Wunder brauchen etwas länger - Hannah Sunderland - E-Book

Wunder brauchen etwas länger E-Book

Hannah Sunderland

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Fremde. Zwei zufällige Treffen. Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte.

Als Nell in einem Café in Birmingham auf den charmanten Iren Charlie trifft, ist sie sofort hin und weg. Dennoch verabschiedet sie sich nach der gemeinsam verbrachten Mittagspause von ihm, ohne nach seiner Nummer zu fragen - und ärgert sich maßlos darüber. Am nächsten Tag ruft Charlie wegen seines depressiven Onkels bei der Hotline für psychisch Erkrankte an, bei der Nell arbeitet, und landet ausgerechnet in ihrer Leitung. Ein glücklicher Zufall - oder Schicksal? Ohne nachzudenken, ergreift Nell die zweite Chance und bittet ihn um ein Treffen. Dabei fliegen die Funken, doch Charlie zieht sich nicht nur bei diesem, sondern auch bei weiteren Treffen immer wieder von Nell zurück. Kann es sein, dass Charlie nur Freundschaft für sie empfindet - oder steckt noch etwas ganz anderes hinter seinem Verhalten?

Eine wunderbare und einzigartige Liebesgeschichte, die ganz tief berührt und dennoch leicht, humorvoll und optimistisch ist

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweisWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Anmerkung der Autorin/TriggerwarnungDanksagungen

Über dieses Buch

Zwei Fremde. Zwei zufällige Treffen. Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte.

Als Nell in einem Café in Birmingham auf den charmanten Iren Charlie trifft, ist sie sofort hin und weg. Dennoch verabschiedet sie sich nach der gemeinsam verbrachten Mittagspause von ihm, ohne nach seiner Nummer zu fragen – und ärgert sich maßlos darüber. Am nächsten Tag ruft Charlie wegen seines depressiven Onkels bei der Hotline für psychisch Kranke an, bei der Nell arbeitet, und landet ausgerechnet in ihrer Leitung. Ein glücklicher Zufall – oder Schicksal? Ohne nachzudenken, ergreift Nell die zweite Chance und bittet ihn um ein Treffen. Dabei fliegen die Funken, doch Charlie zieht sich nicht nur bei diesem, sondern auch bei weiteren Treffen immer wieder von Nell zurück. Kann es sein, dass Charlie nur Freundschaft für sie empfindet – oder steckt noch etwas ganz anderes hinter seinem Verhalten?

Eine wunderbare und einzigartige Liebesgeschichte, die ganz tief berührt und dennoch leicht, humorvoll und optimistisch ist.

Über die Autorin

Hannah Sunderland wurde in Sutton Coldfield geboren und lebt dort noch immer, inzwischen mit ihrem Partner und zahlreichen Büchern. Sie hat einen Abschluss in Bildender Kunst von der University of Derby und leitet ihr eigenes Unternehmen, das Requisiten für die Rekonstruktion von Tatorten herstellt. Das Schreibfieber packte sie, als ihr jemand ein Notizbuch in die Hand drückte und sie erkannte, dass sie darin eine Welt erschaffen konnte.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Originally published in the English language by HarperCollins Publishers Ltd.

under the title »At First Sight«

At First Sight © Hannah Sunderland 2021

Translation © Bastei Lübbe AG 2023,translated under licence from HarperCollins Publishers Ltd.Hannah Sunderland asserts the moral right to be acknowledgedas the author of this work.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich

Umschlaggestaltung: © SO YEAH DESIGN, Gabi Braununter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock.com: San Sigal | Penpitcha Pensiri

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4236-8

luebbe.de

lesejury.de

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf Seite 457 eine Triggerwarnung.

Dieses Buch ist für Matt, Mum, Dad undall jene, denen das Licht am Ende des Tunnelsschon immer schwach und trüb erschienen ist.

Kapitel 1

Gab es eine stressigere Zeit für dich als deine Mittagspause? Diese kurze Zeitspanne, die so schnell verflog, während du ungeduldig auf den Fußballen wippend hinter jemandem in der Schlange standest, der an der Kasse herumtrödelte und im Schneckentempo seinen Kaffee auswählte?

Alles, was ich an diesem Tag wollte, war ein Sandwich – und nur ja keinen abfälligen Blick von meinem Chef, wenn ich verschwitzt und mit rotem Kopf ins Büro zurückkehrte.

Aber ich stand als Fünfte in einer Schlange, die sich seit mehr als drei Minuten nicht mehr von der Stelle bewegt hatte. Der Kassierer war ganz offensichtlich neu, und obwohl sein gehetzter Blick und Gesichtsausdruck durchaus mein Mitleid erregten, war ich doch mit meiner Geduld am Ende. Ich schob mein Päckchen Chips und die Tüte mit dem Hummus- und Paprika-Sandwich unter einen Arm, sodass ich eine Hand frei hatte, um einen Blick auf mein Handy werfen zu können.

Als die Frau ganz vorn in der Schlange endlich ihren Kaffee bekam und loszog, um sich einen Platz zu suchen, drängte ich mich schnell einen Schritt weiter vor. Das Cool Beans Café füllte sich so schnell, dass ich keinen Platz mehr finden würde, wenn dieser träge Mensch an der Kasse sich nicht beeilte.

Mein Blick fiel auf den Leiter des Cafés, der hinter dem neuen Mitarbeiter stand und ihm scheinbar geduldig zuschaute, obwohl ihm anzusehen war, dass auch seine Geduld sich dem Ende näherte. Als er meinen Blick bemerkte, nickte er mir freundlich zu, obwohl wir uns eigentlich so gut wie gar nicht kannten und noch nie mehr als die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten. Ich wusste nicht einmal, wie er hieß, weil auf dem Schildchen an seinem Oberteil nur Geschäftsleitung stand. Aber da ich schon seit Jahren herkam, kannten wir uns immerhin vom Sehen.

Er war kahlköpfig, und die kleinen Stoppeln, die immer wieder durchzukommen versuchten, wiesen darauf hin, dass seine Glatze gewollt und keineswegs dem Zahn der Zeit geschuldet war. Dazu trug er eine breitrandige Brille und einen silbernen Nasenstecker.

In der Ecke am Fenster war noch ein letzter Tisch frei, doch vor mir standen noch drei andere Kunden. Der Mann ganz vorne an der Kasse hielt einen wiederverwendbaren Becher in der Hand, den der Barista nur noch füllen musste, sodass man davon ausgehen konnte, dass dieser Gast nicht lange bleiben würde. Der Mann direkt vor mir hatte schon einen Tisch, weil seine Begleiterin sofort losgeflitzt und einen Platz ergattert hatte, als er vor ein, zwei Minuten frei geworden war. Damit verblieb nur noch eine Person als mein Konkurrent um den letzten Tisch.

Das Cool Beans Café war schon seit Jahren mein Stammlokal zum Mittagessen, doch seit die Birmingham Mail vor ein paar Monaten darüber berichtet hatte, war es immer beliebter geworden, bis es keinen Platz mehr für treue Gäste wie mich gab, die ihm auch während seiner experimentellen Kurkuma-Latte- und Chai-Tee-Scones-Phasen treu geblieben waren.

Der KeepCup-Mann nahm seinen gefüllten Becher vom verwirrt dreinblickenden Angestellten entgegen und wandte sich damit in Richtung Tür. Mein einziger verbliebener Rivale um den begehrten letzten Tisch bestellte sein Getränk, zahlte und trat zur Seite, als der Mann vor mir zur Kasse ging und zweimal Tee bestellte. Ich jubelte innerlich, als ich es hörte. Tee war einfach und schnell zubereitet. Vielleicht hatte ich ja doch noch eine Chance auf diesen letzten freien Platz … Wie ich es mir schon gedacht hatte, bekam er umgehend seinen Tee und trug ihn zu dem Tisch hinüber, den seine Begleiterin ihnen vorhin so schnell gesichert hatte.

Rasch bestellte ich nun meinen Caffè Americano, eine schnelle und simple Wahl, und zog meine Karte durch das Lesegerät. Dem armen überforderten Neuling schenkte ich noch ein mitfühlendes Lächeln, bevor ich beiseitetrat und neben meinem Rivalen stand.

Im Hintergrund konnte ich den Barista den widerlich süßen Karamellsirup auf die Kaffeemonstrosität geben sehen, die mein Rivale bestellt hatte, und feuerte im Stillen das Mädchen daneben an, das mit meinem Americano schon fast fertig war, sich ein bisschen zu beeilen. Sie und der Barista drehten sich im selben Moment um und servierten die fertigen Getränke. Ich flitzte zur Theke hinüber und schnappte mir den Kaffeebecher, an dem ich mir prompt die Finger verbrannte, und wandte mich meinem Tisch zu. Ha! Der Sieg war mein.

Als ich auf den Zweiertisch zueilte, sah ich allerdings, dass dort schon ein Paar seine Mäntel über die Stühle gehängt hatte, die eigentlich meine hätten sein sollen. Verärgert warf ich den Kopf zurück und stöhnte innerlich.

Mein Rivale mit dem widerlich süßen Getränk in seinem Becher drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich zur Tür. Er war also ohnehin nie ein Konkurrent gewesen.

Ich schaute mich nach irgendeiner Sitzgelegenheit um – selbst eine umgedrehte Kiste hätte es jetzt getan. Seufzend klemmte ich das Sandwich und die Chipstüte zwischen meine alles andere als üppige Brust und meinen linken Unterarm, nahm den Kaffeebecher in die linke Hand und griff mit meiner freien Rechten in meine Tasche, um mein Handy herauszuholen.

Mir blieben noch genau siebenundzwanzig Minuten Freiheit, und ich hatte nicht vor, diese kostbare Zeit im Stehen zu verbringen. Drüben am Fenster entdeckte ich einen dieser nervigen Gemeinschaftstische, an dem bereits verschiedene Grüppchen von Leuten saßen. Viel Platz war nicht mehr übrig, aber ich entdeckte immerhin noch einen freien Stuhl neben einem dunkelhaarigen Typen, der mit dem Rücken zu mir und über den Tisch gebeugten Schultern dasaß.

Die Tüte mit dem Sandwich und die andere mit den Chips noch immer fest zwischen Brust und Unterarm geklemmt, machte ich mich zu meiner letzten Hoffnung auf einen Sitzplatz auf.

Ich hasste Situationen wie diejenige, in der ich mich gleich befinden würde, umringt von Fremden, mit denen ich glaubte, aus Höflichkeit reden zu müssen, woran sie jedoch, wie ich sehr wohl wusste, ebenso wenig Interesse haben würden wie ich.

Meine Mutter hatte nicht versucht, mir allzu viele Verhaltensweisen vorzuschreiben, als ich noch jünger war, aber Höflichkeit war etwas, worauf sie größten Wert gelegt hatte. Das ging sogar so weit, dass sie mich ständig ermutigte, wildfremde Menschen, die an mir vorbeikamen, anzulächeln oder mit mir ebenso unbekannten Leuten in Aufzügen zu plaudern.

Inzwischen hatte ich so wenig Kontrolle darüber, als wäre die mir als Kind anerzogene Höflichkeit zu einem festen Bestandteil meiner Persönlichkeit geworden und hätte meine Fähigkeit zu schweigen völlig außer Kraft gesetzt. In Taxis passierte es mir ständig. Gerade saß ich noch stumm da, hing meinen Gedanken nach und versuchte, mich mit meinem Handy abzulenken, und im nächsten Moment stellte ich auch schon die Frage, die jeder Taxifahrer wahrscheinlich tausendmal am Tag zu hören bekam: »Und? Hatten Sie heute schon viel zu tun?« Und bevor die Fahrt vorüber war, wusste ich alles über die Fahrer: ihre Namen, für welche anderen Unternehmen sie schon gefahren waren, die Namen ihrer Kinder und sogar den der Schule, die sie besuchten. Am Ende der Fahrt kam es mir dann stets so vor, als wären der Taxifahrer und ich schon seit Ewigkeiten Freunde, die sich nun trennten, um sich nie wiederzusehen.

Ich erreichte den Tisch, als mein Sandwich gerade unter meinem Arm herauszurutschen begann, und sprach den über seinen Becher gebeugten Mann an. »Entschuldige bitte …«

Er zuckte ein bisschen zusammen und wandte sich mir zu. Er hatte kornblumenblaue Augen mit dunklen Wimpern und schien in seine Grübeleien versunken gewesen zu sein.

»Würde es dich stören, wenn ich mich hierhersetze?«

Bevor er antworten konnte, entglitt mir die Tüte mit dem Sandwich, und als ich instinktiv den Arm hob, um sie aufzufangen, stieß ich mit dem Ellbogen dagegen und schleuderte sie nun auch noch in die Luft. Sie purzelte anmutiger herab, als ich gedacht hätte, aber leider direkt in die Richtung des allein sitzenden Mannes. Ich stöhnte innerlich, als die inzwischen feuchte Tüte seitlich gegen seine Wange klatschte und ihm dann auf den Schoß fiel, bevor sie zwischen seinen Beinen hindurch zu Boden rutschte.

Einen Moment lang starrten wir uns schweigend an, während die übrigen Gäste am Tisch uns mit großen Augen zusahen oder hinter vorgehaltener Hand kicherten. Ich war mir nicht ganz sicher, ob der Mann mich jetzt anfahren oder in Gelächter ausbrechen würde …

»Haha«, sagte ich deshalb vorsichtshalber nur, anstatt zu lachen. »Und jetzt rate mal, wer mir den Tag vermusselt hat? Wobei – das ist ein Witz, der eigentlich nur funktioniert, wenn man weiß, dass Hummus auf dem Sandwich ist, was du ja nicht wissen kannst, und im Übrigen ist es sowieso kein guter Witz …«

Ach, halt doch endlich mal die Klappe, Nell!

Der Mann kniff die Lippen zusammen – ob aus Belustigung oder Verlegenheit, konnte ich nicht sagen –, bückte sich und hob die Sandwich-Tüte auf. Dann legte er sie auf den freien Platz auf dem Tisch und zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Nur zu, tu dir keinen Zwang an«, murmelte er.

»Danke.« Erleichtert setzte ich mich und breitete meine Sachen vor mir aus.

Ich war schon peinlich berührt, als ich das deformierte Sandwich aus der Tüte zog und es alles andere als elegant an die Lippen hob. Ich hasste es, in der Öffentlichkeit zu essen, wenn ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ich war nämlich nicht gerade das, was irgendjemand als manierliche Esserin bezeichnen würde. Dummerweise gehörte ich zu den Leuten, die in eine Art durch Essen herbeigeführte Trance verfielen, während der ich völlig unerreichbar war, bis ich den letzten Bissen verputzt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich aussah, wenn das geschah. Bilder des an einem Truthahnschenkel kauenden Henry VIII. oder die einer Schlange, der jemand eine gefrorene Maus zugeworfen hatte und die ihre Kiefer aufriss, um sie zu verschlingen, gingen mir durch den Kopf. Es war etwas, woran ich unentwegt arbeitete, seit ich alt genug war, um mich deswegen zu schämen. Leider war die Sache jedoch immer noch genauso in Arbeit wie meine Versuche, nicht ständig das Gefühl zu haben, mich mit Fremden unterhalten zu müssen.

Der Mann neben mir hatte wieder die gebeugte Haltung eingenommen, in der ich ihn angetroffen hatte, als ich auf ihn zugestürmt war, um seine Ruhe zu stören. Wie zuvor starrte er in seinen Tee. Gesichert von einer feinen weißen Schnur am Henkel, schwamm der Teebeutel in einer Flüssigkeit, die so aussah, als wäre sie bereits kalt geworden.

Ich fragte mich, ob der Mann wohl auch gerade Mittagspause machte, was ich jedoch bezweifelte. Dazu wirkte er viel zu entspannt. Abgesehen davon war er auch nicht für einen Arbeitstag gekleidet, falls er nicht einer dieser auf Künstler machenden Typen war, die als Grafiker arbeiteten und deren Chefs es nicht kümmerte, was sie trugen. Seine Kleidung hätte natürlich auch die informelle der sogenannten Casual Fridays sein können, aber heute war nicht Freitag, sondern Mittwoch. Oder vielleicht arbeitete er ja in einer dieser hippen Firmen, wo jeder Tag ein Casual Friday war?

Er trug schwarze, absichtlich an den Knien eingerissene Jeans und darüber ein dunkelgraues T-Shirt, das ihm etwas zu groß war und vorne mehrere winzige Löcher und ein verwaschenes Motiv aufwies, das wie ein Zombiefilm-Plakat aus den Sechzigern oder Siebzigern aussah. Über diesem Shirt trug er eine stonewashed Jeansjacke, die das gleiche Alter zu haben schien wie er. Seine aufgerollten Ärmel offenbarten mit dunklem Haar bedeckte blasse Unterarme. Trotz der demonstrativen Nachlässigkeit seiner Erscheinung schaffte er es, nicht so auszusehen, als hätte er sich gerade einen Kampf mit einem Stachelschwein geliefert oder als lebte er auf der Straße, wozu ich ihm im Stillen gratulierte.

Tatsächlich hatte er vielmehr etwas Kreatives an sich, als könnte er ein Maler, Bildhauer oder dergleichen sein. Doch was auch immer er beruflich machte, er sah keineswegs so aus, als arbeitete er in einem Büro wie dem, in das ich schon bald zurückkehren musste …

Bei der Erinnerung daran nahm ich meinen ersten Bissen von dem längst nicht mehr perfekten Sandwich und nippte an meinem Kaffee, an dem ich mir prompt die Zunge verbrannte. Ich schluckte ihn runter und beging den Fehler, meinen Mund nicht schnellstens wieder mit irgendwas zu füllen, bevor die Worte sich hinauszudrängen versuchten. Ich gab einen komischen Ton von mir, der wie ein »ku« klang. Schnell biss ich wieder in mein Sandwich und beschmierte mir dabei meine rechte Wange mit Hummus.

Der Typ blickte unter seinem strubbeligen schwarzen Haar zu mir auf und beobachtete einen Moment lang meine Ungeschicklichkeit, bevor er wieder in seinen kalten Tee starrte, als versuchte er, aus den Teeblättern zu lesen.

Die Hand, die um seinen Becher lag, wies weder Spuren von Farbe, Tinte noch Ton auf. Deshalb verwarf ich meine Theorie, er könnte ein Künstler sein, gleich wieder. Ich bemerkte allerdings eine Reihe haarfeiner Narben auf den Knöcheln seiner rechten Hand, die wie zur Faust geballt auf dem Tisch lag, was den Narben ein Muster von gegabelten Blitzen gab. Ein weiterer Blick verriet mir, dass die Fingernägel dieser Hand ein wenig länger waren als die seiner linken, deren Fingerspitzen wiederum ein bisschen schwielig waren. Er war Musiker – das war’s. Ein Gitarrist vermutlich.

Mein Mund öffnete sich wieder wie von selbst, um den Mann zu fragen, was für eine Art von Musik er spielte, doch ich riss mich zusammen und sagte nichts.

Iss dein Sandwich und halt die Klappe, schalt ich mich. Du brauchst nicht mit ihm zu reden. Du darfst sogar eine Million Pfund darauf verwetten, dass er absolut nicht mit dir reden will.

»Was sagen sie denn nun?«

Herrgott noch mal, Nell!

Bei meiner Frage schaute er zu mir auf. Sein Blick schien wie von einem Nebel verhangen zu sein. »Wie bitte?«, fragte er mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte.

Peinlich berührt und innerlich erschaudernd deutete ich auf seinen Becher und wiederholte meine Frage. »Ich meinte die Teeblätter. Was sagen sie?«

Warum konnte ich nicht einfach stillsitzen und den Mund halten?

Er schaute auf seinen verbrauchten Teebeutel herab und stieß ihn mit der Fingerspitze an. Für einen Moment wippte er erbärmlich in dem milchig trüben Wasser, bevor er wieder zur Ruhe kam. Der Mann neben mir stieß ein leises Lachen aus, das so subtil war, dass es sich nur wie ein schweres Atmen anhörte. »Nicht allzu viel, ehrlich gesagt«, erwiderte er, und diesmal hörte ich laut und deutlich seinen irischen Akzent heraus. »Ich glaube nicht, dass sie einem viel erzählen können, wenn sie noch im Beutel sind.«

»Ach so«, antwortete ich. »Mein Fehler.«

Wir lächelten uns an, während die übrigen Gäste am Tisch sich etwas weiter von uns zurückzogen, als befürchteten sie, in unser Geschwätz hineingezogen zu werden.

Mein Gesprächspartner öffnete die leicht vernarbte Hand, und erst jetzt bemerkte ich, dass er etwas Kleines, Orangefarbenes darin hielt. Was genau es war, erkannte ich jedoch erst, als er die etwas unförmige Murmel zwischen zwei Fingern hin- und herrollte.

»Ein ausgesprochen unterschätztes Spiel«, sagte ich und war schon drauf und dran, mir den Mund zuzuhalten.

Er wandte sich mir mit einem fragenden Stirnrunzeln zu.

»Murmeln«, erklärte ich und zeigte auf die in seiner Hand. »Mit denen habe ich früher mit meinem Onkel gespielt.«

»Aha«, sagte er nur und steckte die Murmel wieder in die Jackentasche.

»Spielst du Gitarre?« Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf seine Hände und merkte wieder einmal zu spät, wie bescheuert meine Fragen waren.

»Das tue ich – unter anderem.« Obwohl er wieder die Stirn runzelte, verzog sich einer seiner Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Aber wie bist du darauf gekommen?«

»Ich sehe es an deinen Fingernägeln. Da mein Ex Gitarre spielt, würde ich sie und die kleinen Schwielen überall erkennen.«

Diesmal konnte ich spüren, wie ich sogar errötete. Hatte ich jetzt mit meiner beiläufigen Erwähnung, dass ich Single war, ganz ungewollt mit diesem Mann geflirtet? Normalerweise war ich nicht so forsch. Bei meinem Ex-Freund hatte ich ein ganzes Jahr gebraucht, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich an ihm interessiert war.

Der Mann neben mir war attraktiv auf diese ganz spezielle Weise, wie Musiker es häufig sind, mit seinen großen blauen, von beinahe schwarzen Wimpern umrahmten Augen und dem von dunklen, rötlich melierten Bartstoppeln bedeckten Kinn.

»Entschuldige.« Nervös nippte ich an meinem Kaffee und schluckte die bittere Flüssigkeit. »Ich weiß, dass es heutzutage nicht mehr üblich ist, mit Fremden zu reden, aber offenbar kriege ich’s einfach nicht hin, den Mund zu halten.«

»Dann ist das also so was wie ein chronisches Problem für dich?« Sein Lächeln wurde breiter, bis es fast schon ein ausgemachtes Grinsen war, und mein Magen machte einen Satz, als wäre ich zu schnell über eine steile Hügelkuppe gefahren.

»Oh ja, seit meiner Geburt. Genau genommen habe ich schon während der Geburt die Hebamme mit meinem Small Talk traktiert.« Ich lachte auf diese stupide Art, wie ich es immer tat, wenn ich irgendetwas überraschend lustig fand.

Er konterte mit einem Lachen, das melodischer klang, als ich es je zustande bringen könnte. »Na, dann mach dir mal keine Sorgen, ich habe nichts gegen eine Unterhaltung. Ich weiß nur nicht, wie viel ich zu sagen haben werde oder wie interessant es sein wird. Ich war noch nie das, was man ›gesprächig‹ nennen könnte.«

»Kein Problem. Wahrscheinlich werde ich dich sowieso zuquatschen, bis du vor Langeweile stirbst. Wenn es dir also wirklich nichts ausmacht, werde ich dir weiter die Ohren vollplappern.«

»Ich könnte mir keinen besseren Abgang vorstellen.«

Ich rutschte ein bisschen näher an den Tisch heran, wobei mein Bein gegen seines stieß, was mich in Verlegenheit brachte. »Oh, Entschuldigung«, sagte ich mit einem mädchenhaften Kichern und schüttelte dann den Kopf über mich selbst. »Tut mir leid.«

»Es ist doch bloß ein Bein – und ich hab ja noch ein anderes«, scherzte er.

Ich schob meinen Stuhl wieder etwas zur Seite, entfernte die Kruste von der restlichen Hälfte meines Sandwichs und legte sie auf die feuchte Tüte. »Dann, ähm … machst du wohl auch gerade Mittagspause?«

»Nein, ich … Genau genommen habe ich meinen Job bei ALDI gestern gekündigt.« Er rieb sich mit einer Hand den Nacken, und irgendetwas blitzte für einen Moment in seinen Augen auf, als er aus dem Fenster zu der Backsteinwand auf der anderen Straßenseite hinüberstarrte. Er sah plötzlich so ernst aus, als wäre ihm etwas zwingend Notwendiges eingefallen, was er unbedingt hätte tun müssen, ihm aber gerade erst wieder in den Sinn gekommen war.

»Gratuliere. Warst du lange dort?«

»Ein paar Jahre länger, als ich hätte bleiben sollen«, antwortete er, und als er mich wieder anschaute, ließ die innere Anspannung, die sich in seinen Augen spiegelte, allmählich nach. »Und du?«, fragte er. »Du hast den panischen Gesichtsausdruck von jemandem, der das Maximum aus seiner Mittagspause herauszuholen versucht.«

»Gut geraten«, erwiderte ich. »Es ist zwar nicht so, dass ich es eilig habe, aus dem Büro rauszukommen, denn ich gehöre zu den anscheinend wenigen Leuten, die wirklich Freude an ihrer Arbeit haben. Aber da ich eine chaotische Esserin bin, muss ich die Zeit, mich wiederherzurichten, einkalkulieren.«

Warum hatte ich das gesagt? Das hörte sich ja an, als besäße ich die Motorik eines Kleinkindes!

Er lachte nur. »Da ich mich bisher noch kein zweites Mal wegducken musste, denke ich, dass du rechtzeitig zurück sein wirst.« Er schaute mir in die Augen und grinste wieder breit.

Irgendetwas daran traf meinen Magen wie ein bleiernes Gewicht. Auch mein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, was mich sofort befürchten ließ, dass ich Paprikareste zwischen den Zähnen haben könnte. Doch da er nicht angewidert aussah, war wohl alles okay mit mir … Oder vielleicht hatte er ja auch bloß eine Vorliebe für Frauen, die ihr Essen an sich trugen, anstatt es zu verspeisen. Und wenn es so war, wer war ich dann – seine mit Essen bekleckerte Traumfrau –, um ihn für seinen Tick zu kritisieren?

Nervös bewegte ich die Beine, und mein Zeh stieß gegen etwas Hartes unter dem Tisch, das ins Wackeln geriet und dabei ein hohles Geräusch auf den alten Eichendielen hinterließ. Ich warf einen Blick unter die Tischplatte und entdeckte eine braune Papiertüte mit dem Firmenlogo eines sehr exklusiven Spirituosenladens in der alten viktorianischen Passage um die Ecke. Als ich wieder aufblickte, schaute mein Tischnachbar ein bisschen verlegen drein.

»Ein Kündigungsgeschenk für dich selbst?«, fragte ich, um den plötzlichen Stimmungswechsel zu entschärfen.

Und tatsächlich kehrte sein Lächeln auch gleich wieder zurück. »So was in der Art.«

»Was machst du eigentlich hier? Ich meine, an deinem Akzent herausgehört zu haben, dass du kein gebürtiger Birminghamer bist.«

»Tatsächlich?« In gespielter Bewunderung zog er die Augenbrauen hoch und verstärkte noch seinen Akzent. »Ist das denn die Möglichkeit? Was für ein scharfes Gehör du doch hast!«

Daraufhin lachten wir beide.

Ich war geradezu schockiert darüber, wie gut es mit uns lief. Baggerte ich etwa erfolgreich einen Mann an? Einen sehr gut aussehenden, sympathisch anmutenden, gescheiten und charmanten Mann, der meinen Magen vor Aufregung zum Kribbeln brachte?

Vielleicht war er ja mein lange gesuchter Romeo. Der Mann, den ich heiraten würde und mit dem ich in zehn Jahren im Kreise unserer Kinder auf den heutigen Tag zurückblicken würde. Womöglich würden wir uns beide ja in Gedanken sogar bei dem Paar bedanken, das mir den letzten freien Tisch weggeschnappt hatte.

»Tja, weißt du, ich bin mit achtzehn von zu Hause weggegangen und war dann eine Zeit lang in London, bevor ich schließlich hier gelandet bin.«

»War der Ruf von Birmingham einfach unwiderstehlich?«, fragte ich ironisch.

»Hey, mach deine Stadt nicht runter! Diese Gegend ist in Ordnung, wenn man sich erst mal an den komischen Akzent gewöhnt hat.«

»Das musst du gerade sagen«, erwiderte ich kichernd. Erst als ich wieder ernst wurde, merkte ich, dass er mich anstarrte und sein Mund sich zu einem schiefen Lächeln verzog, bei dem mir ganz anders wurde. Himmelherrgott, sah der Mann gut aus! Doch je länger er mich anschaute, desto mehr begann ich zu befürchten, dass er etwas anstarrte, was unbemerkt von mir an meinem Gesicht festklebte. Schnell hob ich eine Hand und berührte beunruhigt meine Wangen. »Was ist?«, fragte ich und konnte spüren, wie ich errötete.

»Nichts.« Er holte tief Luft und blickte dann wieder auf seinen kalten Tee herab. »Du hast ein hübsches Lächeln, das ist alles.«

Mein Herz fühlte sich so eng an, als würde es jeden Moment platzen. War das ein Herzanfall? Oder war ich solche Gefühle einfach nur nicht mehr gewohnt?

Die Minuten verstrichen, und allmählich lief uns die Zeit davon. Wie konnte mein Job mir ausgerechnet in diesem Moment dazwischenkommen, in dem sich alles zu fügen schien?!

Für den Fußweg zurück zum Büro würde ich etwa fünf oder sechs Minuten benötigen, und mir blieben nur noch vier Minuten. Ich könnte ja auch joggen, anstatt zu gehen, dachte ich, weil ich es hasste, mich zu verspäten. Allein der Gedanke daran erfüllte mich mit einer unaussprechlichen Angst, die noch aus der Zeit herrührte, als ich des Öfteren zu spät zur Schule gekommen war und dann vor der ganzen Klasse neben der Tafel stehen musste, bis die Schule aus war.

»Ich habe gerade erst gemerkt, dass ich so sehr mit Reden beschäftigt war, dass ich dich nicht einmal nach deinem Namen gefragt habe«, sagte ich und beugte mich ein wenig zu ihm vor.

Er blickte von seinem Tee auf und strich mit dem Zeigefinger über den Rand der Tasse. »Ich bin Charlie.«

»Und ich Nell.«

Seine Augen wurden weicher. »Freut mich, dich kennenzulernen, Nell.«

Frag ihn nach seiner Telefonnummer! Tu es einfach! Du sprichst schon ewig lange mit ihm – also frag ihn nach seiner Nummer, bevor du gehst!

Wenn er nicht Single wäre, hätte er sich bestimmt nicht so lange mit dir unterhalten, und wenn er kein Interesse hätte, wäre er längst gegangen. Es war ja nicht so, als hielte sein kalter Tee ihn hier zurück!

»Mich auch, Charlie«, antwortete ich, um auszuprobieren, wie dieser neue Name sich auf meiner Zunge anfühlte. Gar nicht schlecht, dachte ich, bevor ich hinzufügte: »Aber ich mache mich jetzt besser wieder auf den Weg, bevor ich zu spät zur Arbeit komme.«

Er reichte mir die Hand, und ich weiß nicht, ob es nur Wunschdenken war, doch irgendwie glaubte ich, einen Anflug von Enttäuschung in seinen freundlichen Augen zu sehen.

»Es war wirklich nett, mit dir zu plaudern«, fügte ich hinzu.

Nun frag ihn schon nach seiner Nummer! Wenn du auch nur ein einziges Mal in deinem ganzen Leben auf deine innere Stimme hören willst, dann tu es jetzt. Dies ist genau der richtige Moment!

Ich reichte ihm die Hand und zögerte einen Moment, als seine und meine Haut sich zum ersten Mal berührten. Vielleicht würden sich ja noch mehr solcher Gelegenheiten ergeben? Aber nur, wenn ich endlich meine Feigheit überwand und ihn nach seiner Nummer fragte …

»Und auch mit dir, Nell. Ich glaube, ich brauchte heute ein Gespräch mit jemandem wie dir.«

»Ich auch«, antwortete ich.

Er lockerte den Griff um meine Finger, und ich spürte, wie mein Magen sich verkrampfte, als sich unsere Hände voneinander lösten.

»Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Charlie«, sagte ich, um den Abschied hinauszuzögern und in der Hoffnung, den Mut aufzubringen, ihn nach seiner Telefonnummer zu fragen.

Jetzt mach schon, Herrgott noch mal!

Doch stattdessen stand ich auf, hängte mir meine Tasche über die Schulter und sammelte meine Reste und den leeren Becher ein.

TUES!

»Für mich auch, Nell«, antwortete er.

Nun mach schon, du Versagerin!

Ich atmete tief aus, doch obwohl die Worte mir schon auf der Zunge lagen, wollten sie nicht über meine Lippen kommen. Ich hatte Angst. Ich war ein dummer, verängstigter, kleiner Feigling. Aber ich war solche Situationen ja auch nicht gewohnt. Es war ewig lange her, dass ich jemanden um ein Date gebeten hatte, und selbst damals hatte eine Freundin für mich fragen müssen.

Ich seufzte über mich selbst und wippte verlegen auf meinen Fußballen auf und ab. »Na dann … Man sieht sich, Charlie.« Ich hob meine mit der fettigen Sandwich-Tüte gefüllte Hand zu einem kleinen Winken und wandte mich zum Gehen.

Als ich die Eingangstür aufriss, war ich so wütend auf mich selbst wie noch nie zuvor. Bis zu dieser letzten Sekunde war ich doch noch so zuversichtlich gewesen! Verdammt noch mal! Was war nur los mit mir? Wenn es um meinen lebenslangen verbalen Dünnpfiff ging, konnte man mich nicht zum Schweigen bringen, aber im richtigen Moment, wenn es wirklich auf Worte ankam, blieb ich stumm wie ein Fisch.

Die Sohlen meiner Turnschuhe klatschten über den Bürgersteig, als ich an Leuten vorbeistürmte, die mich misstrauisch beäugten.

Ich war schon fast wieder im Büro, als ich stehen blieb und der Schwung meines eigenen wütenden Gangs mich ins Schwanken brachte. Das triste graue Gebäude ragte wie eine Schreckensvision über mir auf. Von außen würde man nie vermuten, wie viel Gutes darin getan wurde.

Wann würde es jemals wieder zu einer solchen Begegnung kommen? Wann würde ich je wieder das Glück haben, rein zufällig einen so gut aussehenden Iren kennenzulernen? Wann passierte so etwas jemals im wahren Leben? Nie! Und ich war dumm genug gewesen, mir eine solch einmalige Gelegenheit entgehen zu lassen …

Hastig drehte ich mich um und lief zurück zum Cool Beans Café, während der Mut, zu tun, was getan werden musste, zusammen mit meinem hastig verzehrten Mittagessen in meinem Magen gurgelte.

Na los doch, Nell, du schaffst das schon!

Ich hielt meine Tasche fest an die Hüfte gepresst, während ich zum Café zurückrannte. Ich war seit Jahren nicht mehr gelaufen. Meine Beine schrien vor Schmerz, als fragten sie mich, womit sie diese Tortur verdient hatten.

Als ich um die Ecke bog, wäre ich fast mit einer Frau mit einem Kinderwagen zusammengestoßen, der ich eine hastige Entschuldigung zurief, bevor ich den Kopf wieder senkte und den Rest des Wegs weiterlief.

Als ich das Cool Beans Café erreichte, keuchte ich so heftig, dass ich ohnmächtig zu werden glaubte. Schweißperlen bedeckten meine Stirn, und mein Make-up musste ein einziges Desaster sein und mir wie Vanillepudding das Gesicht hinunterrinnen …

Dennoch stieß ich entschlossen die Tür auf und schaute zu dem großen Tisch hinüber. Doch der Platz, an dem wir gesessen hatten, war inzwischen leer.

Bei der Erkenntnis, dass ich Charlie nun wahrscheinlich nie wiedersehen würde, ließ ich die Schultern hängen und war versucht, in Tränen auszubrechen. Dies war meine einzige Chance gewesen, und ich hatte sie ungenutzt verstreichen gelassen!

Ich biss mir auf die Unterlippe, drehte mich um und ging langsam zurück zur Arbeit. Diesmal war der Weg noch anstrengender, weil meine Beine schmerzten und die Enttäuschung schwer auf mir lastete.

Und zu allem Überfluss bestand auch absolut keine Möglichkeit mehr, dass ich jetzt noch pünktlich zurück im Büro sein würde.

Kapitel 2

Ich erwachte mit dem unguten Gefühl, das mich jedes Mal ergriff, wenn ich ein zweites Gewicht neben mir im Bett spürte und die schläfrigen Atemzüge einer weiteren Person auf dem Kissen dicht an meinem wahrnahm.

Ich öffnete ein Auge und blinzelte, als könnte ich so das Bild aussperren, von dem ich wusste, dass ich es so oder so gleich sehen würde. Dort, den Kopf halb in meinem Hartschaumkissen versunken, lag der Mann, neben dem ich schon tausendmal aufgewacht war. Das widerspenstige, leicht gewellte Haar umgab sein Gesicht wie eine Wolke, strubbelig und zerzaust von den Bewegungen im Schlaf.

Joel und ich hatten uns nach einer siebeneinhalbjährigen Beziehung vor zwei Jahren getrennt. Auch davor war es schon eine ganze Weile bergab mit uns gegangen, und als der Moment gekommen war, Schluss zu machen, tat ich es. Es war nicht leicht gewesen, weil eine Trennung nie leicht ist, schon gar nicht nach so langer Zeit. Man hat irgendwann begonnen, sich an einen anderen Menschen und eine gewisse Routine zu gewöhnen, und muss sich dann urplötzlich dem Alltag ohne ihn und all die Dinge, die das Zusammensein mit ihm ausgemacht haben, stellen.

Ich hatte bereits länger darüber nachgedacht, eine Zeit lang wieder allein zu leben, und mich nach der Ruhe gesehnt, die man hat, wenn man nicht ständig auf einen anderen Menschen Rücksicht nehmen muss. Das war mir schon fast zwei Jahre vor unserer Trennung auf erschreckende Weise klar geworden.

Eines Tages hatte ich mich bei Boots mit einem Schwangerschaftstest in der Hand in der Schlange vor der Kasse wiedergefunden. Damals hatte sich meine Periode um anderthalb Wochen verspätet, und ich hatte Panik bekommen, als die entsprechende App auf meinem Handy aufgeploppt war und mich darüber informiert hatte.

Ich hatte geweint, während ich darauf wartete, dass meine Zukunft mir in kleinen rosafarbenen Strichen offenbart würde, und hatte schier unentwegt darüber nachgedacht, was ein Baby für Joel und mich bedeuten würde. Allein könnte ich ein Kind nicht großziehen, denn dazu fehlte mir das Geld. Mit Joel zusammen hätten wir nicht den Platz, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, wie ein kleiner Mensch in dieser fürchterlichen kleinen Bude, die wir uns damals teilten, aufwachsen sollte.

Zum Glück war ich dann jedoch nicht schwanger, und obwohl ich eine ganze Weile brauchte, um aufgrund meiner Unzufriedenheit mit unserer Beziehung zu handeln, war dies der Moment, in dem mir klar wurde, dass das »Für immer«, das Joel und ich uns zu Beginn versprochen hatten, nicht so lange anhalten würde, wie wir beide gedacht hatten.

Uns zu trennen war das Beste für uns beide gewesen. Es gab niemanden, weder tot noch lebendig, der das bestritten hätte. Getrennt waren wir glücklicher. Wir kamen besser miteinander aus und respektierten einander sehr viel mehr, als wir es während des Großteils unserer Beziehung getan hatten.

Nur war es so, dass wir in den letzten sechs Monaten zum Leidwesen und der Bestürzung der wenigen Freunde, die Bescheid wussten, begonnen hatten, zum Schutzkissen des anderen gegen die raue Welt, mit der wir uns vorher nicht hatten auseinandersetzen müssen, zu werden. Da wir beide in demselben beängstigenden, unbekannten Boot saßen, erschien es uns nur logisch, uns gegenseitig Trost zu spenden.

Es hatte angefangen, nachdem Joels Vater gestorben war. Er hatte über fünfzehn Jahre in einem Baumarkt gearbeitet, und eines Tages hatte er mit einem Kunden zwischen den hohen Materialstapeln gestanden, um etwas zu suchen. Im selben Moment hatte ein Gabelstapler auf der anderen Seite des Gangs versucht, eine Palette mit Zementsäcken aus einem der fast turmhohen Regale zu ziehen, und dieser ganze Turm war plötzlich zusammengebrochen. Joels Vater und der Kunde waren auf der Stelle tot gewesen und Joel am Boden zerstört, als er davon erfahren hatte. Er hatte seine Mutter getröstet, so gut er konnte, aber eines Nachts, als sie mit dem Beruhigungsmittel, das der Arzt ihr gegeben hatte, tief und fest schlief, hatte er das Haus verlassen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen, und war prompt vor meiner Haustür gelandet.

Ned, mein Mitbewohner, bester Freund und Kollege (lange Geschichte), war kein Fan von Joel, um es milde auszudrücken. In seinen Augen war er nichts als Platzverschwendung und hatte mir zu oft wehgetan, um Verzeihung zu verdienen, aber Joel war die erste und einzige Liebe meines Lebens gewesen. Das schafft eine Bindung, die man nicht leugnen kann und die stets Bestand haben wird.

Ich hatte ihn hereingelassen, ein paar Tränen mit ihm vergossen, und schließlich war er über Nacht geblieben.

Ich hatte allerdings nicht aus Mitleid mit ihm geschlafen. So bin ich nicht. Joel war einsam, und ich war es auch. Vermutlich brauchten wir einander in einem Moment beiderseitiger Einsamkeit, die nur auf eine Art gelindert werden konnte …

Danach verbrachten Joel und ich ziemlich viel Zeit miteinander. Da ich seiner Mutter und seinen Brüdern stets nahegestanden hatte, war ich ihnen natürlich bei den Beerdigungsvorbereitungen behilflich und auch ansonsten immer für sie da, wenn sie mich brauchten.

Joels Familie väterlicherseits stammte aus Nigeria, und ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Seine Großmutter war so alt, dass sie mich an verkohltes Papier erinnerte, dessen Asche seine Form behalten hatte. Sie war so zart, dass ich sogar befürchtete, eine bloße Berührung könnte ihre zerknitterte dunkelbraune Haut verletzen und sie in Staub verwandeln. Wir hatten hin und wieder miteinander telefoniert, und auch ich war auf dem Foto jeder Weihnachtskarte zu sehen gewesen, die die Familie ihr in den letzten sechs Jahren geschickt hatte. Deshalb brachte es niemand übers Herz, ihr von unserer Trennung zu berichten. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie auf der Stelle einen Herzinfarkt erlitten hätte, wenn wir es ihr gesagt hätten. Und so hielten wir die Scharade ganze zehn Tage lang aufrecht, bis die Familie nach der Beerdigung wieder heimflog und Joel und ich uns an der Tür verlegen trennten.

Seitdem hatten wir etwa fünfzehnmal miteinander geschlafen, was fünfzehnmal mehr war als in den letzten achtzehn Monaten unserer Beziehung.

Diese Nächte der Schwäche traten gewöhnlich dann auf, wenn einer von uns traurig oder einsam war, einen schlechten Tag gehabt hatte oder wir einfach nur gelangweilt waren.

Ned warf mir vor, zu leichtsinnig zu sein, worauf ich ihn daran erinnerte, dass er seine Ex-Frau genauso wenig wieder wegschicken würde, falls sie bei ihm auftauchen würde.

Jetzt seufzte ich unter der zusammengeknüllten Bettdecke, die ich mir übers Gesicht gezogen hatte, und schlüpfte dann so lautlos wie nur möglich aus dem Bett. Als ich Joels verblichenes rotes Bob-Dylan-T-Shirt auf dem Boden liegen sah, hob ich es auf und zog es mir über, bevor ich die Tür öffnete und ins Bad lief.

Ich stieg unter die Dusche und stellte das Wasser so heiß wie möglich, um meine Scham von meinem Körper abzuwaschen.

Am vergangenen Abend hatte ich mich schrecklich gefühlt, und mir drehte sich jetzt noch der Magen um vor Bedauern, dass ich nicht den Mut besessen hatte, Charlie nach seiner Telefonnummer zu fragen. Als ich später Joel angerufen und ihn zu mir eingeladen hatte, um nicht allein zu sein, hätte ich viel lieber jemand anderen angerufen. Und als ich Joel mit Bier abgefüllt und ihn in der Küche geküsst hatte, hatte ich mir vorgestellt, er sei Charlie. Ich hatte keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hatte, meinen Ex schließlich mit nach oben zu nehmen, aber ich hatte dabei keinesfalls dasselbe im Sinn gehabt wie Joel …

Und nun schrubbte ich mir die Haut mit einem Peeling ab, als könnte ich mich so von meiner Scham befreien, und hüllte mich in ein flauschiges Handtuch, bevor ich vor den Spiegel trat und mich lange und eingehend betrachtete.

Im Grunde sah ich so aus wie immer: meine stets leicht gebräunte Haut – die ich meinem Vater zu verdanken hatte, da meine Mutter blass wie Casper, das kleine Gespenst, war –, das gleiche lange kastanienbraune Haar, die gleichen dichten Augenbrauen … Allerdings gesellten sich zu diesem vertrauten Bild heute auch noch dunkle Tränensäcke unter meinen großen braunen Augen, die mit dem ganzen Selbsthass gefüllt waren, den ich im Moment für mich empfand.

Dabei hatte ich eigentlich doch gewusst, wie diese Begegnung enden würde. Es würde genauso sein wie bei all den anderen Malen, und ich wusste nicht, ob ich dieses Gespräch am Morgen danach noch einmal führen konnte.

Trotzdem bürstete ich mir die Haare, putzte mir die Zähne, zog mir das T-Shirt über und machte mich seufzend auf den Weg zurück zu meinem Zimmer.

Kaum hatte ich meine Tür erreicht, erschien Ned auf der Treppe und legte missbilligend den Kopf schräg.

»Lass es«, bat ich ihn leise in der Hoffnung, mich einfach anziehen und zur Arbeit schleichen zu können, ohne Joel zu wecken. Es war feige von mir, mich so aus der Affäre ziehen zu wollen, aber ich hatte ja auch noch nie behauptet, ich sei mutig. »Ich hasse mich auch so schon genug.«

Ich schlüpfte in mein Zimmer, und mir sank das Herz, als ich sah, dass Joel schon fast angezogen war und sein T-Shirt suchte, die rot geränderte Brille, die ich für ihn ausgesucht hatte, bereits auf der Nase.

»Ah, da ist mein Shirt ja«, sagte er mit einem breiten, fröhlichen Grinsen, als er mich anschaute. »Ich hab es schon gesucht.« Dann kam er zu mir herüber und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Aber dir steht es viel besser.«

Und schon beugte er sich vor und versuchte, mich zu küssen. Ich weiß nicht, warum er das tat. Oder warum er immer wieder glaubte, dass sich etwas ändern könnte und es diesmal anders ausgehen würde.

»Du weißt doch schon, was ich jetzt sagen werde, Joel«, murmelte ich und kam mir dabei wie der schlechteste Mensch der Welt vor.

Wann immer wir diese Begegnungen oder abendlich-nächtlichen Anrufe initiierten, endete es jedes Mal auf die gleiche Weise. Sex – und das war auch schon alles, was es war. Ein bedeutungsloses Geplänkel zwischen den Laken, um der Langeweile und Einsamkeit unserer ansonsten öden Leben zu entgehen. Das einzige Problem war, dass Joel am Morgen danach immer glaubte, die Dinge hätten sich geändert, die Wunden wären verheilt und ich liebte ihn wieder, wie ich ihn einmal geliebt hatte.

»Ach, komm schon, Nell! Es muss doch einen Grund geben, warum wir immer wieder zusammenfinden. Ich weiß, dass wir alles am Ende ein bisschen zu sehr haben schleifen lassen, aber wir sind nun mal füreinander bestimmt. Und ich weiß, dass du genauso empfindest.«

Ich ging zu meiner Kommode hinüber, damit er aufhörte, mir in die Augen zu starren wie Kaa aus dem Dschungelbuch und zu versuchen, mich in Hypnose zu versetzen, um meine Liebe zurückzugewinnen. Zum Glück fand ich schnell die richtige Unterwäsche und zog sie unbeholfen an, während ich Joels T-Shirt über den Körperteilen festhielt, die er nicht mehr sehen sollte.

»Wir waren uns einig!«, fauchte ich und schlug dann einen etwas sanfteren Ton an. »Wir waren uns einig, dass es nicht mehr als Sex ist. Und du wirst dich doch wohl erinnern, dass auch du damit einverstanden warst, nicht wahr?«

Ich hasste es, zu wem Joel mich machte. Ich war schon während unserer letzten paar gemeinsamen Jahre kein netter Mensch mehr gewesen. Rückblickend konnte ich das erkennen und wollte nie, nie wieder diese Version von mir selbst sein. Verbittert und deprimiert mit einer explosiven Wut in mir … Aber je mehr Zeit ich mit Joel verbrachte, desto mehr spürte ich diese Person zurückkehren.

»Natürlich erinnere ich mich – aber wir tun das jetzt schon ein halbes Jahr, und das muss dir doch auch etwas sagen, Nell!«

Mein Ärger wuchs von Sekunde zu Sekunde. Er gab mir immer das Gefühl, dass ich die Böse war – darin war er ganz besonders gut. Dabei wusste er ebenso gut wie ich, dass er mit unserem Arrangement einverstanden gewesen war. Sex und nichts wie weg. Schwache Momente. Ein Schäferstündchen. Ein One-Night-Stand. Ein unbedachter Fehler. Wie immer man es nennen wollte, aber genau das war’s.

»Nein, Joel.« Ich zog sein T-Shirt aus, nachdem nun alles andere hinter den richtigen Dessous verborgen war, und hielt es ihm hin, während ich ihm sehr entschieden in die Augen sah. »Nur weil wir hin und wieder miteinander schlafen, bedeutet das noch lange nicht, dass sich etwas geändert hat. Oder dass wir alles, was kaputt war, repariert haben. Mit dem Sex werden die Risse nur eine Zeit lang überdeckt. Wenn wir wieder zusammenkämen, würde alles wieder so sein wie schon beim ersten Mal.«

Seine Augen waren so groß wie die eines Kindes am Rande eines Heulkrampfs, als er mir sein T-Shirt abnahm.

»Und ich finde, dass es das letzte Mal gewesen sein sollte, dass es passiert ist.«

Ich weiß, dass ich das schon des Öfteren gesagt und es auch bei all den anderen Malen so gemeint hatte. Nicht, dass ich die einzige Verantwortliche für diese toxische Affäre war, die wir hatten, aber ich zumindest konnte nicht so weitermachen. Ich ertrug es einfach nicht mehr, die Enttäuschung in seinen Augen zu sehen, wenn sein Plan, wieder mit mir zusammenzukommen, zum x-ten Mal scheiterte. Es war nicht fair ihm gegenüber, und seine Überredungsversuche, die mir noch Tage später das Gefühl gaben, ein schlechter Mensch zu sein, waren mir gegenüber auch nicht fair.

Er zog sich das Bob-Dylan-Shirt über den Kopf und schnupperte daran.

Ich wandte mich ab und ging zum Spiegel hinüber, um mich präsentabel für den Tag zu machen.

»Wir sehen uns«, sagte er und trat hinter mich, um seine Hände um meine Taille zu legen. Dann zog er mich zurück, drückte sich von hinten an mich und küsste mich auf die Wange.

Zum Teufel mit ihm!

Ich drehte mich nicht um, als er hinausging.

Das war’s für mich. Das war das allerletzte Mal gewesen.

Es ging einfach nicht anders.

Kapitel 3

Die große, fette Taube, die draußen vor dem Fenster saß, verhöhnte mich mit ihrer Freiheit und gurrte mich durch das Glas an, bis ihre scharfen kleinen Augen mich langsam nervös machten. Seit ich vor ein paar Minuten von der Toilette zurückgekommen war, starrten wir uns gegenseitig an wie in einem Western, in dem der eine versucht, den anderen zum Wegsehen zu zwingen. Größer und kompakter als die üblichen Krümeljäger, die sonst draußen vor Greggs herumlungerten und auf ein Stückchen Wurst- und Bohnenpastete warteten, stolzierte sie auf der Fensterbank herum. Wahrscheinlich wusste niemand hier im Büro, dass es sich bei diesem spöttischen kleinen Vogel um eine Tümmlertaube handelte, falls die anderen sie überhaupt bemerkt hatten.

Ich wusste es selbst auch nur, weil mein Onkel ein Taubenliebhaber gewesen war und im Laufe der Jahre mehrere verschiedene Arten dieser Vögel gehalten hatte. Ich hatte den Begriff »Taubenliebhaber« immer etwas befremdlich gefunden, weil er Bilder von erwachsenen Männern in mir weckte, die Tauben anschauten wie Bob Hoskins Jessica Rabbit.

Die Taube wandte sich nun von mir ab, als wäre ihr Interesse an meinem Leben für heute erschöpft – was ich ihr nicht einmal verübeln konnte. Schließlich verfolgten mich dieser Fehler, den ich gestern in dem Café begangen hatte, und der Fehler mit Joel wie ein schlechter Geruch, der alles sauer werden ließ. Die Taube ließ sich von der Fensterbank fallen, entfaltete die Flügel und hob in den dämmrigen Himmel ab, um zu verschwinden, bevor ich Gelegenheit hatte, ihre Flugkünste zu bewundern.

Ich hatte jedoch schon des Öfteren gesehen, wie Tauben eine Weile ganz normal dahinflogen, um urplötzlich und wie vom Himmel geschossen innezuhalten, sich zu überschlagen und dann durch die Luft in Richtung Boden zu trudeln, bis man glaubte, dass ihre Zeit hier vorbei sei, dass sie ihr Ticket entwertet und den Löffel abgegeben hätten. Aber dann richteten sie sich plötzlich wieder auf, kehrten zu ihrem Schwarm zurück und machten weiter, als sei nichts geschehen. Mein Onkel hatte mir einmal erklärt, dass es eine Überlebenstaktik sei, die Haustauben im Laufe von Jahrhunderten entwickelt hatten, aber mir kam es seltsam vor, dass eine Überlebensmethode so sehr nach ihrem Gegenteil aussieht.

Ich stieß einen Seufzer aus, grub die Absätze in den blassblauen, durch jahrelange Abnutzung schon fadenscheinigen Teppichboden unter dem Schreibtisch und zog mich näher an den Tisch heran. Dann setzte ich mein Headset wieder auf, und das Plastikband rutschte in die Kerbe zurück, die es immer in der Haut hinter meinem Ohr hinterließ.

Als ich den Blick auf den Bildschirm richtete, sah ich, dass drei Anrufer darauf warteten, durchgestellt zu werden. Ich tippte auf einen von ihnen, nahm ihn an, lehnte mich im Stuhl zurück und holte tief Luft, bevor ich zu reden begann. »Hallo! Sie sind mit Healthy Minds verbunden. Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

»Hey, sind Sie es, Nell?«, meldete sich eine vertraute Stimme in der Leitung.

»Hallo Jackson«, erwiderte ich. »Wie geht es Ihnen?«

Jackson war ein Anrufer, der sich in den letzten fünf Jahren fast regelmäßig etwa einmal in der Woche gemeldet hatte. Er hatte während meiner ersten Schicht zum allerersten Mal bei der Telefonseelsorge angerufen, und deshalb fühlte ich mich ihm irgendwie besonders verbunden. Jackson war manisch-depressiv und litt unter schweren Sozialphobien, die er bei jeder Gelegenheit zu bekämpfen versuchte. Einige dieser Kämpfe waren erfolgreicher gewesen als andere. Seit ich ihm am Telefon behilflich war, war es uns gelungen, einen geeigneten Arzt und die richtigen Medikamente für ihn zu finden, und es ging ihm heute besser als je zuvor. Es war alles gut gelaufen, bis im vergangenen Jahr seine Mutter verstorben war, was seine Krankheit noch verschlimmert hatte.

»Gut«, sagte er, als wollte er sich selbst beruhigen. »Besser als letzte Woche, aber schlechter, als es mir gehen wird, nachdem ich ein paar Minuten Ihre Stimme hören durfte.«

Ich lächelte und entspannte mich ein wenig. Jacksons Anrufe hatten jedes Mal diese Wirkung, weil sie wie Gespräche mit einem alten Bekannten waren. Manchmal erschien es mir sehr seltsam, dass ich keine Ahnung hätte, wer er war, wenn ich ihm auf der Straße begegnen würde. Schließlich wusste ich mehr über sein Innenleben als irgendjemand sonst auf dieser Welt, abgesehen von seinem Arzt vielleicht. Wann immer er bei einem anderen Mitarbeiter landete, bat er darum, zu mir durchgestellt zu werden, egal, wie lange er warten musste.

Ich hätte diesen Job nicht für mich in Erwägung gezogen, als ich noch jünger war. Damals hatte ich Anwältin oder Sozialarbeiterin werden wollen, weil es mir Freude machte, Menschen beizustehen und ein Lächeln am Ende ihrer Tränen zu sehen. Aber die Uni war entmutigend für mich gewesen, weil ich das Gefühl gehabt hatte, in einem Meer von Leuten unterzugehen, die sich in allem viel sicherer zu fühlen schienen als ich. Ich hatte dort nie gewusst, was ich verpasst hatte, ob es ein Buch gab, das ich zu lesen versäumt hatte, oder einen Kurs, zu dem ich nicht gegangen war. Alle anderen schienen viel mehr zu wissen als ich, und irgendwann beschloss ich, diese verwirrende Welt hinter mir zu lassen.

Ich blieb allerdings in Kontakt mit meinen Freunden, die noch an der Uni waren, trank mit ihnen und feierte den Teil des Studentenlebens, der nichts mit dem eigentlichen Studium zu tun hatte. So hatte ich auch Joel kennengelernt.

Um mich über Wasser zu halten, arbeitete ich damals eine Zeit lang in Cafés und eine Weile in einem Teppichgeschäft, doch nachdem ich schließlich jahrelang in Jobs gearbeitet hatte, die nur Geld einbrachten und keinen Wert für die Welt, beschloss ich, mich ehrenamtlich bei der Healthy Minds-Telefonseelsorge einzubringen. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dort nur ein paar Monate zu bleiben, aber ein halbes Jahr später war ich noch immer dort, und der Büroleiter hatte mir sogar eine der wenigen bezahlten Stellen angeboten. Natürlich hatte ich das Angebot im Bruchteil einer Sekunde angenommen.

Ich liebte es, Menschen beizustehen. Ich liebte es, den Hörer aufzulegen und zu wissen, dass die Person, die angerufen hatte, nun befreiter und glücklicher war als im ersten Moment ihres Anrufs. Aber nicht immer war der Job so rosig.

Normalerweise konnte ich innerhalb von dreißig Sekunden sagen, ob ein Anrufer ein Selbstmordkandidat war oder nicht, und wenn diese gefürchteten Anrufe kamen, verkrampfte sich mein Magen, und mein Herz begann zu hämmern.

Es geschah allerdings nicht so oft, wie die Leute vielleicht glaubten – doch wenn diese Art von Hilferufen eingingen, war mein Mund plötzlich wie ausgedörrt, und obwohl ich nach außen hin ruhig und beruhigend wirkte, tobte ein Strudel der Angst in meinem Inneren. Denn alles, was es braucht, um jemanden vom Denken zum Handeln zu bringen, ist ein schlecht konstruierter Satz, eine unbedacht geäußerte Phrase – und das ist eine Menge Druck.

Man konnte sofort erkennen, wenn Ned einen Anruf eines potenziellen Selbstmörders angenommen hatte. Wir nannten sie »harte Anrufe«, denn genau das waren sie. Hart für die Anrufer und hart für uns. Vor ein paar Jahren hatte er einen besonders schlimmen erhalten, und zufälligerweise war dieser Anruf auch noch ausgerechnet an seinem Geburtstag reingekommen. Ned war den größten Teil des Tages bester Laune gewesen, was etwas Ungewohntes bei ihm war, da er seinen Geburtstag normalerweise hasste. Barry, der Büroleiter, hatte ihm eine Torte spendiert, und wir alle hatten für ihn gesungen. Dann war Ned wieder an die Arbeit gegangen und hatte den Anruf entgegengenommen, der seiner Geburtstagsfreude ein Ende setzen sollte. Er hat nie erfahren, was mit der Person am anderen Ende der Leitung geschehen war, und in gewisser Weise war das schlimmer, als die Wahrheit zu kennen, weil Unklarheit Hoffnung erlaubt und es manchmal nichts Grausameres auf dieser Welt als Hoffnung gibt.

Auch Jackson war hin und wieder ein schwieriger Anrufer gewesen, doch heute war er es nicht. Heute wollte er nur plaudern und über seinen Arbeitstag und sein Befinden sprechen. Sein Arzt hatte ihm ein neues Medikament gegen Angstzustände verschrieben, und Jackson sagte, dass es damit bisher viel besser lief. Wir sprachen darüber, dass er sich ein Curry bestellt hatte und sich die erste Staffel von Game of Thrones anschauen würde, sobald der Lieferjunge das Essen gebracht hätte. Es dauerte eine Viertelstunde, bis er sich mit seinem üblichen »Cheers, Kleines!« verabschiedete, und dann war er weg.

Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück, als ich sah, dass alle anderen Anrufe inzwischen schon bearbeitet wurden, und schaute wieder aus dem Fenster. Aus der Dämmerung draußen wurde allmählich Dunkelheit, sodass ich mein Spiegelbild im Glas sehen konnte.

Mein Haar hatte nicht mehr die sanften Beach Waves, die ich mir am Morgen, nachdem Joel gegangen war, mit großem Erfolg frisiert hatte, nachdem ich mir ein YouTube-Tutorial über zehn verschiedene Verwendungsmöglichkeiten von Glätteisen angesehen hatte. Jetzt war mein Haar sowohl platt als auch kraus, eine Kombination, die ich nicht einmal für möglich gehalten hatte. Schnell griff ich nach einem der jahrzehntealten Haargummis neben meinem Monitor und zwirbelte meine widerspenstigen Locken zu einem Dutt.

In der Spiegelung des Fensters sah ich Ned, der von einer Besprechung mit Barry zurückkam.

»Wenn du damit fertig bist, dich zu bewundern, soll ich dich von Barry um einen Gefallen bitten«, sagte er, als er seine Kabine erreichte und lässig einen Ellbogen auf die Trennwand zwischen unseren Tischen stützte.

Barry war der langweiligste Mensch, der mir je begegnet war. Schon der resignierte Tonfall seiner Stimme reichte aus, um jeglichem Gespräch den Enthusiasmus zu nehmen. Und dennoch war er ein derart guter Berater, dass er als ehrenamtlicher Mitarbeiter angefangen und sich in den acht Jahren, die er hier war, bis zum Manager hochgearbeitet hatte.

»›Bewundern‹ ist nicht das richtige Wort«, korrigierte ich Ned. »›Verabscheuen‹ wäre eine gute Alternative, ›Selbsthass‹ vielleicht auch.«

»Du musst Joel vergessen. Er tut dir nicht gut«, entgegnete er mit einem Gesichtsausdruck, der besagte: »Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«

»Ich weiß«, erwiderte ich seufzend. »Aber was will Barry von mir?«

»Dieser neue Volontär, Caleb, steckt im Verkehr fest und wird sich ein bisschen verspäten. Macht es dir etwas aus, für ihn einzuspringen, bis er kommt?«

»Kein Problem. Ich tue was auch immer, um mich davon abzulenken, was für eine Idiotin ich bin«, antwortete ich mit einem Lächeln.

Ned schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand uns Beachtung schenkte, und flüsterte dann: »Ich habe in meiner Mittagspause Hackfleisch besorgt. Hast du Lust auf Spaghetti und einen Marathon von Kein Opfer ist je vergessen?«

»Klingt nach einem perfekten Abend«, gab ich ebenfalls im Flüsterton zurück, bevor ich mich wieder dem Bildschirm zuwandte und mein Headset neu einstellte.

Ned starrte einen Moment lang Beryl, die Ehrenamtliche mir gegenüber, an und zog sich dann in seine Kabine zurück, als hätte er gerade erfolgreich eine verdeckte Operation durchgeführt.

Als ich vor fünf Jahren bei der Telefonseelsorge zu arbeiten begonnen hatte, hatten Ned und ich uns direkt sehr gut verstanden. Er war schon etwas länger hier als ich und gehörte zu den wenigen anderen, die wie ich für ihre Arbeit bezahlt wurden. Wir saßen inzwischen in der hintersten Ecke, an einem sehr begehrten Platz, den wir uns durch jahrelanges ständiges Umziehen, wenn jemand gegangen war, verdient hatten.

Ned war in den Vierzigern, auch wenn ich nicht genau wusste, ob Anfang, Mitte oder Ende vierzig, weil er immer sehr vage war, was dieses Thema anging. Er war kleiner als der Durchschnitt, hatte dafür aber einen überdurchschnittlich langen Hals, der zweifellos dazu diente, seine mangelnde Beinlänge auszugleichen. Abgesehen davon hatte er große braune Augen und unauffälliges kurzes dunkles Haar. Er war in fast jeder Hinsicht ausgesprochen schlicht. Aber dafür hatte er etwas, das nur wenigen Menschen eigen war: diesen Schimmer von irgendetwas, der hervorsticht und alles andere überstrahlt. Ich wusste, dass viele der Frauen im Büro auf ihn standen, aber für mich war er immer nur der gute alte Ned.

Seine Frau und er hatten sich vor einigen Jahren getrennt, und ich vermutete, dass sie ihn viel länger schikaniert hatte, als eine anständige Frau es tun sollte. Seit der Trennung lebte er allein in einem großen viktorianischen Einfamilienhaus, das an einer der begehrtesten Vorstadtstraßen der Stadt lag, und wahrscheinlich war er damals genauso einsam wie ich.

Als ich bei der Telefonseelsorge angefangen hatte, lebte ich in einer schäbigen kleinen Wohnung über einem Kebab-Laden in einer Straße, die, sagen wir mal, in einem der weniger begehrten Stadtviertel lag. Joel und ich waren ein Jahr nach seinem Studienabschluss dort eingezogen, und kaum drei Wochen nach unserem Einzug hatte am Ende der Straße schon eine Schießerei aus einem vorbeifahrenden Auto heraus stattgefunden, bei der zum Glück jedoch das einzige Opfer die Fahrertür eines Peugeot 206 gewesen war. Joel und ich hatten jahrelang zusammengepfercht in dieser winzigen Bruchbude gewohnt, bevor auch unsere Beziehung in die Brüche gegangen und er zurück zu seinen Eltern gezogen war. Ich hatte Mühe, die Miete allein zu zahlen, obwohl Joel ohnehin kaum etwas dazu beigetragen hatte, als er noch dort gewohnt hatte. Die Luft in dem Apartment roch stets nach drei Tage altem Dönerfleisch und Tsatsiki, was mir nach erstaunlich kurzer Zeit Kebabs für immer verleidet hatte.

Ned und ich waren schnell gute Freunde geworden, nachdem ich während der Arbeit nach einem besonders biestigen Anruf meiner Vermieterin auf der Toilette in Tränen ausgebrochen war und Ned mich vom Flur aus weinen gehört hatte. Um mich aufzumuntern, hatte er mich zum Essen beim Chinesen eingeladen und mich gefragt, ob ich nicht als Untermieterin bei ihm einziehen wolle. Es war ein vernünftiger Vorschlag in Anbetracht der Tatsache, dass er dieses riesige leere Haus besaß und ich meine scheußliche kleine Wohnung hasste. Er wollte nur die Hälfte der Miete, die ich für meine Bude zahlte, und sagte, es wäre schön, jemanden zu haben, mit dem er sich abends True-Crime-Dokus ansehen könne. Zudem hätte er auch weniger Gewissensbisse, wenn er die Heizung anstellen müsste.

Und so wartete ich das Ende des Monats in meiner verhassten Wohnung ab und zog vierzehn Tage später bei Ned ein, ohne das nach Kebab stinkende Sofa mitnehmen zu müssen.

Nachdem ich zwanzig Minuten für Caleb eingesprungen war, war er immer noch nirgendwo zu sehen, doch da Ned erst in einer Stunde fertig sein würde, hatte ich es nicht eilig heimzugehen. Ich wollte keine freie Zeit, um über verpasste Gelegenheiten mit gut aussehenden Iren nachzudenken und über Begegnungen mit Ex-Freunden, von denen ich mir wünschte, sie verpasst zu haben.

Das Piepen eines neuen Anrufs ertönte in meinem Headset, und ich richtete mich in meinem Sessel auf. Ich nahm einen tiefen Atemzug, besann ich mich auf meinen ruhigen und beruhigenden Tonfall an und stellte die Verbindung her.

»Hallo! Sie sind mit Healthy Minds verbunden. Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

Die einzige Antwort, die ich erhielt, war ein leichtes Rauschen von Atem.

Ich wartete ein paar Sekunden ab, bevor ich es erneut versuchte. »Hallo? Sind Sie noch da?«

Ich hörte jemanden einatmen.

»Hallo?«

»Hi«, kam es nun vom anderen Ende der Leitung.

»Hi. Wie geht es Ihnen?«

Es war eine ganz normale Frage, die draußen in der Welt täglich gestellt und nur selten wahrheitsgemäß beantwortet wurde. Aber hier, in diesem Büro und all den anderen Büros, war die vorgeschriebene Antwort auch nicht nötig. Hier waren wir alle stets bemüht, die Wahrheit zu erfahren.

Es knisterte in der Leitung, und die Verbindung wurde schlechter.

»I-ich -eiß -icht.«

»Hm, ich kann Sie kaum verstehen. Könnten Sie ein bisschen auf und ab gehen, um zu sehen, ob wir eine bessere Verbindung hinkriegen können?« Ich verzog das Gesicht, als würde das irgendwie helfen, und drückte mir die Kopfhörer noch fester an die Ohren.

Dann hörte ich eine Bewegung, und Sekunden später war die Stimme klar und deutlich zu vernehmen.



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.