Wunschfigur - Marlies Fösges - E-Book

Wunschfigur E-Book

Marlies Fösges

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Beschreibung

Barbara Markland ist übergewichtig. Und das ist nicht ihr einziges Problem. Da wären noch ihre dominante Mutter, der pubertierende Sohn, die zickige Tochter, ein liebloser Ehemann und eine ungeliebte Arbeitsstelle. Um nur einiges zu nennen. Als ihre Freundin Ellen sie beide zu einem Volkshochschulkurs anmeldet, ist Barbara kein bisschen begeistert. Mit mentalem Training zur Wunschfigur? Das ist ganz sicher nichts für sie. Doch dann ist sie wider Willen gefesselt von dem, was sie über sich erfährt. Und erstaunt, wozu sie alles fähig ist. Roman, Sachbuch oder beides in einem? Man kann Barbaras Geschichte rein zum Vergnügen lesen und alles andere seinem Unterbewusstsein überlassen. Oder man geht mit Barbara in den Kurs und macht die Übungen mit. Der Leser hat die Wahl.

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Wunschfigur

Roman

Marlies Fösges

ISBN: 978-3-8434-6025-5 1. EBook-Auflage 2013 © 2012 Schirner Verlag, Darmstadt OriginalausgabeAlle Rechte vorbehaltenUmschlag: Simone Wenzel, Schirner, unter Verwendung von # 23726669 (Anastasia Karamova), # 6005847 (Dmitry Remesov), # 36329992 (Ideenkoch), # 40832918 (samscha), www.fotolia.deRedaktion: Claudia Simon, Schirnerwww.schirner.comEBook-Erstellung: Klarant UG (haftungsbeschränkt), BremenDie Handlung und die handelnden Personen dieses Buches sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Inhalt

Die Übungen

Die Abschlussentspannungen

Neujahrsmorgen

Fünf Wochen später

Anstoß

Rosenmontag

Aschermittwochabend

Die erste Woche

Der zweite Abend

Entscheidungshilfen

Glücklich sein

Frust

Der vierte Abend

Unbequeme Wahrheiten

Perspektivwechsel

Kleine Erfolge

Schon wieder Mittwoch

Mallorca

Anita

Stillstand

Der siebente Abend

Migräne

Ups and Downs

Leonie

Es geht weiter

Der achte Abend

Krise

Muttertag

Freundinnen

Klarheit

Der vorletzte Abend

Auszug

Perspektiven

Sich einrichten

Letzter Abend

Und jetzt?

Epilog

Über die Autorin

Die Abschlussentspannungen

Abend 1Abend 2Abend 3Abend 4Abend 5Abend 6Abend 7Abend 8Abend 9Abend 10

Neujahrsmorgen

Ich lag in meinem Bett, so viel war sicher. Warum drehte sich das Zimmer wie ein Karussell?

Ich schloss die Augen, öffnete sie aber sofort wieder, weil das Schwindelgefühl bei geschlossenen Augen schlimmer wurde. Das einzige Mal in meinem Leben, wo ich so etwas schon erlebt hatte, war nach Leonies Geburt vor dreiundzwanzig Jahren gewesen. Als ich nach dem Kaiserschnitt aus der Narkose erwachte. Sobald ich daran dachte, ging es mir noch schlechter.

Trotzdem rappelte ich mich auf und wankte ins Bad. Die Person, die mir weiß wie Schlagsahne aus dem Badezimmerspiegel entgegensah, brauchte dringend einen Kaffee.

Die Kaffeemaschine dampfte und zischte. Von Manfred keine Spur. Wie ich meinen Mann kannte, joggte er bereits um den Block. Jeder Schluck Kaffee und jeder Bissen Schinkenbrot besänftigte meinen Magen etwas mehr. Ich konnte mich an keine Situation erinnern, in der ich mich nicht durch Essen besser gefühlt hätte.

Als ich ungefähr vier war, legte sich mein Großvater vor dem Mittagessen für ein paar Minuten hin, und als meine Großmutter ihn wecken wollte, war er tot. Nachdem Notarzt und Leichenwagen weg waren, sagte meine Großmutter unter Schluchzen: »Jetzt mache ich erst mal das Essen warm.« Mein Vater hat mir die Geschichte einige Male erzählt, und er endete immer mit dem Satz: »Und wir hatten wirklich alle eine Stärkung dringend nötig.«

So etwas prägt.

Und dann blitzten Erinnerungsfetzen an gestern auf wie Wunderkerzen auf einer Eistorte. Da war meine Mutter, die die Augenbrauen hochzog: »Nettes Kleid, Barbara.« Und ich hatte neidisch auf ihr elegantes graues Etuikleid gestarrt und mich in meinem schwarzen Fummel aus mehreren Lagen Kunstseide wie eine Tonne gefühlt. Den Frust hatte ich mit einem Martini hinuntergespült und damit die Chance vertan, nach Hause zu fahren. Was hätte ich mir alles ersparen können.

Ich machte mir ein zweites Schinkenbrot. Sobald ich mich bewegte, hämmerte es in meinem Kopf. Denken war unmöglich, aber in meinem Hirn lief ein Film ab, der ohne Pause die peinlichsten Momente meines Silvesterabends zeigte:

Meine Cousine Brigitte schaut mich so merkwürdig an, als ich mit einem Schälchen Mousse au Chocolat vom Büffet komme. Ihre Stimme trieft vor falscher Freundlichkeit: »Ich habe ja mit Weight Watchers und Nordic Walking so super abgenommen. Du schlägst bestimmt heute noch mal richtig zu, bevor du anfängst, was?«

Mutter flüstert mir zu: »Sieht Brigitte nicht toll aus? Daran solltest du dir mal ein Beispiel nehmen, Kind.«

Manfred packt mich am Arm und zischt: »Du hast da einen Fleck auf dem Kleid.« Ich flüchte ins Bad und versuche, den Fleck wegzureiben. Nach dem Trocknen bleibt ein heller Kranz da, wo vorher der Fleck gewesen war.

Ich balanciere meinen vollen Teller an Hannahs (8. Monat) und Erwins (Bier) Bäuchen vorbei, da haut Erwin mir auf den Rücken: »Hoho, wir Dicken müssen zusammenhalten, was Barbara? Lass es dir schmecken!«

Genug! Aufhören! Die Übelkeit war nichts gegen diese seelischen Qualen. Ich durchwühlte den Küchenschrank, fand eine halbe Tafel Weihnachtsschokolade, stopfte mir einen ganzen Riegel davon in den Mund und versteckte den Rest wieder hinter den Tütensuppen. Dabei riss ich die Plastikdose mit den Zahnstochern vom Regal. Die Dose sprang auf, und sämtliche Zahnstocher verteilten sich mikadoartig auf den Küchenfliesen. Typisch Barbara, würde meine Mutter sagen. Ich ging in die Hocke, um die Holzstäbchen wieder einzusammeln.

»Macht’s Spaß?«

Plötzlich stand Manfred in nassen Sportsachen im Türrahmen. Schweißtropfen liefen aus seinen dünnen blonden Haaren. Er lächelte nicht. Ich fühlte, wie mein Gesicht erglühte, aber er hatte sich schon umgedreht und war weg.

An was erinnerte mich das?

Richtig, heute Nacht oder besser gesagt gegen Morgen hatte er auch nicht gelächelt, als er völlig überraschend nach mir gegriffen und hastig meinen Busen gestreichelt hatte. Nach zwei Martinis, ein paar Gläsern Wein, dem Mitternachtssekt und einem Ramazotti hatte ich bei der Aussicht auf Sex vermutlich selig gegrinst. Doch bevor ich richtig begriffen hatte, was los war, war es auch schon vorbei gewesen.

Und auch da hatte sich Manfred sehr schnell umgedreht.

Ich lief schon wieder rot an und bekam einen Schweißausbruch, der Manfreds sportlichem Schwitzen in nichts nachstand. Hoffentlich lag das nur an meinem verkaterten Zustand und war noch kein Vorbote der Wechseljahre.

»Ich fahre Tobias abholen«, rief Manfred durch die geschlossene Tür. Wahrscheinlich wollte er sich den Anblick seiner schluchzenden Gattin auf dem Küchenfußboden ersparen.

Mein Gott, ich hatte wirklich ein paar Probleme. Es musste etwas in meinem Leben passieren. Morgen. Ab morgen würde ich mich darum kümmern. Versprochen.

Fünf Wochen später

Es war Montagmorgen, und ich erwachte mit dem Gefühl, heute zur Hinrichtung geführt zu werden. Seit mir nur noch die schwarze Hose mit dem Dehnbund passte, war meine Kleiderwahl schnell getroffen. Den Blick in den Spiegel vermied ich tunlichst. Eines Tages würde ich vielleicht nicht mehr wissen, welche Farbe meine Augen hatten.

Der Galgenhumor verging mir beim Anblick meines Frühstücks: ein Magerjoghurt und ein Knäckebrot mit Tomatenscheiben und getrocknetem Basilikum. »Mager« … was für ein trauriges Wort. Was glaubten diese Size-Zero-Redakteurinnen von Frauenzeitschriften eigentlich, was eine erwachsene Frau zum Leben braucht? Und was glaubten sie, wo ich mitten im Februar frisches Basilikum auftreiben sollte? Lustlos kaute ich auf den hartschaligen, wässrigen Tomatenscheiben herum.

Manfred steckte den Kopf zur Küchentür herein und klimperte mit dem Autoschlüssel. »Wird spät.«

Im Hinausgehen warf er einen Blick auf meinen Teller. »Wieder eine deiner Montagsdiäten?« Es klang wie eine resignierte Feststellung. Ja, danke auch für die Unterstützung. Es geht nichts über einen Ehepartner, der an einen glaubt.

Aber mit welchem Recht beklagte ich mich? Ich war ja auch schon lange nicht mehr die Frau, die er geheiratet hatte. Wie deprimierend war doch mein Leben. Täglich schleppte ich mich zu einem Job, der mir keinen Spaß machte. In meinem Körper fühlte ich mich seit Langem nicht mehr wohl. Und meine Ehe, das musste ich mir langsam eingestehen, steckte definitiv in einer Sackgasse. Wenn ich schlank wäre, ja, dann wäre alles anders.

Aber ab heute würde ich ja beweisen, dass auch ich es schaffen konnte. Wenn ich …

»Is’ Frühstücksbrot fertig?«

Tobias knallte seine Schultasche auf den Boden und öffnete die Plastikbox mit den Butterbroten. »Igitt, Käse. Den mag ich nicht. Gib mir mal zwei Euro. Schnell!«

»Jetzt mach mal halblang, Tobias.«

»Los, mach schon, ich verpasse den Bus.«

Eigentlich wusste ich ja, dass Erziehungsversuche am frühen Morgen zum Scheitern verurteilt waren. Es kränkte mich trotzdem, wenn mein Sohn in diesem Ton mit mir redete. Das Leben mit einem motzigen Zwölfjährigen hatte ich auf der Liste meiner Probleme noch vergessen.

Wieso mochte er diesen Käse nicht? Der war doch lecker. Es fühlte sich gut an, etwas Richtiges im Magen zu haben. Für die Diät war ja noch nichts verloren. Noch kauend griff ich nach dem Autoschlüssel und beeilte mich, in die Firma zu kommen.

 

Der PC fuhr hoch, und siebzehn neue E-Mails warteten darauf, bearbeitet zu werden. Ich las gerade die fünfte Nachricht, als das Telefon klingelte. Der auf dem Display angezeigte »Unbekannter Anrufer« war mit hoher Wahrscheinlichkeit meine Mutter, die seit dem Silvesterabend keinen Tag verstreichen ließ, ohne zu mahnen und zu warnen.

»Ach, Kind«, sie seufzte mir ins Ohr, »ich hab schon heute Morgen an dich gedacht. Du hast doch heute mit deiner Diät angefangen.«

Das war doch bestimmt kein Versuch, mich zu kontrollieren? Ich konnte es nicht leiden, wenn sie »Kind« zu mir sagte. Meine zaghaften Bitten, das sein zu lassen, ignorierte sie einfach. »Aber Kind, was ist denn daran falsch? Du bist und bleibst doch immer mein Kind, auch wenn ich dich nicht immer verstehe.«

Richtig unangenehm wurde es aber erst, wenn sie mich bei meinem Taufnamen nannte.

»Bar-ba-ra, lass es dir von einer alten Frau gesagt sein« – sie kokettierte gern mit ihrem Alter, dabei sah man ihr die zweiundsiebzig nicht an, und sie war sogar dann eine elegante Erscheinung, wenn sie mit schmutzigen Händen aus dem Garten kam –, »du MUSST mehr auf deine Gesundheit achten. Du hast jetzt schon zu hohen Blutdruck. Versuch doch wenigstens abzuspecken.«

»Mama«, flüsterte ich, »ich kann jetzt nicht reden. Ich rufe dich später an.« Das Letzte, was ich wollte, war, meine Diätversuche vor den neugierigen Ohren meiner Kollegen auszubreiten.

»Ich hab’s ja nur gut gemeint, Barbara«, ihr Ton wurde frostig, »aber wenn ich störe …«

Weil am anderen Ende unseres Großraumbüros gerade meine Chefin durch die Tür kam, legte ich einfach auf und wandte mich wieder dem Bildschirm zu. Oh Gott, jetzt war sie beleidigt. Ich hätte ja wenigstens noch Tschüss sagen können. Sie meinte es doch wirklich nur gut.

Die Chefin war schon wieder gegangen. Ihr Erscheinen hatte die gleiche Wirkung wie ein Streifenwagen: Man bekam automatisch ein schlechtes Gewissen. Eigentlich war sie ganz in Ordnung. Um in einer internationalen Spedition die Fäden in der Hand zu behalten und sich gegen die Konkurrenz zu behaupten, brauchte man sicher eine gewisse Härte.

Seit sich viele Geschäftskontakte per E-Mail abspielten, kam ich mit meinen Kunden besser zurecht. Doch wer unzufrieden war, weil sich unser Fahrer verspätete oder die Ware beschädigt war, rief nach wie vor an. Leider hatte ich den Small Talk, der den Umgang mit Geschäftspartnern geschmeidiger macht, noch nie beherrscht. Im Gegensatz zu Annette, meiner Kollegin am Schreibtisch gegenüber. Ich bewunderte, wie sie mit Charme und Humor jeden reklamierenden Kunden um den Finger wickelte. Beschwerte sich einer meiner Kunden, fühlte ich mich augenblicklich schuldig und rechtfertigte mich. Es war schrecklich.

Annette hatte mir vor Jahren einen kleinen Elefanten aus grauem Speckstein geschenkt, der seitdem neben meinem Telefon stand. Bevor ich die Gabe missdeuten konnte, hatte sie sich beeilt zu erklären: »Damit du dir eine dickere Haut zulegst, Barbara. Schau mal, einen Elefanten kann so leicht nichts erschüttern.«

Ich hatte gelächelt und mich bedankt. Aber insgeheim war ich sicher, dass meine grazile Kollegin auf meine Körperfülle hatte anspielen wollen. Oder auf meine legendäre Ungeschicklichkeit. Die Kollegen hatten schnell gelernt, ihre Tassen nicht am Schreibtischrand abzustellen, nachdem ich einmal einen Stapel Zollpapiere und ein anderes Mal eine PC-Tastatur durch eine Kaffeeüberschwemmung ruiniert hatte.

Gegen neun hatte ich die meisten E-Mails beantwortet. Ich fragte mich, wie ich mit einem Apfel als Zwischenimbiss die Zeit bis zur Mittagspause überleben sollte. Außerdem ließ mir das Telefonat mit meiner Mutter keine Ruhe. Sollte ich sie anrufen?

»He, Barbara.« Annette wedelte vor meiner Nase herum. »Kaffeepause. Gisela gibt zu ihrem Geburtstag Kuchen aus.«

Ach du liebe Güte. Auf keinen Fall würde ich jetzt sagen, dass ich Diät machte und nichts essen würde. Das wäre einfach zu peinlich. Ich ließ den Apfel rasch in der Schreibtischschublade verschwinden und folgte Annette in unsere kleine Küche. Giselas Kuchen war selbst gebacken und verdammt lecker. Ich ließ mich ohne große Gegenwehr zu einem zweiten Stück nötigen.

Pappsatt versuchte ich, meine Korrespondenz zu erledigen und Frachtpapiere auszufüllen. So satt, wie ich gerade war, brauchte ich garantiert kein Mittagessen. Da würde ich doch wieder jede Menge Kalorien einsparen.

 

Kurz vor zwölf. Mein Entschluss, nicht mit in die Kantine zu gehen, geriet ein wenig ins Wanken. Das Telefon klingelte, auf dem Display stand »Unbekannter Anrufer«. Aha, meine Mutter hatte noch nicht aufgegeben, mich motivieren zu wollen. Sie wusste, dass ich mich schuldig fühlte und ihr nicht widersprechen würde.

Doch es war Ellen. Ich hatte ihr leider von meinen Diätplänen erzählt, was einer Veröffentlichung im lokalen Radio gleichkam. Schlimmer noch: Ellen hatte sofort verkündet, dass sie mitmachen und mich unterstützen würde, damit ich durchhielte. Sie würde ihren ganzen Ehrgeiz daran setzen, mich noch in diesem Jahr schlank wie eine Tanne zu sehen. Das war wirklich komisch, denn Ellen wog mindestens zehn Kilo mehr als ich.

»Und?«, trompetete sie mir ins Ohr, sodass es noch drei Schreibtische weiter zu hören sein musste.

»Was ›und?‹«?

»Jetzt tu nicht so. Was hast du heute gegessen? Wie fühlst du dich? Schon leichter um die Mitte? Kein Schokoriegel zum Kaffee?«

Die letzte Frage war leicht zu beantworten. »Kein Schokoriegel zum Kaffee. Und du?«

Ich kannte Ellen seit dreiundzwanzig Jahren, wir hatten uns beim Babyschwimmkurs kennengelernt. Damals hatte sie die fixe Idee entwickelt, eines Tages würden ihr Alexander und meine Leonie einmal heiraten, und dann würden wir sehr glückliche Großmütter sein. Doch so war es ganz und gar nicht gekommen.

Ellen war wie üblich schnell abzulenken. Am liebsten redete sie sowieso über sich.

»Ein Knäcke mit Frischkäse, ein Apfel, zwei rohe Möhren und ein winziges Löffelchen Nussnugatcreme«, ratterte sie los. »Aber glaub bloß nicht, dass du mich austricksen kannst. Also, was isst du zu Mittag?«

Ich rollte die Augen. »Ehrlich gesagt, ich dachte an einen kleinen gemischten Salat in der Kantine.«

»Na gut, aber keinen Nachtisch. Versprich es mir!«

Sie gab erst Ruhe, nachdem ich drei Schwüre abgelegt hatte, und drohte ihren nächsten Kontrollanruf für den frühen Abend an. Bevor ich protestieren konnte, legte sie auf. Ich ärgerte mich. Die blöde Socke. Wieso wog sie dann zehn Kilo mehr als ich, wenn sie so diszipliniert war? Das war doch garantiert ein Esslöffel voll Nussnugatcreme gewesen, jede Wette.

Gegen Ärger im Bauch kannte ich ein Mittel, das seine Wirkung nie verfehlte.

Kurz darauf saß ich vor einer Terrine Erbseneintopf. Im allerletzten Moment hatte eine Stimme (meine?) diese Bestellung aufgegeben. Ich war selbst verblüfft gewesen. Aber es war Winter, eisig kalt, Schnee lag in der Luft. Da braucht der Mensch etwas Warmes.

Ich nahm natürlich keinen Nachtisch. Das hatte ich Ellen ja versprochen. Trotzdem spannte die schwarze Hose, als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, und ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Ich holte mir einen Kaffee aus der Küche und schaute mir unterwegs unauffällig meine Kollegen an. Genau betrachtet war mindestens die Hälfte übergewichtig. Gisela, unser Geburtstagskind, war eine Frohnatur, die sich eben die Hosen eine Nummer größer kaufte, wenn die alten nicht mehr passten. Essen ist doch der größte Genuss im Leben, das war ihr Credo. Peters Bierbauch war beeindruckend, schien ihn selbst aber nicht zu stören. Margitta redete so oft von ihren Diätversuchen, dass es wirklich niemand mehr hören wollte. Auf ihrem Schreibtisch standen immer Joghurtbecher und Tupperdosen mit Obst und Gemüse, dennoch zeichneten sich Speckröllchen unter ihren T-Shirts ab.

Karla und Thea, die Zwillingsschwestern, verhüllten ihre Fülle mit modischen Blusen, die von Jahr zu Jahr zeltartiger wurden. Ob sie unter ihrem Gewicht litten? Schwer zu sagen. An den gelegentlichen Gesprächen über den Königsweg zum Schlanksein beteiligten sie sich nicht. Allerdings stand immer eine Schale mit Süßigkeiten auf ihren Schreibtischen, aus der sich alle bedienen durften.

Dann war da noch Annette, mein gazellengleiches Gegenüber, und unsere Azubine Franca, die es sich durchaus noch leisten konnte, bauchfreie Tops zu tragen. Doch irgendwann, das war zu ahnen, würde das Erbe ihrer italienischen Mamma durchschlagen und ihr ein paar Pölsterchen zu viel bescheren. Frau Deutschmann und Frau Kessler aus der Buchhaltung gehörten zu den Leuten, die ich als normal bezeichnen würde. Hassenswert normal. So normal, wie ich es so gern sein wollte.

 

Am Nachmittag, während ich meinen Routineschreibkram erledigte, dachte ich darüber nach. In allen Medien ging es ständig ums Abnehmen. Außer ein paar kranken Teenagern brauchte niemand Tipps, um zuzunehmen. Abnehmen aber war Schwerarbeit, war wie dauerndes Gegen-den-Strom-Rudern. Das war doch zum Schreien ungerecht. Nach den beiden Schwangerschaften hatte ich zahlreiche Diätversuche unternommen. Mittlerweile hatte ich die Hoffnung, meine frühere Figur wiederzuerlangen, eigentlich aufgegeben. Manfred, der noch die gleiche Hosengröße wie vor zwanzig Jahren trug, warf mir vor, undiszipliniert und inkonsequent zu sein.

Zwischendurch führte ich innerlich Gespräche mit Ellen, in denen ich mich gegen ihre Übergriffe verwahrte. Wenn ich mich doch einmal trauen würde, mir ihre Bevormundung zu verbitten. Sie hatte aber auch eine Art, einen mit ihren Ratschlägen und Tipps zu überrollen. Sie war das wandelnde Selbsthilfebuch mit integrierter Kontrollfunktion. Das leider in eigener Sache komplett versagte.

Das Telefonat mit meiner Mutter lag mir auch noch schwer im Magen.

 

Zu Hause wartete Tobias mit der obligatorischen Frage: »Was gibt’s zu essen?« Ich warf schnell ein paar Pommes in die Fritteuse. Während Fischstäbchen in der Pfanne brutzelten, zog ich eine bequeme Hose an. Dann setzte ich mich zu ihm. Manchmal erzählte er mir seine Erlebnisse aus der Schule, doch heute schaufelte er schlecht gelaunt das Essen in sich hinein. »Du nervst«, war alles, was ich auf meine Fragen zu hören bekam. Er ließ ein halbes Fischstäbchen und eine Handvoll Pommes übrig. Zu schade zum Wegwerfen fand ich und aß die Reste auf. Von dem fettigen, kalten Zeug wurde mir übel. Deshalb machte ich mir rasch ein Käsebrot.

Und danach MUSSTE es noch etwas Süßes sein. Das war wie ein Naturgesetz.

Was würde ich Ellen sagen, auf deren Anruf ich schon wartete? »Hat nicht geklappt«, »Hab irgendwie schon heute Mittag aufgegeben«, »War wie immer, Ellen, ich kann’s einfach nicht«?

Tiefste Mutlosigkeit machte sich in mir breit. Jetzt war eh schon alles egal. Ich fischte ein Eis am Stiel aus der Tiefkühltruhe, um mich zu trösten. Den Mund voll köstlichem Schokoladeneis und mit klebrigen Fingern saß ich am Küchentisch und sah Manfred entgegen, der unerwartet früh nach Hause kam. Sein Blick war vernichtend. Wortlos zog er sich um und verschwand mit seiner Sporttasche.

Ellen hörte sofort an meiner Stimme, was los war. »Ach Barbara, davon geht die Welt nicht unter. Morgen ist ein neuer Tag. Morgen geht’s von vorn los, du schaffst das schon.«

»Und wie war’s bei dir?«

»Na ja«, sie druckste herum, »bis nachmittags um fünf läuft immer alles super. Aber wenn ich nach Hause komme, und da ist niemand und ich habe nichts Richtiges zu tun …«

Ellen war seit Jahren geschieden, und ihr einziges Kind, ihr ganzer Stolz, ihr Alexander, studierte in Berlin und war schwul. Oder mit Ellens Worten: »Er lebt da in einer Wohngemeinschaft mit einem netten jungen Mann zusammen.«

Ich verstand sie. Sie tat mir leid. Im Notfall konnten wir uns eben doch aufeinander verlassen. Wenn sie sich wieder grämte, weil Alexander ihr keine Enkel schenkte. Wenn ich verletzt war, weil Leonies Ton mir gegenüber zickig und herablassend war. Wenn wir mal wieder eine Diät in die Tonne kloppten.

Zum Glück wusste sie nicht, wie gemein ich heute Nachmittag über sie gedacht hatte. Zum Glück gab es Ellen, der es genauso ging wie mir.

Anstoß

»Also, Barbara, mit dir und dem Abnehmen, das wird ja wohl nichts.«

Verdattert starrte ich Ellen an. Hatte ich mich gerade verhört? Hatte sie mich etwa zu Kaffee und Kuchen eingeladen, um mich niederzumachen? Unsere Gespräche seit meiner letzten abgebrochenen Montagsdiät vor zwei Wochen liefen im Schnelldurchlauf in meinem Kopf ab. Hatte ich irgendetwas falsch gemacht? Sie beleidigt? Meine Augen flatterten durch Ellens ganz in hellblau gehaltene Küche und hielten sich krampfhaft an dem Kaffeebecher mit Entenmotiv fest. Ich rührte noch einen Löffel voll Zucker mehr in meinen Kaffee, um den Aufruhr in meinem Inneren niederzukämpfen.

»Ist doch wahr, Barbara«, Ellen funkelte mich an. »Wie lange reden wir jetzt schon darüber? Seit Jahren. Und was passiert? Nichts!«

Mir fiel immer noch keine Antwort ein. Gleich würde ich losheulen.

»Wir müssen die Sache ganz anders angehen. Hier!«, sie knallte eine Zeitungsseite auf den Tisch. Ich verstand nichts. Mein Gehirn hatte sich momentan ausgeschaltet.

Sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf einen kleinen Artikel, und da ich immer noch nicht reagierte, las sie ihn vor: »NOCH PLÄTZE FREI! In der Volkshochschule beginnt am Mittwoch, dem 1. März, ein Abendkurs für abnehmwillige Frauen: ›Mit mentalem Training zur Wunschfigur‹ hilft, sich für das passende Ernährungs- und Bewegungsprogramm zu motivieren und alte Blockaden aufzulösen. Nähere Infos und Anmeldung unter …« Triumphierend sah sie mich an. »Ich habe uns angemeldet.«

»Du hast was?« Mein Unterkiefer klappte herunter.

»Uns AN-GE-MEL-DET.«

Ich stieß den Stuhl zurück. Das war mehr, als ich im Moment verkraften konnte. Ich murmelte, ich hätte noch viel zu erledigen und wir sollten noch mal darüber reden. Ellen brachte mich wie immer zur Tür, als wäre zwischen uns alles in bester Ordnung. Dabei redete sie unentwegt weiter: »Ich dachte, du würdest schon einverstanden sein. Schau mal, da gibt es dann eine ganze Gruppe von Frauen mit dem gleichen Problem. Und überleg nur, was wir alles an Diäten ausprobiert haben. Vielleicht tickt irgendetwas in unseren Köpfen nicht richtig, und wir brauchen eine Art Gehirnwäsche.«

»Hm«, erwiderte ich lahm, »vielleicht«, und flüchtete in mein Auto.

Sobald ich außer Sichtweite war, gab ich Gas und schrie so laut ich konnte: »Scheiße!« Es klang eher gepresst. Nicht einmal im Auto gelang es mir, meine Wut auf Ellen herauszulassen. Jetzt fielen mir jede Menge kluge, coole, arrogante Antworten ein. Die würde ich ihr gleich alle um die Ohren hauen. Sobald ich zu Hause war, würde ich sie anrufen.

Aber zuerst brauchte ich unbedingt etwas Tröstendes zwischen die Zähne. Ich hielt am erstbesten Supermarkt an und kaufte Schokolade und Gummibärchen. Aufs Kochen konnte ich mich jetzt nicht konzentrieren. Deshalb legte ich noch ein paar Tiefkühlpizzen in den Einkaufswagen. Statt zur Reinigung fuhr ich zum Bürgerzentrum und besorgte mir das Programmheft der Volkshochschule. Manfreds Jacketts würden bis morgen warten müssen.

Rosenmontag

Schwungvoll bog ich auf den Firmenparkplatz ein. Übers Wochenende hatte ich ein paar Entschlüsse gefasst, und ich fühlte mich energiegeladen. Von Ellen hatte ich nichts mehr gehört. Statt mich mit ihr zu streiten, würde ich sie durch Nichtbeachtung strafen. So war Ellen eben: übergriffig und von missionarischem Eifer erfüllt. Aber ich würde ihr einen Strich durch die Rechnung machen.

Den Text über den Wunschfigurkurs hatte ich Satz für Satz genüsslich zerpflückt:

Durch gezielte Übungen erkennen Sie, was innerlich Ihr Essverhalten steuert und welches Ihre wirklichen Bedürfnisse sind. Ich kannte meine wirklichen Bedürfnisse: alles essen können und dabei schlank bleiben. Für diese Weisheit brauchte ich keinen Kurs.

Sie lernen, die verschiedenen inneren Teile zu integrieren und wieder auf die eigene innere Stimme zu hören. Meine innere Stimme flüsterte mir gern zu, Schokolade mache glücklich, und niemand konnte behaupten, ich würde nicht darauf hören. Dafür brauchte ich auch keinen Kurs.

Sie motivieren sich auf kraftvolle Weise für Ihr selbst gewähltes Bewegungs- und Ernährungsprogramm, so wie es für Sie passt. Das ging schon mal gar nicht. Bewegung passte überhaupt nicht zu mir. Jede einzelne meiner diesbezüglichen Erfahrungen war peinlich und demütigend gewesen. Schwächliche Versuche, mich an einem Seil in Richtung Turnhallendecke zu hangeln, während Staubpartikel im Sonnenlicht tanzen und die Klassenkameraden kichern. Plumper Weitsprung in die Sägemehlgrube bei den jährlichen Bundesjugendspielen. Hustend Chlorwasser schlucken, voller Angst, wie ein Stein abzusaufen. Beim Völkerball auf dem Schulhof immer als eine der Letzten in die Mannschaft gewählt werden. ICH WAR NICHT SPORTLICH! Und ich wollte es auch nicht werden.

Entdecken Sie in dieser Gruppe Spaß und Lebensfreude neu! Nee, is’ klar. Eine Gruppe übergewichtiger Zicken, die sich gegenseitig auszustechen versuchten. Genau das, was ich nicht brauchte.

Und dann der letzte Satz: Bitte Schreibzeug, Decke und bequeme Kleidung mitbringen. Decke? Ich sah ein Dutzend dicke Frauen wie gestrandete Wale auf dem Boden liegen und nicht wieder hochkommen. Super.

Kurz und gut, ich würde heute Morgen in der Volkshochschule anrufen und mich abmelden. Allein würde Ellen nicht hingehen, das war klar. Aber das war nicht mein Problem.

Zu dumm, dass keiner ans Telefon ging.

Erst dann bemerkte ich die Luftschlangen, die irgendjemand über die tief hängenden Neonleuchten geworfen hatte, und die Platte Punschballen in der Küche. Ein paar Kollegen trugen Ringelshirts, Papphütchen oder hatten rote Herzen auf die Wangen gemalt. Es war Rosenmontag und die Volkshochschule wahrscheinlich geschlossen.

Na ja, morgen war auch noch ein Tag.

An Arbeit war nicht zu denken. Ich stellte mich zu den anderen in die Küche und ließ mich von der ausgelassenen Stimmung anstecken. Einer meiner neu gefassten Entschlüsse bestand aus drei Buchstaben: FDH. Wahrscheinlich immer noch die wirkungsvollste Methode zur Gewichtsreduktion.

Mit Genuss verspeiste ich einen Punschballen und verkniff mir den zweiten. Na also, ging doch. Wozu brauchte ich mentales Training? Der Lärmpegel war unbeschreiblich. Ein Kofferradio dudelte Karnevalsschlager, und Frau Kessler aus der Buchhaltung führte eine Polonaise an, die sich durch alle Büros schlängelte. Gisela und ich standen plötzlich allein in der Küche. Sie hatte wahrscheinlich auch keine Lust, sich zum Narren zu machen. Beide fixierten wir begehrlich das Tablett mit den übrig gebliebenen Punschballen. Es war wie ein Kräftemessen mit dem inneren Schweinehund. Wir merkten fast gleichzeitig, was wir da taten, und mussten beide lachen.

»Man darf nicht immer nachgeben«, sagte Gisela bedauernd. Dann griff sie entschlossen zu und stellte die Platte ganz oben auf einen Aktenschrank. »Und führe uns nicht in Versuchung.«

»Ich wusste ja gar nicht, dass du dir solche Gedanken machst.« Ich starrte sie an, als sähe ich sie zum ersten Mal. »Ich dachte, du isst halt gern und es macht dir nichts aus …« Ich verstummte erschrocken.

»Dick zu sein, meinst du?« Gisela lächelte so gequält, als hätte sie Zahnschmerzen. Sie schwieg so lange, dass ich daran dachte, mir einen neuen Job zu suchen, weil ich in der Spedition Bremering jetzt garantiert unten durch war. Wie konnte ich nur so eine taktlose Bemerkung machen?

Doch dann sah Gisela mich traurig an. »Dir kann ich es ja sagen. Ja, es macht mir etwas aus. Im Grunde bin ich ziemlich verzweifelt, weil es mit dem Abnehmen überhaupt nicht klappt. Im Gegenteil, ich lege immer noch zu. Wo soll das hinführen, wenn ich auf die fünfzig zugehe? Ich bin doch erst achtunddreißig. Glaub mir, ich kenne jede Diät, die es gibt. Ich habe schon oft abgenommen, aber genauso schnell waren die Kilos wieder da. Ich war auch schon bei wer weiß wie vielen Ärzten; allein über deren Halbwissen und blöde Bemerkungen könnte ich ein Buch schreiben. Die Fröhlichkeit«, sie zog eine Grimasse, »ist mein Schutzpanzer. Wie vielleicht auch das ganze Fett.«

Ich war überwältigt, sprachlos, voller Mitgefühl und Verständnis – alles gleichzeitig. Mit einer solchen Leidensgenossin hatte ich hier in der Firma nicht gerechnet, und nur diesem plötzlichen Gefühl von Verbundenheit schrieb ich später zu, was ich tat. Ich packte Gisela am Arm und zog sie zu meinem Schreibtisch. Dort hielt ich ihr das Volkshochschulprogramm mit dem Wunschfigurkurs unter die Nase.

»Meine Freundin Ellen hat uns da angemeldet. Vielleicht wäre das was für dich?«

Gisela nahm sich Zeit, den Text zu lesen. Dann strahlte sie mich an. »Und ihr würdet mich mitnehmen?«

Mir wurde heiß und kalt. So hatte ich es nicht gemeint. Ich dachte, sie könnte an meiner Stelle … Ein Blick auf Gisela, und mir wurde klar: Das konnte ich jetzt unmöglich vorschlagen. Ich sank auf meinen Bürostuhl und nickte kraftlos.

Aschermittwochabend

Ich saß auf dem Beifahrersitz neben Ellen und sah stur geradeaus.

»Wieso hast du gesagt, ich könnte nicht abnehmen?«

»Hab ich doch gar nicht.«

»Als ich letzte Woche bei dir war.«

»Ich habe gesagt, dass wir beide es nicht allein schaffen.«

Darauf fiel mir keine Antwort ein. Typisch Ellen, erst machte sie mich an, dann verdrehte sie alles. Überhaupt tat sie so fröhlich, als wären wir zu einer Hochzeit unterwegs. Mir war eher, als würde ich geradewegs zur Schlachtbank geführt. Oder noch schlimmer, für den Rest meines Lebens in das dunkle Verlies des Verzichts geworfen.

Außerdem war sie eine lausige Autofahrerin, gab ruckartig Gas und fuhr langsamer, wenn sie redete, was die meiste Zeit der Fall war. Gestern hatte sie eine lapidare Nachricht auf unserem Anrufbeantworter hinterlassen: »Hallo Barbara, sei morgen Abend bitte um zehn nach sieben startklar. Ich hole dich ab.«

Manfred hatte ich vorgeschwindelt, wir gingen ins Kino. Er hatte sich murrend bereit erklärt, früh genug zu Hause zu sein, um auf Tobias aufzupassen.

Schon allein von der Logistik her war dieser Kurs für mich eine Zumutung. Zehn Abende lang konnte ich das vor Manfred nicht geheim halten. Ihm die Wahrheit zu sagen, kam erst recht nicht infrage. Seine Kommentare hätten mir gerade noch gefehlt. Aber ich hatte einen Plan.

Endlich erreichten wir die Volkshochschule. Ellen fand einen Parkplatz, schaltete das Licht aus und zog krachend die Handbremse an.

»Na dann«, sagten wir gleichzeitig und hievten uns aus den Sitzen.

 

»Das ist wohl ein Kurs mit integriertem Bewegungsprogramm«, keuchte Ellen, als wir mit unseren Decken unter dem Arm den ersten Stock erreicht hatten. »Noch eine Etage.« Ich bekam nicht genug Luft, um zu antworten.

»Sei mal still.« Ellen blieb stehen. Als ob ich etwas gesagt hätte. Dann hörte ich es auch: Musik. Fröhliche Rhythmen klangen aus dem Raum, dem wir uns näherten.

»Bist du sicher, dass es kein Aerobickurs ist?« Ich bekam einen Lachanfall. Kichernd wie Dreizehnjährige erreichten wir die zweite Etage. Hinter mir sah ich Gisela auf dem Treppenabsatz auftauchen.

»Barbara, warte auf mich.«

Rasch machte ich Ellen und Gisela miteinander bekannt. Dann betraten wir einen geräumigen Seminarraum mit Dachschrägen, in dem Stühle im Kreis arrangiert waren. Wir nahmen drei Plätze nebeneinander. Eine Frau mit kurzen roten Haaren begrüßte uns.

Ich war mit dem Entschluss gekommen, alles blöd zu finden, und bekam nun gegen meinen Willen gute Laune durch die Musik. Ich sah mich um. In der Mitte des Stuhlkreises war ein blaues Seidentuch um eine brennende Kerze drapiert. Auf dem Flipchart stand: »Herzlich willkommen zu ›Mit mentalem Training zur Wunschfigur‹.« Zwei Stühle waren noch frei.

Gott, war ich froh, nicht allein hier zu sein. Die Dickste war ich glücklicherweise nicht.

»Die sind ja gar nicht alle dick«, flüsterte Gisela mir zu.

»Die meisten aber schon«, flüsterte ich zurück. Bei zwei Frauen fragte ich mich allerdings auch, wo die noch abnehmen wollten.

»Jedenfalls ist die Dozentin schlank«, meinte Ellen. »Das spricht für ihre Methode.«

»Und wenn sie nie dick war?« Ich blieb skeptisch und nahm mir vor, sie danach zu fragen.

Wow! These boots are made for walking von Nancy Sinatra, schön rhythmisch und laut, das war einer meiner Lieblingssongs. Ich wippte unwillkürlich mit den Füßen. Dabei versuchte ich, meine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf Ellen und Gisela zu verteilen. Ich hatte noch daran zu knabbern, wie eingeschnappt Ellen wegen Giselas Teilnahme reagiert hatte. Auf diffuse Art fühlte ich mich schuldig und ärgerte mich darüber.

»Hör mal …«, ich wandte mich Ellen zu.

»Pssst«, machte sie. Inzwischen waren alle Stühle besetzt. Die Frau mit den roten Haaren stellte die Musik ab. Es ging los.

 

Unsere Kursleiterin stellte sich als Frau Weber vor. Sie war Sozialpädagogin und Kommunikationstrainerin und hielt diese Kurse seit einigen Jahren.

»In den kommenden drei Monaten werden wir zusammen eine spannende Reise unternehmen. Da bietet es sich an, dass wir uns duzen. Ist das für euch okay?«

Vereinzelt wurde genickt, niemand widersprach.

»Ich heiße Antonia«, sagte sie. »Auf dieser Reise, die heute beginnt oder vielleicht auch schon mit eurer Anmeldung oder noch viel früher begonnen hat, werden wir möglicherweise entdecken, dass wir alle auf dem gleichen Weg unterwegs sind. Ist es nicht so, dass ihr Expertinnen im Abnehmen seid? Ihr habt das Wissen, ihr habt den Willen, ihr habt die Erfahrung, und trotzdem hat es bisher nicht dauerhaft geklappt. Wäre es nicht gut, etwas Neues auszuprobieren? Wenn wir unsere alten Gedankenmuster aufdecken und sie, wenn nötig, durch neue ersetzen, kann es gut sein, dass wir bessere Ergebnisse bekommen. Das heißt, dann funktioniert auch endlich die Gewichtsabnahme.«

Frau Weber – Antonia – sah in die Runde und wartete offensichtlich auf Bestätigung.

»Wenn das so einfach wäre«, sagte Gisela neben mir laut, und ich sah sie überrascht von der Seite an.

»Ja, es scheint schwer zu sein«, Antonia nickte. »Und doch ist es leicht zu erlernen.« Sie bewegte sich ein paar Schritte in den Raum und verteilte an jede Frau drei Notizzettel.

»Wie wäre es, zunächst einmal die ›Mitreisenden‹ kennenzulernen? Bitte schreibt auf den ersten Zettel eines eurer Hobbys.«

Ich hätte gern gewusst, was für die beiden anderen Zettel verlangt wurde. Doch Antonia wartete ab, bis wir der Aufforderung gefolgt waren. Eines meiner Hobbys? Ach du liebe Güte, es war schon so lange her, dass ich mir etwas genäht oder gestrickt hatte. Meine Tage waren auch ohne Hobbys restlos ausgefüllt. Ich schrieb »Kino« auf den Zettel.

»Auf den zweiten Zettel schreibt bitte eine eurer Stärken.«

Mir brach der Schweiß aus. Ich schielte zu Ellen, sie schrieb »Organisieren« auf. Stimmt, das konnte sie wirklich gut. Ein Blick zu Gisela, sie sah genauso gequält aus wie ich. Ich zuckte die Achseln, dann schrieb ich »Zuhören«. Antonia hatte uns wohl beobachtet, denn kaum war ich fertig, ging es weiter.

»Und auf den dritten Zettel bitte eine eurer Erwartungen an diesen Kurs.«

Ich hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer kommen könnte. Jetzt musste ich mir auch noch richtig Gedanken machen. Einfach »Abnehmen« zu schreiben, wäre ja wohl zu simpel. In einem Anfall von Ehrlichkeit schrieb ich »keine«.

Antonia forderte uns auf, die Zettel zu falten. Sie sammelte sie in einer kleinen Kiste ein und bat uns dann, daraus wieder drei Zettel zu ziehen. »Und jetzt findet bitte heraus, von wem die Zettel sind, die ihr gezogen habt. Wenn ihr es herausbekommen habt, schreibt den Namen der Person auf den Zettel.«

Sie grinste, als wir alle zögerten. »Reden hilft, Aufstehen auch.«

Eine von den zwei Schlanken, eine große Frau mit blondem Stufenschnitt, machte den Anfang. Und auf einmal standen wir alle innerhalb des Stuhlkreises und interviewten uns gegenseitig: »Fährst du gern Fahrrad?« »Kannst du gut organisieren?« Es wurde viel gelacht, und ich fühlte mich zum ersten Mal an diesem Abend einigermaßen locker. Es machte mir nicht einmal etwas aus, die drei Personen vorzustellen, deren Zettel ich gezogen hatte.

Sabine, eine kleine, zierliche Person mit einer irgendwie freudlosen Ausstrahlung, hatte als Hobby »Skifahren« aufgeschrieben. Dann hatte ich noch einen Zettel von Edith mit ihrer Erwartung »Essen ohne mich nachher zu ärgern« und den »Organisieren«-Zettel von Ellen, den ich sowieso an der Schrift erkannt hätte. Edith schien die Älteste im Kurs zu sein. Sie sah wie eine biedere Hausfrau im Rentenalter aus.

Antonia schrieb alle Erwartungen ans Flipchart. Einige hatten tatsächlich einfach »Abnehmen« aufgeschrieben. Ein bisschen peinlich war mir mein Zettel jetzt schon. Doch Antonia sah mich augenzwinkernd an. »Keine Erwartungen? Hm, dann bist du ja offen für alles.«

Ich nickte verblüfft und verpasste, was Gisela über die von ihr gezogenen Zettel sagte.

Die Erwartungen an den Kurs ähnelten sich natürlich. Abnehmen. Erkennen, was das eigene Essverhalten steuert. Besser mit Stress umgehen können. Sich in seiner Haut wieder wohlfühlen.

Ich fand mich in vielem wieder.

»Okay.« Antonia saß lässig auf ihrem Stuhl neben dem Flipchart. »Warum mentales Training? Alles, was wir tun, ist zunächst einmal als Gedanke da. Das heißt, auch Abnehmen beginnt im Kopf. Oft ist uns gar nicht bewusst, wie wir übers Dicksein oder Schlanksein oder übers Abnehmen denken. Wenn wir es herausfinden, können wir neue Denkgewohnheiten schaffen. Und ein verändertes Denken führt fast automatisch zu verändertem Verhalten.«

Ich stellte mir vor, ich könnte in meinem Gehirn eine neue Software installieren und die alte löschen. Das wäre toll.

»Jede von uns hatte einmal ein natürliches Hunger-und Sättigungsgefühl, das wollen wir wiederentdecken. Wir werden Ziele formulieren und uns motivieren, sie zu erreichen. Wir werden unsere Essstrategie überprüfen. Außerdem lernen wir Möglichkeiten kennen, um mit Stress gelassener umzugehen. Denn oft, das habt ihr vorhin bei euren Erwartungen schon erwähnt, ist Stress der Auslöser für Essen. Und auch der Umgang mit Stress ist letztlich Einstellungssache.«

Sie stand auf und forderte uns auf, das ebenfalls zu tun. »Ich lade euch zu einem kleinen Experiment ein. Bitte streckt einen Arm waagerecht aus und führt ihn dann durch eine Drehung der Hüfte so weit ihr könnt nach hinten. Folgt dem Arm mit eurem Blick, und merkt euch jetzt die Stelle an der Wand oder am Fenster, die ihr sehen könnt, wenn ihr auf eure Fingerspitzen schaut.«

Wir ließen den Arm wieder sinken und sollten ihn nun nur in Gedanken zehn Mal auf die gleiche Weise bewegen, während wir ganz stillstanden. Ich machte die Augen zu, um mich innerlich besser auf diese Vorstellung zu konzentrieren.

»Und jetzt«, Antonias Stimme holte mich wieder in die Gegenwart zurück, »bewegt den Arm wieder genauso nach hinten wie zu Beginn unseres Experiments. Was hat sich verändert?«

Erstauntes Ah und Oh um mich herum. Auch ich war überrascht. Mein Arm zeigte mindestens fünfzig Zentimeter weiter nach rechts als zuvor, ohne dass ich mich anstrengen musste.