Zeitenwenden in Deutschland - Carin-Martina Tröltzsch - E-Book

Zeitenwenden in Deutschland E-Book

Carin-Martina Tröltzsch

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Beschreibung

»Zeitenwenden in Deutschland« ist ein biografischer Roman. Carin-Martina Tröltzsch erzählt darin die Geschichte ihrer Eltern mit besonderem Fokus auf das Leben ihres Vaters. Als Sohn einer Unternehmerfamilie im Vogtland wächst er während des Zweiten Weltkriegs auf und verbringt seine Jugend in der Deutschen Demokratischen Republik, bis er Mitte der 50er-Jahre in den Westen Deutschlands flieht. Das Werk enthält Elemente zeitgenössischer Geschichte sowie gesellschaftliche Betrachtungen in unterschiedlichen Epochen. Geschildert werden dabei verschiedene Milieus des gehobenen Bürgertums während der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR. Der Roman legt Zeitzeugnis ab über die Schwierigkeiten mittelständischer Unternehmen und ihrer Familien im Osten Deutschlands im Dritten Reich und in der DDR.

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Seitenzahl: 144

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Dr. Carin-Martina Tröltzsch

Zeitenwenden in Deutschland

Aufbruch von Ost nach West

Autobiografischer Roman

Copyright: © 2022 Dr. Carin-Martina Tröltzsch

Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Verlag und Druck:

tredition GmbH

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg

Softcover

978-3-347-72515-7

Hardcover

978-3-347-72516-4

E-Book

978-3-347-72517-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Meinen Eltern

Inhalt

Prolog

Am Ende siegte die Familientradition

Die Villa am Berge

Die Kaninchen waren interessanter

Der Kelch des Krieges ging vorbei

Kriegsschatten über der Göltzsch

Alles zurück auf null

Der russische Retter

Zeiten von Mangel und Willkür

Vom Acker zum Fließband

Der Kampf ums Überleben

An den Wegscheiden des Lebens

Im Westen viel Neues

Lebendiges Elternhaus in Auma

Jahre der Unbeschwertheit

Jugendzeit mit Licht und Schatten

Hochzeit mit Hindernissen

Letzte Glücksmomente in Weimar

Das Tor zur Freiheit

Stufenleiter ins neue Leben

Die Krakenarme der Stasi

Familienschicksal über Grenzen

Kein Zurück in die Vergangenheit

Zeit von Abschluss und Aufbruch

Prolog

Langsam holperten die Wagen der DDR-Reichsbahn an diesem letzten Septemberabend des Jahres 1957 über veraltete Eisenbahnschienen Richtung Oberfranken. Nach Verlassen des Bahnhofs Reichenbach war bereits die Dämmerung über dem Vogtland angebrochen und tauchte die vertraute, frühherbstliche Landschaft in ein fahles Licht. In nur einer Stunde würde der Interzonenzug den Grenzübergang bei Hof erreicht haben. Das gleichmäßige Rattern der Schienen und den typischen Geruch des Waggon-Reinigungsmittels nahm Hans-Georg Tröltzsch nur verschwommen wahr. Beklommenheit mischte sich mit Trauer. Schwere Gedanken und Zweifel kreisten in seinem Kopf und drohten ihn beinahe zu zerreißen. Würden ihn die DDR-Grenzer womöglich noch im letzten Moment aus dem Zug herausholen? Und falls nicht, wäre dann das glückliche Ende der Fahrt in den Westen nicht zugleich auch ein unglücklicher Abschied von seiner Heimat, seinen Eltern – und vor allem von seiner gerade frisch mit ihm vermählten Ehefrau Carin-Maria, die bei ihren Eltern in Thüringen zurückgeblieben war?

Nachdenklich blickte er auf die jüngsten Ereignisse zurück – alles war so schnell gegangen: Nur zwei Tage waren vergangen, seit die beiden Eheleute sich in der Kirche im thüringischen Auma das Jawort gegeben und danach in der herrschaftlichen Villa von Hans-Georgs Schwiegereltern Arthur und Gudrun Peucker ein ausgelassenes Hochzeitsfest gefeiert hatten. Erst gestern waren sie noch als junges verliebtes Paar bei einer eintägigen Hochzeitsreise in Weimar kurz auf Goethes Spuren gewandelt. Und nur vier Tage zurück lag seine Einreise aus Köln zum Zweck der Eheschließung, begleitet von zeitraubenden Schikanen der DDR-Behörden. Im Rheinland hielt sich Hans-Georg zu diesem Zeitpunkt aufgrund einer damals gültigen Sonderregelung der DDR für eine zeitlich begrenzte, berufliche Ausbildung im Westen auf. Obwohl ja eigentlich Bürger der DDR, musste er bei der Ankunft in seiner Heimatgemeinde eine Reihe von Genehmigungen und Passierscheinen beantragen, um sich von Reichenbach, wo er als beurlaubt gemeldet war, in den Bezirk von Auma begeben zu dürfen, um dort das Hochzeitsfest zu feiern.

Doch waren die schönen Stunden nicht von Dauer: Als das Paar voll von Erinnerungen und Eindrücken von der feierlichen Hochzeit und der anschließenden Tagesreise nach Weimar in bester Stimmung nach Auma zurückgekehrt war, hatten sich die Ereignisse am Tag darauf plötzlich überschlagen. Hans-Georgs Vater war zwischenzeitlich unter massiven Druck der Behörden in Reichenbach geraten, die genau wussten, dass Hans-Georg aktuell vor Ort war. Fritz Tröltzsch, der ein alteingesessenes Textilunternehmen besaß, solle seinerseits Druck auf seinen Sohn ausüben, nach Ende der Ausbildung im Westen, unverzüglich nach Reichenbach zurückzukehren und sich „mit ganzer Kraft für die DDR einzusetzen“. Offensichtlich, und nicht ganz zu Unrecht, argwöhnte die Bezirksleitung, dass Hans-Georg nach Ablauf seines legalen Aufenthalts im Westen gleich ganz in der „BRD“ bleiben würde. Denn genau das war sein Plan.

Nach den alarmierenden Warnungen aus Reichenbach befürchtete Arthur Peucker, der die Zukunftspläne seines Schwiegersohnes im Westen ebenso wie dessen Eltern kannte und befürwortete, dass Hans-Georg noch im letzten Moment an der Ausreise gehindert werden könnte. So war am Ende nur noch ein sehr spontaner Ausweg geblieben: Arthur hatte seinen frisch gebackenen Schwiegersohn noch am gleichen Tag auf direktem Weg zum Bahnhof Reichenbach gefahren, wo auch Hans-Georgs Eltern Fritz und Ilse Tröltzsch am Bahnsteig erschienen waren. Nur eine kurze letzte und unauffällige Umarmung hatte stattgefunden. Eile war geboten, damit er noch rechtzeitig den letzten Interzonenzug Richtung Nürnberg erreichte. Es war der kürzeste Weg raus aus der DDR. Der überstürzte Abschied von der Familie und von Carin-Maria war ein bitterer Moment in der gerade erst begonnenen Ehe des jungen Paars.

Nun saß Hans-Georg also unvermittelt und wie auf Kohlen im Zug Richtung Westen. Dass er nun bereits vor Ablauf seiner gerade mühsam erreichten Aufenthaltsgenehmigung wieder zurückreiste, war ungewöhnlich. Würde man ihm deshalb auf die Schliche kommen, Verdacht schöpfen und an der überstürzten Ausreise hindern? Die zurückliegenden Hochzeitserlebnisse erschienen ihm jetzt beinahe wie ein surrealer Traum, wunderbar schön und doch weit weg zugleich. Ihn tröstete ein wenig, dass er Carin-Maria noch vor der Verlobung hinsichtlich seiner Fluchtpläne reinen Wein eingeschenkt hatte. Sie hatte dennoch der Ehe zugestimmt, obwohl sie nun wusste, was auf sie zukommen würde. Gemeinsam hatten sie damals beschlossen, dass sie ihre großbürgerliche Vergangenheit gegen eine neue Freiheit in Armut tauschen wollten.

Während der Zug die Grenzstation erreichte, spürte er immer noch die Abschiedstränen seiner Frau auf den Wangen. Sie hatten sich versprochen, für ein baldiges Wiedersehen im Westen zu sorgen. Noch konnte er nicht wissen, ob und wann die Erfüllung dieses Wunsches gelingen würde. Nur mühsam bewahrte Hans-Georg seine Fassung, als die Grenzbeamten, mürrisch und misstrauisch wie immer, das Abteil betraten, um die Papiere zu kontrollieren. Doch die Grenzer schöpften keinen Verdacht, dass etwas nicht stimmen könnte, und ließen ihn unbehelligt ziehen. Tiefes Aufatmen und zugleich tiefe Traurigkeit über den Ablauf der Dinge. In Hof angekommen, richtete Hans-Georg den Blick tapfer und entschlossen nach vorne in ein ganz neues Leben in Freiheit, in eine neue Zeit. In die DDR würde er nie wieder zurückkehren.

Teil I

Am Ende siegte die Familientradition

An diesem friedlichen Herbstmorgen des Jahres 1913 war die Welt des Deutschen Kaiserreiches noch in Ordnung. Allmählich zogen sich die weißen Nebelfelder zurück, die sich des Nachts über den noch grünen Auen des Flusses Göltzsch bei Reichenbach im Vogtland ausgebreitet hatten. Ein warmer, goldener Oktobertag kündigte sich an. Ideale Bedingungen für eine Tagesfahrt ins weiter nördlich gelegene Altenburger Land. Der Chauffeur in korrekter Uniform stand schon bereit. Der Unternehmer Martin Tröltzsch, erst seit kurzem stolzer Besitzer eines prächtigen, bordeauxfarbigen Mercedes 28/50 PS, freute sich bereits auf die Autofahrt mit seinem 19-jährigen Sohn Fritz. Viel zu selten bot sich die Gelegenheit, einmal allein mit dem Nachwuchs durch die Lande zu fahren und ungestört über die Zukunft zu sprechen.

Das frisch geputzte Automobil glitt durch die Herbstlandschaften Ostthüringens und Westsachsens zunächst nach Zwickau und dann weiter über Meerane in Richtung Altenburg. Nach etwa zweistündiger Fahrt erreichten die beiden Ausflügler die Ortschaft Nobitz. Fritz hatte sich schon die ganze Zeit gefragt, wohin die Fahrt denn wohl gehen würde. Sein Vater hatte es ihm bewusst nicht verraten, denn am Ziel wartete eine Überraschung der besonderen Art auf den Sohn. Und dieses Ziel war das Rittergut Stallwitz. Das Auto näherte sich dem Gutshaus über eine lange Allee mit uralten Eichen. Das Anwesen mit vierflügeliger Anlage hatte Tradition und wurde erstmals im 12. Jahrhundert erwähnt. Das jetzige Herrenhaus stammte aus dem Jahr 1706. Wirtschaftsgebäude, Scheune und Stallgebäude waren indes noch keine 100 Jahre alt und gut erhalten, ebenso wie der Kuhstall aus dem Jahr 1858.

Der Betrieb war offenkundig bewirtschaftet, Vieh, Gerätschaften für die Ernte und einige Landarbeiter waren zu sehen. Aber kein Gutsherr trat zur Begrüßung der Gäste aus dem kunstvoll verzierten Holzportal heraus, als der Mercedes von Martin Tröltzsch auf dem knirschenden Kies vor der Treppe des Herrenhauses zum Stehen kam. Fritz schaute seinen Vater fragend an. Da lüftete er endlich das große Geheimnis und sagte: „Willkommen auf Gut Stallwitz. Ich beabsichtige, dieses Anwesen zu kaufen. Es hat zuvor schon zweimal den Besitzer gewechselt und steht nun erneut zum Verkauf. Ich bin überzeugt, dass sich aus dem Gutsbetrieb etwas machen lässt. Und ich bin überzeugt, dass Du in Zukunft mit Erfolg den Betrieb führen wirst. Bis dahin kümmert sich der Verwalter um das Anwesen.“

Vor lauter Überraschung war Fritz verstummt und schaute den Vater mit großen Augen an. Damit hatte er nicht gerechnet, wenngleich ja bereits die Nachfolge für die Firma R. Tröltzsch & Sohn in Reichenbach geregelt war. Denn im selben Jahr war sein älterer Bruder Karl an der Seite seines Vaters in das 1849 durch Robert Tröltzsch gegründete Familienunternehmen eingetreten. Die Zukunft von Fritz schien also noch ungeklärt. Und jetzt plötzlich die Perspektive des Landwirts und Gutsherren! Der Fabrikantensohn war hoch erfreut. Schon immer hatte er eine Liebe zur Landwirtschaft und zu Tieren verspürt. Tatsächlich gab es in der Geschichte der Familie Tröltzsch über Generationen hinweg diese ausgeprägte Neigung, von der auch Fritz und seine Nachkommen ergriffen waren.

Was für einen Gegensatz würde die ländliche Idylle im Altenburger Land im Vergleich zu den Industriestädten des Vogtlandes darstellen. Zu den ratternden Maschinen der Fabrikanlagen und den rauchenden Schornsteinen. Fritz war sich sicher, dass die Übernahme von Gut Stallwitz zu einer Erfolgsgeschichte werden würde. Das Zauberwort hieß „Rotliegendes“ – einen der besonders fruchtbaren Böden Deutschlands, wie er auch in der Vorerzgebirgssenke und andere Regionen zu finden ist. So träumte Fritz auf der Rückfahrt nach Reichenbach von fruchtbaren Äckern, Viehherden und einer eigenen Pferdezucht, für die er als exzellenter Reiter besonderes Interesse hegte. Kaum zu glauben, dass er dies alles schon bald besitzen würde.

Doch schon wenige Jahre danach war der schöne Traum von Rittergut Stallwitz ausgeträumt! Es hatte sich recht bald nach Eintritt seines Bruders Karl in die Firma R. Tröltzsch & Sohn ergeben, dass der Vater plötzlich Zweifel bekam, ob sein älterer Sohn die gewaltigen Herausforderungen des elterlichen Betriebes allein würde meistern können, wenn er, Martin Tröltzsch, eines Tages nicht mehr leben würde. Denn mittlerweile war der Krieg ausgebrochen. Blutige Kämpfe gegen die Zarenarmee tobten in Ostpreußen, und in Frankreich forderte der Stellungskrieg in den Gräben von Sedan schreckliche Opfer. Viele Söhne des Vogtlandes, auch Reichenbacher, waren bereits gefallen, und die wirtschaftlichen Folgen des Krieges standen drohend am Horizont. Bei einem abendlichen Spaziergang über die der Familie Tröltzsch gehörenden Ackerflächen in Reichenbach oberhalb der Fabrik kam es zu einem längeren, ernsten Gespräch mit Fritz über die Situation des Betriebes. Martin bat seinen Sohn, von den vorherigen Zukunftsplänen als Gutsbesitzer im Altenburger Land doch wieder Abstand zu nehmen und die Führungsetage bei R. Tröltzsch & Sohn zu leiten.

Große Enttäuschung empfand Fritz, als mit einem Mal alle landwirtschaftlichen Träume zerplatzten. Aber seine Verpflichtung, die er angesichts seiner familiären Bindung für das Fortbestehen des Unternehmens empfand, half ihm alsbald, sich mit der unerwarteten Kehrtwendung in seinem Leben abzufinden und künftig zusammen mit seinem Bruder Karl die Firma zu leiten. Von Martin Tröltzsch war dies eine hellseherische Entscheidung. Denn nur wenige Jahre nach dem Krieg, am 17. Juni 1924, erlitt er einen tödlichen Hirnschlag. Gerade 30 Jahre alt war Fritz, als er zusammen mit seinem Bruder allein die Last des Unternehmens tragen musste. Gottseidank waren die schwierigsten Jahre mit politischen Unruhen und Inflation schon wieder überwunden, und mit den „Goldenen Zwanzigern“ begann auch im Vogtland ein kleiner Wirtschaftsaufschwung.

In diesen Jahren fand Fritz auch sein privates Glück. Schon länger waren die Unternehmerfamilien Tröltzsch und Chevalier miteinander geschäftlich verbunden. Max Chevalier war Eigentümer der Gebrüder Chevalier Kammgarnweberei im nur wenige Kilometer von Reichenbach entfernten Mylau. Auch privat trafen sich die Familien ab und zu zum geselligen Beieinander. Es war eines dieser fröhlichen Sommerfeste, zu denen eines Tags Max und Paula Chevalier in den Park ihrer Villa in Mylau in schöner Hanglage in der Rotschauer Straße einluden. In der milden Abendsonne saßen die Gäste auf der Veranda und im Garten des 1897 errichteten Hauses und genossen Speisen und Getränke. Als die Nacht hereinbrach, wurden Fackeln entzündet, die das Areal in ein stimmungsvolles Licht hüllten. Der 1924 verstorbene Martin Tröltzsch war nicht mehr dabei.

An diesem Abend veränderte sich das Leben von Fritz Tröltzsch grundlegend. Im Gartenpavillon hinter der Villa traf er auf eine fröhliche Dreiergruppe. Dort saßen im flackernden Fackellicht mit einem guten Glas Meißner Wein in der Hand sein drei Jahre älterer Bruder Karl mit seiner Verlobten Hildegard Chevalier. Für den September war bereits die Hochzeit der beiden in Planung. Neben Hilde saß ihre jüngere Schwester Ilse Chevalier. Allesamt waren sie in bester Stimmung. Fritz setzte sich dazu und berichtete mit der inzwischen nach zehn Jahren gewonnenen inneren Distanz auf humorige Weise von seinem verhinderten Gutsbesitzerdasein im Altenburger Land. Er bemerkte, wie ihn Ilse anlächelte und fühlte sich plötzlich zu ihr hingezogen. Er erwiderte ihr Lächeln. Karl und Hildegard blickten sich an und realisierten die Situation. Unter einem Vorwand zogen sie weiter und ließen Fritz und Ilse allein zurück. Über eine Stunde saßen die beiden dort und entdeckten ihre Zuneigung zueinander. So wurde am Ende aus der Vermählung von Karl und Hildegard nach nur wenigen Monaten eine „Doppelhochzeit“ und aus den Tröltzschens und Chevaliers eine große gemeinsame Familie. Mit der Geburt des Sohnes Hans-Georg Tröltzsch im Jahr 1929 öffnete sich die Tür für die dritte Generation nach dem Firmengründer Robert Tröltzsch. Fritz war nun endgültig in der Familientradition angekommen. Er sollte erfolgreich die Firma R. Tröltzsch & Sohn in die Zukunft führen und diese zu einem bedeutenden Unternehmen ausbauen.

Die Villa am Berge

Mit Karacho raste der Leiterwagen talwärts über die abschüssige Rasenfläche hinter der wunderschönen Mylauer Jugendstilvilla. Hans-Georg Tröltzsch und sein Spielkamerad „Ritter Karli“, der als Sozius mitfuhr, mussten dabei einiges an Geschick bei der Handhabung der Deichsel aufbringen, um das Gefährt ohne Bremsen unter Kontrolle zu halten und in die richtige Richtung zu lenken. Begleitet wurden die Jungen durch Dackel „Hannes“, der die vor Freude johlenden Rennfahrer laut kläffend verfolgte. Die wilde Abfahrt startete stets am Gartenpavillon auf der Rückseite des Wohnhauses, dort wo eine prächtige, Schatten spendende Rotbuche stand, und endete am unteren Teil des Gartens beim „Pilz“.

Der Pilz – ein überdachtes, pilzförmiges Sitzrondell – diente besonders im Sommer in der Abenddämmerung als Ort der Ruhe und Entspannung für das Ehepaar Tröltzsch. Fritz konnte hier von den langen und anstrengenden Arbeitstagen abschalten, die häufig in aller Frühe begannen, und den Sonnenuntergang erleben. Kaum ein Geräusch war dann zu hören, nur gelegentlich ein kurzes Rattern der Eisenbahn, die in Reichenbach Anschluss an die seit 1851 nach Einweihung der Göltzschtalbrücke bestehende Hauptstrecke von Leipzig nach Hof bot. Ein romantischer Ort. Weit schweifte von hier aus der Blick hinab ins Tal der Göltzsch, über den Ort Mylau hinweg bis hin zu den gegenüberliegenden Bergen. Zu den Füßen des „Pilz“ lagen die Gebäude der Firma Gebrüder Chevalier an der Hauptstraße von Mylau nach Reichenbach.

Kein Wunder, dass Fritz Tröltzsch diesen Ort überaus liebte. Weniger gut war seine Laune, wenn er die tiefen Fahrspuren, die der rasende Leiterwagen im Garten hinterlassen hatte, entdeckte. Immer wieder setzte es dann ein Donnerwetter für den Sohn. Auch war das rollende Vergnügen nicht immer ungefährlich. So landete Hans-Georg eines Tages in einem Unter-Glas-Frühbeet am Rande des Grundstücks. Anschließend mussten Mutter Ilse und Großmutter Paula schmerzhaft die Glassplitter aus Armen und Beinen entfernen. Aber wenn sie glaubten, dass Hans-Georg dabei jammern und schreien würde, täuschten sie sich. Das könnte ihnen so passen. Er spielte den Unfall herunter, wollte er dem Vater doch keinen Vorwand geben, die wilden Leiterwagen-Rennen ganz zu verbieten.

Die Villa am Berge – sie war der Mittelpunkt einer glücklichen Kindheit Hans-Georgs, durch eine harmonische Familie und ein weitgehend sorgenfreies Leben im Vogtland, abgeschirmt von den wechselvollen und folgenreichen Entwicklungen der 30er Jahre mit Wirtschaftskrise, nationalsozialistischer Machtergreifung, Judenverfolgung und dem bereits heraufziehenden Zweiten Weltkrieg. Neben Hans-Georgs Eltern hatte besonders Großmutter Paula Chevalier einen bedeutenden Anteil an der noch heilen Welt ihres Enkels. Ihr und ihrem verstorbenen Ehemann Max gehörte das stattliche Anwesen. Sie war in den Erinnerungen Hans-Georgs eine edle und gerechte Dame. Stets nahm sie den Lausbuben in Schutz, wenn Schwiegersohn Fritz wieder einmal zur väterlichen Strafpredigt ansetzte.

Die Weihnachtszeit ließ jedes Jahr aufs Neue die Familie noch enger zusammenrücken. Am Heiligabend ging es nach einem gemütlichen Kaffeetrinken mit selbstgebackenen Plätzchen und Dresdner Stollen gemeinsam hinunter nach Mylau, wo die Stadtkirche mit der bekannten Silbermann-Orgel schon das Geläut ihrer vier Bronzeglocken ertönen ließ und zum Weihnachtsgottesdienst einlud. Wenn das Lied „O Du Fröhliche …!“ zu Ende war, zog die festlich gekleidete Familie durch stimmungsvolle Schneelandschaften wieder berghoch zur Villa am Pilz vorbei, der jetzt von Fackeln erleuchtet war. Nun konnte Hans-Georg seine Aufregung nur noch mühsam verstecken. Endlich, nach weiteren Weihnachtsliedern und Verlesen der Weihnachtsgeschichte, öffneten sich die Türen zum Wohnzimmer, das der Sohn schon seit Tagen nicht mehr hatte betreten dürfen. In der Ecke stand neben dem Bechstein-Flügel der fast drei Meter hohe Christbaum, der beinahe bis unter die Stuckdecke reichte. Er war reichlich mit Lametta und Strohsternen geschmückt. Bienenwachskerzen verbreiteten einen wundervollen Geruch. Wie immer an festlichen Tagen war die Märklin-Eisenbahnanlage Spur 0 mit den wunderbaren Zinnblech-Lokomotiven und -Waggons aufgebaut. Neben vielfältigen Gaben wartete auf Hans-Georg diesmal ein ganz spezielles Geschenk – ein schneeweißes Kaninchen. Er hatte es sich so sehr gewünscht.