Y-Game – Sie stecken alle mit drin - Christian Linker - E-Book

Y-Game – Sie stecken alle mit drin E-Book

Christian Linker

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Beschreibung

Wer spielt hier mit wem? Nicht einmal beim Zocken gehört Janusz richtig dazu. Als er mitbekommt, wie seine angeblichen »Freunde« über einen User namens Y reden, der ein abgefahrenes Alternate Reality Game losgetreten hat, ist sein Ehrgeiz geweckt: Wer das »Rätsel der verschwundenen Kinder« lösen will, muss virtuelle Codes knacken und in der wirklichen Welt verschlüsselte Artefakte finden. Und das Game läuft tatsächlich gerade in ihrer Stadt ab! Für Janusz ist das die perfekte Gelegenheit, den anderen zu zeigen, was er draufhat. Vielleicht kennt er Y sogar? Vielleicht ist ja doch was dran an der Story mit den verschwundenen Kindern? Jedenfalls lässt Janusz sich nicht länger ausnutzen. Glaubt er zumindest …

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Über das Buch

Wer spielt hier mit wem?

 

Nicht einmal beim Zocken gehört Janusz dazu. Als er mitbekommt, wie seine angeblichen »Freunde« über den mysteriösen Y reden, der ein abgefahrenes Alternate Reality Game losgetreten hat, ist sein Ehrgeiz geweckt: Wer das »Rätsel der verschwundenen Kinder« lösen will, muss virtuelle Codes knacken und in der wirklichen Welt verschlüsselte Artefakte finden. Und das Game läuft tatsächlich gerade in ihrer Stadt ab! Für Janusz die perfekte Gelegenheit, den anderen zu zeigen, was er draufhat. Vielleicht kennt er Y sogar? Ist da etwa doch was dran an der Story mit den verschwundenen Kindern? Jedenfalls lässt Janusz sich nicht länger manipulieren. Glaubt er zumindest ...

 

 

Von Christian Linker ist bei dtv außerdem lieferbar:

 

Das Heldenprojekt

Doppelpoker

RaumZeit

Blitzlichtgewitter

Absolut am Limit

Stadt der Wölfe

Dschihad Calling

Der Schuss

Scriptkid – Erpresst im Darknet

Und dann weiß jeder, was ihr getan habt

Influence – Fehler im System

Toxische Macht

Christian Linker

Y-Game

Sie stecken alle mit drin

Y

Die ganze Welt ist ein einziger beschissener Mindfuck.

Ich weiß, wovon ich spreche.

Jetzt gerade in diesem Augenblick zum Beispiel verarbeitet dein Gehirn optische Reize. Dein Auge kann pro Sekunde die Buchstaben von rund drei bis vier Wörtern erfassen. Dein Gehirn setzt sie zu einem Text zusammen, der eventuell Sinn ergibt. Es kann ein Songtext sein oder ein Schulaufsatz oder vielleicht mein geheimes Tagebuch.

Vielleicht.

Könnte aber auch sein, dass deine Wahrnehmung dir nur etwas vormacht.

Vielleicht stehst du in diesem Moment unter Narkose, während Wesen einer höheren Spezies Experimente an dir durchführen?

Oder aber du existierst in Wahrheit gar nicht, sondern ich habe dich nur erfunden. Du wärst meine eigene Schöpfung. Eine Figur in einem Buch, das von einer Figur handelt, die in einem Buch liest … und immer so weiter.

Hast du jemals über so was nachgedacht?

Wenn nicht, dann fang lieber erst gar nicht damit an.

Es macht dich früher oder später verrückt.

Echt.

1

Seit Mert mit dem Rauchen angefangen hat, haben wir sozusagen ein Ticket für das Loch. Den Nicht-Ort der Älteren. Darum halte ich da jetzt manchmal morgens auf dem Schulweg an. Das Loch liegt am Ende der Unterführung, durch die man eine zweispurige Straße unterqueren könnte. Das tut aber eigentlich niemand mehr, seit sie oben Zebrastreifen auf die Straße gemalt haben – außer denen, die ein bisschen im Loch abhängen wollen. Das Loch war wohl früher mal ein schattiges Plätzchen zum Verweilen, mit einer Bank und einem kleinen Springbrunnen und Blumenbeeten. Aber der Brunnen ist natürlich trocken und die Beete sind von Büschen überwuchert und überall liegen Kippen und Glasscherben und zerknickte Bierdosen. Und auf den Treppenstufen, die hoch zur Straße führen, sitzen nachmittags die Penner und abends die Studenten und morgens vor acht immer ein paar Leute aus meiner Schule, die gleich um die Ecke liegt.

Jetzt gehören wir dazu.

Es ist dreckig, irgendwie verrucht, fast verwegen.

Hier kann man vor der Schule noch mal für fünf Minuten einfach man selbst sein.

Als ich an diesem trüben Novembermorgen auf meinem Bike durch die Unterführung cruise, immer schön den getrockneten Kotzeresten vom letzten Wochenende ausweichend, stehen Vinzent, Mert und Min-su in einer Ecke des Lochs. Sie sind halb ins Gebüsch gedrängt, als gäbe es was zu verbergen, und sehen sich was auf Min-sus Handy an. Mert fügt sich perfekt in diese Landschaft ein, so mit Kippe im Mundwinkel und der Goldkette um den Hals, an der ein kleines Vorhängeschloss baumelt. Vinzent hat seine überlange Gestalt vorgebeugt und mag wohl nicht, was er gerade sieht. Er mahlt mit den Zähnen und die Adern an seinem Hals treten hervor. Min-su, wie immer im hellblauen Hemd und dunkelblauen Pullunder, wirkt eher deplatziert in der Kulisse, aber so was hat ihn noch nie gestört. Er guckt hochkonzentriert und scheint den anderen beiden etwas zu erklären.

»… nennt man Alternate Reality Game«, höre ich ihn gerade sagen, als ich die drei erreiche und vom Rad steige. Sie bemerken mich gar nicht. »Könnte noch spannend werden. Er scheint sich ja auf unsere Stadt zu beziehen. Vielleicht ist es jemand, den wir kennen? Und er ist nicht nur auf 4chan, auch auf 8kun, smug …«

»Was seht ihr euch an?«, frage ich.

Die drei zucken zusammen. Mert lässt das Handy sinken.

»Nichts«, sagt er.

Wie lächerlich, als wär ich ein Lehrer und hätte sie bei irgendwas erwischt.

»Nichts Besonderes«, ergänzt Min-su. »Imageboards. Nur Bullshit.«

»Ich weiß«, sage ich. »Also dass die Boards nur aus Bullshit bestehen. Ihr könnt mich ja trotzdem mitgucken lassen.«

»Na ja«, meint Mert, hebt aber das Handy wieder und wischt den Sperrbildschirm weg. Ich lehne mein Rad an den Mülleimer und quetsche mich hinter die drei, um über Merts Schulter zu schauen. Sein Zigarettenrauch weht mir ins Gesicht. Er scrollt durch das /b/-Board von 4chan, das erkenne ich gleich. Schwanzbilder, Hitler-Bilder, Trump-Bilder. Pepe der Frosch als Trump, als Hitler, als Schwanz.

How would u rape this girl?, schreibt einer neben das Fotos eines rothaarigen Mädchens. Tell me every last detail.

»Was für eine arme Sau muss man eigentlich sein, um so einen Shit zu posten?«, frage ich. Keiner antwortet.

Mert scrollt weiter, hält inne. Ein kurzer Clip zeigt einen schwarzen Mann an einem Galgenstrick, von einem Stahlträger unter einer Brücke hängend, strampelnd, Todesangst in den aufgerissenen Augen, die Beine treten ins Nichts. In den Kommentaren Bilder von Männern mit weißen Zipfelmützen, brennenden Kreuzen, noch mehr Galgenstricken.

C’mon, Anons, post more gore like that! etc.

»Shit …«, flüstert Vinzent.

Es wirkt seltsam unecht – so unecht, wie vermutlich nur echte Bilder wirken, weil echter Mord und echte Folter so ganz anders aussehen als die inszenierten. Ich warte, dass sich das Entsetzen in meiner Magengrube ausbreitet, aber es kommt nicht. Am Ende bestehen diese Bilder auch nur aus Nullen und Einsen.

»Glaubt ihr, dass das echt ist?«, fragt Min-su. »Es kann genauso gut fake sein.«

»Ja, man weiß es eben nicht«, meint Mert, »das ist ja genau das Krasse daran.«

Er scrollt weiter.

»Habt ihr für Englisch schon den Text geschrieben?«, frage ich. »Your opinion about racism?«

Keiner antwortet, sie glotzen auf das Handy. War vielleicht auch unpassend von mir.

Ich kann mit diesem ganzen Rassistenscheiß nichts anfangen, all der Hass und die ganze Hetze. Ich kapiere nicht, wie man sich selbst für besser als andere halten kann aufgrund der Hautfarbe oder so. Das spricht vermutlich für mich. Gegen mich spricht, dass ich mit all dem engagierten Black-Lives-Matter-Gerede auch nicht viel anfangen kann. Ich will eigentlich bloß, dass jeder jeden in Ruhe lässt.

Vor allem mich.

Mert scrollt schneller.

Die suchen was, wird mir unvermittelt klar.

Wie zur Bestätigung sagt Min-su: »Ich glaub, da kommt nichts mehr von Why.«

»Was ist Why?«, frage ich.

»Hm?« Min-su dreht sich zu mir um und sieht mich an, als hätte er meine Anwesenheit zwischenzeitlich komplett vergessen.

Dann zuckt er mit den Schultern.

»Nur Board-Bullshit«, meint er. »Nicht der Rede wert.«

»Okay«, sage ich, löse mich von ihnen und nehme wieder mein Bike. »Wir sehen uns.«

Ich steige auf, schalte in den untersten Gang und cruise die gewundene Fahrradrampe hinauf, raus aus dem Loch und wieder rein in den Novembernieselregen, der seit Tagen so gleichmäßig über uns niedergeht, dass ich ihn schon fast nicht mehr bemerke.

Es ist mir bisher nie so deutlich aufgefallen wie in diesem Augenblick: Verdammt, ich gehöre gar nicht dazu! Wann fing das an? Kam das schleichend? War das schon immer so? Ich bin Luft für die drei.

Nach dem nächsten Häuserblock taucht die Schule auf. Grauer Betonklotz vor grauem Regen, man könnte ihn leicht übersehen. Auch Chiara könnte man leicht übersehen, die vor dem Schultor steht und unbestimmt in den Nieselschleier blickt. Sie macht ein Gesicht, als hätte sie heute Morgen schon gekotzt. Das heißt, sie macht ein Gesicht wie immer. Das strähnige Haar, die aufeinandergepressten Lippen. Der alte graue Regenmantel, den sie nicht nur im Herbst trägt, sondern eigentlich immer, solange es unter dreißig Grad bleibt. Der Mantel hat zwei Knopfreihen und wirkt dadurch ein bisschen wie eine alte Admiralsuniform. Sie steht da und schaut vor sich hin. Keine Ahnung, warum sie nicht reingeht. Vielleicht wartet sie, dass ihr irgendein schlüssiger Grund dafür einfällt. Sie bückt sich kurz, als müsse sie etwas vom Boden aufheben, das ihr runtergefallen ist. Dann richtet sie sich wieder auf und verschwindet durch den Haupteingang.

Ich steige vom Bike, schiebe es zu den Fahrradständern und schließe es mit der Kette an.

Es geht Chiara nicht gut damit, eine Außenseiterin zu sein. Sie leidet darunter, glaube ich. Aber nicht wie jemand, der unbedingt gern dazugehören würde. Eher wie jemand, der ganz einfach keinen Bock hat, überhaupt in solche Schubladen gesteckt zu werden.

Oder auch ganz anders, keine Ahnung. Ich kenne sie ja kaum, und vor allem sind das eher so meine eigenen Gedanken. Ich meine, wer zur Hölle definiert denn, was ein Außenseiter ist? Wann hat bitte jemals eine Behörde oder ein Gott oder ein perverser Architekt festgelegt, dass es ein Drinnen und ein Draußen gibt, und dass es erstrebenswert sei, drinnen zu sein statt draußen, und dass es eben welche schaffen, drinnen zu sein, und andere nicht? Genauso gut könnte ich umgekehrt definieren, dass ich drinnen bin und sie alle draußen sind: Matt, der Mädchenschwarm, und Nessi, die Schönheitskönigin. Lea, die Trampolinturnstadtmeisterin, und Achmed, der Schulsprecher. Die Muskel-Ottos und die Intellektuellen, die Künstlerinnen und die Mathegenies, die Musiker und die Technikfreaks, die Rich Kids und die Normalos. Alle draußen. Die Gamer. Vinzent und Min-Su und Mert, die jetzt auch langsam eintrudeln. Wir treffen uns an den Spinden.

Ich würde gern fragen, ob sie gefunden haben, was sie suchen, aber ich würde keine Antwort kriegen. Ich sollte sie einfach ignorieren, aber das kann ich irgendwie auch nicht.

Also frage ich: »Habt ihr Bock, heute Nachmittag noch mal was zu zocken? Ich würd dann on kommen.«

»Mal sehen«, sagt Vinzent.

»Ja, guck einfach mal«, meint Min-su.

Toll.

Ich schultere meine Tasche, schlurfe zum Raum meines Deutschkurses und lasse mich auf meinen Platz ganz am Rand plumpsen.

Unter dem Tisch öffne ich auf dem Handy das /b/-Board von 4chan. Wahrscheinlich ist es wirklich nur Bullshit, trotzdem reizt es mich herauszufinden, wonach die drei gesucht haben. Why. Die Boards sind kurzlebige Blitzlichter, ständig aktualisiert, ständige neuer Stuff. Vielleicht entdecke ich was, das vor zehn Minuten noch nicht da gewesen ist.

Und fast hätte ich es übersehen:

>Y011

Wer wird das Gleichgewicht zurückbringen?

Für J.C.

Nur das. Kein Bild, kein Gif, kein Clip, nichts.

Y gleich Why?

Könnte sein.

Wer bringt das Gleichgewicht zurück.

Gute Frage. Ich sicher nicht. Und wer ist J.C.? Jesus Christus? Julius Cäsar? Hatten ja beide keinen schönen Tod. Wurden beide ganz schön mies verraten von Leuten, die sie für Freunde hielten.

Da ist noch ein Post.

>Y008

Es hat längst begonnen.

Für J.C.

Seems to be a local thing from Germany, kommentiert einer.

Und Min-su hat vorhin gemurmelt, es scheine sich auf unsere Stadt zu beziehen. Was immer er damit meint. Ein Alternate Reality Game, hat er gesagt. Langsam dämmert es mir. Eine virtuelle Schnitzeljagd – also nicht ganz virtuell. Über ARGs hab ich mal was gelesen. Es gibt Hinweise und Rätsel, sowohl im Internet als auch im Real Life, wo man irgendwelche Artefakte finden muss, so was in der Art. Sie haben dieses Game entdeckt und keinen Bock, mich mitspielen zu lassen.

Ich merke, dass ein Jagdinstinkt in mir erwacht. Natürlich halten die drei sich für die besseren Gamer. Aber das könnte sich ja noch herausstellen.

»Guten Morgen, Janusz.«

Ich zucke total zusammen. Nicht wegen Y, sondern weil die Boards hauptsächlich voller Pornstuff sind, und es wäre nicht witzig, das hier vor den anderen auszudiskutieren. Jedenfalls für mich nicht.

»Guten Morgen, Frau Wiegand.« Ich stecke rasch das Handy in die Schultasche und lächle sie an.

»Ich habe Ihren Praktikumsbericht gelesen, Janusz«, sagt sie und sieht mich mit schwer zu deutendem Gesichtsausdruck an.

»Das ist gut«, sage ich. »Dafür habe ich ihn geschrieben.«

»Ich fand ihn etwas sarkastisch«, sagt sie. »Fast zynisch. Also, ich gebe zu«, jetzt lächelt sie auch, aber nur kurz, »dass es gut geschrieben ist und unterhaltsam zu lesen. Aber ich hätte mir die Schilderung Ihrer zwei Wochen beim Amtsgericht etwas sachlicher gewünscht.«

Ich hole Luft zu einer Antwort, aber wem soll das was bringen?

Ich atme aus und sage: »Okay.«

»Okay.« Sie nickt, geht nach vorn zum Pult und eröffnet ihren Unterricht.

Ich schalte mich ab.

Praktikum.

Was ich später einmal werden soll, ist mir ein absolutes Rätsel. Mir ist im Leben noch keine Sache begegnet, die mich so sehr interessiert, dass ich sie acht Stunden am Tag machen möchte. Nicht mal zocken oder durch Image-Boards scrollen, selbst wenn es mir bezahlt werden würde. Andererseits ist das Land voll von Leuten, die den ganzen Tag Dinge tun, für die sie sich nicht interessieren. Sie machen ihren Job und verdienen ihr Geld, fliegen einmal im Jahr nach Malle und wissen schon mit zwanzig, in welchem Jahr sie in Rente gehen. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Dann gibt es da noch so Leute wie Frau Wiegand hier zum Beispiel, die interessiert sich absolut für das, was sie tut. Sie ist richtiggehend begeistert von ihrem Job, das heißt: von Goethe und Grass, von Hilde Domin und Ulla Hahn – und sie möchte diese Begeisterung wahnsinnig gern mit uns teilen.

Es herrscht Schulpflicht, okay, aber es herrscht eben keine Begeisterungspflicht. Da kommt mir der Stundenrhythmus entgegen – bevor man so richtig tief in ein Thema reingerät, ist die Stunde vorbei und das nächste Fach steht an.

Ich hatte gedacht, Jura wäre eine Möglichkeit. Aber ich wollte kein Praktikum in einer Anwaltskanzlei machen, denn Anwälte müssen schließlich parteilich sein und das ist nicht so meins. Da finde ich den Beruf eines Richters interessanter, denn der steht über den Dingen. Aber die Richterin, bei der ich mich beworben habe, habe ich während des Praktikums kaum gesehen. Stattdessen saß ich den ganzen Tag in der Geschäftsstelle herum, und der Höhepunkt meines Tages bestand darin, dass ich Fristen in eine Tabelle eintragen durfte.

Okay, muss wohl auch einer machen.

Immer noch besser als Kaffeekochen oder solche Sachen, so ist es ein paar anderen ergangen. Manche waren aber auch ganz euphorisch. Betty möchte Lehrerin werden, war an der Grundschule und ist immer noch ganz beseelt: die Kleinen, so süß. Nick war in einer Sportagentur und hat jede Menge Promis getroffen, sein Zimmer ist angeblich jetzt mit Autogrammen gepflastert. Chiara war im Büro des Chefs unserer putzigen Stadt, Oberbürgermeister Martin Fürst. Hat ihn aber wohl noch seltener gesehen, als ich meine Richterin sah. Hab eh nicht verstanden, wie Chiara ausgerechnet darauf gekommen ist, im Büro des Bürgermeisters ein Praktikum zu machen – nirgendwo kann ich sie mir weniger vorstellen als bei einem Job in der Lokalpolitik.

Seems to be a local thing.

Y

Ich schreibe das hier erst mal nur für mich.

Ich hab überhaupt keine Ahnung, ob das jemals jemand lesen wird.

Aber vielleicht findet es eines Tages jemand. Du zum Beispiel. Wahrscheinlich bin ich dann längst im Gefängnis oder tot. Oder über alle Berge.

Wenn du weiterliest, könnte es durchaus sein, dass du mich für verrückt halten wirst. Das stört mich nicht, du wärst nicht der Erste.

Du könntest aber auch zu dem Schluss kommen, dass gar nicht ich verrückt bin, sondern die Welt um uns herum. Wenn du weiterliest, wirst du vielleicht verstehen, warum ich so vorgehen musste. Warum es keinen Sinn hatte, zur Polizei zu gehen. Oder sonst irgendwo in der sogenannten realen Welt Hilfe zu suchen. In dieser Welt gelten Menschen wie ich bloß als »Verschwörungstheoretiker«.

Du musst dich eben entscheiden, ob du die blaue Pille schlucken und selig weiterschlummern willst. Oder ob du die rote Pille nimmst und aufwachst. Wenn du einmal damit angefangen hast, all die verborgenen Signale zu erkennen, all die Ungereimtheiten und scheinbaren Zufälle, dann gibt es kein Zurück mehr. Wenn du einmal erwacht bist, wirst du für die Wahrheit kämpfen.

Auch wenn es dich alles kostet.

2

Schüsse von rechts.

»Auf 200 Grad, Janusz!«, ruft SniperPrincess. »Nee, warte, 210!«

Ich drehe mich um, die Waffe im Anschlag, der Typ will hinter dem Autowrack abtauchen, aber ich bin schneller, bäm, bäm, er geht down.

»Nicht schlecht«, meint Sniper Princess.

Ich laufe um das Auto herum und feuere noch eine Salve in den zuckenden Schädel des Typen, sein Blut spritzt mir entgegen.

You killed Amenophis2003 by headshot with AKM.

Das Blut klebt kurz am Bildschirm, dann löst es sich wieder auf. Ich schmecke es im Mund. Metallisch. Bräuchte ein Fisherman’s oder wenigstens einen Schluck Cola, aber keine Zeit dafür jetzt, denn in dem Lagerhaus vor uns könnten noch mehr von den Typen stecken. Eine dicke Fliege landet auf dem Bildschirm. Auf meiner Seite des Bildschirms. Vielleicht wundert sie sich, wo das Blut geblieben ist. Ich verscheuche sie mit der Hand, korrigiere mein Headset und mustere das Rolltor.

»Okay, ich geh rein«, sage ich. »Könnt ihr rechts und links die Fenster checken?«

»Ich nehm die rechte Seite«, meldet EvilChickenButcher alias Min-su.

»Gut, ich links«, sagt SniperPrincess aka Vinzent.

Ich schau ihr nach, wie sie um die Hausecke verschwindet, SniperPrincess, Lederjacke und Hotpants, Kapuze über dem Kopf, M16 in beiden Händen. Sie ist nur Vinzents Skin, aber manchmal frag ich mich, ob es solche Frauen auch irgendwo da draußen gibt, in der Wirklichkeit.

»Los jetzt«, kommandiert Min-su.

Ich schiebe das Rolltor hoch und taste mich ins Dämmerlicht einer leeren Halle vor. Schritte.

Nicht meine.

»Da ist irgendwo einer«, sage ich. »Mindestens. Oder auch zwei. Seht ihr was?«

»Geh links rum«, antwortet Vinzent, »da kommt eine Art Büro oder so, das ist sauber. Und da liegt Muni, wir können welche brauchen.«

Ich sehe das Büro, die Tür steht offen, ich gehe hinein. Der Schreibtisch ist umgeworfen, die Regale sind verwüstet, auf dem Boden liegt Munition. Ich bücke mich, um sie einzusammeln, da springen zwei Typen hinter dem Schreibtisch hervor, ich schieße sofort, erwische den einen, der andere trifft mich, ich bin down, dann Schüsse in meinem Rücken, ein dritter hat hinter der Tür gelauert – what the fuck? Bevor ich noch was sagen kann, bin ich tot.

Ironbeast17 killed YOU with Tommy Gun.

»Sorry«, ruft Vinzent. Er klingt, als müsse er ein Lachen unterdrücken. »Dumm gelaufen.«

Min-su kichert blöde. »Better luck next time«, meint er.

»Leckt mich, ich geh off.«

»Hey, warte, nimm das doch nicht gleich persönlich.« Jetzt will Vinzent versöhnlich klingen. »War doch keine Absicht. Jedenfalls nicht ganz.«

Doch.

Ich werfe den Kontroller auf den Tisch und reiße mir das Headset vom Kopf, ziehe den Stecker der Konsole, der Bildschirm wird blau. Die Fliege landet wieder darauf. Dreht sich einmal um die eigene Achse wie vorhin das Symbol meines Skins auf der Karte der Insel. Vielleicht überlegt sie, wo Norden ist. Ich strecke meine Hand aus und versuche, sie zu fangen, aber sie ist natürlich schneller, fliegt auf und brummt zur Fensterscheibe. Dahinter aber auch nur Novembernachmittagstrübnis. Ich meine, haben Vinzent und Min-su nicht genug Eier, um mir einfach zu sagen, dass sie keinen Bock haben, mit mir zu zocken?

Hätte ich vielleicht ja auch nicht.

Keine Ahnung, war noch nie in der Situation.

Y fällt mir wieder ein. Während die hier zocken, könnte ich mich ja noch mal nach diesem ARG-Ding von heute Morgen umschauen. Ich öffne verschiedene Imageboards und außerdem Spotify, Bad Kid von Night Lovell, finsterer Hiphop, passt.

Diese Boards sind wirklich das »Loch« vom Internet. Genau wie dieses Loch bei der Unterführung sind sie räudige Ecken voller Müll. Nicht-Orte im Netz. Vielleicht finde ich was Neues oder was, das die anderen übersehen haben.

»All I think about is bad shit«, rappt Night Lovell aus meiner Bluetoothbox.

Ich scrolle weiter und fange nebenher auf meinen Collegeblock zu kritzeln an.

grauglitschig

glibberkalte

grässlichste

Der Block liegt da, weil ich eigentlich endlich den Text für Englisch schreiben sollte. Thema Südafrika, Apartheid, Nelson Mandela. Rassismus und so. What is your opinion? Please write a short comment!

grauglitschig

glibberkalte

grässlichste

novembernachmittagstrübnis.

Das Wort ist mir vorhin einfach so durch den Kopf gegangen. Keine Ahnung, wo solche Wörter manchmal herkommen. Ich kritzle vor mich hin und scrolle weiter, schaue, kritzle, es ist eine Art digital-analoge Bulimie.

Da taucht ein Post auf, nachdem ich – vielleicht – gesucht habe.

>Y004

Satan hat den Fluss überschritten.

M.F. ist schuldig.

Ein Puzzlestück. Da muss noch mehr sein. Ich öffne das Suchfeld und gebe »>Y0« ein. Tatsächlich finde ich weitere Postings auf Deutsch, ebenfalls nummeriert, ein verfrühter Adventskalender oder was.

>Y019

Sonne, Mond und Sterne,

Satan ist nicht ferne.

>Y012

Der Fürst der Finsternis muss fallen.

Für J.C.

>Y033

M.F. birgt das Geheimnis.

>Y037

Die Auebrücke ist das Portal zur Hölle.

Auebrücke.

Das ist … hier!

In dieser Stadt.

Seems to be a local thing from Germany.

Abgefahren.

Ich schaue auf die Uhr.

Auebrücke. Mit dem Rad keine halbe Stunde weg.

Die Fliege brummt haarscharf an meinem Kopf vorbei und landet in dem Glas mit den angetrockneten Cola-Resten. Fehler. Ich nehme mein Englischwörterbuch und lege es auf das Glas. Dabei fällt mir ein, dass ich vorhin dringend was trinken wollte. Hatte ich vergessen.

Immer noch den Geschmack des Blutes im Mund. Die Fliege labt sich an den klebrigen Zuckerresten. Dann erst merkt sie, dass sie gefangen ist, fliegt ein paarmal gegen den Deckel und dann immer im Kreis herum und veranstaltet einen Höllenlärm dabei.

Ich gehe runter in die Küche und trinke ein Glas Kranwasser, dann gehe ich in den Flur und ziehe mir die Schuhe an, als hätte ich was beschlossen.

Auebrücke.

Jacke an. Hausschlüssel. Ich habe schon die Klinke in der Hand und will rausgehen, halte aber inne. Laufe noch mal zurück nach oben in mein Zimmer, wo die Fliege in ihrem Gefängnis durchdreht. Ich öffne das Fenster und lasse sie frei. Sie braucht einen Moment, um zu kapieren, dann hebt sie sich elegant aus dem Glas und braust in den grauen Himmel davon. Kurz sehe ich sie noch als schwarzen Punkt, bevor sie mit der Trübnis verschmilzt.

Beneidenswert.

Warum gibt es überhaupt noch Fliegen, jetzt im November? Klimawandel oder was.

Ich hole das Bike aus der Garage und fahre durch die novembrigen Straßen der Stadt, es dämmert schon. Es gibt diese Strandbar da unten am Rheinufer, oben drüber spannt sich die Autobahnbrücke, wo der Verkehr achtspurig über den Fluss braust. Jetzt ist die Strandbar natürlich geschlossen. Hinter der Palisade sind Tische und Stühle zu einem niemals brennenden Scheiterhaufen aufgestapelt und mit schweren Ketten festgeschmiedet. Auf der Brücke braust gar nichts, vermutlich stehen da oben alle im Stau. Es ist so still, dass ich die sanften Wellen höre, die die vorbeifahrenden Schiffe aufgeworfen haben, und die dort unten ans Ufer platschen, gegen die Steine voller Algen. Es riecht nach Moder. Ich steige ab und schiebe das Bike an der Palisade vorbei und die Böschung hinab. Das feuchte, hohe Gras durchnässt meine Hosenbeine. Keine Ahnung, was ich hier mache. Aber meine Eltern sagen ja, ich soll öfter rausgehen.

Dicht am Ufer reckt sich der klotzige Pfeiler in den Betonhimmel der Brückenunterseite, lang und breit und steil wie ein Hochhaus. Die unteren zwei, drei Meter voller Graffiti. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich die Stahltür. Was auch immer im Innern so eines Brückenpfeilers stecken mag, offenbar kann man hineingehen. Wenn man einen Schlüssel hat. Denn die Tür besitzt keine Klinke und nicht mal einen Knauf, bloß ein Schloss.

Portal zur Hölle.

Dieser Y kann gar nichts anderes meinen als diese Tür.

Ich leuchte mit dem Handy, weil es hier unter der Brücke fast schon dunkel ist. Die meisten der hingesprayten Tags ergeben überhaupt keinen Sinn für mich, da müsste man schon zur Szene gehören, um was zu kapieren. Aber ich gehöre zu keiner Szene. Doch da, um das Türschloss herum, steht etwas mit dickem Filzstift in akkuraten Buchstaben geschrieben:

Y sagt: M.F. hält die Kinder nicht hier gefangen, aber in der Nähe.

WTF.

Aus einem Reflex klopfe ich an die Tür. Von drinnen antwortet ein fernes, hohles Echo. Hier wäre wirklich ein guter Ort, um jemanden gefangen zu halten. Die Vorstellung, dass irgendwo dort drinnen entführte Kinder im Dunkeln sitzen, gruselt mich plötzlich und ich muss mich unwillkürlich umschauen. Gänsehaut.

Das Spiel beginnt, mich zu faszinieren. M.F. hält also Kinder gefangen. Wer immer sich dieses Spiel ausgedacht hat, ist jedenfalls nicht zimperlich mit seiner Fantasie. Ich verstehe, warum Min-su das spannend findet. Unwillkürlich sehe mich um, ob er und Mert und Vinzent nicht genau in dem Augenblick auftauchen.

Tun sie nicht, vielleicht zocken sie immer noch. Oder sie waren bereits hier? Nee, dann hätten sie heute Morgen anders darüber gesprochen. Wahrscheinlich kennen die diesen Hinweis gar nicht. Ich spüre den Reflex, Min-su anzurufen und es ihm zu berichten. Sie wären dankbar und würden mich ab sofort wieder mehr integrieren, so wie es früher mal war.

Aber war es früher so? Oder ist das nur meine Erinnerung? Oder hab ich mir schon immer nur eingebildet, ich würde dazugehören?

Dieses Y-Game kommt mir eh so vor, als wäre es eine Solo-Mission.

M.F. Okay. Ich halte mein Handy vor das Türschloss und mache ein Foto.

Aus irgendeinem Grund bin ich froh, dass ich vorhin die Fliege freigelassen habe.

Y

Das Internet ist voll von Websites, auf denen über die unterirdischen Tunnelsysteme berichtet wird. Die geheimen Bunker, wo entführte Kinder gefangen gehalten werden. Überall auf der Welt. Die Menschen, die das tun – Politiker, Manager, mächtige Medienmacher – sind nicht alle pädophil, es geht ihnen um was anderes: Adrenochrom. Ein Stoffwechselprodukt aus Adrenalin. Wenn man es aus Kinderkörpern extrahiert und zu sich nimmt, wirkt es wie ein magischer Verjüngungstrank.

Klingt völlig abwegig.

Natürlich.

Habe ich anfangs auch gedacht.

Aber es gibt all diese Websites. Tausende. Und in den Medien – also in den Mainstreammedien – findest du darüber kein Wort. Außer, wenn sich prominente Künstler zu Wort melden, die schon erwacht sind. Zum Beispiel Xavier Naidoo. Er hat mehrfach darauf hingewiesen. Aber die Medien machen ihn einfach lächerlich und tun die ganze Sache als Verschwörungsmythos ab.

Klingt ja auch so, keine Frage.

Die Vorstellung von diesen unterirdischen Bunkern ist einfach zu absurd.

Wenn aber genau das der Trick dabei ist?

3

Der Donnerstag in der Schule ist lang und ätzend. Ich gehe Min-su, Mert und Vinzent aus dem Weg, damit ich ihnen nicht doch noch von der Brücke erzähle. Ich sitze die Stunden ab. Als ich endlich heimkomme, ist es kurz vor fünf, es wird schon fast dunkel. Novembernachmittagstrübnis. Aber jetzt die beste Zeit meines Tages. Meine Eltern kommen frühestens in einer Stunde. Ich bin mein eigener Herr, die Bude gehört mir. Ich mag es sogar, in den Keller zu gehen und die Waschmaschine auszuräumen.

Als meine Mutter vor einem halben Jahr meinte, ich sei ja jetzt langsam alt genug, meine Klamotten selber zu waschen, habe ich das im ersten Moment als eine Art Strafe empfunden. Als würde sie mich aus dem Haus werfen. Aber inzwischen habe ich gemerkt, dass ich mich dadurch unabhängiger fühle. Nicht das schlechteste Gefühl.

Beim Ausräumen der Waschmaschine kann ich außerdem gut nachdenken.

Die gefangenen Kinder. Das muss irgendeine Chiffre sein, ein Code für irgendetwas. Eine Anspielung, die zu einem weiteren Hinweis führt.

Einem Songtitel zum Beispiel. Oder einem Film.

Ich stopfe meine Unterwäsche in den Trockner, hole mir eine Cola und gehe rauf in mein Zimmer.

Night Lovell glotzt mich an, ein großes Poster von ihm hängt über meinem Bett. Er guckt so ultraabgefuckt, dass ich mich irgendwie verstanden fühle, wenn ich morgens aufstehe. Oder abends ins Bett gehe. Schwarzer Pulli, schwarze Haut, Kapuze tief ins Gesicht gezogen: Der Typ lebt in Ottawa, Kanada, da ist es ja vielleicht richtig arschkalt und nicht so eine klammfeuchte Nebelgrütze wie hier bei uns.

Ich könnte Vinzent oder Min-su oder Mert schreiben, ob sie on sind und zocken wollen. Aber ich muss mich ja nicht jeden Tag von denen verarschen lassen. Sollen sie ruhig auf der Insel rumballern, während ich mich Y widme.

Oder vielleicht tun sie das in diesem Augenblick ja auch.

Dann sollte ich mich beeilen.

Ich suche mit Google, Bing, DuckDuckGo, Ecosia nach »gefangenen Kindern.«

Artikel und Videos über Terroristen, sadistische Entführer in den USA, in Österreich, in den Niederlanden, krude Verschwörungen. Ich ergänze den Namen unserer Stadt, suche noch mal und lande auf einem Blog namens redpill. Betrieben von einem Typen namens Yves Nellesen, Student. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich seinen Namen schon mal gehört … ja, richtig. Es gab mal Ärger um ihn, weil er auf unserem Schulhof so eine Art Nazi-Zeitung für Jugendliche verteilen wollte. Er ist nur wenig älter als ich und gilt als lokaler Kopf einer rechten Jugendorganisation. Wobei unklar blieb, ob dieser Club außer ihm überhaupt noch andere Mitglieder hat.

Auch dieser redpill-Blog stellt sich als ein Kübel voll braunem Bullshit heraus, hauptsächlich geht es um Flüchtlinge, Frauen, Muslime und so weiter. Und tatsächlich an einer Stelle auch um Y. Dieser Yves hat einen kurzen Beitrag dazu geschrieben: Pädophile Eliten auch hier im Rheinland?

Darin zitiert er ein paar Posts – er nennt sie Y-Drops – zwei, die ich schon kannte, aber auch weitere, die ich mir sicherheitshalber kopiere. Der Rest des Artikels besteht aus kranken Andeutungen darüber, dass eine korrupte Elite (wer immer das sein soll) angeblich Kinder entführt und missbraucht. Davon steht in den Drops aber nichts, es werden keine Kinder erwähnt, nur auf der Tür im Brückenpfeiler. Ich erinnere mich, wie Min-su gestern spekuliert hat: Vielleicht ist es jemand, den wir kennen? Fast zu naheliegend, ich meine – der Typ heißt Yves. Es würde mich enttäuschen, wenn er es selbst wäre, der hinter der Sache steckt. Aber vielleicht hätte es seinen Reiz, genau das rauszukriegen.

Ich öffne ein leeres Dokument und lege eine Sammlung an. Kopiere alle Drops, die ich auf den Boards gefunden habe, auch die Zitate aus Yves’ Blog-Beitrag, und füge sie in der Reihenfolge ihrer Nummern ein. Sonne, Mond und Sterne, Satan ist nicht ferne, Fürst der Finsternis, M.F., J.C., … bla, bla, was für eine Zeitverschwendung.

Andererseits … Zeit hab ich ja nun wirklich genug. Und Vorsprung, schätze ich mal. Ich stelle mir vor, dass Min-su, Mert und Vinzent in diesem Augenblick den Brückenpfeiler unten am Rhein untersuchen. Der Vorsprung ist dünn. Also konzentrier dich, Mann.

Sonne, Mond und Sterne … Laterne … ein Martinslied, klar. In ein paar Tagen ist Sankt Martin. Könnte ja auch wieder eine Anspielung auf Kinder sein. Oder auf das Datum selbst, den 11. November.

Ich reiße meine gestrigen Novembernachmittagstrübnisnotizen aus dem Collegeblock, zerknülle sie und werfe sie in den Müll, dann beginne ich, die nächste freie Seite mit Ys Schlüsselbegriffen zu füllen.

M.F.

Satan, Hölle

Fürst der Finsternis

J.C.

Gleichgewicht

Portal

Auebrücke

Sankt Martin

Geheimnis

11.11.

Ich brüte eine ganze Weile darüber, aber es bringt genau nichts. Ich reiße das Blatt raus und will es ebenfalls zerknüllen und in den Müll werfen, da kommt mir eine Idee. Ich nehme eine Schere und schneide die einzelnen Wörter aus, lege sie vor mich auf den Schreibtisch. Schiebe die Tastatur zur Seite und das verklebte alte Cola-Glas und beginne, die Bausteine hin und her zu schieben, tausche immer wieder die Reihenfolge.

Eigentlich weiß ich, dass es zwecklos ist. Die Y-Drops sind nicht ohne Grund nummeriert und ich kenne ja bis jetzt nur einen Bruchteil davon.

Andererseits ist niemand vierundzwanzig Stunden lang bei 4chan, 8kun und Co. online. Und weil die Threads auf den Boards höchstens ein paar Stunden zu sehen sind (solange sie nicht wieder und wieder kommentiert werden), ist es ja faktisch unmöglich, dass eine Person alle Drops einsammeln kann. Ich glaube aber auch nicht, dass Y sein Game für ein Team oder eine Gruppe gedacht hat. Es muss also auch dann funktionieren, wenn man nicht alle Puzzlestücke findet. Wie bei einem realen Puzzle, da kann man ja auch nach einer Weile ungefähr das Gesamtbild erkennen, selbst wenn es überall Lücken hat. Die Wahrnehmung ersetzt die fehlenden Teile durch Fantasie.

Unten dreht sich der Schlüssel in der Haustür.

Am Geräusch der Schritte erkenne ich, dass es mein Vater ist. Bisschen früher als sonst.

Ich höre Wasserplätschern vom Waschbecken im Gäste-WC, dann kommt er die Treppe hinauf.

Ich schließe die ganzen Tabs mit den verschiedenen Boards, lege die Tastatur auf mein Zettelmosaik und schlage das Englischbuch auf.

Er klopft an, tritt ein, fährt sich mit einer Hand übers dünner werdende Haar.

»Hallo Sohn, was geht?«

»Nichts«, sage ich. »Nichts neues, jedenfalls.«

Er durchschreitet mein Zimmer und kippt das Fenster. Dieses Ritual ist ebenso unergründlich wie unerschütterlich – wann immer eines meiner Elternteile mein Zimmer betritt, kippen sie das Fenster, als würde hier drin ein für normale Landwirbeltiere toxisches Luftgemisch herrschen. Ein grauglitschiger Novemberhauch weht herein.

Mein Vater wirft einen Blick aufs Buch.

»Fleißig am Lernen, hm?«

»Jep.« Ich nicke.

Er steht unbeholfen mitten in meinem Zimmer herum, als wäre er noch nie hier gewesen und warte darauf, dass ich ihm einen Stuhl anbiete, aber außer dem Schreibtischstuhl gibt es hier nur mein ungemachtes Bett und einen unpraktischen Sitzsack, mit dem man meistens umkippt. Irgendwie ist es immer komisch, wenn er und ich allein im Haus sind, also ohne meine Mutter, denn normalerweise scheint es ihre Aufgabe zu sein, zwischen uns Dreien Gespräche zum Laufen zu kriegen. Mein Vater und ich gucken uns an wie zwei Talkshowgäste unterschiedlicher Sprache, die ratlos darauf warten, dass die Dolmetscherin erscheint.

Weil ich aber irgendwie will, dass die Sache hier weitergeht, frage ich: »Und du so? Früher frei?«

»Ich hatte ein Meeting in Oberhausen«, sagt er, »und da hat es sich nicht gelohnt, wieder ins Büro zu fahren. Ich hab mir was zum Arbeiten eingepackt. Andererseits …«

»Andererseits?«

»Andererseits wollten wir ja mal zusammen Laufen gehen. Wäre doch eine gute Gelegenheit, oder?«

»Schon«, sage ich. »Aber bei dem Wetter? Und außerdem muss ich echt noch was für Englisch machen.«

»Klar, Schule geht vor«, sagt er und wirkt fast erleichtert. »Ich bin im Arbeitszimmer, falls du mich suchst.«

»Gut.«

Er trollt sich. Ich stehe auf und schließe das Fenster.

Als ich mich wieder an meinen Schreibtisch setze, hockt auf der Tastatur eine fette schwarze Fliege. Nicht irgendeine, sondern die von gestern. Natürlich kann ich Fliegen nicht unterscheiden, aber trotzdem bin ich mir sicher, dass sie es ist. Dieses dumme Insekt. Ich hebe wie in Zeitlupe die Hand und versuche, sie zu fangen, aber sie entkommt mir schon wieder und im Nachfassen schubse ich die Tastatur vom Schreibtisch und meine Zettel wirbeln zu Boden.