Zeit zu handeln - Ulrich Wickert - E-Book

Zeit zu handeln E-Book

Ulrich Wickert

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ulrich Wickert stellt die Grundsatzfrage: Wann haben Werte in unserer Gesellschaft einen Wert? Es ist Zeit zu handeln. Mehr als 60 Jahre nach dem Bekenntnis zur Demokratie wächst in den letzten Jahren bei vielen Menschen das Unbehagen, weil sie glauben, die Orientierung zu verlieren. Die Angst gegenüber allem vermeintlich Fremden nimmt ebenso zu wie die globale Verunsicherung angesichts der stetig wachsenden Zahl von Möglichkeiten, unter denen es auszuwählen und zu entscheiden gilt. Welche Maßstäbe gelten der Gemeinschaft als Richtlinien? Wie lassen sich ethische Werte wie Zivilcourage, Toleranz, Gerechtigkeit oder Solidarität mit Inhalt füllen? Und können bei zunehmender Individualisierung althergebrachte Tugenden wie Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein noch sinnstiftend auf eine moderne zivile Gesellschaft wirken? Ulrich Wickert gibt anhand zahlreicher Beispiele eine Zustandsbeschreibung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Er versucht, Werte und ihre Rolle in der Gesellschaft so zu definieren, dass sich Einzelinteressen und der Sinn für die kollektive Identität gleichermaßen verwirklichen lassen. Viele Bürger sind davon überzeugt, dass es Zeit ist, selbst zu handeln. Und Ulrich Wickert gibt Denkanstöße, um den Werten wieder einen Wert zu geben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 261

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ulrich Wickert

Zeit zu Handeln

Den Werten einen Wert geben

Hoffmann und Campe Verlag

Für Calixt, Alix, Friedrich, Catharina

Vorwort: Zeit zu handeln

Es ist Zeit zu handeln. Das klingt einfach, ist es aber nicht. In den vergangenen Jahren hat sich das Unbehagen an der Entwicklung der Gesellschaft ausgeweitet. Zahlreiche Abhandlungen sind erschienen, die nach den Gründen dafür suchen. Häufig ist von Wertekrise die Rede, und in Diskussionen nicken alle betroffen und fragen: »Wer tut denn jetzt was?« Derjenige, der über das Unbehagen spricht, der erklärt, wie man den Werten wieder einen Wert geben kann – und weshalb das notwendig ist –, der könnte doch etwas tun …

»Wir unterstützen Sie auch dabei«, wird ihm wohlwollend versichert. Aber wenn die Antwort lautet, sie mögen nicht auf einen Heiland warten, der sie aus dem Jammertal führt, sondern jeder müsse selbst Hand anlegen, zeigen sich die Gutmeinenden bestürzt. Vielleicht würde der eine oder andere tatsächlich gern etwas unternehmen. Nur: wie und wo?

Als im Herbst 2000 ein Molotow-Cocktail gegen die Synagoge von Düsseldorf geworfen wurde, zeigte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder empört, reiste sofort an, um den Juden in Deutschland sein Mitgefühl zu bekunden, und forderte zum »Aufstand der Anständigen« auf. Dieses Wort machte Karriere, sodass mit diesem Leitspruch in einer Anzeige in der Zeit unter der Rubrik »Verschiedenes« sogar gastfreundliche Familien für russische Schüler gesucht wurden. Wozu aber sollen die Anständigen aufstehen? Gefragt ist Anstand, der auf die Umgebung abfärbt, der Verhalten ändert und von Dauer ist. Es reicht nicht, gemeinsam in so großer Zahl wie nur möglich Lichterketten zu bilden oder gegen Rassismus zu demonstrieren. In der großen Masse ist es einfach, mal für ein paar Stunden anständig zu sein. Schwer ist es, dies im Alltag so zu bleiben, dass sich daraus eine Wirkung auf die Umgebung ergibt.

Das Ziel lässt sich also scheinbar einfach beschreiben. Der Soziologentag 2000 in Köln hatte es sogar zu seinem Generalthema gemacht: »Die gute Gesellschaft.« Das klingt simpel, ist es aber auch wieder nicht. Denn »gut« ist ein zu ungenauer Begriff, der erst einmal definiert werden muss.

Vor das Handeln gehört das Nachdenken. Denn ohne Orientierung, ohne Überlegung wird kein Ziel zu erreichen sein, bleibt jegliches Handeln ziemlich wahllos. Wer handeln will, sollte sich freimachen von äußeren Ablenkungen, von Tabus und Blockaden. Orientierung findet nämlich nur, wer nicht durch Ängste gebremst wird. Die Angst aber geht um, weil sich bange Fragen häufen, während die Antworten unbefriedigend bleiben. Was wird aus der Gesellschaft, in der Werte keinen Wert mehr haben? Was geschieht in Forschung und Technik? Wie sieht die Zukunft aus? Und wer werden wir sein?

Wer sich über Problemlösungen und Zukunftskonzepte klar werden will, muss sich zunächst einmal über die Befindlichkeit unserer Gesellschaft informieren. Nach dem Motto: Voraussetzung für Denken ist Wissen um den Ausgangspunkt. So gilt es zu untersuchen, was die Orientierungslosigkeit bewirkt und wie Ängste unser Denken fehlleiten. Dann sollten Begriffe wieder auf ihren ursprünglichen Sinn hin untersucht werden. Denn ihre unrichtige Anwendung lenkt vom Ziel ab. So wurden die Besucher des Zürcher Schauspielhauses kürzlich aufgefordert, »aus Solidarität mit den Schauspielern auf der Bühne«[1] vom Konsum alkoholischer Getränke im Zuschauerraum abzusehen. Das Wort »Solidarität« verströmt einen gewissen Wohlklang, war hier aber fehl am Platz. Aus »Rücksicht« auf die Schauspieler sollen sich die Besucher mitteleuropäisch zivilisiert verhalten. Doch Rücksicht erschiene altertümlich – ähnlich wie Höflichkeit. Und so geht es mit vielem. Wörter wie »Pflicht«, »Gehorsam« oder »Autorität« jagen heute fast jedem Schauder über den Rücken, weil sie zu sehr an das Nazi-Reich oder »nur« an den alten Preußenkönig erinnern. Von ihrem geschichtlichen Ballast befreit und auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt, beginnen sie wieder so zu wirken, dass sie Elemente einer »guten« Gesellschaft sein können.

Wie merkwürdig die Zeiten sich wandeln, haben die Soziologen auf ihrem Treffen zur »guten Gesellschaft« selbst belegt, indem sie zum ersten Mal in der Geschichte ihres Fachs einen Preis »für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit« vergeben haben. Das mutet an, als nähme niemand mehr die Gesellschaft, geschweige denn die »gute Gesellschaft« wahr, weil das Individuum zum Götzen erhoben wurde. Das Individuum aber befindet sich in einem Zwiespalt. Es möchte allein sein und benötigt dennoch einen Halt, den es nur in der Gemeinschaft gibt. Den Exzess der gewollten und trotzdem als quälend empfundenen Individualisierung stellt die Zeitgeist-Figur Paprika in Else Buschheuers Roman »Ruf!Mich!An!«[2] dar. Bloß keine Beziehung zur Gemeinschaft, in der man aber wohnt – wohnen muss! Da wird individuelles Handeln zum hektischen Selbstzweck.

Das Ziel ist bekannt, doch das Umfeld verändert sich ständig. Deshalb benötigt der Handelnde Orientierungshilfen: Maßstäbe, die eine Richtung vorgeben. Vor 2500 Jahren haben griechische Philosophen dies als Werte und Tugenden bezeichnet. Auch heutzutage sind Tugenden wieder modern. Doch wer weiß schon, was Tugenden sind? Zeitweise wurden sie als verstaubt angesehen, weil fälschlicherweise »Keuschheit« als Tugend galt, was sie nicht ist, während man Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität gering schätzte. Und was sind schon Werte? Etwa Schönheit, Reichtum oder Modernität? Keineswegs. Dafür aber Freiheit, Zivilcourage oder Verantwortungsbewusstsein. Es ist Zeit, den Werten ihren ethischen Stellenwert wiederzugeben, denn nur so ist es sinnvoll, nach ihnen zu handeln.

Haben die ethischen Werte in der Gesellschaft aber erst wieder an Gewicht gewonnen, dann heißt »Handeln« auch, die gewonnene Erkenntnis weiterzugeben, damit die nachwachsenden Generationen befähigt werden, ein moralisches und soziales Leben zu führen. Kinder werden als asoziale und egoistische Wesen geboren. Die Werte der Zivilisation, die des Menschen Gemeinschaft von der Horde unterscheidet, müssen ihnen erst nach und nach vermittelt werden. Das ist Aufgabe der Erziehung.

Es ist wirklich Zeit zu handeln. Nur, wie gesagt, das klingt einfach, ist es aber nicht.

Kapitel 1Werte in Zeiten abrupten Wandels

Zum Zustand unserer Gesellschaft

Von der Hysterie eines verwöhnten Volkes

»Was frisst die Europäer auf? Killer-Cornflakes.« Mit dieser Schlagzeile machte sich die International Herald Tribune auf ihrer ersten Seite lustig über das, was die Bewohner des alten Kontinents plagt. Voller Ironie vermerkt T. R. Reid: »Eine Schale Cornflakes kann dich umbringen – nicht zu reden von einem Schinkenbrot oder einem T-bone-Steak. Geimpft werden kann dich umbringen. Economy Class fliegen kann dich umbringen, und Business Class ist auch nicht viel besser. Das Gummi-Entchen im Bad kann dich (und deine Kinder) umbringen. Und leg ja das Handy weg, bevor es dich umbringt!«[3]

Es ist nur wenige Jahrzehnte her, da galten die Amerikaner den Europäern als Hygiene-Hysteriker, die sich nach jedem Handschlag die Finger desinfizierten und sich vor einer Reise nach Deutschland zum Beispiel fragten, ob man Wasser dort ohne Seuchengefahr trinken könne. Jetzt wundern sich die immer noch gesundheitsbewussten Amerikaner – von ihnen stammen immerhin der Jogging-Wahn und Health-food – über die Zukunftsängste der Europäer. Ja, die Amerikaner erkennen in der Alten Welt plötzlich eine Kultur der Angst, die eine Mischung aus echten Gesundheitsproblemen, Trends in der Umweltzerstörung, Antiamerikanismus und Pessimismus darstellt.

»Es ist eine Frage der Gefühlslage«, meint Mart Saarma, Biologe am Helsinki-Institut für Biotechnologie. »Die Amerikaner scheinen pragmatisch mit neuen Ideen und Erfindungen umzugehen. Die Europäer neigen dazu, sich zu sorgen. Das führt zum Verlangen, immer auf der sicheren Seite zu sein, bis etwas Neues als absolut ungefährlich bewiesen ist.«[4]

Amerikaner und Kanadier nehmen täglich genmanipulierte Produkte zu sich: Mais, Sojabohnen und andere Lebensmittel. Eine Studie der National Academy of Sciences hat festgestellt, dass diese neuen Arten nicht anders sind als die traditionellen. Aber als im Frühjahr 2000 eine für europäische Landwirte bestimmte Samenlieferung aus Kanada versehentlich einen geringen Anteil – weniger als ein Prozent – genmanipulierter Samen enthielt, warnten die europäischen Medien vor »Ansteckung« und »Vergiftung«.

Auf der Suche nach einer Erklärung für das unterschiedliche Verhalten von Europäern und Amerikanern folgert Philip Lader, US-Botschafter in London: »Nur noch fünfzehn Prozent der Bevölkerung gehen zur Kirche …«, und dies könnte ein »menschliches Bedürfnis nach anderen überlebensgroßen Zielen auslösen. Vielleicht hat es mit dem beinah religiösen Eifer der Gegnerschaft zu genmanipuliertem Essen zu tun.«

Diese Erklärung mag erstaunen, aber so ganz falsch ist sie nicht. In jenen Zeiten, in denen Glauben vor Wissen kam, fiel es dem Menschen leichter, in die Zukunft zu schauen. Nach dem Motto: »Der Herr wird’s schon richten.« Mit der Ablösung der Religion als Sinnstifter überfielen den Menschen Zweifel. Was ist richtig, was falsch? Und je komplizierter die Welt wird, desto undurchschaubarer erscheint die Gegenwart – und erst recht die Zukunft, in der die Ursachen für unsere Ängste verborgen liegen. Zwar herrscht in Europa ein Wohlstand, wie es ihn in der Geschichte dieses Erdteils noch nie gegeben hat. Auch waren die Güter noch nie so gleichmäßig verteilt wie zu Beginn des dritten Jahrtausends. Noch nie waren Kriege, Seuchen, Hungersnöte oder auch Zwang, Unterdrückung und Diktatur so fern von jeder Wirklichkeit wie jetzt. Und dennoch herrscht Angst vor der Zukunft.

Das Leben scheint immer weniger überschaubar. Und das beginnt, wo es besonders erfahrbar und deshalb äußerst bedrohlich ist, zunächst in der eigenen Umgebung. Plötzlich ist das eigene Auto in einem gutbürgerlichen Wohnviertel aufgebrochen worden; oder eine Mitarbeiterin erzählt noch unter Schock, drei »Glatzen« hätten ihr Auto stehlen wollen, die Wegfahrsperre jedoch nicht knacken können und deshalb den Wagen zu Schrott getreten. Plötzlich erfährt man nicht aus der Lokalzeitung, sondern von einem Bekannten, dass er in der S-Bahn zusammengeschlagen worden ist, oder von der Mutter eines Schülers, dass ihr Sohn mit Schlüsselbeinbruch im Krankenhaus liegt, weil ein Mitschüler ihm seine modische Jacke wegnehmen wollte.

Widersprüche, die man nicht so einfach klären kann, nehmen zu. So wird ein »neues Gründerzeitalter« proklamiert, weil dem Internet die gleiche Bedeutung beigemessen wird wie der Stahlindustrie im 19. Jahrhundert. Damals wurde der technische Wandel zur Grundlage für Wohlstand und Reichtum in der westlichen Industriewelt. Und heute …? Mit Hilfe von Aktienverkäufen entstehen Hunderte Unternehmen der New Economy, für die es keinen deutschen Begriff mehr gibt. Was auch nicht mehr notwendig erscheint, da das Internet Englisch spricht. Und die Börsenkurse, die wie Lotto-, nein, wie Roulettegewinne anmuten, ziehen immer mehr Menschen aller Schichten in ihren Bann. Die Banken spielen dabei eine unselige Rolle, denn ihnen geht es nicht in erster Linie um die Solidität der verkauften Aktien, sondern um den Gewinn, den sie damit machen. Aber das erfahren die wenigsten Kleinanleger. Es dauerte auch nicht lange, da ordnete sich die Welt wieder: Die aufgeblähten Phantasiepreise der Internet-Aktien stürzten ins Bodenlose. Die meisten der modernen »Roulettespieler« nahmen ihre Verluste leise weinend hin; denn wer zuvor monatelang lauthals mit einer Kurssteigerung nach der anderen angegeben hatte, der wollte nun die Blamage nicht zugeben. Doch auch wer keine dieser Aktien mit Luftkursen besitzt, fühlt sich verunsichert, denn er kann der Klage über den Verfall nicht entgehen, weil die Medien voll davon sind.

Ohnehin bringen die Medien häufig Missbehagen ins Haus. Nachdem die Meinungsmacher nicht wissen, ob nun eine neue Eiszeit oder eine Klimaerwärmung droht, zitieren sie Wissenschaftler, die vor einem generellen Temperaturanstieg warnen. Deiche müssten erhöht werden, heißt es, weil das Meer flache Küsten gefährde. Der einzelne Bürger fühlt sich angesichts eines solchen Szenarios hilflos, denn selbst die Regierungsbeteiligung der Umweltpartei führte zu keinem politischen Umdenken. Immer verwirrender werden die Zeiten. Dinge geschehen, die man weder dulden noch erdulden möchte. Doch es fehlen die Mittel oder Leitlinien, die dem Bürger die Möglichkeit gäben, dagegen anzugehen.

Wut kommt auf angesichts von Brandanschlägen auf Häuser, in denen Ausländer wohnen, oder der Zunahme des Rechtsextremismus: Junge Menschen erschlagen Ausländer, treten sozial Schwache tot. Doch die öffentliche Betroffenheit lässt die Medien über die Stränge schlagen. Die monatelang nicht aufgeklärte Explosion einer Granate in einer Gruppe zum Teil jüdischer Russlanddeutscher wurde zum Anschlag von Rechtsextremen, ohne dass ein Beweis dafür erbracht worden wäre. Der vermeintlich von Rechtsextremen begangene Mord an dem Kind Joseph im ostdeutschen Sebnitz wurde von der Justiz durch die vorübergehende Verhaftung von drei Jugendlichen und durch die besonders unkontrollierte Berichterstattung einiger Zeitungen zu einem nationalen Trauerspiel.

Und dann sagen uns Wissenschaftler: »Die Brandanschläge und Menschenjagden sind aber nicht bloß gemein motivierte neofaschistische Verbrechen, die aus einer brisanten Mischung aus politischen Gründen und individuellen Motiven begangen werden, sondern identitätsstiftende Aktionen, die mit symbolischer Bedeutung aufgeladen sind.«[5]

Die Gewalttat – bis hin zum Mord – schafft Identität und Selbstbewusstsein? Doch auch das Handy oder Klamotten mit Modemarke schaffen Identität. Es kommt nur darauf an, welcher Gesellschaftsschicht der Jugendliche entstammt. Schüler spielen auf dem Schulhof, nur einer darf nicht mitmachen. Das gehöre zum Alltag, meint Ilona Wilhelm, Lehrerin und stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Hamburg: »Mitschüler, die keine Markenkleidung tragen, werden beschimpft und ausgegrenzt. Das ist die unterste Form von Mobbing.«[6]

Junge Menschen erkennen im Allgemeinen nicht den Widerspruch, der darin besteht, Individualität, die jeweils etwas ganz Eigenes, Besonderes ist, erreichen zu wollen mit Hilfe von Massenartikeln aus der Mode, deren Besitzwert durch die Werbung hergestellt wird; eine Werbung, die funktioniert, indem sie ganz gewöhnliche Produkte zu Statussymbolen erhebt. Diese Symbole stellen den Besitzer über die anderen, erhöhen ihn, und damit ist er »wer«. Gerade in der Zeit der Pubertät, wenn Jugendliche ihre Persönlichkeit entwickeln, danach suchen, wer sie sind, und ihre Stellung in der Gesellschaft ertasten, messen sie ihre Persönlichkeit am Besitz von Wertgegenständen, nicht aber an gesellschaftlichen Werten. Und wer über wenig Selbstbewusstsein verfügt, der fühlt sich besonders schnell verunsichert und folgt dem Gruppendruck. Damit niemand glaubt, die Eltern könnten sich Designer-Klamotten für ihren Sprössling nicht leisten, beugen sie sich erst recht dem Modezwang. Nun erfinden allerdings Kinder den Konsumzwang nicht, sondern er wird ihnen von den auch an mangelndem Selbstbewusstsein leidenden Eltern weitergegeben.

Die Verwirrung nimmt überall zu: sei es im Verhalten von Vorbildern oder staatlichen Einrichtungen, das uns noch ausführlich beschäftigen wird, sei es bei den von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien vermittelten Leitlinien, auf die wir ebenfalls zurückkommen, sei es in der Sprache, sei es bei der Definition von Werten.

Ein eklatantes Beispiel: Für fast alle Beteiligten war die Diskussion um die Versenkung der Ölplattform »Brent Spar« äußerst peinlich. Nur hat das im Nachhinein kaum mehr jemand wahrgenommen. Greenpeace war von einer falschen Voraussetzung ausgegangen; die damalige Umweltministerin Angela Merkel stimmte in den Chor der öffentlichen Empörung ein und schrieb der britischen Regierung einen bitterbösen Brief; sogar Bundeskanzler Helmut Kohl nahm gegen eine Versenkung Stellung, obwohl er die Tatsachen nicht kannte. Denn wer sie kannte, der konnte nichts gegen die Versenkung haben. Ein Millionenschaden entstand.

Auch in der BSE-Krise haben Vorbilder, in diesem Fall hauptsächlich die agierenden Politiker, versagt, sodass Der Spiegel[7] sich zu einer Titelgeschichte veranlasst sah, die Deutschland als »hysterische Republik« zeichnete. Aber wer es wagte, sich zum Kritiker der BSE-Hysterie aufzuschwingen, der sah sich bösen Kommentaren ausgesetzt. Mit großen Vorschusslorbeeren wurde die neue Ministerin Renate Künast, zuständig für Verbraucherfragen und Landwirtschaft, bedacht, weil sie so sachlich zu sprechen schien. Dann stimmte sie der Tötung von 400000 Rindern zu, was eine reine Marktbereinigung war und mit Fragen der Gesundheit nichts zu tun hatte. Frau Künast aber sagte, und vermutlich war sie auch davon überzeugt, die Rinder müssten getötet werden, um das Vertrauen der Verbraucher in Rindfleisch wieder herzustellen. Diese Argumentation war zumindest fehlerhaft. Vertrauen hätte nur eine umfassende Information geschaffen, wonach dem Bürger klar gemacht worden wäre, dass es keineswegs gefährlich ist, Fleisch von den Muskelpartien des Rinds zu essen. An den Folgen von BSE ist in Deutschland – soweit bekannt – noch kein Mensch erkrankt. Jährlich sterben aber sechzig bis achtzig Menschen an Salmonellen, die über verschmutzte Eier übertragen werden. Und das wird hingenommen, ohne dass es auch nur die geringste nationale Aufregung gäbe.

Die plötzlich ausgebrochene Maul- und Klauenseuche potenzierte die Ängste der europäischen Konsumenten, obwohl diese Krankheit bei Tieren wie eine Grippe verläuft und für den Menschen unschädlich ist. Aber die Politiker verschweigen die wahren Gründe für das, was geschieht. Früher wurden Tiere gegen die Maul- und Klauenseuche geimpft. Geimpfte Tiere waren allerdings außerhalb Europas nicht mehr zu verkaufen. Deshalb wurde die Pflicht aufgehoben. Die Vernichtung der Tiere nach Ausbruch der Krankheit hatte mit gesundheitlichen Gefahren also nichts zu tun, sondern war wieder eine Frage des Marktes. Aber dies getraute sich niemand zuzugeben.

Stattdessen konnten die Populisten ihr gutes Herz beweisen. Volkes Stimme war gegen die sinnlose Vernichtung von 400000 Rindern und forderte, ein Teil des Fleisches solle der hungernden Bevölkerung in Nordkorea zugute kommen. Experten und Politiker waren zunächst dagegen, weil sich in den vergangenen Jahren erwiesen hatte, dass einmalige Hilfe wie die hier geplante Aktion gegen den Hunger die Lage in Nordkorea langfristig eher verschlechtern würde.

»Es reicht nicht, Nahrungsmittel zu schicken, wenn die Krankenhäuser keine Arzneimittel haben und das Wasser verseucht ist«[8], zitierte Der Spiegel David Morton, den Uno-Koordinator im nordkoreanischen Pjöngjang.

Trotzdem richtete sich die Politik nicht nach dem Rat der Experten, sondern nach den Ängsten und dem Druck der diffusen Öffentlichkeit. Entwicklungsministerin Heidi Wieczorek-Zeul machte eine Kehrtwende in ihrer Argumentation und konnte sich plötzlich eine »einmalige Aktion« vorstellen, »wenn alle Konditionen erfüllt werden«. Und auch Verbraucherministerin Renate Künast schwenkte um und dachte laut über eine »erste Probelieferung« nach. Den Ton hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgegeben, der im Kabinett verkündet hatte, man könne nicht umhin, etwas zu unternehmen, »das ist sonst nicht zu erklären«.

Die Angewohnheit, der Angst des Volkes nach dem Mund zu reden, steigert die Orientierungslosigkeit des Bürgers und potenziert die Hysterie. Aber alle machen mit. Besonders, wenn es um neue Techniken oder Forschungsergebnisse geht. Was Aldous Huxley in »Schöne neue Welt« als Utopie darstellt, nämlich das Klonen von Menschen je nach Bedarf des tyrannischen Staates, scheint plötzlich die Literatur verlassen zu haben und Wirklichkeit zu werden, weil Forscher das menschliche Genom entziffert haben. An der Grundlagenarbeit hatten die Deutschen selbst wenig Anteil, weil sie aus historischen Gründen Angst vor der Genforschung haben, doch in der öffentlichen Diskussion wurde flugs ein die Ängste bestätigendes Zerrbild gezeichnet, was die Nobelpreisträgerin und Genforscherin Christiane Nüsslein-Volhard zu der Bemerkung veranlasste: »Alle reden vom Genom. Und die allermeisten wissen nicht, was es damit auf sich hat … Ethiker, Politiker, Theologen und Philosophen heben den Zeigefinger und mahnen an, dass schleunigst zu überlegen sei, was wir (die Menschheit) denn eigentlich wollen, und vor allem, dass den Forschern Schranken zu setzen seien, bevor sie Fürchterliches anstellen.«[9]

Diffuse Zukunftsängste

Jeder kann im täglichen Leben selbst beobachten, wie Angst und Furcht zu Fehlverhalten verleiten. Da fürchten wir uns nicht nur vor dem Zahnarzt, sondern auch vor dem Telefon, vor technischen Neuheiten wie Handy mit SMS und Internet mit E-Mail und all den anderen ungeahnten Möglichkeiten. In einer Gesellschaft, in der die aktive Jugend verherrlicht wird, wo inzwischen schon Substanzen gespritzt werden, damit nicht nur Falten verschwinden, sondern auch die Handflächen nicht mehr schwitzen, scheint die Furcht, nicht »in« zu sein und zu altern, berechtigt. In der Furcht, alt zu werden, leben Frauen, die das von den Medien und der Werbung geforderte jugendliche Schönheitsideal an sich selbst mit Operationen erhalten oder erst herstellen wollen. Das alles sind Ängste, über die wir – obwohl selbst betroffen – immer noch ironisch lächeln, wenn in der Gesellschaft darüber gesprochen wird.

Aber die in der International Herald Tribune so zynisch dargestellte Angst der Europäer vor den »Killer-Cornflakes« spricht von Lebensangst. Sie wohnt jedem Menschen inne, ohne dass eine äußere Bedrohung auf ihn einwirkt. Es ist eine Angst vor dem Nichts, vor der Sinnlosigkeit, vor Schuld und Sühne.

»Eine vielleicht noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen«[10], so beschreibt der Philosoph Karl Jaspers die geistige Situation der Zeit. Allerdings ist Angst ein vorwiegend europäisches Phänomen, wenn nicht gar ein deutsches. Denn das deutsche Wort »Angst« ist einer der wenigen Begriffe, die in den internationalen Sprachschatz eingegangen sind.

Als das Jahr 2000 anstand, wurde so viel über das neue Millennium geredet und geschrieben, dass der Eindruck erweckt wurde, ein völlig neues Zeitalter habe begonnen. Wie es aussehen würde, das erklärten viele lauthals, aber wenig glaubwürdig. Es entstand eine unnötige Verunsicherung. Zwar geht von dem Wort »Zukunft« immer ein großer Zauber aus, weil jeder neugierig auf das ist, was kommt. Aber weil darauf niemand eine plausible Antwort geben kann, entstand im Hinblick auf den Jahrtausendwechsel ein diffuses Gefühl der Unsicherheit. Scharlatane kündigten einen Aufbruch an, ohne inhaltliche Vorgaben oder brauchbare Prognosen – nicht einmal für die nächsten zehn Jahre – zu haben. So standen, ja stehen Bürger hilflos vor der Frage nach dem, was sie erwartet. Und weil sie nichts wissen, haben sie eher Angst denn Zuversicht.

In einer Untersuchung stellte Renate Köcher vom Allensbacher Institut fest: »In zehn Jahren – davon ist die überwältigende Mehrheit überzeugt – ist die Gesellschaft kälter und egoistischer, die Arbeitslosigkeit höher und die Zukunft unsicherer als heute … 71 Prozent der Bevölkerung sehen Egoismus und Rücksichtslosigkeit auf dem Vormarsch; 61 Prozent erwarten, dass die Kalkulierbarkeit der Zukunft immer mehr schwindet …«[11]

Wissen ist die Voraussetzung für Denken und zielgerichtetes Handeln. Nicht-Wissen kann in Zeiten des Umbruchs, und sei er auch nur vermutet, Angst auslösen. Angst ist ein stärkeres Phänomen als Furcht. Die Furcht vor Krebs, Genmanipulation oder unkontrollierbaren Erfindungen der Technik – vorneweg der Atomtechnik – wiegt schwer und führt den Menschen zu politischen Aktionen: Bürgerinitiativen gegen Atomkraftwerke hatten immerhin die Gründung der »Grünen« als Partei zur Folge.

Furcht unterscheidet sich von Angst dadurch, dass sie sich gegen etwas Bestimmtes richtet: Man fürchtet sich etwa vor dem bösen Wolf. Angst hingegen hat kein festes Objekt. Man will den dunklen Wald nicht allein durchqueren, weil man Angst hat. Im Sprachgebrauch wird dieser Unterschied häufig verwischt. Furcht kann auch leicht in Angst umschlagen.

»Furcht hat ein bestimmtes Objekt, vor dem man fliehen kann, das man ertragen oder angreifen kann, um es zu beseitigen«, schreibt Friedrich Panse. »Abwehr oder Flucht können die Furcht sozusagen auflösen; ist dieser Ausweg aber versperrt, wird der von der Bedrohung ausgehende Eindruck in Angst umgesetzt.«[12]

Was Angst auslösen kann, wird immer wieder an dem berühmt gewordenen Beispiel der New Yorker Massenpanik von 1938 dargestellt. An einem Sonntagabend strahlten 92 Rundfunkstationen ein Hörspiel von Orson Welles aus, dessen Handlung auf den Roman »War of the Worlds« von H. G. Wells basierte. In der Form einer aktuellen Reportage wurde die Landung von Marsmenschen südlich von New York gemeldet. Millionen von Radiohörern verstanden die – als Hörspiel angekündigte – Sendung als Tatsachenbericht und verließen fluchtartig die Stadt.

Andere Beispiele aus der Geschichte sind bekannt, etwa die »grande peur« in Frankreich (1789, kurz vor dem Sturm auf die Bastille). In verschiedenen Ortschaften tauchten Gerüchte von einer anrückenden deutschen, spanischen, englischen oder polnischen Armee auf, woraufhin Pfarrer die Sturmglocke läuten ließen, Frauen und Kinder in die Wälder geschickt wurden und die bewaffnete Bürgerschaft dem vermeintlichen Feind entgegenzog – der unauffindbar blieb.

In Zeiten der elektronischen Medien kann Beruhigendes in wenigen Minuten mitgeteilt werden. Angst kann aber auch entstehen durch ausschnittweise verabreichte Informationen, die am Ende ein falsches Bild von der Wirklichkeit ergeben. Ja, die Gesellschaft kann Zwänge aufbauen, die so stark sind, dass der Einzelne versucht, ihnen zu folgen, aus Angst, sonst nicht das Richtige zu tun, obwohl seine Handlung in striktem Gegensatz zu den eigenen Wünschen steht.

Der Mensch folgt Zwängen, weil Angst ihn am Nachdenken hindert. So nimmt der Verängstigte eine Angst einflößende Meldung – wie »Die Marsmenschen sind gelandet« – als Tatsache hin und handelt entsprechend unvernünftig. Statt besonnen zu überlegen, aßen bei der New Yorker Panik Familien ihre Vorräte auf, packten das Nötigste ein, beteten und flohen. So wirkt Angst als Denkhemmung und schaltet die Vernunft aus.

Ängste können wie die »grande peur« oder wie in New York momentan entstehen und sich wieder auflösen. Sie können aber auch so grundsätzlicher Natur sein, dass sie Teil der nationalen Identität werden und als Zivilisationsangst das Verhalten eines ganzen Volkes beeinflussen. Wenn Amerikaner sich über die Angst vor »Killer-Cornflakes« lustig machen und ihnen Deutschland als »hysterische Republik« erscheint, dann liegt das unter anderem auch am Unterbewusstsein oder mangelnden Selbstbewusstsein der Deutschen. Besonders die jüngeren Generationen, die den Faschismus und die Nazi-Diktatur nicht miterlebt haben und dennoch mit den Untaten der Deutschen im Dritten Reich – der Vernichtung der Juden, Roma und Sinti und anderer – belastet werden, reagieren mit kaum kontrollierbarer Unsicherheit, mit Abwehr und Komplexen.

»Wenn die Mehrheit der damals lebenden Deutschen pflichtbewusst für einen verbrecherischen Staat in den Krieg gegangen ist – einige sogar mit Begeisterung für Heldentum – und seine Befehle bis zuletzt befolgt hat«, fragt sich Helmut Schmidt, »muss ich dann nicht Angst haben vor diesem und jedem anderen deutschen Staat?«[13]

Verunsicherung, wohin man blickt

Wer die Zukunft richtig einschätzen will, muss die politischen, wirtschaftlichen und auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kennen. Doch es hapert allenthalben an der Vermittlung sowohl durch die Politik als auch durch die Massenmedien, wo ernsthafte Entwicklungen überdeckt werden von der ausführlich dargestellten Banalität der Spaßgesellschaft.

In Deutschland haben die politischen Parteien über Jahrzehnte hinweg die Debatte belebt, sich darum gestritten, wie die Werte Solidarität, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit ausgelegt werden sollten. Noch zu seinem Amtsantritt 1982 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl eine geistig-moralische Wende angekündigt, die dann allerdings ausblieb. Zwanzig Jahre später weiß der Bürger zeitweise nicht mehr, ob die SPD oder die CDU sich stärker für die soziale Gerechtigkeit verantwortlich fühlt, was den verschiedenen politischen Gruppierungen Solidarität noch bedeutet oder aber die Freiheit des Unternehmers. Nach den Vorstellungen der Deutschen fordert eine menschliche Gesellschaft vor allem soziale Gerechtigkeit, einen funktionierenden Generationenvertrag, Solidarität, Familiensinn, Verantwortungsgefühl und klare moralische Maßstäbe.[14]

Tatsächlich begnügen sich die Politiker aber zunehmend mit Pragmatismus und Beliebigkeit, sowohl auf der Seite der Regierung wie bei der Opposition. Die Fragen, bei denen es um die Umsetzung ethischer Werte geht – Fragen von Leben und Tod, von Nation und Religion, oder auch die Verankerung von geschichtlichen Momenten in der kollektiven Identität –, werden vorrangig außerhalb der politischen Zirkel abgehandelt, da allerdings mit der Angst im Nacken.

Neuerdings bringen die durch das Internet ausgelösten wirtschaftlichen Veränderungen Schwung und Dynamik in die Gesellschaft. Mit einem Mal wächst die Bedeutung von Wirtschaft und Finanzen in der öffentlichen Wahrnehmung. Im Gegenzug schwindet das Vertrauen des Bürgers, Entwicklungen in der Gesellschaft noch wesentlich mitgestalten zu können. Begriffe wie Globalisierung, Sparzwang, Strukturwandel und Wettbewerbsfähigkeit werden zu unantast-baren Tabus erklärt, weil sie angeblich das wirtschaftliche Überleben der (sowieso bald überalterten und aussterbenden) deutschen Bevölkerung garantieren. Vom Menschen und den Werten einer humanen Gesellschaft ist nur selten die Rede.

Dass einem dabei angst und bange werden kann, beweist das Fusionierungsproblem von Daimler und Chrysler. Bosse, die ausschließlich an Schlagworte wie »Shareholder-Value« glauben, Banken oder Autofabriken, die einfach nur größer werden wollen als andere, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt, haben sich vom Gemeinwohl längst abgekoppelt.

»Ein egomaner Größenwahn hat manche von ihnen ergriffen«, meint der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. »Man möchte der Größte sein … Die Manager verfolgen vorwiegend eigensüchtige, eigennützige Ziele.«[15]

Im Fall DaimlerChrysler zeigte sich schnell, wie sich Fehleinschätzungen rächen können. Denn plötzlich besteht die Welt aus verschiedenen Kulturen, die sich global nicht leiten lassen. Dutzende von Milliarden Mark wurden auf dem Aktienmarkt vernichtet.

Das Misstrauen des »kleinen Mannes« gegen hoch bezahlte Manager, die ihren Führungsaufgaben nicht gerecht werden, kann durch solche Vorfälle nur wachsen. Verunsicherung ist die Folge. Den revolutionären Veränderungen des Arbeitsmarktes aber – der Entwicklung der Produktions- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft – fühlen sich viele Menschen geradezu hilflos ausgeliefert. Die Koordinaten ihrer Existenz lösen sich auf.

In Deutschland kommt noch die historisch brisante Situation hinzu, dass zwei Teile des Landes zusammengeführt wurden, die sich vierzig Jahre lang zu gegensätzlichen Ideologien bekannt haben. Der Kommunismus unterlag. Das damit verbundene Wertesystem wurde abgeschrieben, sodass die Bürger der ehemaligen DDR sich zusätzlich entwurzelt fühlen.

Die Umformung der Gesellschaft – und das gilt für alle Industrieländer der westlichen Welt – wird von technischen Neuerungen, die mit dem Computer oder dem Internet zu tun haben, neuerdings auf »Lichtgeschwindigkeit« beschleunigt. Selbst Spezialisten kommen kaum noch mit.

Ein Dreißigjähriger, der eine Internetfirma gegründet hat und sich immer mehr auch der Vorstandsarbeit widmen muss, beherrscht die Technik schon bald nicht mehr so gut wie sein um fünf Jahre jüngerer Angestellter. Nun stellt sich der Dreißigjährige nach einiger Zeit die Frage, was er in seinem Leben noch anfangen soll, da er jetzt ein Unternehmen mit siebzig Mitarbeitern führt, wohlhabend ist und meint, er habe erreicht, wovon manch ein Sechzigjähriger noch träumt.

Da die neue Arbeitswelt immer weniger konkrete Produkte – zum Beispiel Autos – herstellt, sondern sich als Dienstleister des Informationsgewerbes versteht, kann der mit technischen Hilfsmitteln ausgerüstete »Arbeiter« seinen Job überall ausüben. Er muss immer seltener in eine Büro- oder Produktionsgemeinschaft, unterliegt damit aber auch immer seltener dem Einfluss, den eine Gemeinschaft ausübt. Er verzichtet sozusagen auf ein soziales Korsett.

In Zukunft wird auch keiner mehr einen Job sein Leben lang ausüben. Kinder werden nicht mehr auf einen Beruf hin erzogen, sondern auf ein Überleben im Berufsalltag mit sich ständig ändernden Anforderungen. Innerhalb der heranwachsenden Generationen entsteht eine vom Gemeinschaftsdenken losgelöste »Wertediskussion«, die auf der »Tugend der Orientierungslosigkeit«[16] basiert. Das »gute« Leben wird zum »individualistischen Projekt« erklärt, das auf der »Tagesordnung von Millionen weit über dem selbstlosen Dienst an der Gemeinschaft« steht. »Ein Zurück ist weder in Sicht noch … überhaupt wünschenswert.« Das legen traditionell denkende Bürger als Egoismus aus, der die Rücksichtslosigkeit zum Garanten für den persönlichen Erfolg macht.

Aus der Angst wächst der eigene Wunsch nach einer Neubelebung ethischer Werte in der Gesellschaft. Eine Auseinandersetzung über die ethische Lenkung gesellschaftlicher Veränderungen erscheint überfällig.

»Nur wenige haben jedoch klare Vorstellungen davon, wie eine solche Ausrichtung der Gesellschaft gelingen könnte«, schreibt Renate Köcher. »Gefangen in der Vorstellung einer durch Individualisierung atomisierten und nicht mehr in ihrem Wertebestand beeinflussbaren Gesellschaft, wurde aufgehört, darüber nachzudenken, was man fördern und was man zurückdrängen will.«[17]

Dass sie in der Gesellschaft eine Menge Einflussmöglichkeiten haben, mag vielen Bürgern fremd sein. Mangelnde Information veranlasst sie, sich zurückzuhalten. Dennoch sollten sie Mut haben und lernen, dass jeder die Entwicklung von Wertevorstellungen durch sein eigenes Verhalten beeinflussen kann. Er muss nur wissen, wann, wie und warum es Zeit ist zu handeln.

Bürger ohne Orientierung

Verabreden sich Freunde zu einem Spaziergang oder einer Wanderung, so nehmen sie sich im Allgemeinen ein Ziel vor: vielleicht eine Kneipe, in die sie ermattet einfallen können, um den Ausflug gebührend zu feiern. Die Kneipe erreichen sie jedoch nur – und das klingt völlig banal –, wenn sie den Weg kennen und die Orientierung nicht verlieren.

Ähnliches gilt für das Leben in einer modernen Demokratie. Die Bürger und Bürgerinnen finden ihren Weg in der Gesellschaft, wenn sie die Regeln kennen und wenn diese stimmen. Doch daran hapert es immer mehr. Kulturelle und religiöse, politische und familiäre Orientierungsmaßstäbe sind ins Wanken geraten, und das Misstrauen gegenüber dem Funktionieren von Politik, Wirtschaft und Finanzwelt nimmt zu.

Die Ursache dafür ist auf drei wesentliche Entwicklungen zurückzuführen:

die Subjektivierung von Werten und Normen als Folge einer übermäßigen Individualisierung,

das Versagen der Politik als bestimmender Wegweiser für die Grundwerte der Gesellschaft,

die Banalisierung des öffentlichen Gesprächs.

In der Folge vermissen die Bürger ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. In der Gesellschaft mangelt es an Gemeinsamkeit, was sich in zahlreichen Regelverstößen äußert: Die Kriminalität nimmt zu, aber auch die Überzeugung innerhalb der sozialen Elite, neue Regeln für das eigene Verhalten aufstellen zu dürfen – Regeln, die bisher nicht erlaubt waren.

Tatsächlich ist dies nichts Neues. Solch eine Krise hat der französische Soziologe Emile Durkheim schon vor mehr als hundert Jahren beschrieben, als er in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen Zustand mangelnder sozialer Regelung feststellte (Durkheim nennt dies »Anomie«[18]). Ausgelöst wird eine solche Situation durch tiefe Veränderungen in der Sozialstruktur. Die durch die entstehende Industriegesellschaft eingeführte Arbeitsteilung hatte vor 120 Jahren zu einer grundlegenden Veränderung des Lebens der Menschen und ihrer Beziehungen untereinander geführt. Die Regellosigkeit zeigte sich aber nicht nur in wachsender Kriminalität, sondern erstaunlicherweise ebenso in einer zunehmenden Selbstmordrate.