein aus ihm selbst hervordrängendes »Sichselbsterheben zu seiner Wahrheit«.* Gültigkeit und Verbreitung der Arbeitsmetapher verstehen sich bereits von selbst, sie sind unmittelbar evident. Wie in Wirtschaft und Gesellschaft auf Dauer nur die Arbeit zum Erfolg führt, so muss auch in Wissenschaft und Philosophie die Wahrheit etwas sein, was gesucht, ermittelt, durchgesetzt, kurz: was erarbeitet ist. Allerdings war Hegel klug genug, in seinen Schilderungen der universalisierten Arbeit den entscheidenden Punkt dahingestellt sein zu lassen: die Frage nämlich, ob die Emphase der Arbeit auf die Humanisierung der Welt hinausläuft oder aber zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz einer Wirklichkeit zwingt, die im Typus des Arbeiters die ihr gemäße, alle weiteren Formen menschlichen Daseins erübrigende Ausdrucksgestalt gefunden hat.

Die verstärkte Neigung, sämtliche Bereiche des Lebens als eine Modifikation von Arbeit aufzufassen, illustriert die Brisanz der damit eingeführten Unterscheidung. Eine Zwischenmenschlichkeit, die verlangt, dass fortlaufend in sie »investiert« werde und »Beziehungsarbeit« zu leisten sei, ist eben nicht mehr ganz dieselbe. Unweigerlich gewinnen die Vollzüge des Lebens das Ansehen von Aufträgen, Anforderungen und immer wieder neu auftretenden Problemen (»Beziehungsproblemen«), die mit der stillschweigenden Aufforderung einhergehen, konsequent »aufgearbeitet« und umfassend »abgearbeitet« zu werden.

Zum Verbreitungserfolg dieser Umdeutungen trug bei, dass es der Arbeit gelang, der Unruhe der Welt ein menschliches Gesicht zu geben und sie mit dem Selbstbehauptungsinteresse der Menschen abzugleichen. Was der Mensch vermag, vermag er durch Arbeit. Als nur wenige Jahre nach Hegels Tod die Malerei den körperlich arbeitenden Menschen als zeitgemäßes Sujet entdeckte, berief sich eine neue Künstlergeneration unmittelbar auf die postrevolutionäre, längst vom Industrialismus geprägte Realität, die es nun in all ihren Facetten zu verdeutlichen und aktuell zu beleuchten gelte. Das Bekenntnis dieser Maler zur Arbeit war ein Bekenntnis zur Unruhe der sinnlich-sichtbaren Welt, ein Bekenntnis zu der nun auch unter diesem Begriffsnamen auftretenden Moderne. Erklärtermaßen wandten sich die vor allem in der Frankophonie erfolgreichen Realisten von den akademischen Traditionen der Malerei ab und präsentierten sich in einem nicht bloß parteipolitischen Sinn dieser Begriffe als sozial und demokratisch. »Es steht euch zu«, proklamierte der theoretische Kopf des Kreises, Camille Lemonnier, am 15. Dezember 1871 in der Zeitschrift L’Art libre, »die Geschichtsschreiber eurer Zeit zu sein, sie so wiederzugeben, wie ihr sie seht, sie so auszudrücken, wie ihr sie fühlt«. Die Kunst, so die unruhekonforme Parole des Tages, sei aufgerufen, sich »mit der verschwenderischen Vielfalt der Bewegungen auf der Straße zu befassen«.*

Offenkundig herausgefordert durch die Konkurrenz der eben aufkommenden Photographie, setzte sich die »Malerei des Arbeiters« zum Ziel, die aktuelle, in die Zukunft weisende Schauseite der werdenden Welt zu bebildern, und das konnte für sie nur die von der Kunst bislang so sträflich vernachlässigte Welt der Arbeit sein. Diese Künstler wollten unmittelbar an die Wirklichkeit selbst herankommen, aber nicht bloß durch das Abbild, sondern durch die Darstellung der in den Erscheinungen des Alltags sich ausformulierenden Idee. Die Bilder dieses Künstlerkreises wollen die Veränderung der Welt durch die Arbeit zeigen und mit der demonstrativen Wahl des Sujets auch selbst zu dieser Veränderung beitragen. Damit war der entscheidende Schritt getan. In der Annahme, dass die Wirklichkeit, wie sie sich uns zeigt, bewegt ist, und dass umgekehrt nur das, was sich bewegt, überhaupt Wirklichkeit sein kann, bekennt sich die Malerei des Arbeiters zur Dynamik der Dingwelt, um eine Momentaufnahme dessen zu geben, was, wie sie zeigen möchte, ja ohnehin längst geschieht. So ändern sich mit dem Sujet auch der Wirklichkeitsbezug und das Selbstverständnis der darstellenden Kunst. Noch bevor die Kunst sich als Aktion verstehen lernt und die Künstler dazu übergehen, ihre Werke ihrerseits als Arbeiten anzusprechen, stellt der Anspruch des Realismus die weltanschaulichen Grundlagen einer Darstellungspraxis bereit, in der die Unruhe der Welt als gegeben anerkannt und an Distanzierung nicht mehr zu denken ist. Der Arbeiter, den die Kunst im Lauf des 19. Jahrhunderts für sich entdeckt, ist die Leitfigur, in der die Mobilisierung der wirklichen Welt, ihre Formbarkeit und grenzenlos scheinende Energie, als menschliche Gestalt hervortritt.

Die Malerei des Arbeiters betreibt, mit einem Wort, die Versöhnung von Inquietät und Humanität. Ein naiver Weltbezug, dem die Schauseite des normalen Lebens als Wahrheitsbeweis genügt, sodann die moralische Genugtuung, der körperlichen Arbeit endlich die Kunstwürdigkeit errungen zu haben, sowie schließlich das rückhaltlose Bekenntnis zur unruhig bewegten Welt bilden einen Assoziationszusammenhang, der weit über den Tag hinaus Bestand haben wird. Die menschliche Arbeit, »dieses ganze moderne Fieber [tout cette fièvre moderne] der industriellen Aktivität« – mit diesen Worten feiert Joris-Karl Huysmans die Ideen der 1880 in Paris ausgestellten Indépendants – »die ganze Pracht der Maschinen, das alles bleibt noch zu malen und wird gemalt werden«.* Das Manifest des Futurismus, der diese Ankündigung des Romanciers beim Wort nehmen und weltanschaulich entgrenzen wird, erscheint 1909.

Constantin Meunier zählt zu den prominenten Köpfen der Bewegung, er stand mit Rodin in Verbindung und stellte mit Ensor und Khnopff gemeinsam aus. Seit Beginn der achtziger Jahre verfolgte Meunier den Plan eines Denkmals der Arbeit, eines Monument au travail, das dann ein halbes Jahrhundert später in Brüssel posthum errichtet wurde. Man ahnt den weltanschaulichen Parcours, der durchlaufen sein musste, um die Arbeit, die zu Lebzeiten dieser Künstlergeneration den Eindruck der alttestamentarischen Mühsal problemlos bestätigte, öffentlich zu preisen und für denkmalwürdig zu halten. Entscheidend waren am Ende nicht Veränderungen aufseiten des Sujets, also im Alltag der Arbeit, sondern die Neuausrichtung einer in formaler Hinsicht noch immer bürgerlichen Kunst, die, indem sie sich emphatisch dem öffnete, was sie für wirklich hielt, moralisch wurde und diese Wirklichkeit überhöhte. Anders als die Zeitgenossen Cézanne oder Monet, anders als Turner oder McTaggart ist Meunier nicht daran interessiert gewesen, sich auf die Logik der Sichtbarkeit einzulassen und die Ausdrucksmittel der Malerei zu erweitern. Seine Kunst will solidarisch sein und plakatieren, was die Arbeit für die Menschheit bedeutet. In den Bildern, die auf der Basis dieses Programms entstehen, tritt die Arbeit stolz hervor als die technisch verstärkte Lebensenergie fraglos tätiger Menschen. Auch hier ist eine Metaphysik im Spiel, eine »Metaphysik des Diesseits«.* Verstanden als Arbeit, wird die Unruhe zur menschheitsdienlichen, den menschlichen Körper durchwirkenden und ergänzenden Kraft, in der Mensch und Werkzeug, Mensch und Maschine, Mensch und Wirklichkeit eine unauflösliche Einheit bilden.

Meunier stilisiert die Arbeit zum Prinzip, genauer noch: zu dem alle Lebensformen und Ideologien übergreifenden, der Wirklichkeit selbst entsprungenen und in genau diesem Sinn »realistischen« Weltprinzip. Seine Bilder unternehmen alles, um diese Idee populär zu machen. So sind die Menschenfiguren Meuniers ganz der Arbeit hingegeben; sie gehen, wie die Redewendung sagt, in ihr auf, und ohne sie sind sie nichts. Jedes einzelne dieser Werke zeigt die Figuren in stillgestellter Bewegung, deren Gestik und Haltung dem überindividuellen Willen zur Weltgestaltung Ausdruck gibt. Genau dies unterscheidet Meuniers Arbeiterbildnisse von der Tradition der bürgerlichen Portraitkunst. Das bürgerliche Portrait will die Erinnerung an die zeitlose Leistung bestimmter, in der Regel namentlich bekannter Einzelner bewahren, das proletarische Portrait will einen neuen Glauben verkünden, der das Individuum dazu anhält, sich zu überschreiten und als Teil einer epochalen Veränderungsgewalt zu erkennen. Das seither immer wieder geäußerte Erstaunen darüber, dass eine dezidiert moderne Idee, die Idee der Erhebung der Massen, durch eine auf vormoderne Ausdrucksmittel zurückgreifende Kunst propagiert worden ist, erklärt sich durch diese Verschiebung, die Entindividualisierung und Sakralisierung zugleich ist. Wie einst in der christlichen Kunst soll jeder dieser Portraitierten als Teil eines Ganzen hervortreten, das größer ist als er selbst und in ihm bloß vorübergehend und ganz zufällig Gestalt annimmt. Der Arbeiter ist ein Typus, und so verschmilzt er mit seinem Bild zur Pathosformel. Nicht einzigartigen, sich ihrer selbst und ihrer Leistung bewussten Persönlichkeiten tritt der Betrachter dieser Bilder gegenüber, sondern allegorischen Verdichtungen, den Inkarnationen eines Weltbildes. Entsprechend vage sind die Gesichtszüge gehalten, auf die es am Ende eben gar nicht ankommt. Die bürgerliche Kunst wollte Menschen und ihre Gesichter zeigen, die Kunst Meuniers möchte der Physiognomie der Masse Gestalt geben. An die Stelle bürgerlicher Identitäten treten hochgradig stilisierte, jederzeit ersetzbare, willkürlich aus der Masse herausgegriffene und doch pathetisch in ihr verbleibende Figuren, die einer neuen, zeitgemäßen und postidentitären Wertetafel entsprungen sind.

Die Titel der Reliefs und Skulpturen, die gemeinsam die Gesamtarchitektur des Monument au travail ergeben, bestätigen die Tendenz: die Industrie, der Hafen, das Bergwerk, die Ernte. All diese Szenarien wollen zeigen und geradezu lehrstückhaft vorführen, was die Arbeit ihrem Wesen nach ausmacht, und haben, indem sie sie zugleich verstärken, an der geborgten Sakralität der Arbeit teil. Mit diesem Selbstbestätigungseffekt schließt sich der Kreis. Wirklichkeit muss formbar sein, etwas, das sich von sich aus der starken Hand des grabenden, schweißenden, hämmernden, sägenden, bauenden und bohrenden Arbeiters ergibt. In den Arbeiterfiguren Meuniers gewinnt die Unruhe Menschengestalt.

Abb. 1: Constantin Meunier, La Mine.

Jedes einzelne dieser Werke, darauf beruht ihre gewisse Monotonie und sogar Austauschbarkeit, ist Ausdruck des Bekenntnisses zu ein und demselben Gedankenmotiv: dass der Mensch nicht nur nebenbei und unter anderem, sondern überhaupt und schlechthin ein Arbeiter sei. Während jedoch Meunier um diese Idee des rastlos tätigen Lebens noch wirbt, indem er, allem behaupteten Realismus zum Trotz, seine Schauseite mit beträchtlichem, der Sakralkunst abgeschautem Pathos inszeniert, setzt Ernst Jünger den epochalen Rang der Figur bereits als gesichert voraus. Meuniers Arbeiter sprengen den Rahmen der bürgerlichen Kunst; Jüngers Arbeiter sprengen das Fundament der bürgerlichen Welt. Jüngers Manifest über »Herrschaft und Gestalt« erhebt den Anspruch, mit dem Arbeiter endlich den allgemeinsten, den erschöpfenden Ausdruck menschlicher Existenz enthüllt zu haben. »Arbeit ist also nicht Tätigkeit schlechthin, sondern der Ausdruck eines besonderen Seins […]. Das Gegenteil der Arbeit ist nicht etwa Ruhe oder Muße, sondern es gibt unter diesem Gesichtswinkel keinen Zustand, der nicht als Arbeit begriffen wird. Als praktisches Beispiel dafür ist die Art zu nennen, in der schon heute vom Menschen die Erholung betrieben wird. Sie trägt entweder, wie der Sport, einen ganz unverhüllten Arbeitscharakter, oder sie stellt, wie das Vergnügen, die technische Festivität, der Landaufenthalt, ein spielerisch gefärbtes Gegengewicht innerhalb der Arbeit, keineswegs aber das Gegenteil der Arbeit dar. Hiermit hängt die wachsende Sinnlosigkeit der Sonn- und Feiertage alten Stiles zusammen – jenes Kalenders, der einem veränderten Rhythmus des Lebens immer weniger entspricht.«*

Das ist 1932 geschrieben. Jünger, dessen Sätze schon wie Durchsagen klingen, tritt als Visionär einer Moderne auf, die einen unwiderruflichen Schnitt gesetzt und sich von der Vergangenheit – von der Vergangenheit schlechthin – losgesagt hat. Sein Untersuchungsgebiet ist deshalb auch nicht die Moderne im Sinn eines historischen Zeitabschnitts, sondern schlicht und einfach das Sein, wie es sich hier und heute abschließend Bahn gebrochen hat – das »Zeitalter des Arbeiters«. Dem Anspruch nach ist die Diagnose Jüngers ontologisch. Als das Gesetz der absoluten, endlich einförmig und universal gewordenen Wirklichkeit entdeckt er die totale Mobilmachung und als ihren einzig verbliebenen Protagonisten den Arbeiter. Der brave, hochmoralische Realismus eines Meunier ist in dieser Vision aufgegangen, darüber hinaus aber ins Heroische verschoben. Der Arbeiter Jüngers fordert, was ihm zusteht, im Bewusstsein, das Prinzip einer Welt zu verkörpern, in die sich nun alle gehorsam und widerstandslos einzuordnen haben. Jünger stilisiert den Arbeiter zur Schicksalsgestalt, deren aktuelle Erscheinung auf der Weltbühne von elementaren und in diesem Sinn unbefragbaren Kräften getragen ist, von einer zeitlosen und nun endlich von ihren bürgerlichen Fesseln befreiten »Urbewegung«. Er glaubt im Arbeiter den Typus erkannt zu haben, der diese Welt der Unruhe von nun an bevölkern wird und sich ihr, indem er ihr im soldatischen Sinn des Wortes »dient«, bedingungslos ergibt. Arbeiter, schreibt Jünger, ist derjenige, der »immer eindeutiger« nur in die »eine Richtung« geht, »in der überhaupt gewollt werden kann«. Die Liquidierung des Einzelwillens und jeder Form von Liberalität, die als Willensschwäche und Inkonsequenz nur noch belächelt wird, stilisiert Jünger zur Haltung, die durch ihren Bund mit den Schicksalsmächten von vornherein gerechtfertigt ist.

Auf die Festigkeit der Formen sei nun kein Verlass mehr, konstatiert Jünger und spricht von der »Übergangslandschaft« der heutigen Zeit: »alle Formen werden ununterbrochen durch eine dynamische Unruhe modelliert. Es gibt keine Beständigkeit der Mittel; nichts ist beständig als der Anstieg der Leistungskurve, die das gestern noch unübertreffliche Instrument heute zum alten Eisen wirft.« Das Wort Übergang meint hier nicht lediglich den Wechsel von einem Zustand zum nächsten, sondern Transitorität: unablässigen Aufbruch, ständige Innovation, ewige Ankunftslosigkeit – und mitten darin der Arbeiter, der alle früheren Formen menschlichen Daseins abgestreift hat und überlebt. Jünger bietet weder eine hoffnungsfrohe Utopie noch eine finstere Dystopie, sondern den Katechismus eines Glaubens ohne Religion, der nach dem siegreichen »metaphysischen Angriff« auf die Schwundstufen der Bürgerlichkeit in dieser Situation allein noch übrig bleibt. Die einhundert Jahre zuvor von Hegel noch offengelassene Frage, ob die Menschen an der Universalisierung der Arbeit als Gestalter oder als Mitläufer teilhaben werden, als Lenker oder Gelenkte, ist 1932, zwei Jahre nach der Enthüllung des Brüsseler Monument au travail, mit verstörender Kaltschnäuzigkeit beantwortet worden.

Beschleunigung

oder wie uns die Unruhe zur zweiten Natur geworden ist

André Breton, der Kopf des französischen Surrealismus, berichtet von frühen Schreibexperimenten mit Philippe Soupault, bei denen es darum ging, die Geschwindigkeit der Textproduktion fortlaufend zu erhöhen. Die Aktion war Teil des kunstavantgardistischen Bestrebens, tiefsitzende Gewohnheiten vorzugsweise der Alltagswahrnehmung zu irritieren und mutwillig außer Kraft zu setzen. Breton sah freilich noch einiges mehr darin. In dem »Gemurmel« jenes »magischen Diktats«,* das er in jenen Tagen zu Protokoll nahm, wollte er die Stimme des Unbewussten erkannt haben. Die Manipulation des Schreibvorgangs war bloß ein Mittel; entscheidend war die mit der zunächst bloß aberwitzig erscheinenden Beschleunigung demonstrierte Möglichkeit, die eben noch auf Treu und Glauben gegründete Korrespondenz von Sprache und Welt zu labilisieren, mit den Konventionen der Sprache zu brechen und auf diese Weise den Dingen ihr Geheimnis zu entreißen. Die Beschleunigung erschien geradezu als Methode, der zuzutrauen war, dass sie die Welt sowohl entstellt als auch verändert und auf überraschende Weise über sich selbst aufklärt. Breton spricht von den Eruptionen einer »poetischen Unruhe«.

Die Beschleunigung und damit verbunden das Empfinden, dass überwältigende, wenngleich nicht unbedingt einleuchtende Veränderungen einander ständig ablösen und dass in immer weniger Zeit immer mehr geschieht, ist eine Erfahrung bereits des späten 18. Jahrhunderts und speziell des Zeitalters der Revolutionen. Die Prämissen dieser Erfahrung sind komplex. Schon im Neuen Testament ist verheißen, dass Gott sich der Auserwählten, um ihnen das Leid der letzten Tage zu ersparen, »in Kürze – en tachei« annehmen und um ihretwillen die irdische Zeit verkürzen werde. Gott werde ihnen, heißt es bei Lukas, »unverzüglich ihr Recht verschaffen« (18,8; s.a. Offbg 6,11).* Die Freigabe, gar Wertschätzung einer weltumspannenden Akzeleration der menschlichen Dinge ist allerdings aus diesen Prophezeiungen nicht ableitbar. Mit der heilsgeschichtlichen Beschleunigung sieht sich auch der Widersacher Gottes herausgefordert, der, wie es ebenfalls in der Offenbarung des Johannes heißt, angesichts seiner auf die irdischen Verhältnisse beschränkten Macht sogleich erkannt hat und »weiß, daß er wenig Zeit hat« (12,12).

Der Beschleunigung, das ist so früh schon gesehen worden, wohnt ein Selbstverstärkungseffekt inne, der in der Folgezeit jederzeit aktivierbar geblieben ist und sich auch für säkulare Zwecke nutzen ließ. Im Zeitalter der Revolutionen ändern sich allerdings, wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, die begrifflichen Voraussetzungen entscheidend. Während noch Luther die Tempobeschleunigung der irdischen Zeit auf den Willen Gottes zurückführt und sie im Sinn der Evangelisten als Vorzeichen des Jüngsten Gerichts aufnimmt, kann Maximilien de Robespierre am 10. Mai 1793 von einer revolutionären »Pflicht« zur »Beschleunigung« des Fortschritts* sprechen und damit eine Verlaufsform vorgeben, die bereits vollständig in die Hände des Menschen gelegt ist. Diese neue, spezifisch neuzeitliche Beschleunigung ist weniger ein Zeichen als ein Instrument. Der Verfügungsmacht Gottes und ebenso den gleichbleibenden Rhythmen der Natur entzogen, ist die Zeit abstrakt geworden und steht fortan zur Disposition. So ist es eine der ersten Standardaufgaben der eben aufkommenden Ökonomie, die Ertragschancen der durch die Optimierung, und das heißt: der durch die Beschleunigung des Verkehrs- und des Nachrichtenwesens erzielbaren Zeitersparnisse zu kalkulieren. Die konsequente Ausrichtung des Alltags an einer einheitlichen Ordnung der Zeit wird noch ein volles Jahrhundert in Anspruch nehmen; aber schon hier beginnt die penible Kalkulation und Ausbeutung zeitlicher Einheiten: das Diktat der Uhr, die dem Industrialismus den Takt vorgibt. Die effizienzbedingte Beschleunigung erweist sich mit wachsender Deutlichkeit als Gebot der ökonomischen Klugheit. Politisch, wie bei Robespierre, wird dieses Effizienzkalkül ergänzt um das Bild einer Beschleunigung, die ein Gebot der Moral und der Gerechtigkeit ist. Damit möglichst viele Menschen möglichst rasch in den Genuss all der Verbesserungen kommen, die der Fortschritt erwarten lässt, wird die Steigerung des Entwicklungstempos unabweislich: die Durchführung einer Revolution, die allein deshalb geboten ist, weil sie die Zeit der Entbehrung verkürzt. Je schneller getan wird, was getan werden muss, desto besser.

Das alles liegt mehr als zweihundert Jahre zurück. Inzwischen kommt die Beschleunigung vor allem als allgemein geteilte Erfahrung in den Blick, als Alltags- und »Grunderfahrung« der Moderne.* Seit der Erfindung der Eisenbahn ist die Erlebnisvielfalt dieser Beschleunigung tausendfach beschrieben worden: Der Alltag ist in den Komparativ gerutscht. Der Soziologe Hartmut Rosa, der den Begriff der Beschleunigung zeitdiagnostisch erschlossen und populär gemacht hat, weist zu Recht darauf hin, dass die notorische Zeitknappheit und jene Zeitgewinne, die durch Straffung der Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen erzielt werden, einander grundsätzlich die Waage halten. So ziemlich alles geht rascher und schneller, ein einziger Klick genügt. Gleichwohl hält das Empfinden einer permanenten Temposteigerung an, weil die gewonnene Zeit sofort durch ungeahnte Aufgaben und zusätzlichen Aufwand besetzt wird. Die »Beschleunigungsgesellschaft« kennt eigentlich weder freie Zeit noch das Erleben ungestörter Ruhe. Umso vertrauter sind ihr Formen erzwungener Untätigkeit, die durch Ausfälle, Verspätungen oder Staus verursacht sind. Derlei Erfahrungen schaffen Verdruss, ändern aber, wie Umfragen zeigen, nichts an der grundsätzlichen Einwilligung der Beteiligten in den Konformismus der Unruhe. Die Unterscheidung zwischen dem, was wir tun wollen, und dem, was wir tun müssen, verliert jeden Sinn, und mit wachsendem Wohlstand nimmt auch der »Zeithunger« ständig zu. Rosa resümiert den Verlauf der letzten zweihundert Jahre als »Beschleunigungsgeschichte«: Die Logik der Beschleunigung sei der Moderne »eingeschrieben«.

Problematisch an diesem Befund ist die Reduktion der Wahrnehmung auf die Welt, wie sie sich uns darstellt: auf die unmittelbare Erfahrung. Dass es auch abseits der organisierten, stets ein wenig bemüht wirkenden »Entschleunigung« wohlvertraute Zonen der Ruhe gibt, die sich dem Beschleunigungsdiktat entziehen, bleibt für die Diagnose ebenso folgenlos wie die Einsicht, dass die Kultur sich auch in den Traditionen des Westens ganz wesentlich als Organisation von Umwegen, von Verzögerungen und Verlangsamungen verwirklicht. Kultur ist rein als solche »institutionalisiertes Atemholen«.* Feste und Feiertage, wiederkehrende, oft umständliche Rituale und ebenso die klassischen, ich bin versucht zu sagen: die voravantgardistischen Aneignungsformen der Kunst – das Lesen, das Zuhören, das Sichversenken, das Nachdenken, das Sinnen, das Erzählen, das Genießen – dehnen die Zeit und sind rein als solche manifeste Widerstände gegen den Andrang der Beschleunigung. Der rigide, moralisch, technisch und politisch gewollte und vorangetriebene Abbau dieser Verlangsamungstechniken und weniger eine authentische Temposteigerung hat ermöglicht, was heute als Beschleunigung beschrieben wird.

Bedenklich ist zudem, dass entfällt, was Koselleck als Erwartungshintergrund beschreibt. Was an der Beschleunigung über Jahrhunderte hinweg fasziniert hat, war ihre Doppelbödigkeit: das wechselseitige Aufschaukeln von Erfahrung und Erwartung. Die Beschleunigung erzeugt nicht nur Stress und ist nicht nur das Diktat neoliberaler Effizienzkalküle, sondern bedient Sehnsüchte, die, angefangen mit den biblischen Prophezeiungen, tief im Mythos wurzeln und uns noch immer faszinieren. Auch ohne dass man uns überreden müsste, sind wir geneigt, die Unruhe als Versprechen anzunehmen und ihr unser Vertrauen zu schenken. Wie die Experimente der Avantgardekunst zeigen, hat die Faszination des Gedankens, der Wirklichkeit der Welt durch Beschleunigung beizukommen, auch auf dem Boden der Moderne nicht nachgelassen.

Es heißt also, die Zusammenhänge unangemessen zu vereinfachen, wenn die Beschleunigung plötzlich als »Entfremdung« dasteht, die, wie Rosa formuliert, die Menschen »rigoros reguliert, beherrscht und unterdrückt«.* Der Entfremdungsbegriff evoziert ein Deutungsmuster, dessen Eingängigkeit ihm in Wissenschaft und Kritik einen festen Platz gesichert hat. Er ist jedoch, wie ich meine, an dieser Stelle unbrauchbar, weil er den Zugang zur Genese der Unruhekultur verstellt. Die Idee der Entfremdung folgt dem bereits von Platon bemühten Bild des Meeresgottes Glaukos,* dessen ursprüngliches Gesicht durch Wind und Wellen, durch Muschelschalen und Gestein derart verunstaltet ist, dass ihn nun niemand mehr erkennt. Seine Gesichtszüge sind überwachsen und entstellt, doch unter der Maske sind sie unversehrt geblieben und immer noch da. Diese Bildidee der verborgenen Präsenz bietet dem Entfremdungsbegriff das entscheidende Motiv. Als entfremdet gilt dieser Urfabel zufolge, was im Laufe der Geschichte entweder von dem abgekommen ist, was im Ursprung bereits vorhanden war und nach wie vor die Norm vorgibt (das ist die konservative Version), oder (so die progressive Variante) was die Entwicklung der Dinge vom regulären Weg des Fortschritts abgelenkt und in die Irre geführt hat. In beiden Varianten klingt ein gnostisches Motiv nach: die Überzeugung, dass die Welt so, wie sie ist, ihrem idealen Modell sei es nicht mehr, sei es noch nicht genügt und nun mit allen Mitteln aus der Situation der Selbstverfehlung herausgeführt werden muss. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, wie hilflos das Entfremdungskonzept der Herausforderung der Unruhe gegenübersteht. Es dämonisiert die Unruhe als unheilvolle Beschleunigung, um ihr doch zugleich mit seinem Protest gegen den status defectus ständig neue Nahrung zu geben.

Nach meinem Eindruck verkennt die Konkretisierung der Beschleunigung als Entfremdung den elementaren Einsatz der Unruhewelt. Die Unruhe ist weder eine Verfallsfigur noch ein Mahnmal missglückter Emanzipation. Sie bildet im Gegenteil das treibende und mit wachsender Deutlichkeit auch bejahte Element einer Kultur, die spätestens mit Ausbreitung der christlichen Gnadenlehre zur Verabschiedung der vita contemplativa bereit war. Die Beschleunigung ist eine weitere Ausdrucksgestalt der Unruhe, und wie diese geht sie auf Erwartungen zurück, die lange vor ihrem aktuellen Auftreten formuliert worden und, wie exemplarisch das Offenbarungsversprechen der Kunstavantgarden, im Mentalitätshaushalt der westlichen Kulturen aufgegangen und mit ihm verschmolzen sind. Von Entfremdung kann keine Rede sein.

Die Unruhe, das ist kurzgefasst meine These, ist das, worauf diese Kultur, nachdem mit der alttestamentarischen Vertreibungsgeschichte das tragfähige Erzählschema gefunden war, von Anfang an gesetzt hat. Und genau so, als Ort der Gefahr, wo das Rettende auch wächst,* ist uns die Unruhe zur zweiten Natur geworden.

Coolsein

oder die Maske der beherrschten Unruhe

In den Sprachwelten des Sozialen nehmen Kühle und Kälte, so eng die Wortbedeutungen beieinanderliegen, unterschiedliche Wertungen vor. Wer kühl ist, gilt als besonnen, mitunter auch als berechnend, während der Kalte empfindungslos ist und sogar brutal. Etwas Drittes und wiederum anderes ist die Coolness. Der Coole, diese Assoziationen sind trotz der Allgegenwart des Begriffs noch ahnbar, hat seinen eigenen Kopf, er hat sich im Griff und macht sein Ding.

So weit eine erste Sortierung. Ihre Aussagekraft verdanken die begrifflichen Prägungen dieses Feldes einer metaphorischen Grundschicht: der rein als Temperaturgegensatz artikulierten Gegenstellung zur Hitze der Unruhe. Die Klarheit dieser Alternative dürfte den Verbreitungserfolg des Attributs erklären. Schon mit der Wortwahl hebt es die Eigenständigkeit dessen hervor, der, weil cool, von der Unruhewelt nicht zu vereinnahmen ist. Das Coolsein profitiert vom Pathos der Distanz.

Ohne den Begriff bereits verfügbar zu haben, der erst rund zehn Jahre nach seinem Tod aufkam, hat der Philosoph und Soziologe Georg Simmel die Attribute der Coolness zusammengetragen, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf den Straßen der großen Städte bemerkbar gemacht hatte. Wohl erstmals überhaupt hat Simmel in der Coolness – er selbst spricht von Blasiertheit – ein Epochenphänomen ausgemacht, das zwar mit den Lehren der spätantiken Stoa manches Verhaltensmerkmal teilt, aber eben nicht, wie diese, ein vernunftgeleitetes Programm der Selbstdisziplinierung vorsieht, das sich auf die Intaktheit der kosmischen Weltverfassung stützen kann. Die Coolness, erkannte Simmel, ist durch und durch ein Phänomen der Moderne. Sie reagiert auf die Zumutungen des großstädtischen Lebens, auf seine Anonymität, seine Schnelllebigkeit und Intensität. Neben der großen Stadt nennt Simmel als weitere Entstehungsbedingung des Coolseins die Veränderungen des Alltags, die der gleichmacherische, alles und jedes in quantitative Größen umrechnende Geldverkehr mit sich gebracht habe. Das »Wesen der Blasiertheit«, erläutert Simmel, sei die »Abstumpfung«, und zwar in dem genauen Sinn, »daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.«*

Demnach haben wir es nicht, wie im Fall der stoischen tranquillitas animi, mit einem Selbstbehauptungsanspruch aus eigenem Recht zu tun, sondern mit einer Art negativer Anpassung – einem auferlegten »Reflex«, der, um die Reize der Unruhekultur abzuwehren, »die ganze objektive Welt« vergleichgültigt und entwertet. Keineswegs ist also die Coolness selber cool, denn sie fordert den Preis der Desensibilisierung. Im Gegenzug verspricht sie den Betroffenen die Unverletzlichkeit. Coolness ist ein Verhaltensmodus, der den Distinktionsbedürfnissen der Großstadtmenschen nachkommt und durch seine Kultivierung die Unruhe der Welt, ihre nervöse Überdrehtheit und Hektik, schlicht und einfach abprallen lässt.

Als dieses negative Angebot, sich abzusetzen und Nicht-Übereinstimmung mit dem zu signalisieren, was sich als Normalverhalten aufdrängt, hat die Coolness im Lebensgefühl der Moderne ihren festen Platz. Dass die Inszenierung von Konventionsbrüchen längst schon selber konventionell ist, schmälert das Ansehen der Coolness nicht – auch deshalb und in gewissem Sinn zu Recht nicht, weil die Vorgaben der Coolness allgemein genug sind, um den unterschiedlichsten Ausdrucksbedürfnissen als Forum zu dienen. Exemplarisch tritt die Ausdrucksvielfalt der Coolness in den Domänen der Musik und des Films hervor. Die Coolness eröffnet einen Projektionsraum, der als Gegenraum fungiert und der Raserei der Non-Stop-Kultur, ihren Unbedachtheiten und törichten Populismen, für den Augenblick eine spielerische, über einschlägige Stilmerkmale kommunizierte Souveränität gegenüberstellt. Die Unzugehörigkeit des Coolen ist ein Authentizitätsversprechen, das der Jazz ebenso genutzt hat wie der Western. Im Laufe seiner Entwicklung hat speziell der Western Typen auf die Leinwand gebracht, die geradezu als Inkarnationen der Coolness auftraten – Typen, auf die in besonderer Weise die Bemerkung Walter Benjamins zutrifft, die Heroen der Moderne seien eigentlich Heldendarsteller.* Der Western hat das Verhaltensmodell des Coolseins aufgegriffen und mit beispielloser Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, was es damit auf sich hat: dass die Coolness eine Maske ist. Die Maske des Coolen ist freilich die Anti-Maske, ist die Maske der Maskenverleugnung, ist die Maske des Spielers, der spielt, dass er nicht spielt.

Indem der Western Heldenmythos und Coolness zusammenzieht, bestätigt er die hohe Anschlussfähigkeit des Konzepts. Auf populäre Weise und allein durch die Augenfälligkeit der filmischen Demonstration verspricht der Western, dass auch in der Kontingenzwelt der Moderne Haltung und Konsequenz noch immer möglich sind. Damit, dass der Western diesen Nachweis in einer Kulisse führt, die vormoderne Lebensformen und Landschaften zitiert, räumt er ein, dass auch er selbst ein Zitat und als solches eine durch und durch moderne Erscheinung ist. Wichtiger als die vertrauten Requisiten der Gunfighter, wichtiger als Hüte, Sporen oder Revolver, ist denn auch das Auftreten dieser Helden, sind die Insignien der Coolness: Unnahbarkeit, Kurzangebundenheit, Gesichtsfestigkeit. Diese Art, sich zu geben, ist des Westerners mächtigste Waffe. So wenig wie der Sieger einer sportlichen oder wirtschaftlichen Konkurrenz ist der Coole seiner Natur nach böse oder grausam.* Er hält sich lediglich an die Vorgaben eines Rituals, in dessen Rahmen er mit unbeirrbarer Folgerichtigkeit tut, was getan werden muss. Dem Coolen, und zumal wenn er den Mythos des Helden zitiert, fügt sich alles nach Wunsch. Derart auf Schauwerte zurückgenommen, hat die Coolness allerdings ihren Preis: sie hört auf, exemplarisch zu sein. Spätestens in den Neowestern Clint Eastwoods und Quentin Tarantinos ist dieser Punkt erreicht. In der Maske des Westerners treibt der Coole endgültig über die Grenze der Wirklichkeit hinaus und wird zum Gespenst.

Dass der Modus der negativen Anpassung die unterschiedlichsten Ausdrucksbedürfnisse bedient, ist Stärke und Schwäche der Coolness zugleich. Längst hat das Konzept seinen charakteristischen Modernitätsbezug, der in den Zeiten des Cool Jazz als Distanzierung von der dominanten, als weiß und kapitalistisch stigmatisierten Unruhewirklichkeit lesbar war, verschlissen. Als cool zu gelten, ist heute leicht – zu leicht, um noch ernsthaft etwas zu bedeuten. Von der sorgsam inszenierten Maske der Abweichung ist eine Handvoll imitierbarer Posen geblieben: die aufreizende Langsamkeit einer Kopfbewegung, ein paar verwegene Bartstoppeln, ein harter Blick und gelegentlich ein männermäßiges Zungeschnalzen, das, durch und durch melancholisch, für einen Sekundenbruchteil das Gesumm der menschlichen Dinge verstummen lässt.

Entwicklung

oder wie die Unruhe die Erwartungen schürt

Eine bewährte Arbeitshypothese ideengeschichtlicher Forschung besagt, dass nicht zu jeder Zeit alles gesagt werden kann. Wäre es anders, könnte uns nichts von dem, was einen Zeitbezug hat, interessieren. Zum Beispiel historische Tatsachen. Mit ihnen selbst bliebe auch dieses Andere und Fremde unbemerkt, das einst ihr Auftreten an Ort und Stelle ermöglicht hat: der, wie Wilhelm von Humboldt* mit Mut zur plastischen Formulierung gesagt hat, »unsichtbare Theil jeder Thatsache«.

Die methodologische Einschränkung gilt für Begriffe ebenso wie für Sätze, also etwa für Aussagen wie diese: »La civilisation des Peuples n’est pas encore terminée – Die Zivilisation der Völker ist noch nicht abgeschlossen.«* Geschrieben hat den Satz der französische, im pfälzischen Edenkoben geborene Aufklärungsphilosoph d’Holbach, veröffentlicht wurde er im Jahr 1773. Bis in die Wortwahl hinein sind die Spuren der Entstehungszeit erkennbar. Wie die pathetische Rede von den Völkern ist auch der Begriff der Zivilisation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu und vorerst nur in Intellektuellenkreisen gebräuchlich. Als Bewegungsbegriff reiht sich die Zivilisation ein in die zeitgenössische, rückblickend oft als vorrevolutionär beschriebene Emphase des Zeitenwandels. Ebenbürtig steht sie neben Formulierungsangeboten wie Geschichte, Fortschritt, Prozess. Untermalt wird diese Emphase durch das Adverb: ne pas encore. Die adverbiale Verbindung von Zeitlichkeit (»noch«) und Negativität (»nicht«) reißt den Horizont der Erwartungen auf und stiftet den markant neuzeitlichen, überhaupt erst unter den Bedingungen der Unruhekultur verständlichen Zusammenhang von Veränderung und Erwartung. Was wir erwarten, ist in der Unruhekultur allemal interessanter als das, was wir bereits erfahren haben. So konzentriert sich die Aufmerksamkeit wie von selbst auf die Aktualität und das, was sich darin zeichenhaft ankündigt. Weil die Dinge in Bewegung sind, weil etwas überhaupt erst wird und keineswegs immer so bleibt, kann das, was einstweilen noch unbestimmt ist, kann also die Veränderung sogleich besetzt und genutzt, und das heißt: politisch erstritten, moralisch eingefordert und propagandistisch vorangetrieben werden. Der Begriff der Zivilisation eröffnet die Aussicht auf die Behebung der Mängel, die nun, weil rein zeitlich bedingt, als besonders schmerzlich empfunden und damit akut werden.