X-Mas: Hochdramatisch - Andrea Gerecke - E-Book

X-Mas: Hochdramatisch E-Book

Andrea Gerecke

0,0

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

JEDER HAT HIER EINE LEICHE IM KELLER! Sie kennt sich bestens aus in diesem Objekt: die Hausmeisterin. Jeder Mieter hat Dreck am Stecken, mehr oder weniger. Nur ein Strang ist noch belebt, in dem alle Wohnungen übereinanderliegen. Geplante Komplettsanierung, so heißt es. Aber eigentlich sollen alle Mieter raus, für etwas Neues. Denn das Haus liegt am Rande der Stadt und sollte ein Stück weit das Wohnungsproblem lösen, entwickelte sich aber zum sozialen Brennpunkt. Alle klammern sich an ihr Zuhause. Ein Umzug birgt für jeden Gefahren: für die Alleinerziehende mit ihren drei Kindern, den Trinker, den Sammelsüchtigen, die kostensparenden Rentnerinnen in ihrer Alten-WG, das schicke Paar, den Controller mit plötzlichen Gewissensbissen, die Alternativen und die anderen. Dem Vermieter fällt allerlei ein, um seine Mieter zu vergraulen. Da streikt der Fahrstuhl, das Wasser wird abgestellt und der Müllschlucker blockiert … Heizung und Strom funktionieren zeitweilig nicht … Und dann steht auch noch Weihnachten vor der Tür. 24 Kapitel für 24 Schicksale – der etwas andere, reichlich kriminelle Adventskalender, den man auch hintereinanderweg als Roman lesen kann ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 367

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Wie die Pflanzen haben auch die meisten Menschen versteckte Eigenschaften. Nur der Zufall bringt sie ans Licht.“La Rochefoucauld, Reflexionen

Dieser Episodenroman spielt irgendwo in Deutschland, vielleicht sogar direkt bei Ihnen um die Ecke ... Er spiegelt ein Stück weit das Zeitgeschehen wider. Alle Handlungen und Personen sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen mit real existierenden Personen und Situationen ergeben sich rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8407-8

Andrea GereckeX-Mas:HochdramatischEin 24-etagiger Kriminalroman im Advent

Vorwort

Das Haus, in dem das Folgende spielt, liegt irgendwo in Deutschland, eher am Rande einer größeren Stadt. Die Architekten konnten sogar einigermaßen Fantasie walten lassen und Geld in die planerische Hand nehmen, als das Ensemble dieses Wohngebietes vor etlichen Jahrzehnten entstand. Es war die hoch dotierte Ausschreibung zu einem Wettbewerb. Bei allen Unterschieden der einzelnen Objekte erkannte man eine gewisse Harmonie im Wechsel von niedrigen und höheren Häusern, mit dem zentralen Punkt unseres augenfälligen Gebäudes, das für dortige Verhältnisse schon ein Wolkenkratzer war. Verbindend dazwischen die zahlreichen Skulpturen, von heimischen Künstlern geschaffen und hochgelobt in den Medien. Sehr abstrakt und gern in rostigem Farbton. Alles eingebunden in jede Menge Grünanlagen, deren Bäume und Sträucher zu wachsen versprachen.

Die Bequemlichkeit überzeugte viele der Mieter: Fahrstuhl, Zentralheizung, Müllschlucker, große Balkone. Zudem war ja alles neu! Hinzu kam der gigantische Blick in die Weite, wenn man etwas oberhalb daheim war. Der Weg zur Arbeit für den einen oder anderen etwas aufwendiger mit dem Pkw oder dem öffentlichen Nahverkehr, aber dafür zu Fuß der Gang in den Supermarkt, zur Kindertagesstätte oder in die Schule. Außerdem kleinere und größere Gaststätten sowie Freizeitzentren inklusive großen Sportplatzes. Und für alles ausreichend Personal zur Betreuung. Aufgrund des relativ zeitgleichen Einzugs bildeten sich freundliche Gemeinschaften untereinander. Eigentlich himmlisch.

Doch die Jahre gingen ins Land, und die Gegend verlor nach und nach ihren Charme, war plötzlich kein gepriesenes Kleinod mehr, sondern bröckelte ungepflegt vor sich hin. Begüterte Bewohner verzogen, gern in Eigentumswohnungen an anderer, überschaubarer Stelle. Nach und nach entwickelte sich das Areal zu einem sozialen Brennpunkt. Ein Dorn im Auge der Verantwortlichen aus den Verwaltungsbereichen. Zumal die Kosten für Sozialarbeiter und zur Beseitigung der von den Rowdys angerichteten Schäden stiegen.

Später konnte sich keiner mehr genau daran erinnern, wann dieser Verfall begann und ab wann es sich nicht mehr um ein bevorzugtes Wohngebiet handelte. Dann hieß es plötzlich: „Um Gottes willen, dort willst du hinziehen? Keine zehn Pferde würden mich dahin bringen. Da müsste man mir noch was draufzahlen …“

Fest steht nur, dass die Behörden nachdrücklich entschieden, es müsse etwas geschehen. Auszug und Umzug, Rückbau und Neubau – egal was, Hauptsache Veränderung. Und die war heftig im Gange. So wie in diesem Hochhaus mit den verbliebenen 24 Mietparteien, die im hier festgehaltenen Geschehen nur noch in dem einzig intakten Strang unmittelbar übereinander hausen. Denn wohnen kann man das nicht mehr wirklich nennen, zu oft fällt Wichtiges in Sachen Versorgung aus. Diese letzten der Mohikaner hält indes etwas fest an ihrem Zuhause, ganz unterschiedlich im jeweiligen Fall und keineswegs nur Gewohnheit. Kriminelle Energie ist hier gebündelt.

Der eine oder andere Nachbar könnte eventuell direkt bei Ihnen wohnen, liebe Leser, oder vielleicht doch besser nicht?! Hochdramatische Unterhaltung im doppelten Sinne des Wortes bei der folgenden Lektüre meines Episodenromans, die sich auch gern als Adventskalender zelebrieren lässt – vom 1. bis 24. Dezember, jeden Tag ein kleines Kapitel (anstelle von Naschwerk, das sowieso nur auf den Hüften landet) …

1. Kapitel Schwesterlich

Hausmeisterin Elizabeth stützte sich gerade auf dem Schneeschieber ab. Ihre dicke Wollmütze saß ihr tief in der Stirn, von der der Schweiß rann. Sie hasste die sogenannte weiße Pracht. Sah nur in dem Moment beschaulich aus, wenn sie vom Himmel herabschwebte. Aber sobald alles auf dem Boden lag, entwickelte es sich binnen kürzester Zeit zu dreckigem, schmierigem Matsch. Vor allem hier in der Stadt. Außerdem war es die pure Sisyphusarbeit. Kaum war sie fertig, konnte sie von vorn beginnen, weil ein Schneeschauer auf den nächsten folgte.

Elizabeth mit z, wie Elizabeth II, die britische Königin, zog die Nase hoch. Es war ihr zu kalt und zu umständlich, die Handschuhe auszuziehen und ein Taschentuch herauszuholen. Immerhin war das Hochziehen deutlich eleganter als die Variante von Edgar, der in solchen Fällen die Finger an die Nase legte und den Rotz auf die Straße schleuderte, egal von wo der Wind kam. Als waschechte Charlottenburger hatte er das in solchen Fällen stets grinsend bezeichnet. Ihr war es völlig egal, wie er das benannte. Sie fand es nur ausgesprochen eklig. Zum Glück blieb ihr auch das seit geraumer Zeit erspart.

Warum sie ihn einst geheiratet hatte, das wusste sie nicht mehr. Es mochte der Name gewesen sein. Vorneweg schon selbst königlich und dann im Anschluss König. Allerdings brachte ihnen das als Hausmeisterehepaar auch keine Pluspunkte ein. Seit unzähligen Jahren gingen sie und die vielen Mieter durch diese inzwischen marode Eingangstür, wohnten unter einem Dach. Das vereint, sollte man meinen, aber weit gefehlt. Und nun stand auch noch Weihnachten vor der Tür.

Elizabeth griff zornig erneut an den Stiel ihres Schneeschiebers und erzeugte eine freie Spur von der Haustür zum Abstellbereich für die Mülltonnen. Zwischendurch schaufelte sie das Zusammengeschobene auf die Berge am Rande. Wenn das so weiterging, waren hier andere Maßnahmen nötig, dann musste der städtische Entsorger sich auch mal darum kümmern und die Schneemengen per Lkw an den Rand der Stadt schaffen.

Während des Schiebens legte sie mehrere gefrorene Hundehaufen frei und ärgerte sich sofort darüber. Das war doch bestimmt dieser Köter aus dem Haus. Peggy, wenn sie sich recht entsann. Wie konnte man einen Vierbeiner bloß so eigenartig benennen, war das nicht mal der Vorname einer Schlagersängerin …? Dabei hatte sie überall die Schilder angeklebt mit einem hockenden Hund, der sein Geschäft verrichtete und das in einem roten Kreis mit schräg verlaufendem Balken. Das war ja wohl mehr als verständlich und kam völlig ohne Worte aus. Aber nein, die lieben Hundebesitzer dachten mal wieder keinen Schritt weiter. Nur schnell ausscheißen lassen und dann so tun, als wäre es der kleine Liebling nicht gewesen. Man sollte sowieso alle Tierhaltung in einem Mietshaus verbieten. Brachte nichts als Ärger. Jede Menge Gestank und Krawall. Und vielleicht sogar noch Ungeziefer. Hatten die Viecher nicht auch Flöhe und Zecken? Elizabeth schüttelte sich bei diesen Überlegungen.

Ihr Blick fiel auf einen Passanten. War das nicht Sybilla, die sich da langsam dem Eingang näherte? Konnte ja eigentlich nicht sein. Neulich erst hatte die Hausmeisterin das Stichwort Urlaub auf irgendeiner Ostseeinsel im Flur aufgeschnappt. Nur deren Namen hatte sie vergessen. Aber von einem gemeinsamen Ausflug der Schwestern war die Rede. Welcher Idiot fuhr denn im Dezember auf so eine einsame Insel? Im Sommer ja, da konnte man sich dort in der Sonne aalen und in den Sonnenuntergang starren sowie am Imbiss leckere Fischbrötchen verzehren. Elizabeth rieb sich mit dem Fäustling in den Augen. Ach nein, die Schwester Swenja. Die beiden glichen einander ja dermaßen, obwohl sie keine Zwillinge waren. Hatte man eigentlich eher selten. Zumal die in ihrer Kindheit total unterschiedlich aussahen, erinnerte sich Elizabeth an ein Foto, das sie bei einem Handwerkereinsatz in der Wohnung entdeckt hatte.

„Nanu“, eröffnete Elizabeth das Gespräch, als Swenja auf ihrer Höhe angelangt war, „ganz allein? Ich denke, Sie wollten mit Ihrer Schwester zusammen die frische Seeluft genießen!“

Auch so ein Schwachsinn, frische Seeluft um diese Zeit! Und dann im Zusammenhang mit Genuss. Da blieb man doch lieber mit seinem Arsch daheim, galoppierten Elizabeths Gedanken weiter.

„Guten Abend“, kam es zögerlich von Swenja und dann erklärend: „Ja, wir waren auf der Insel. Aber ich musste zurück. Die Pflicht ruft, wissen Sie. Ich konnte mir nicht länger freinehmen. Und Sybilla wollte noch ein wenig im Urlaub bleiben, die Auszeit quasi allein verlängern …“

„Hm?!“

„Eigentlich will ich nur fix nach der Post schauen. War nett, mit Ihnen zu plaudern, aber jetzt muss ich los. Bin auch gleich wieder verschwunden. Ihnen noch eine schöne Adventszeit!“

Swenja schaute nervös auf ihre Armbanduhr. Und im selben Augenblick war sie, ohne ein weiteres Echo abzuwarten, im Haus verschwunden.

Schöne Adventszeit, auch so ein frommer Spruch, entrüstete sich Elizabeth innerlich. Was ist denn daran schön, wenn ich in der Kälte hier draußen stehe und mir der Frost durch die Knochen kraucht?

Swenja leerte in Windeseile den Briefkasten und sauste ins Treppenhaus, dort nahm sie bis zur ersten Etage immer zwei Stufen auf einmal. Dass am Fahrstuhl das übliche Schild „Außer Betrieb“ hing, nahm sie nicht wahr. Für den kurzen Weg hatte sie sowieso noch nie auf diese Transporthilfe gebaut, selbst nicht mit reichlich Gepäck. Es roch in diesem engen Kasten immer nach irgendwas. Es reichte ihr schon völlig aus, wenn sie den Mief wahrnahm, während andere Bewohner ein- oder ausstiegen.

Swenja verlangsamte ihr Tempo nur etwas, stieg mit raschen Schritten die weiteren Stufen nach oben. Ihre feine Nase witterte weiter. Es roch muffig im Flur, nach alten Leuten, die ihrer Körperhygiene nicht mehr so viel Zeit widmeten, vielleicht auch nach Inkontinenz. Sie rümpfte die Nase und hatte schon die Etage hinter sich gelassen. Von den Mietern dort wusste sie nicht viel. Ein älteres Ehepaar, das sie bislang kaum zu Gesicht bekommen hatte.

Augenblicke später befand sich Swenja vor der Wohnungstür ihrer Schwester und atmete tief durch, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Die Tür zog sie gewissenhaft hinter sich zu und ließ sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen. Dort schloss sie die Augen und tauchte in ihre Erinnerungen ab …

… Eintönig dröhnte das Nebelhorn. Sein Klang schien sich in den Feuchtigkeitsfetzen zu verfangen, die in der Luft hingen. Swenja zog die Kordel ihrer Kapuze fester und band mit klammen Fingern zum wiederholten Mal eine Schleife, die sich immer wieder nach einer Weile löste und dabei den Wetterschutz vom Kopf rutschen ließ. Doch zu einem Knoten konnte sie sich nicht durchringen, das hätte sie zu sehr am Hals beengt, ihr wieder diese panikartigen Zustände verschafft, bei denen sie nur hechelnd atmete, weswegen sie schon in psychologischer Behandlung war. Aber nichts half.

Ihr schmerzten die Ohren von dem durchdringenden Warnton, der in regelmäßigen Abständen erneut Anlauf nahm und machtvoll anschwoll. Am liebsten hätte sie sie mit den Händen zugehalten, aber das hätte nichts gebracht. Das Brummen des Signals ließ ihren gesamten Körper vibrieren.

Swenja stapfte durch den nassen, schweren Sand. Das Leder der Sportschuhe war am unteren Rand schon dunkler geworden, und sie spürte fröstelnd, dass die Feuchtigkeit bereits bis auf die Socken durchgedrungen war. Sie hätte sich besser für gefütterte Gummistiefel entscheiden sollen, aber bei Reiseantritt schien noch die Sonne. Deshalb hatte sie die auch gar nicht in Erwägung gezogen.

Es roch intensiv nach dem Schlick, in dem sich graue Schaumkrönchen tummelten. Jetzt blieb sie stehen, wischte sich die Nässe aus dem Gesicht und blickte Sybilla hinterher, die forschen Schrittes fast fünfzig Meter vor ihr lief. In dem Moment verhielt auch die Schwester und drehte sich um. Sie winkte lebhaft und rief lautstark: „Jetzt komm aber mal in die Hufe, alte Trödelliese!“

Bekannte Worte, die nach Kindheit klangen. „Alte Trödelliese!“ Wie oft hatte die Mutter das mit einer Zornesfalte auf der Stirn von sich gegeben, und die kleine Schwester griff es dann jedes Mal auf, um es wie eine Schallplatte mit einem Sprung zu wiederholen, bis die Mutter sie lächelnd stoppte, sie in die Arme schloss und ihr zärtlich über die blonden Locken strich. Und sie? Sie stand daneben, konnte sich nicht rühren, war wie gelähmt.

Swenja beschleunigte ihre Schritte, um Sybilla einzuholen, die ihren Weg schon wieder fortgesetzt hatte. Es dauerte nicht lange, dann waren die beiden Frauen auf gleicher Höhe.

„Na, aufgewacht, Schwesterlein?“, erkundigte sich Sybilla mit einem Grinsen im Gesicht und stieß sie freundschaftlich in die Seite.

„Wir sind schließlich auch hier, um die Schönheit der Natur zu genießen“, lenkte Swenja ein und ärgerte sich im selben Augenblick über ihre Antwort. Da war sie wieder, diese ewige Rücksichtnahme, dieses laufende Sich-entschuldigen-Müssen.

Sybilla lachte auf.

„Na, du bist gut. Es ist ein Scheißwetter, und du willst hier irgendwelche Schönheiten genießen. Dass ich nicht lache. Hast ja einen wunderbaren Termin für unseren Ausflug ausgesucht. Wie immer. Da höre ich einmal auf dich und gleich geht alles in die Binsen. Wir hätten doch die Malediven für einen ordentlichen Trip zu dieser Jahreszeit nehmen sollen. Ich hätte das auch notfalls gesponsert, immerhin liegt mein Gehalt geringfügig höher als das deinige. Da könnten wir jetzt gemütlich unter einem Sonnenschirm relaxen und einen exotischen Drink nach dem anderen schlürfen. Ein paar ansehnliche Kellner um uns herum. Aber du musstest wegen absurder, verklärter Erinnerungen ausgerechnet nach Hiddensee.“

Das war das Stichwort. Auf dem „söten Länneken“, wie die Einheimischen es nannten, hatte Swenja einst einen Urlaub mit ihrer großen Liebe verbracht. Knut! Die nicht einmal zwanzig Quadratkilometer waren sie Stück um Stück abgewandert, jedenfalls überall dort, wo es möglich und gestattet war. Gelegentlich mal zur Abkürzung über eine abgesperrte Wiese, unter den neugierigen Blicken der wiederkäuenden Kühe und mit äußerster Vorsicht, damit sie keinen Schlag an den sichernden Drahtzäunen bekamen.

Die Naturschutzgebietsschilder bremsten sie indes an etlichen Stellen aus. Sie wiesen energisch mit Verboten darauf hin, was alles in diesem Teil des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft nicht gestattet war. Da war Knut doch sehr gewissenhaft. Er studierte in jener Zeit und wollte Lehrer werden. Biologie interessierte ihn vor allem, sein Hauptfach. Nur 250 Meter sei das kleine Inselchen an der schmalsten Stelle dünn und knapp vier Kilometer an der breitesten Stelle stark, hatte er damals doziert, belesen, wie er war.

Hiddensee, ganz nah der Insel Rügen vorgelagert, hätte auch einen Ausflug zum größeren Nachbarn erlaubt, hatte er nebenher eingeräumt. Aber das war gar nicht nötig. Das kleine Eiland fesselte beide. Und sie waren verliebt, Swenja jedenfalls schwebte auf Wolken und träumte schon von der ganz großen, unbedingt weißen Hochzeit, in einem Blumenmeer, im Beisein der stolzen Eltern und der Schwester, mit sämtlichen Freunden und Bekannten. Und sie dachte, es würde Knut ebenso ergehen. Ihrer beider Liebe sei unumstößlich.

Doch ein paar Tage später war die kleine Schwester einfach so angereist und hatte sich eingemischt, wie immer. Das war peu à peu geschehen. Erst die intensive Umarmung bei der Begrüßung, dann da ein Blick, dort eine scheinbar zufällige Berührung. Swenja hatte einfach nichts bemerkt oder wollte nichts bemerken, selbst als Knut eines Nachts betont leise aufstand, sich zurückzog und erst Stunden später zurückkehrte, um die Decke über den Kopf zu ziehen, selig zu stöhnen und Augenblicke später in ein Schnarchen zu verfallen. Es war nicht mehr sein Geruch, der ihn umfing, er hatte den ihrer Schwester angenommen.

Zuletzt sah sie sich auf dem Schiff, das wieder heimwärts fuhr, an der Reling stehen. Zunächst brachte es sie nach Stralsund. Ohne den Mann an ihrer Seite. Der blieb mit Sybilla zurück, und später heirateten die beiden – so groß, wie sie sich das eigentlich für sich vorgestellt hatte. Swenja fungierte mechanisch und wie versteinert als Trauzeugin, hatte doch Knut darauf bestanden, dass sie gute Freunde blieben. Aus einer Laune heraus hatte sie sich für die Hochzeit eine Dauerwelle und ein ebensolches Blond wie ihre Schwester zugelegt, was eine verblüffende äußerliche Ähnlichkeit erzeugte. Ansonsten zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und redete nie über die Vergangenheit.

„Weißt du noch …?“, kam es stockend von Swenja.

„Was soll ich, verdammt noch mal, wissen?“, fuhr Sybilla sie grob an, zückte ein Zellstofftaschentuch und schnaubte sich geräuschvoll die Nase. „Wenn ich mir hier mal nicht eine heftige Erkältung eingefangen habe! Und daran bist nur du schuld! Ich glaube kaum, dass ich das übers Wochenende auskurieren kann. Und Montag habe ich die große Präsentation vor der Geschäftsleitung. Dabei geht es für mich um alles, um den Aufstieg innerhalb des Unternehmens, um den nächsten Sprung auf der Karriereleiter. Oh, du bist so was von unmöglich.“

Bei diesen Worten stapfte sie weiter stur voran.

Swenja hatte nicht zugehört. Sie hing schon wieder ihren Gedanken nach. Den einen Urlaubstag vor dem Wochenende hatte sie sich extra in ihrer Firma erbeten, für eine private Angelegenheit. Die Situation mit der Schwester bedrückte sie seit Jahren, und sie wollte sich einmal mit ihr aussprechen, so richtig gründlich. Wenn dann Sybilla um Verzeihung bitten würde, dann würde sie dem nachgeben und alles wäre endlich gut! So malte sie sich die Situation wieder und wieder aus. Sie sagte keinem, was sie vorhatte, und eigentlich interessierte sich auch niemand wirklich dafür beziehungsweise für sie.

„Dass Sie mir Montag aber wieder pünktlich an der Arbeit sind“, hatte der Chef nur nüchtern gemeint. „Wir bekommen die Lieferungen mit den neuen Büchern von der Bestsellerliste. Die müssen alle einsortiert sein, ehe wir öffnen. Schließlich greifen die Kunden zuerst danach. Umsatz, Umsatz, Umsatz!“ Seine übliche Formulierung klang ihr lange in den Ohren.

Swenja war in ihrem Traumberuf angekommen. Sie arbeitete in einer großen Buchhandlung, seit dem Tod der Mutter wieder Vollzeit. Und die Gründlichkeit, die sie auszeichnete, kam ihr sehr zustatten. Sie beriet eben leidenschaftlich gern und fand stets heraus, was auf den einzelnen Kundenwunsch zugeschnitten war. Manches dauerte deshalb bei ihr etwas länger, aber dafür waren die Käufer immer zufrieden, und es kamen nie Klagen, sondern nur lobende Worte, die der Chef indes herunterspielte, während er seinen Standardkommentar fallen ließ, dass ein wenig mehr Schnelligkeit schon angebracht wäre. Einmal hatte er gemeint, man könne ja mal erfassen, wie viele Minuten sie benötigte, um ein Buch an den Mann oder die Frau zu bringen. So wie in den Callcentern oder bei großen Versandunternehmen, wo alles akribisch erfasst würde, jedes Wort, jeder Handschlag, und wo es Richtzeiten für alles Tun gäbe. Da würde sie garantiert auf dem letzten Platz im Team landen und wäre bei der nächsten Entlassungswelle dabei. Er hatte daraufhin gelacht, als wäre das ein ganz toller Witz. Gar nicht mehr aufhören wollte er mit seinem Gelächter.

Die beiden Schwestern liefen jetzt unterhalb der etwa vierhundert Meter langen Huckemauer. Auf ihr zu gehen, das verbot sich aufgrund der Nässe. Bei Trockenheit war es einfach nur aufregend, aber jetzt war alles schmierig und glatt. Der glänzend schwarze Steinwall schützte das Kliff und stammte noch aus der Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Swenja hatte sich ganz bewusst für den klassischen Weg entschieden, den sie damals auch Hand in Hand mit Knut gegangen war: vom Hafen in Kloster, mit einem kleinen Zwischenstopp beim Bäcker Kasten, wo Swenja diesmal zwei Streuselschnecken als Wegzehrung kaufte, während Sybilla draußen ungeduldig wartete, vorbei am Wieseneck, dann am Gerhart-Hauptmann-Haus und am Inselmuseum, schließlich zwischen den Dünen hindurch, wobei sich ein grandioser Blick aufs Meer bot. Wenn nicht gerade dicker Nebel herrschte, so wie heute.

Auf den ersten Metern gab es noch ein paar von den Eintagsfliegen, so nannten die Bewohner die Gäste etwas abfällig, die nur für ein paar Stunden einen Abstecher nach Hiddensee machten. Eine Zeit, in der man nie und nimmer einen Eindruck von der Schönheit der Insel bekommen konnte, dessen war sie sich sicher. Aber das Wetter ließ die wenigen Touristen heute schnell in den ersten Res­taurants verschwinden. Das Haus des großen deutschen Dichters und das Museum hatten leider geschlossen. Betriebsferien. Am Wasser selbst war keine Menschenseele zu sehen gewesen, wobei die Sichtweite nur ein kleines Stück reichte.

An der Treppe zum Dornbuschwald hielt Sybilla endlich an, wartete, bis ihre Schwester neben ihr stand, und meinte: „Mir reicht es eigentlich. Wir können doch die Stufen nach oben steigen und uns in der Gaststätte – wie hieß die noch gleich? – einen steifen Grog servieren lassen. Genau nach dem wäre mir jetzt! Der würde uns prima durchwärmen.“

„Zum Klausner“, fiel es Swenja sofort ein, aber sie verkniff sich die Erklärung und schüttelte nur den Kopf: „Ich würde gern noch ein wenig weitergehen, vielleicht ganz um die Steilküste herum. Und dann laufen wir über Grieben wieder zurück zum Hafen. Das ist ein schöner Weg.“

Sie schob das Gespräch weiter vor sich her und legte sich im Inneren die Worte zurecht, die auch passen sollten. Dabei wollte sie die Schwester nicht brüskieren, sondern einfach nur für Harmonie sorgen, nach der sie sich ein Leben lang gesehnt hatte.

Swenja sah den traumhaften Ort Grieben vor sich, mit seinen ungepflasterten Wegen und weiß getünchten Reetdachhäusern. Mit Sanddorn- und Hagebuttenbüschen, mit üppigen Malven vor den Fischerkaten, sich rekelnden Katzen und Schafen, die auf den Hinterhufen stehend Birnen pflückten, einem Alten, der gemächlich ein Netz flickte. So urig und verschlafen zeigte sich damals noch mit Knut der älteste und kleinste Ort auf der Insel mit seinen uralten Feldsteinmauern aus der Slawenzeit, wie er sofort kundtat. Entlang des Boddens zum Enddorn hin erstreckte sich der Ort nördlich von Kloster. Ob sich dort wohl etwas verändert hatte? Wie mochte es bei diesem Wetter da ausschauen? Swenja grübelte.

„Wie du meinst“, entgegnete die Schwester einlenkend. „Das ist irgendwie heute dein Tag. Ganz ehrlich. Dann will ich mal nicht so sein. Vielleicht klart es ja auch wieder auf, und wir erleben noch einen strahlenden Sonnenschein und die super Aussicht auf alles.“

Um dem zu widersprechen, legte sich das Nebelhorn erneut ins Zeug und ließ seine Rufe ertönen. Die beiden Frauen liefen jetzt schweigsam nebeneinanderher, bis die ältere Schwester wieder zurückfiel.

Zwischendurch bückte sich Swenja und hob einen Hühnergott auf, um ihn ein paar Schritte später gedankenlos in den Sand gleiten zu lassen. Ein Fund verschwand in ihrer Jackentasche, vielleicht war es ein Bernstein. Das würde sie später zu Hause testen, da gab es ein paar Tricks, aber jetzt konnte sie sich nicht darauf konzentrieren. Dann fiel ihr Blick noch auf ein vollständiges Exemplar eines Donnerkeils. So einen hatte sie auch noch als Erinnerung aus der Zeit mit Knut daheim. Sie griff sich die Versteinerung und ging weiter. Fast schienen sich ihre Schritte zu verlangsamen.

Die Steilküste erhob sich massig in die Höhe, wobei nicht viel erkennbar war, der Weg am Strand entlang wurde immer schmaler. Es ging nur noch über felsigen Untergrund. Sybilla rutschte plötzlich aus und fiel fluchend auf die Knie.

„Kein Stück weiter.“

„Genau“, erwiderte Swenja. „Hier war das damals.“

Sie ärgerte sich über ihre Worte. So wollte sie gar nicht angefangen haben. Aber die Sätze bildeten sich von allein.

„Was? Wie? Wovon redest du überhaupt?“, wollte Sybilla wissen, während sie sich mühsam erhob und die sandigen Hände an der Jacke abwischte.

„Du weißt ganz genau, worauf ich anspiele. Hier hast du damals Knut geküsst. Ihr beiden dachtet, ich würde das nicht mitbekommen, weil ich nicht so schnell zu Fuß war. Aber ich habe alles exakt gesehen. So wie ich überhaupt alles gesehen und bemerkt habe.“

„Jaja … Das ist nun Ewigkeiten her. Und die Ehe mit ,deinem‘ Knut war auch nicht gerade die Erfüllung. Hättest den Waschlappen ruhig behalten können. Nicht mal zum Kinderzeugen hat er getaugt. Na, zum Glück weilt er nicht mehr unter uns. Der Herzinfarkt vor zwei Jahren war die ideale Lösung mit dem tödlichen Ausgang. Bin ich schon mal in den Genuss einer Witwenrente gekommen. Also, als Pflegefall hätte ich Knut keinen Tag lang zu Hause behalten, sondern mich sofort um einen Platz in einem Heim gekümmert! So ein sabberndes, lallendes Untier gehört weggesperrt!“

Während dieser letzten Worte hatte sich Swenja der Schwester immer dichter genähert. Sie atmete heftig und stieß sie gegen die Brust, sodass sie nach hinten taumelte.

„Das lasse ich mir nicht von dir gefallen. Du bist so ein hinterhältiges Aas, und jetzt auch noch die Ehre von Knut beschmutzen. Du hattest ihn überhaupt nicht verdient. Er war viel zu gut für dich!“

„Na, du musst das ja wissen, bei deiner Erfahrung mit Männern“, sagte Sybilla nüchtern und trat freiwillig noch einen Schritt rückwärts.

In den lauten Streit der beiden Schwestern mischte sich ein Geräusch, das nicht dem Nebelhorn zuzuordnen war. Es war ein Brummen und Knirschen, dazu schien der Boden leicht zu wanken. Swenja holte mit einem Mal aus und schlug Sybilla ins Gesicht. Einmal und noch einmal, mit der Handfläche und mit dem Hand­rücken. Sie tat das ganz mechanisch, aber dafür umso kraftvoller. Dabei verlor die völlig verdutzte Jüngere den Halt und stürzte zu Boden, mit dem Hinterkopf auf die Steine. Das Grollen der Umgebung wurde größer. Sybilla schien bewusstlos, und Swenja hockte sich nun doch erschrocken neben sie, wobei sich ihre Gedanken verirrten.

„Swenja!“

Die Stimme der Mutter klang drohend.

„Sofort kommst du her!“

Das Kind drehte nervös an einer Strähne der glatten Haare. Was war es wohl diesmal, was ihr vorgeworfen wurde? Sie konnte sich nicht erinnern, etwas falsch gemacht zu haben. Bis eben hatte sie doch noch bei ihren Schularbeiten gesessen, vorhin den Müll runtergetragen und von allen Familienmitgliedern die Schuhe geputzt. Ihr Zettel mit den übertragenen Aufgaben lag ordentlich abgehakt neben dem Mathematikbuch.

Swenja lief in die Küche, aus der die Rufe der Mutter gekommen waren. Und schon in der Tür entdeckte sie das Malheur. Der komplette Fußboden war übersät mit Glitzerspuren, und auf dem Küchentisch war die Tube mit Leim ausgelaufen. Der Schraubdeckel lag daneben. Dazwischen befanden sich ein paar farbenfrohe Steckbilder, zusammengeklebt, mit unschönen Glitzerhaufen versehen und zu nichts mehr zu gebrauchen.

Die Mutter, zunächst noch die Hände in die Hüften gestemmt, griff flugs Swenja am Ohr und drehte es nach oben, bis es dem Kind wehtat. Ein paar Haare hatten sich verfangen, und es ziepte überdies.

„Aua, Mama, aua“, kam es kläglich.

„Was hast du blöde Göre hier wieder angestellt?“

Und schon setzte es die erste Ohrfeige. Noch riss sich Swenja zusammen und verkniff sich die Tränen. Worte der Entschuldigung, dass sie die ganze Zeit in ihrem Zimmer gewesen sei und schwierige Mathematikaufgaben gelöst hätte, gingen unter. Denn schon folgte ein Schlag nach dem anderen, bis das Kind sich wimmernd auf dem Boden krümmte.

„Das kann nur Sybilla gewesen sein“, entrang es sich dem Mädchen halblaut und mit Schluchzen, als plötzlich die Schwester im Raum stand und „alte Petze“ zwischen den Zähnen hervorstieß, was die Mutter ignorierte.

„Ach was, du solltest auf sie aufpassen. Die Kleine kann gar nichts dafür. Schließlich bist du die Große, die Vernünftige! Aber wie immer konnten wir uns nicht auf dich verlassen! Dein Vater wird sehr, sehr traurig sein, wenn ich ihm das nachher erzähle. Wahrscheinlich setzt es noch einmal eine Tracht Prügel.“

Damit war die Sache für die Mutter erledigt.

„Du räumst hier alles auf, sodass ich hinterher nicht mehr eine einzige Spur von diesem dämlichen Glitzerzeug sehe.“

Dann wandte sie sich behutsam der jüngeren Tochter zu: „Hab ich dich verschreckt, mein Kleines? Nimm es mir nicht übel.“

Und sie drückte Sybilla einen Kuss auf die Stirn. Schließlich verschwanden Mutter und Tochter Hand in Hand aus dem Raum.

„Natürlich, meine Süße. Wenn du studieren willst, dann ist das gar kein Problem. Das bekommen wir hin. Alles, was du willst. Wir, dein Papa und ich, denken ja beständig an deine gute, sichere Zukunft.“

Swenja glaubte, sich verhört zu haben. Sie stand im Flur, und die kleine Schwester saß mit der Mutter im Wohnzimmer auf dem Sofa, es war ein Freitagnachmittag und der Vater noch auf der Arbeit. In ihren zitternden Händen drohte der Kuchen vom Teller zu rutschen. Sie atmete tief durch. Nein, bei ihr war überhaupt nichts möglich gewesen. Sieh zu, dass du Geld verdienst, hatte es geheißen. Dabei hatte sie fast nur Einsen auf dem Zeugnis, im Gegensatz zu Sybilla, die sich gerade so im Mittelfeld ihrer Klasse bewegte.

Und auch der Vater ließ sich nicht erweichen. Er ging sowieso allen Auseinandersetzungen in dieser Familie aus dem Weg, indem er sich, so lange es vertretbar war, auf seiner Arbeit aufhielt und sich stets auch welche mit nach Hause brachte, in der er sich dann vergrub, ohne ansprechbar zu sein.

„Klärt das untereinander“, war sein Lieblingsspruch, während er abwinkte. Seine dicke Aktentasche stand dabei mahnend neben dem wuchtigen Schreibtisch. Und schon war sein Kopf wieder in irgendwelchen Papieren verschwunden.

Swenja trat also nach dem Schulabschluss als Klassenbeste die Ausbildung bei einem Buchhändler an, damit sie ihren Eltern nicht zu lange auf der Tasche lag. Der war natürlich heilfroh, so einen pfiffigen Lehrling zu bekommen, und unterstützte sie bei ihrem späteren Wunsch, im Fernstudium noch mehr nachzulegen. Das war der Seniorchef, der irgendwann aber die Geschicke in die Hände seines Sohnes gab …

Als der Vater noch vor seinem Renteneintritt verstarb, weinte Swenja am Grab bitterlich. Später bestand Sybilla auf ihrem Pflichtteil des Erbes, wofür die Mutter vollstes Verständnis zeigte. Schließlich war eine Eigentumswohnung eine gute Investition, wie sie meinte. Swenja hingegen erhielt zwar die gleiche Summe, musste aber alles in das elterliche Reihenhaus stecken, in dem sie wohnen geblieben war.

„Das ist doch mehr als gerecht“, hatte die Mutter festgelegt und ihrer Tochter über die Schulter geblickt, als sie die Überweisung für den Dachdecker ausfüllte, nachdem er die nötigen Arbeiten erledigt hatte.

Zu der Eigentumswohnung kam es allerdings bei Sybilla nie. Sie steckte all ihr Geld in ihr Outfit. Teure Designer­garderobe verschlang auch das elterliche Erbe.

„Das ist ja völlig klar, dass du dich um Mutti kümmerst. Schließlich wohnt ihr unter einem Dach“, beschloss Sybilla und tippte nebenher eine SMS in ihr Handy ein. „Ich kann bei meiner wichtigen Arbeit nicht kürzertreten. Sonst verliere ich da sofort den Anschluss und bin weg vom Fenster. Das wäre das glatte Aus. Aber du könntest ja im Dienst zum Beispiel auf weniger Stunden bestehen, weil du einen Pflegefall in der Familie hast. Das geht doch heutzutage relativ unproblematisch. Steht dir rechtlich sogar zu. Und das üppige Pflegegeld bekommst du obendrein. Wenn das kein echter Anreiz für dich ist.“

Dabei setzte Sybilla die Kaffeetasse ab und griff sich noch einen Keks. Ihr Handy machte schon wieder mit einem Stück klassischer Musik auf sich aufmerksam, wurde jedoch von ihr nur kurz gemustert. Es schien nicht von größerer Wichtigkeit.

Swenja war aschfahl im Gesicht geworden. So hatte sie sich das Gespräch mit ihrer kleinen Schwester nicht vorgestellt. Sie hatte gehofft, dass sich beide irgendwie nach dem Schlaganfall der Mutter die Betreuung teilen könnten. Außerdem war doch die Kleine immer das Lieblingskind gewesen. War das nicht zugleich Verpflichtung? Swenja schüttelte den Kopf.

„Bist du etwa dagegen?“, erkundigte sich Sybilla mit scharfer Stimme. „Ich wüsste keine Alternative. Höchstens das Heim. Aber das können wir ihr ja nun nicht gleich zumuten. Wir, ähm, du solltest es zumindest versuchen.“

„Wenn du meinst“, entgegnete Swenja tonlos. „Ich will es probieren. Mal schauen, was mein Arbeitgeber dazu sagt. Es arbeiten ja einige Kolleginnen wegen ihrer Kinder verkürzt. Das müsste schon machbar sein. Wollen wir es hoffen.“

Swenja hatte den Eindruck, als ob nicht sie es war, die da redete. Als ob jemand ihre Stimme nachahmte. Sie fühlte sich beklommen und hilflos.

„Siehst du. Genau! Bei dir ist es machbar. Bei mir führt kein Weg dahin. Ich komme euch immer besuchen. Zur Not kann ich dich ja mal ablösen. Jedenfalls, wenn es meine Zeit erlaubt.“

Für Sybilla war die Sache damit aus der Welt. Sie hatte sich im Korbstuhl zurückgelehnt und genoss den Rest ihres Milchkaffees.

„Wirst du mir wohl endlich den Schieber bringen, du unnützes Ding“, schall es durch das Haus. Swenja wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Mutter konnte gut und gern selbstständig auf die Toilette gehen, aber sie ließ sich lieber von vorn bis hinten bedienen. Und man durfte sie keinen Augenblick aus den Augen lassen. So, als ob sie auf Schabernack aus war, stellte sie laufend etwas an. Es war an ihrer großen Tochter, mit dem rechtzeitigen Gespür alles zu entdecken: den aufgedrehten Hahn der Badewanne, der sie zum Überlaufen brachte, die angestellte Herdplatte, auf der eine wie zufällig dahin geratene Pralinenschachtel anfing zu qualmen, die offen stehende Haustür mitten in der Nacht …

Wenn Swenja zur Arbeit ging, dann redete sie zuvor behutsam auf die Mutter ein, was sie alles bedenken möge. Aber sie hätte auch in den Wald hineinrufen können. Nichts, aber auch gar nichts blieb hängen. Im Gegenteil. In allen Dingen wurde genau anders gehandelt. Natürlich hatte Swenja über all das gelesen, was mit Demenz zu tun hatte. Es gab so viele Parallelen. Ihr Versuch, den Pflegegrad der Mutter hochzusetzen, um auch Pflege­personal anfordern zu können, scheiterte. Wenn da jemand von Amts wegen kam, um entsprechende Fragen zu stellen, dann brillierte die alte Frau mit ihren Antworten wie in ihren besten Jahren und bewegte sich durchs Haus wie ein junges Mädchen. Und wenn – ganz selten – Sybilla auftauchte, dann plauderten und lachten Mutter und Tochter, als ob nichts in ihrer beider Leben geschehen wäre …

Swenja löste sich erschrocken aus ihren Erinnerungen. Das Ton-Geröll-Sand-Stein-Gemisch rutschte in diesem Augenblick donnernd den Abhang hinunter, während Sybilla auf dem Boden lag. Sie wurde schlagartig von den Massen überrollt und begraben. Swenja hatte sich intuitiv rechtzeitig erhoben, war ein Stück zurückgesprungen und hatte sich damit in Sicherheit gebracht. Als wieder Stille eingezogen war, betrachtete sie den Ort des Geschehens. Jetzt dröhnte neuerlich das Nebelhorn. Eine Hand der Schwester ragte aus dem Untergrund, die Finger bewegten sich leicht, krallten in die nebelfeuchte Luft.

Swenja überlegte ganz kurz. Dann drehte sie sich um, lief zur Treppe Richtung Dornbuschwald und stieg die etwa hundert Stufen empor, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.

Im Restaurant bestellte sie sich den Grog, von dem die Schwester gesprochen hatte.

„Na, bei dem Schietwetter so allein unterwegs?“, hatte der Kellner freundlich gemurmelt. „Da kann doch allerlei passieren. Aber jetzt sind Sie ja hier und können sich in Ruhe ein wenig stärken. Und dann geht es sicher geradewegs zum Schiff zurück?“

Er sprach Hochdeutsch und schien nicht von der Insel zu sein. Sie hatte nur genickt, obwohl er nicht wirklich auf eine Antwort wartete.

Irgendwann nahm sie den Weg Richtung Hafen in Kloster, nun doch nicht mit dem Umweg über Grieben, wie zuvor der Schwester vorgeschlagen. Dafür hätte die Zeit nicht mehr gereicht. Sie musste pünktlich sein, um die letzte Standardverbindung zu erreichen.

Später auf dem Schiff nach Stralsund, wo die beiden Schwestern Quartier genommen hatten, stand sie wieder an der Reling. Es gab nur wenige Reisende an Bord. Sie atmete jetzt unbeschwert die köstlich-salzige Luft tief ein und aus. Die Nebelfeuchte störte sie nicht. An der Kapuze hatte sie, ohne nachzudenken, endlich einen festen Knoten gebunden, damit sich die sonstige einfache Schleife nicht immer wieder löste. Sie ließ sich die Gischt ins Gesicht sprühen.

Ein paar Möwen begleiteten sie mit lauten, fordernden Schreien. Dann fielen ihr die Streuselschnecken von Bäcker Kasten ein. Die lagen noch in ihrem Rucksack. Dafür würde sie jetzt dankbare Abnehmer finden. Swenja öffnete den Reißverschluss und zog die durchgefettete Papiertüte heraus. Dann brach sie Stückchen für Stückchen von dem Gebäck ab und warf es in die Höhe. Ihre Finger klebten, aber das nahm sie nicht wahr.

In dieser Nacht schlief sie tief und fest, so gut wie lange nicht mehr. Am nächsten Morgen entschied sie sich beim Frühstück für die sofortige Rückreise.

„Und Ihre Schwester? Bleibt sie noch ein paar Tage?“, erkundigte sich die freundliche Mitarbeiterin an der Rezeption.

„Ja, das hatten wir gestern spontan so ausgemacht!“, sagte Swenja mit einem breiten Lächeln. Jetzt freute sie sich sogar auf die Rückfahrt im Auto auf der A 20, die im Gegensatz zu damals mit Knut die Anreisezeit inzwischen erheblich verkürzte.

Swenja war eingenickt. Die fast siebenstündige Autofahrt hatte sie doch ziemlich angestrengt. Aber ein unerfindlicher Drang hatte sie nach ihrer Ankunft daheim in diese Wohnung genötigt.

Irgendwann gab sie sich einen Ruck und öffnete die Augen. Du hast nichts falsch gemacht, alles ist gut, sagte sie sich. Dann erhob sie sich und verließ die Wohnung, die ihr jetzt unheimlich vorkam. Auf dem Rückweg begegnete sie niemandem.

2. Kapitel Neben der Spur

„Ich gehe mal zur Tür“, sagte Walther zu sich. Seit geraumer Zeit schon führte er Selbstgespräche, damit wenigstens eine Stimme in der Wohnung zu vernehmen war. Andere Leute wichen ja auf Dauerbeschallung durch Radio oder Fernseher aus, hatten Letzteren schon am frühen Morgen eingeschaltet. Das wäre für ihn niemals infrage gekommen.

Er hatte Swenjas hallende Schritte im Hausflur wahrgenommen. Ein Blick durch den Spion verkündete ihm Leere. Es dauerte ein Weilchen, ehe er alle Riegel zurückgeschoben und den Schlüssel, den er von der Hutablage genommen hatte, ins Schloss gesteckt und zweimal nach rechts gedreht hatte. Einen Spalt nur öffnete der alte Mann die Wohnungstür und ließ seine Blicke erfolglos wandern. Dann zog er die Tür wieder in ihre ursprüngliche Position und aktivierte alle Einbruchssicherungen. Der Schlüssel landete erneut auf seinem speziellen Platz. Er schlurfte durch den Flur zurück, die braun-gelb karierten Pantoffeln schienen an seinen Füßen zu kleben.

„Niemand da“, brummte er in seinen ungepflegten Bart, das lichte Haupthaar lag flusig durcheinander und stand zum Teil in die Höhe. Aber Martha, die am Fenster saß, reagierte nicht. Sie hatte es sich in ihrem Ohrensessel gemütlich gemacht und sich dafür ein weiteres Kissen unter den Hintern geschoben, damit sie etwas erhöht sitzend auch aus dem Fenster schauen konnte. Ihre Füße standen auf einem kleinen, stoffbezogenen Höckerchen. Ohne dessen Hilfe hätten sie den Boden nicht erreichen können und ihre Beine hätten nur im Leeren gebaumelt. Sie trug ein frühlingshaftes Kleid mit Mohnblumen darauf. Ihren Büstenhalter hatte sie darüber angezogen. Keiner der beiden Eheleute nahm das wahr. Die Hände hatte Martha ineinandergefaltet und die Finger jeweils zwischen die anderen gesteckt. Nur die Daumen kreisten unermüdlich umeinander. Sie schien Walthers Bemerkung nicht gehört zu haben.

Aufräumen, dachte der Alte, als seine Augen über den Esstisch wanderten. Der stand in einer Nische des großzügigen Wohnzimmers und war direkt von der Küche aus zu erreichen. Auf ihm befanden sich Tassen, Teller, Gläser, und einige Bestecke kreuzten sich dazwischen. Reste von längst vergangenen Mahlzeiten nahmen undefinierbare Gestalt an. Eine übrig gebliebene Brotscheibe krümmte sich in die Höhe. Der Gedanke mit dem Aufräumen, der gleichzeitig mit jenem Stichwort Frauenarbeit kombiniert war, hatte sich längst verflüchtigt.

Walther verspürte weder Hunger noch Durst. Er zog sich die fleckige Anzughose hoch und nestelte an seiner Krawatte. Das einst weiße Hemd war farblich in einen Grauton übergegangen. Knitterfalten überzogen es. Der Alte machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Dort setzte er sich an den Schreibtisch, vor seinen Computer, und streichelte behutsam über die Tastatur. Rechter Hand in einer Ablagekiste befanden sich Briefe von den Kindern, die jüngsten Sendungen ungeöffnet. Der Sohn lebte mit seiner Familie in den Staaten, die Tochter jettete für ihren Reiseveranstalter um die ganze Welt.

„Lieber Paps, liebe Mam, so gerne wir übers Fest nach Hause kommen würden, so leid tut es uns, dass wir das in diesem Jahr nicht einrichten können. Die Arbeit hält uns beide hier in Manhattan fest. So wie wir uns das schon gedacht hatten. Leider, leider! Weder Jane noch ich können uns freimachen. In der Klinik ist der Teufel los. Wir müssen uns um so viele Menschen sorgen, die an dem Virus erkrankt sind. Dafür habt ihr ja sicher Verständnis. Schließlich haben wir als Ärzte einen Eid geschworen, der uns zur Hilfeleistung verpflichtet, was wir natürlich von Herzen gern tun … Und wenn du, lieber Paps, im kommenden Jahr deinen 90. feierst, dann sind wir auf jeden Fall dabei … Ihr könnt uns für die riesige Party schon einmal einplanen … In der Zwischenzeit könnte euch ja mein Schwesterherz mal Skype einrichten. Das ist total einfach und ihr könntet eure Enkel sehen. Ihr glaubt gar nicht, wie sehr die schon wieder gewachsen sind …“

Das hätte Walther im aktuellsten Brief seines Sohnes lesen können, wenn er ihn gelesen hätte. Auch die bohrende Frage, warum denn niemand ans Telefon gehe, die aber gleich selbst beantwortet wurde: „… bestimmt seid ihr viel auf Achse und mit den Senioren unterwegs …“

Marie-Ann war mehrfach auf dem Anrufbeantworter aufgelaufen. Kündigte ein Kommen an, sagte es wieder ab und wiegte sich wie ihr Bruder mit Ausreden in Sicherheit: „… wenn alles klappt, kann ich Heiligabend vorbeischauen. Momentan ist da noch keine neue Dienstreise geplant. Aber man weiß ja nie. Jetzt erst mal ganz liebe Grüße aus Neuseeland. Bleibt gesund und munter. Und Bussi, ihr beiden!“

Noch bis vor Kurzem hatte Walther recht gut funktioniert und die Situation mit seiner Frau im Griff, deren Demenz immer deutlichere Züge annahm. Da hatte er auch stets zum Hörer gegriffen, wenn das Telefon klingelte. Und er wartete mit Notlügen auf, denn er wollte seinen Kindern nicht das Herz schwer machen. Martha befand sich also in der Wanne, war beim Friseur, bei der Fußpflege oder stand am Herd …

„Ja, Mam geht es gut. Sie steht natürlich in der Küche und zaubert was Leckeres für uns beide. Momentan ist sie total unabkömmlich. Aber sie lässt euch herzlich grüßen.“

Dann tauschte er sich mit seinem Sohn aus, und beide fachsimpelten über medizinische Fragen. Wenn es Walther auch nur zum Pfleger gebracht hatte, so hatten sie all ihre Kräfte in die Ausbildung der Kinder gesteckt, vor allem des Jungen, der später seinen Doktor machte.

Marie-Ann war Reiseverkehrskauffrau geworden und tat genau das, was sie sich immer gewünscht hatte, schon als kleines Mädchen. Wenn sie damals etwas spielte, dann war es in der Mehrzahl der Fälle Urlaubmachen. Bei früheren Telefonaten mit ihr ging es stets um phänomenale Eindrücke einer neuen Destination. Die Tochter beschrieb jedes Mal ausgiebig und sehr gut vorstellbar Land und Leute, Flora und Fauna. Fragen nach dem Wohlbefinden der Eltern wurden rhetorisch ans Ende des Gesprächs gelegt und meist gleich selbst beantwortet. Oder aber es endete mit einer Floskel: „Ich muss dann mal wieder, mein Chef drängt. Wir haben ja auch richtig lange geplaudert …“

Die letzte Lieferung der bestellten Waren aus dem Supermarkt war Mitte November eingetroffen. Ein paar Kisten Mineralwasser, etliche Päckchen Knäckebrot, Margarine, Wurst- und Fischdosen, Obst und Gemüse in Gläsern, auch einiges an Frostware. Walther hatte alles verstaut, allerdings auch schon nicht mehr unbedingt an den Orten, wo es hingehörte. Die Tasche mit den gefrorenen Artikeln landete im ehemaligen Kinderzimmer, das der Sohn und die Tochter nie wieder genutzt hatten, seit sie bei den Eltern ausgezogen waren. Gleich zu Beginn ihrer Berufsausbildungen. Dennoch hielten sie es immer bereit für beide, falls sie sich einmal dafür entscheiden würden.

Auf der rechten Seite stand die Carrera-Bahn an ihrem Platz, der abgenutzte, einst hellbraune Teddy saß auf dem Bett, das in geordneter Regelmäßigkeit frisch bezogen wurde, und an der Wand darüber klebten die Plakate von vor vielen Jahren angesagten Musikgruppen. Auf der linken Seite des Raumes war das Reich der Tochter gewesen, optisch etwas abgetrennt durch ein frei stehendes Bücherregal. Hier saß eine viel geliebte Barbiepuppe auf dem Bettzeug, mit einer märchenhaften, etwas verwaschenen Blumenwiese darauf. Auf dem Kopfkissen prangte ein grüner Frosch mit einer goldenen Krone auf dem Haupt. Irgendwann hatte Martha das alles genau so arrangiert, ein Zustand von vor vielen, vielen Jahren, und es hatte Walther sehr berührt.

„Wir wollen euch ja keine Umstände machen“, war stets die Rede des Sohnes, wenn er sich mit seiner Frau und später auch mit dem Nachwuchs von den Eltern für die Übernachtung ins Hotel verabschiedete. „Ist doch viel zu eng für uns alle!“

Und auch Marie-Ann fand immer einen Grund, wa­rum sie nicht in diesem Zimmer schlafen konnte, obwohl sie Single geblieben war und die Enge nicht als Argument gelten konnte.

Für dieses Weihnachtsfest hatte sich der Sohn auch schon weit vorher, irgendwann im Herbst, am Telefon wortreich entschuldigt. Zu viel Arbeit, der enorme Stress, einfach keine Zeit … Natürlich zeigte Walther Verständnis, hoffte aber im Stillen, es würde ein Wunder geschehen und beide Kinder wären am Heiligen Abend daheim. So, wie sich das gehörte.

Am liebsten hing der alte Mann seinen Gedanken an die alten Zeiten nach, als man ihn noch im Beruf anerkannte. Gern saß Walther dazu auf dem sonnigen Balkon, inmitten der Ranken, die von Britta Baumgartens Balkon he­runtergewachsen waren. Er liebte diesen grünen Dschungel, in dem man sich fast verbergen konnte. Im heißen Sommer spendete er schattige Kühle, und es roch, als wäre man auf einem Spaziergang in der freien Natur. Natürlich nur, wenn er die Augen schloss.

Martha ließ ihm diese Ruhe, während sie sich um die Hausarbeit kümmerte, gern etwas Leckeres auf dem Herd zauberte, solange sie konnte. Zum Beispiel Szegediner Gulasch, sein absoluter Favorit. Mit Sauerkraut und Kassler und zuletzt zur Abrundung eine ganze Packung saurer Sahne in das fast fertige Gericht. Wenn die Düfte aus der Wohnung um seine Nase zogen, dann versank er noch lieber in seinen Erinnerungen oder in die Lektüre eines guten Buches.