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Felix Rexhausen, Journalist, Satiriker, Lyriker und Romanautor (1932 – 1992), war einer der ersten offen schwulen Autoren der Nachkriegszeit. Er ist bereits mit dem Roman "Lavendelschwert" und dem Erzählband "Berührungen" in der Bibliothek rosa Winkel vertreten. "Zaunwerk" ist der seinerzeit nicht veröffentlichte Vorläufer dieser beiden Bücher, wiederentdeckt vom Literaturwissenschaftler Benedikt Wolf. Schon 1964 abgeschlossen, entfaltet das Buch ein Panorama vom Leben der Homosexuellen der alten Bundesrepublik, ihrem Leben im Versteck, ihren kleinen Freiräumen und großen Sehnsüchten. Für Benedikt Wolf ist Zaunwerk ein »schwuler Pioniertext im emphatischen Sinne«, der es mehr als verdient hat, fast sechs Jahrzehnte nach seiner Entstehung »aus dem Schrank« kommen zu dürfen.
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2022
FELIX REXHAUSEN
Zaunwerk
Szenen aus dem Gesträuch
Aus dem Nachlass
herausgegeben von
Benedikt Wolf
Männerschwarm Verlag
Bibliothek rosa Winkel
Band 79
Umschlagmotiv:
Felix Rexhausen in den 1960er Jahren
Mit freundlicher Genehmigung
der Fotografin Georgia Gembardt
Umschlaggestaltung:
Carsten Kudlik (Bremen)
Gedruckt mit Unterstützung des
KARL-HEINRICH-ULRICHS-FONDS
der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung
(www.hms-stiftung.de)
© 2021 Männerschwarm Verlag
Salzgeber Buchverlage GmbH, Berlin
Printed in Germany
ISSN 0940–6247
ISBN 978-3-86300-348-7
FELIX REXHAUSEN
Zaunwerk
Szenen aus dem Gesträuch
Zum Text
BENEDIKT WOLF
Markstein, Zaunwerk, Himmelsleiter Zu Felix Rexhausens Roman Zaunwerk
FELIX REXHAUSEN
Zaunwerk
Szenen aus dem Gesträuch
Das Gesträuch ist überall. Wenn Sie hineinsähen, Sie würden Ihren Sohn, Ihren Freund, Ihren Bruder entdecken. Wenn Sie hineinsähen, Sie würden sich abwenden. Wenn Sie hineinsähen, Sie würden finden, daß so niemand leben darf. Und tiefer verlören sich die Schatten in das Gesträuch.
Dieses Buch ist kein Roman, enthält keine Sammlung von poetischen Reflexionen oder Erzählungen, bietet nichts, was Anspruch darauf erhöbe, Gegenstand einer literarischen Diskussion zu werden. Ihm geht es lediglich darum, einen bestimmten Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit zu zeigen, und wenn man gemeinhin eine Arbeit, die in nichtwissenschaftlicher Weise Antwort gibt auf die Frage »Wie leben Leute, die und die Leute?« eine Reportage nennt, dann ist diese Arbeit eine Reportage. Sie unterscheidet sich von anderen Reportagen lediglich durch einen Mangel an Präzision, insofern sie die Identität von Orten und Personen im Unbestimmten läßt; dies freilich war angesichts des Themas unvermeidlich.
Das Thema, zu dem hier berichtet wird, ist die Lebenswirklichkeit der Homosexuellen, und die Antwort, die dieser Bericht versucht, ist eine Antwort auf die Frage: »Wie leben Homosexuelle – hier, in dieser Gesellschaft der Bundesrepublik, heute, in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts?«
Mein Bericht ist trocken und streckenweise vermutlich langweiliger, als mancher Leser erwartet. Er ist weder mit psychologischen und soziologischen Analysen garniert noch kann er mit irgendwelchen sensationellen Enthüllungen aufwarten. Er hat kein »Anliegen«: Er will weder etwas beschönigen und verklären noch jemanden anklagen; er will überhaupt nichts anderes, als die Wirklichkeit abschildern. Ich stelle Szenen dar, von denen keine erfunden ist, ich gebe Beobachtungen wieder, ohne Spekulation und ohne Kommentar, ich sage: »So leben, so verhalten sich Leute«; ich greife nichts an, ich werbe für nichts – es sei denn dafür, daß man die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen möchte: eine Wirklichkeit, die für Tausende und Tausende die Wirklichkeit ihres Lebens ist.
So wie jemand, der sich in einem fremden Lande aufhält, für seine Bekannten daheim ein paar Szenen von der Straße, vom Markt, aus den Häusern aufschreibt, um so einen Eindruck von dem alltäglichen Leben dieses Landes zu geben, so habe ich hier eine Reihe von Szenen aufgeschrieben, die zusammen ein mosaikartiges Bild von jenem unbekannten Land liefern, das mitten in unserer Gesellschaft liegt – einem Land, aus dem keine Nachrichten herausdringen und in das kein Fremder eindringen kann. Dieser Bericht ist nicht geschrieben, um irgendwen oder irgendetwas sympathischer, ja noch nicht einmal, um irgendwelche Personen oder ihr Verhalten verständlicher zu machen; wohl aber denke ich, daß er in der gegenwärtigen Diskussion um die Homosexualität manche Vorstellung zurechtrücken kann – sowohl bei denen, die in diesem Bereich die bloße moralische Verderbtheit wittern und also attackieren wollen, wie bei denen, die wohlmeinend auf den seelischen Reichtum lebenslanger Partnerschaften von Homosexuellen hinweisen, annehmend, dies sei der Regelfall, und für vergänglichere Beziehungen, zumal solche zwischen Älteren und Jüngeren, die alten Griechen zu Zeugen anrufen. Aber wir sind nicht die alten Griechen; solche und manche andere Vorstellung entspringen einfach blanker Unkenntnis über unsere Gesellschaft und die Homosexuellen in ihr.
Soweit meine Darstellung Wiederholungen enthält, sind diese weder der Nachlässigkeit des Autors noch seinem Sinn für Marotten zu danken – sie sind bei der Abschilderung von Wirklichkeit einfach unvermeidlich: Was häufig vorkommt, muß auch häufig genannt werden. Im übrigen muß ich darauf hinweisen, daß mein Bericht insofern nicht ganz vollständig ist, als er nur die »mittlere Ebene« berücksichtigt, nur vom »Durchschnitt« handelt – ich führe weder die mit der Homosexualität verknüpfte kriminelle Unterwelt vor noch spreche ich über die Klicken- und Günstlingswirtschaft, die einflußreiche Invertierte sicher auch in Deutschland unterhalten; über beides habe ich zu wenig konkrete Informationen, und zudem schien es mir wichtiger, von dem alltäglichen Leben der Vielen zu reden als das Augenmerk auf das in diesem Bereich Exzeptionelle zu lenken.
Zum Abschluß sei noch einmal betont, daß mit Ausnahme der handelnden Personen nichts in der folgenden Darstellung erfunden ist.
DIE KIRSCHENZEIT war vorbei, schon konnte man auf die Augustäpfel rechnen, an den hochgewordenen Stauden, die von runden Holzstäben gehalten wurden, brannten die ersten roten Tomaten. Es war Sommer, Sommer, und der blaßblaue Himmel war hoch über all dem Grün. In jedem Sommernachmittag gibt es eine Strecke, da man nicht weiß, wie weit der lange Tag schon fortgeschritten ist, und erst recht drinnen in der Hecke, da ist das Licht immer gleich diffus.
Der Knick lag ein Stück hinter dem Garten und bestand aus Rotdorn und Weißdorn und Vogelbeeren, aus Hasel- und Buchenbüschen, die nicht vorankamen, und gegen den Zaun zu schlugen sich Brombeerranken hoch. Hier hatten sich die vier oder fünf Jungen mit ihren Taschenmessern ein Hauptquartier zurechtgeschnitten, hier hatten sie einen geheimen Kasten vergraben und eine Schachtel Zigaretten versteckt.
Der Garten war still, ferne klapperte Geschirr, auf der Straße am Feld hinter ihnen fuhr in regelmäßigen Abständen ein Lastwagen mit Kies vorbei. Willi war ein paar Jahre älter als Roland; Roland war zwölf. Sie warteten auf die anderen. Die schienen nicht zu kommen, und es war ihnen gleichgültig.
»Drüben an der Ecke hab ich gestern ’nen Präser gefunden«, sagte Willi. Roland nickte. »Kann man hier öfter finden. Heinz Brand und Jürgen sammeln die. Die gehn immer dahinten beim Waldbach entlang, und mit ’nem Stöckchen tun sie sie in eine kleine Schachtel. Haben schon neun oder zehn.« Willi zuckte die Achseln. »Da beim Waldbach hab ich auch schon mal welche ficken sehn«, sagte er, und Roland sah ihn gespannt an.
»Der Mann lag auf der Frau, in ’ner Kuhle, und plötzlich hob er den Kopf, da hat er uns gehört. Da sind wir weggerannt, Hermann sagt, ihm hat so einer mal ’nen Stein nachgeschmissen.« »Warst du da mit Hermann?« fragte Roland. »Und Kurt Lehmann. Der hat schon oft welche gesehen da«, antwortete Willi.
Roland brach ein trockenes Stöckchen durch, das er in der Hand gehalten hatte. »Hast du schon mal mit ’nem Mädchen, so richtig?« fragte er und sah Willi an. »Nee«, sagte Willi, »bloß voriges Jahr, wie ich auf dem Bauernhof war, da hat mich die Magd mal ihren Busen anfassen lassen. Mehr wollt sie nicht, hat sie gesagt, sie wollte keine kleinen Kinder vernaschen, und außerdem könnt ich ja doch das Maul nicht halten, und dann kriegte sie Ärger mit Paul. Paul war der Knecht.« »Möcht’ ich auch ’mal«, sagte Roland, »bei mir aufm Bauernhof die Mägde waren doof, und die waren, glaub ich, alle verheiratet. Mensch, aber wenn sie einen an den Busen ranlassen, dann können sie auch mal mit einem in die Scheune gehen. Sowas ist immer in der Scheune, im Stroh.« »Das mit der Waltraut, das war im Kuhstall«, sagte Willi. Und, nach einer Weile: »Hat deine Schwester schon mal?« »Die ist ja schon verlobt«, antwortete Roland, »wahrscheinlich. Ich weiß nicht.« »Nee, die andere«, sagte Willi, »bei der anderen ist das doch klar. Ich meine die Hilde.« Roland wußte nicht, vielleicht, vielleicht nicht, ihren zweiten Freund hatte sie ja schon. »Der Erich hat gesagt, er hätte schon dreimal mit ihr«, sagte Willi, »aber das ist ja so ’n Angeber. Vielleicht einmal.« Roland versuchte sich vorzustellen, wie Erich auf seiner fast siebzehnjährigen Schwester Hilde lag. Und wo das gewesen sein könnte; vielleicht auch in der Kuhle am Waldbach.
»Der Erich war auch schon ein paarmal im Puff«, sagte Willi. Daß Erich auch Bilder aus dem Puff hatte, sagte er Roland nicht, der quatschte das vielleicht aus, und Erich hatte gesagt, das geht die Hilde nichts an. »Und das ist wahr, da war er mit Horst, das weiß ich«, sagte Willi und schob eine Hand in die Hosentasche.
»Was glaubst du, wie das ist, wenn man seinen Schwanz so bei ’ner Frau reinsteckt, was für ’n Gefühl?« fragte Roland. Willi sah ihn vergnügt aus seinen kleinen Augen an. »Na ungefähr so, als wenn man ’s alleine macht.« »Wieso alleine?« fragte Roland. »Mit der Hand, weißt du das denn nicht? Haste das etwa noch nie gemacht?« »Nee«, sagte Roland; er kam sich vor wie auf der Schwelle eines neuen Lebens. »Mensch!« sagte Willi, zog die rechte Hand aus der Hosentasche, nahm den linken Daumen zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten und schob die beiden Hände rasch gegeneinander hin und her. »So!« – er hielt das Ganze Roland unter die Nase. Roland nickte. »Und dann?« fragte er. »Nach ’ner Zeit kommt dann die Sahne, das ist ein ganz tolles Gefühl, das mußt du mal machen!« sagte Willi. »Aber was für ’n Gefühl denn?« fragte Roland. »So als wenn du ganz eilig pissen mußt«, antwortete Willi, »nur viel toller eben, noch anders.« »Machst du das oft?« wollte Roland wissen. »Nee, dann merken das meine Eltern, davon kriegt man so Ringe unter den Augen.«
Roland sah ihn genau an. »Hast keine«, sagte er. Er warf einen Blick auf Willis Hose. »Mach doch mal!« »Jetzt? aber hier – –?« »Hier kommt doch keiner!« sagte Roland. Willi machte seine Hose auf und sein Glied richtete sich auf. Roland hatte bisher nur ein einziges Mal das Glied eines anderen Jungen gesehen, das war in der zweiten oder dritten Klasse gewesen, da hatten Willi Blech, der Sitzenbleiber, und er sich in der Stunde gegenseitig ihre Schwänze gezeigt. Willi gebrauchte seine rechte Hand gradso wie vorhin an seinem linken Daumen. »Laß mich mal!« sagte Roland plötzlich, und Willi stützte sich mit beiden Händen auf den steinigen Boden und lehnte sich zurück.
Nach einer kurzen Weile hielt Roland inne. Er warf Willi einen kurzen Blick zu, machte seine eigene Hose auf und sagte: »Mach du bei mir!« »Hm«, brummte Willi, versuchte von neuem eine bequeme Lage zu finden und griff nach dem Glied seines Freundes. So vergingen einige Minuten, und das Licht und die Blätter warfen fleckige Schattenmuster über sie.
Plötzlich zuckte es in Willis Gesicht; er preßte die Lippen zusammen, stieß kurz hervor: »Siehste jetzt!« und eine warme Flüssigkeit lief über Rolands Hand, und zum Teil spritzte sie ein Stück weg. Roland nickte, als gebe es da etwas zu bestätigen. Willi seufzte auf. Mit Blättern wischten sie sich die Haut ab und betrachteten, wie das Glied langsam seine Starre wieder verlor. »Jetzt mach bei mir weiter!« sagte Roland, und nun lehnte er sich zurück und stützte sich mit beiden Händen auf den Boden, bis auch bei ihm der Samen austrat und gegen die dunkelgrünen Brombeerblätter fiel, an denen er herunterlief wie Spucke.
»Das ist aber nicht so, als wenn man mal muß«, sagte Roland, »oder auch, aber noch anders.« »Ja!« sagte Willi mit Nachdruck und knöpfte sich die Hosen zu. »Aber ’n tolles Gefühl ist doch toll, was?« Roland nickte und war froh. Plötzlich fielen ihm seine Eltern und Geschwister ein, und er äugte durch die Blätter, aber da war nichts zu sehen als grüne Beete und Obstbäume und die drei oder vier ersten roten Tomaten. Dann blickte er Willi an, um zu prüfen, ob er jetzt etwa Ringe unter den Augen hatte. »Quatscht!« sagte Willi, »so schnell geht das nicht – aber morgen! Meine Mutter guckt mich manchmal so komisch an!« Im Grunde war er davon überzeugt, daß seine Mutter längst etwas gemerkt hatte – es fiel ihm doch selber auf, wie dunkel die Ringe waren, die danach immer unter seine Augen traten.
Sie saßen noch eine Weile da im hellgrünen Dämmer, aber es fiel ihnen nichts mehr ein. Willi riß eine winzige Eiche aus und betrachtete die Wurzel, an der, fast in zwei Hälften gespalten, noch die schwarzbraune mürbe Eichel hing, und sagte schließlich: »Der Vater von dem Kurt soll bloß noch mal so brüllen, wenn wir auf der Straße Fußball spielen, dann schmeiß’ ich ihm ’ne Scheibe ein.« »Oder wir reißen ihm all die grünen Pfirsiche ab«, schlug Roland vor, »und legen sie ihm in einem schönen Haufen vor die Tür. Wenn er dann morgens raus kommt, dann hat er die Bescherung. Stell dir das Geschimpfe vor!« Beide lachten auf, aber die richtige Begeisterung konnte die Vorstellung nicht in ihnen wecken, obwohl Kurts Vater ein blöder alter Kerl war.
Als sie aus dem Knick hinaustraten, sah jeder wie zufällig über seine Hose hin – der eine zupfte einen trockenen Dorn aus den Fäden, und der andere klopfte, fast im gleichen Augenblick, etwas Staub ab. Dann richteten sie sich auf und gingen entschlossen in den Garten hinein. An der kurzen Leine im Schatten des Hofs hingen ein paar Küchenhandtücher.
Es war Herbst, als sie das Vergnügen, sich gegenseitig zu befriedigen, noch zweimal wiederholten, in einem Zelt, das sie mit den anderen Jungen auf einer Wiese aufgeschlagen hatten. Es war schon Winter, als Willi, an eine Mauer gelehnt, auf seinem Fahrrad saß und Roland dem einverständig Grinsenden die Hose aufknöpfte, um darin zu spielen. Und es war wieder Sommer, als Willi zum erstenmal ins Bordell ging.
AUF DER LEITER, die Jakob im Traum sah, stiegen die Engel auf und nieder – die Leiter war für sie kein Weg, dessen Strecke zurückzulegen war, sondern ein Aufenthaltsort, dessen Dimensionen sie auf- und niedersteigend ausmaßen. So verweilen die Leute auf der Spanischen Treppe in Rom. Sie gehen ein paar Stufen hinauf, vorüber an Kindern und Frauen und Halbwüchsigen, an Männern und Greisen, die dort sitzen, sie lehnen sich an das steinerne Geländer und reden, sie gehen abermals ein paar Stufen, sie überqueren die erste Plattform, sie beugen sich dort über die Balustrade, sie kehren zurück, schauen und sprechen mit irgendwem, sie stehen einen Moment vor den bunten Auslagen der Blumenfrau, sie gehen zu zweit, zu dritt, zu fünft, allein auf der anderen Seite der Treppe wieder einige Stufen hinauf, halten inne, wandern entschlossen bis ganz nach oben, von links nach rechts, von rechts nach links, wie die Treppe sie führt, zwischen den sonnensatten Häusern, bis ganz nach oben, von wo man auf Rom blickt, und immer sieht man nur einen Teil Roms, und die späte Vormittagssonne verwischt die gleißenden Umrisse bis hin zu der dunstigen Kuppel der Peterskirche, und sie steigen wieder ein Stück hinunter, setzen sich auf die Stufen, auf den Lauf des breiten Geländers selbst, und die eine Seite der Treppe liegt in der Sonne, und die andere im Schatten, und wieder gehen sie ein paar Stufen hinauf oder hinunter, zu zweit, zu dritt, in einer ganzen Schar oder allein, und dazwischen spielen die Kinder und springen Stufen hinauf, hinab. Und unten vor der Treppe liegt ehrwürdig und schön, klar und wohnlich die Piazza d’Espagna.
Eberhard ging die Treppe hinauf und hinunter und hätte nicht geglaubt, daß man sich solange auf einer Treppe aufhalten kann. Am Nachmittag zeigte er sie seiner Mutter, Stufen hinauf, hinab, und am Abend, als seine Mutter schon ins Hotel gegangen war, kam er abermals hier vorbei. Abermals begann er, sie hinaufzusteigen, zwischen all den Leuten, die hier die Freiheit und die Kühle des späten Sonntagabends genossen. Ein häßlicher Junge starrte ihm unverschämt ins Gesicht, und plötzlich fiel Eberhard ein, daß ein Student, mit dem er vor einiger Zeit geschlafen hatte, von der Spanischen Treppe gesprochen und ihm erklärt hatte, da könne man abends fast immer was finden. Aber Eberhard war fest entschlossen, sich um derlei heute nicht zu kümmern – die Erfahrungen, die er in diesen drei Tagen in Rom gesammelt hatte, machten ihm wenig Lust zu Abenteuern am letzten Abend. Er sah auf seine Uhr und stieg dann weiter hinauf, hin und wieder die Hand auf den kühlen rauhen Stein des Geländers legend.
Als er höher hinauf kam, sah er einen jungen Mann im leichten hellgrauen Anzug über die Balustrade blicken. Er war vielleicht zwanzig, hatte ein hübsch geschnittenes ernstes Gesicht und im Ganzen den Habitus eines jungen Mannes aus gutem Hause. Eberhard ging hinter ihm vorbei, ein Stück über die Plattform hin; der junge Mann blickte unverwandt auf die Piazza und die dahinter sich ausbreitende Nacht. Etwa zehn Meter weiter lehnte ein anderer Mann an der Balustrade und schickte dann und wann einen kurzen Blick zu dem Hellen hinüber; der rührte sich nicht. Eberhard wandte beiden den Rücken und sah hinauf zu der Kirche; als er sich wieder umdrehte, schien ihm, als habe sich die Entfernung zwischen den beiden an der Balustrade vermindert – freilich, der gutangezogene junge Mann stand noch an derselben Stelle wie vorher. Eberhard wollte ein wenig dem Leben auf der Treppe zusehen und stellte sich zehn Meter links von dem jungen Mann an die steinerne Brüstung. Nun sahen sie zu dritt hinunter – ein dreißigjähriger, ziemlich gewöhnlicher Mann, der ein paar Jahre jüngere Eberhard und in der Mitte zwischen ihnen der Junge, der sie beide nicht beachtete und mit großen dunklen Augen gradeaus sah, so oft Eberhard oder der andere auch zu ihm hinblickten.
So verging eine Weile. Dann wurde dem Mann ganz rechts die Sache zu dumm – er nahm seine Arme von den Steinen, wandte sich ab und ging; man sah ihn drüben die Treppe hinuntersteigen. Eberhard wartete; aber auch jetzt drehte sich der hübsche Kopf nicht zu ihm hin, obwohl Eberhard ihn ein paarmal solange anstarrte, daß es dem anderen nicht entgehen konnte. Ein leichter Wind erhob sich. Der Fremde sah auf seine Uhr und wanderte plötzlich ein Dutzend Meter weiter von Eberhard fort, dann lehnte er sich von neuem gegen den Stein und blickte hinunter.
Eberhard war froh, daß die Begebenheit so ein klares Ende gefunden hatte. Vermutlich wartete der junge Mann hier auf seine Freundin; sowieso machte er nicht den Eindruck eines Homosexuellen. Eberhard blieb noch einen Augenblick stehen, damit der andere nicht glauben sollte, er habe nur seinetwegen so lange hier ausgehalten, dann stieg er langsam hinab. Nach einem guten Dutzend Stufen drehte er sich noch einmal um – da hatte jener oben den Blick auf ihn geheftet. Eberhard ging weiter; an der nächsten Plattform zögerte er, dann überquerte er sie und stieg die Treppe auf der anderen Seite wieder hinauf. Jener sah ihn noch einmal kurz von der Seite an, wie er da heraufkam, aber dann blickte er wieder so unverwandt in die Ferne, wie zehn Minuten zuvor. Eberhard lehnte sich von neuem an das steinerne Geländer, ging zweimal, dreimal dicht hinter dem anderen vorbei, blieb einmal sogar anderthalb Meter neben ihm an der Balustrade stehen – der aber rührte sich nicht. Schließlich murmelte Eberhard irgendeinen Fluch in sich hinein, wandte sich den Stufen zu und ging endgültig hinunter.
Er war wieder auf der nächsten Plattform angekommen, als er sah, daß der helle Anzug die andere Treppe herunter kam und dann, ohne innezuhalten, über die Plattform ging und weiter hinunter stieg; auf der dritten oder vierten Stufe unterhalb der Plattform wendete der Bursche den Kopf, sah noch einmal kurz zu Eberhard hin und setzte dann seinen Weg hinab fort. Eberhard schaute auf die Uhr, drehte sich um und ging die Treppe, die er nun schon zweimal hinunter gekommen war, wieder hinauf. Aber als er von oben hinunter sah, konnte er den hellen Anzug nicht mehr entdecken, er war in dem immer noch dichten Gewühl unten an der Piazza verschwunden.
Einen Augenblick noch wartete Eberhard, und er wandte sich gerade abermals zum Gehen, als er den jungen Mann die Treppe wieder hinaufkommen sah. Wollte der ihn zum Narren halten oder hatten seine Handlungen irgendeinen Zweck, der mit Eberhards Existenz überhaupt nichts zu tun hatte? Eberhard sah zu der anderen Treppe hin und versicherte sich nur dann und wann durch einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln, daß jener wirklich noch immer höherstieg.
Und wirklich stieg er die Treppe herauf, bis oben hin, ging schräg hinter Eberhard zu den schmaleren Stufen, die in den Park der Villa Borghese führten, und stieg auch die hinauf. Eberhard wartete einen Moment, dann ging er auch in das kühle Dunkel des Parks. Er sah den ersten Weg hinunter – dort schlenderte, sehr langsam, der junge Mann in dem hellen Anzug. Dicht über dem ersten Weg lief ein zweiter, diesen schlug Eberhard ein. Unter sich sah er hinter den fast schwarzen Sträuchern den hellen Anzug gehen. Eberhard blieb stehen, und der andere ging langsamer; Eberhard schritt etwas aus, und drei Meter unter ihm holte der andere ihn ein. Endlich liefen die beiden Wege in einem größeren zusammen, und die beiden jungen Leute gerieten nebeneinander. »Sera!« sagte der in dem hellen Anzug, und Eberhard antwortetet »Sera!«
Als der andere wußte, daß Eberhard Deutscher war, sprach auch er deutsch, deutlich und nicht gebrochen, aber mit einem kräftigen Akzent, und manchmal gingen ihm die Vokabeln aus. »Ich heiße Giorgio«, sagte er, »du?« Eberhard nannte seinen Namen und fragte ihn, woher er so gut Deutsch könne. »Meine Mutter ist aus Österreich«, sagte Giorgio. Eberhard suchte sich diese Familie, diesen Haushalt vorzustellen; aus irgendeinem Grunde vermutete er, dies Haus müsse einen großbürgerlichen Anstrich haben. »Ich kenne gut den deutschen Gesandten hier«, sagte Giorgio, sah Eberhard vielsagend an und fügte feixend hinzu: »Er ist eine Frau.« Eberhard fragte: »Wieso?« »Er ist eine Frau«, sagte Giorgio, »und ich bin der Mann. Hä?« Eberhard nickte. Dann sprachen sie über Rom, über Italien.
In dem dunklen Park, dessen Massen überall von dem kalten weißen Licht der Neonlaternen durchbrochen wurden, war noch viel Leben, Spaziergänger wanderten hin und her, in den Lokalen da und dort saßen noch Scharen munterer Gäste. Endlich ließ sich Giorgio in einem von Sträuchern umgebenen Winkel auf eine Bank fallen, und Eberhard setzte sich neben ihn. Ihre Füße und ihre Waden berührten sich.
Eberhard sah auf die Uhr; er wurde etwas ungeduldig und hoffte, der Jüngere werde bald wieder aufstehen und ihn in jenes römische Bürgerhaus führen. »Wohin gehen wir?« fragte er einmal und zweimal und unterstrich die Frage durch eine Handbewegung, aber Giorgio nickte nur und erzählte von seinem Aufenthalt in Straßburg, wo er vor einiger Zeit gewesen war. Keine zehn Meter neben ihnen verschwanden zwei Soldaten in dem Gesträuch.
Plötzlich wollte Giorgio Papier und Bleistift haben, und Eberhard gab ihm einen kleinen römischen Stadtplan, den er aus einem Reiseführer herausgerissen hatte und dessen Rückseite weiß war. Mit Eberhards Hilfe begann Giorgio, einen Liebesbrief an Eberhard zu entwerfen. Ein amüsantes Spiel, aber es kostete Zeit – Eberhard fand den Jungen nett, wie er da krakelte, doch begriff er nicht, warum der so viele Umstände machte, von denen sie beide wissen konnten, daß sie überflüssig waren. Giorgio nahm eine andere Ecke des Papiers und malte, in so vagen Andeutungen wie nur möglich drei oder vier Bilder, auf denen zwei Männer in jeweils anderer Weise obszön miteinander beschäftigt waren. Der Vollständigkeit und des Spaßes halber malte Eberhard noch einige dazu. Giorgio nahm das Blatt zurück, und Eberhard dachte, nun hätten sie wohl ein Programm für die beiden nächsten Stunden ausgearbeitet. Giorgio ließ sich auch den Bleistift noch einmal geben und bezeichnete auf einem Bild die beiden Gestalten mit einen E und einem G. Fragend hielt er Eberhard das Blatt hin, darauf nahm Eberhard den Stift und schrieb über das G ein E und über das E ein G, um zu erklären, daß er dieselbe Situation auch mit vertauschten Rollen denkbar fand. Giorgio schüttelte den Kopf und strich die hinzugekommenen Buchstaben wieder aus.
Leichter Unmut stieg in Eberhard auf. Er erinnerte sich an jenen Neger in Paris, der in einem grünen Slip auf dem Bett gelegen hatte, die Hände an das Laken geheftet, und der schließlich erklärt hatte: »Ich bin der Mann.« Eberhard hatte wenig Neigung, sich wieder auf so einseitige Vergnügungen einzulassen, doch als Giorgio sah, daß er sich etwas ärgerte, winkte er ab, als sei das alles nicht wichtig, und begann, eine rätselhafte gewundene Rede zu halten, die Eberhard nicht begriff. Offenbar ging es um irgendetwas Peinliches; hin und wieder hielt Giorgio inne und fragte, ob Eberhard nicht erraten könne, was er meine – Eberhard schüttelte den Kopf, und Giorgio fing von irgendeinem anderen Ende her wieder von vorne an.
Plötzlich kam eine deutlichere Wendung, und Eberhard begriff und sah zugleich, daß er dieses Rätsel eher hätte lösen können, wenn er sich eine weniger feste Vorstellung von dem gutangezogenen jungen Mann gemacht hätte: Es ging um Geld. »Du?« fragte er. »In Rom alle«, antwortete Giorgio. »Ich habe kein Geld«, sagte Eberhard. Das stimmte. »Und es macht mir kein Vergnügen, mit welchen zu schlafen, die Geld dafür haben wollen.« Das stimmte für heute auch.
Erst in der Nacht vorher war er mit einem Burschen, der ihn auf einer leeren Piazza angeredet hatte, unten an den Tiber gegangen. Ein untersetzter altrömischer Legionär von 18, 19 Jahren war das gewesen, kräftig, mit wulstigen Lippen und kreisrunden Augen, in denen das Weiße hell um die ganze Iris stand. Sie hatten beide ihren Spaß gehabt auf den schmalen gepflasterten Uferstreifen unter der Brücke, und sie hatten sich Zeit gelassen. Als sie wieder auf die menschenleere Straße traten, wollte der Bursche Geld haben. Eberhard hatte dies erwartet, dennoch zögerte er; der andere wurde heftiger; endlich gab Eberhard ihm, was er bei sich hatte. Das war dem nicht genug, obwohl es fast fünftausend Lire gewesen waren. Dann hatte der andere ihn bis ans Hotel begleitet und Eberhard gedroht, falls er nicht in ein paar Minuten noch zweitausend Lire bringe, werde er beim Hotel klingeln. Und Eberhard war hinaufgegangen, leise am Zimmer seiner Mutter vorbei, hatte zweitausend Lire aus dem Fach genommen und sie dem im Schatten Wartenden hinuntergebracht, und der hatte sich ohne ein weiteres Wort fortgetrollt in die beginnende Dämmerung.
Nein, Eberhard hatte kein Geld – und gar nicht so viel, wie der junge Mann im hellen Anzug haben wollte; er hatte am Morgen seine letzten zwanzig Mark gewechselt. Es tat ihm doch etwas leid; andererseits war von der letzten Nacht her sein Widerwille gegen den Strich noch stark und heftig. »Wir gehen zurück zur Spanischen Treppe«, sagte Giorgio, und sie standen auf. Neben ihnen kamen die beiden Soldaten wieder aus den Sträuchern.
»An der Spanischen Treppe ist ein Freund von mir«, sagte Giorgio. »Vierzehn Jahre, der tut alles was du willst, und bestimmt ohne Geld.« »Ohne Geld?« fragte Eberhard, »ich denke, in Rom alle«. »Nein, will bestimmt nicht Geld!« sagte Giorgio. Aber Eberhard mochte nicht mehr; wußte der Himmel, welcher Haken wieder hinter dieser Geschichte steckte und wie düster sie am Ende aussehen würde. Seine Lust war dahin. Unter den großen dunkelgrünen Bäumen gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren; nun waren nur noch wenige Menschen unterwegs, es war still, und auch sie beide sprachen nicht mehr.
Auf der obersten Plattform der Spanischen Treppe stand eine kleine Gruppe junger Leute. Giorgio gab Eberhard die Hand. »Ciao«, sagte Eberhard. »Komm mit da rüber!« sagte Giorgio, »da ist mein Freund. Bestimmt kein Geld, vierzehn!« Aber Eberhard schüttelte freundlich lächelnd den Kopf, und Giorgio lief hinüber zu seinen Kameraden, und Eberhard ging ein letztes Mal die schöne große Treppe hinunter, die Blicke der kleinen eifrig plappernden Gruppe oben im Rücken. Irgendwo auf dem Weg zum Hotel ließ er den römischen Stadtplan durch das Gitter eines Gullydeckels in die Kanalisation fallen.
Am nächsten Tag reisten sie ab. Seine Mutter sah ins Zimmer, als er seinen Koffer packte, um nachzuschauen, ob er alles wieder hineinbekam, was er herausgeholt hatte. Draußen schien, wie alle Tage, hell und klar die Sonne. »Hast du eigentlich noch Lire?« fragte Frau Weymann. »Nein, nun bin ich abgebrannt, zwei-, dreihundert noch«, sagte Eberhard. »Was hast du denn gestern abend noch gemacht?« fragte sie. »Ah, ich war nochmal an der Spanischen Treppe«, antwortete Eberhard, »die ist ja wirklich herrlich, auch abends, und dann bin ich noch so rumgebummelt.« »Und – gefallen dir die Mädchen hier?« fragte sie mit einem verständnisvollen Lächeln weiter. »Naja –«, sagte Eberhard, »jedenfalls ist mein Geld jetzt alle.« »Es geht mich ja auch gar nichts an«, sagte seine Mutter und ging wieder hinüber, um ihre eigenen Koffer fertigzupacken.
Es war früher Nachmittag, als eine Taxe sie zum Bahnhof brachte. Noch einmal genossen sie das Bild der römischen Straßen, der gelben Häuser, der Brunnen, der Denkmäler. Vor ihnen auf der linken Straßenseite gingen Arm in Arm zwei Männer; der ältere tänzelte so und wiegte sich so in den Hüften, daß auch der Harmloseste merken mußte, wie es um ihn stand, der andere trug einen leichtem hellgrauen Anzug. Es war Giorgio.
»Sieh dir die an!« sagte Eberhard zu seiner Mutter. Frau Weymann warf einen kurzen Blick hinüber und schüttelte den Kopf. »Gräßlich!« sagte sie. »Tjaa«, sagte Eberhard, »Leute gibt es, die gibt ’s gar nicht.«
»›ICH HABE DEN GUTEN KAMPF gekämpft‹, sagt der heilige Paulus.« Der Priester hielt seinen Mund noch dichter an das hölzerne Gitter des Beichtstuhls. Hell stach das rhombisch gemusterte Viereck aus der Dunkelheit – zur Hälfte bedeckt von dem Umriß des jungen Gesichts dessen da draußen; der war siebzehn oder achtzehn. Der Priester begann zu flüstern. »Auch wir haben keine andere Aufgabe, als den guten Kampf zu kämpfen – den guten Kampf um Gott, den Kampf gegen die Einflüsterungen der dunklen Mächte, den Kampf gegen die vielfältigen Versuchungen, die an uns herangetragen werden, den Kampf gegen uns selbst. Und wir brauchen Gott selbst dazu, denn wir sind schwach. Deine Sünde ist mehr als eine gewöhnliche Schwäche, der fast jeder einmal erliegt – in deiner Sünde steckt eine tiefe Gefahr. Denn was du getan hast, ist ja nicht einfach unkeusch – es ist eine Unkeuschheit gegen die Natur.« Der Priester sprach noch leiser. »Das Geschlecht des Mannes ist ja von Gott auf das der Frau hingeordnet wie das der Frau auf das männliche, darin findet es seinen Sinn. ›Gehet hin und mehret euch‹ – die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau ist nicht nur eine Sache zwischen ihnen beiden, sondern dient zugleich dem Plan Gottes, der möglichst viele Menschen zum Heil führen will. Der geschlechtliche Umgang zwischen Männern aber ist schlechthin Unnatur – er ist nicht nur Unordnung, sondern ein regelrechter Widerspruch gegen die göttliche Ordnung, er ist seinem Wesen nach unnatürlich, ja eben widernatürlich. Nicht umsonst wird solches Treiben allgemein so verachtet – es ist der Widerwille gegen die Unnatur, der sich da auch in solchen Seelen noch regt, die sonst der christlichen Moral gleichgültig gegenüberstehen. Hast du keine Freundin?« »Nein«, flüsterte das Gesicht hinter dem Gitter. »Das wäre aber das Allerwichtigste für dich«, sagte der Priester. »Denn nachdem du dich schon mal auf solche Sachen eingelassen hast, wie du sie jetzt beichtest, besteht die große Gefahr, daß sich sowas eines Tages verfestigt, und vielleicht ahnst du, wie schrecklich das wäre – für dich, für deine Eltern, und vor allem: für dein religiöses Leben, für deine Beziehung zu Gott.« Der junge Mann draußen nickte stumm. Dem Priester fiel ein, wie lange er schon sprach, und es warteten so viele in den Bänken, und er begann von neuem: »Du mußt dich mal ganz ernsthaft bemühen, solche Gedanken und Vorstellungen und Versuchungen abzuwehren, alle Gelegenheiten zu meiden und, im Gegenteil, mit Mädchen zusammenzukommen – hier in der Katholischen Jugend oder sonst in einem Club, einem Sportverein oder sowas. Und das sollst du tun, weil Gott es in dieser Situation von dir erwartet. ›Ich habe den guten Kampf gekämpft‹ – dein guter Kampf muß nun erstmal auf diesem Gebiet ausgefochten werden. Und wenn du Gott darum bittest, wird Gott dir helfen, daß du siegst. ›Die Kraft Gottes kommt in der Schwachheit zur Vollendung‹ – du mußt diese Schwachheit Gott anvertrauen, in aller Demut und aller Hoffnung, damit du in Seiner Kraft das überwindest, was dir jetzt zu schaffen macht. Zur Buße betest du einen Kreuzweg.« Der Junge flüsterte: »Danke«, und mit einem großen Kreuzzeichen erteilte der Priester ihm die Absolution.
Das rhombisch gemusterte Viereck wurde frei. Der Priester seufzte tief auf, und es war ein Seufzer zu Gott. Dann wandte er sich nach links und hielt sein Ohr einem neuen Bekenntnis entgegen.
Der junge Mann kniete in einer Bank und dankte Gott und bat ihn, er möge ihn aus der Verirrung heimführen.
DASS DIE SACHE zwischen Konstantin, dem syrischen Chemiestudenten, und Herbert Grasegger, dem zweiten Sohn des großen Modehauses, aus war, wußte ungefähr die Hälfte aller Gäste im Monokel. Denn Konstantin kannte dort jeden zweiten, und jedem, den er kannte, erzählte er, daß die Sache mit Herbert aus sei, endgültig aus sei. »Er hat sich zu gemein benommen, eklig gemein. Das hab ich nie gedacht, ist so gemein zu mir gewesen!«
Manche wollten wissen, Herbert habe sich entschlossen zu heiraten – teils seiner Eltern wegen, die ihn endlich zu einem soliden Teilhaber der Firma machen wollten, teils weil ihm eine gute Partie geboten wurde, teils weil ihm das Mädchen angeblich gefiel. »Das möcht ich sehn – der und verheiratet! Die muß ihn ja betrunken machen, wenn sie ihn mal vornerein haben will statt hinten!« »Hoffentlich stellt sie wenigstens ’nen netten Diener für ihn an! Mit dem Chauffeur der Firma hat er ’s ja wohl auch – eh, eh, Konstantin, dieser Grasegger-Chauffeur mit den Pickeln und so ’nem süßen Arsch, mit dem hat der Herbert doch auch mal, hab die beiden doch neulich gesehen!« »Der mit der Himmelfahrtsnase? Den sieht man doch sonst immer mit Weibern, der ist nicht schwul.« »Da ist der viel zu dumm für!« »Hat aber keine schlechte Figur, den würd ich auch ins Bett nehmen, der hat sicher so ’n Ding!« »Ich denk, Pickel hat er!« »Ach was, Pickel – wenn er am Arsch keine Pickel hat, ist mir das egal!« »Dir? Weißte noch, was du gestern von Uwe gesagt hast? Bist doch sonst so fein!« »Mit so ’ner Zicke wie der schlaf ich überhaupt nicht, ob mit Pickeln oder ohne. Bleib mir vom Hals mit diesem Uwe!« »Ist ja auch egal, er ist mit seinem Erich auch gut versorgt!« »Der Erich? Die haben nix miteinander, der Erich ist doch hinter diesem Arzt mit dem Porsche her!«