Zeitfallen - Joachim Schmidt - E-Book

Zeitfallen E-Book

Joachim Schmidt

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Beschreibung

In der Vereinigung des männlichen und weiblichen Lebensprinzips löst sich die Illusion der Zweiheit, der Gegensätze, auf. Ab hier beginnt vermutlich das, was man als wirkliches Leben bezeichnen kann, eine unendliche Vielfalt. Der Mensch, gefangen im Netz der Illusionen und Abenteuer, findet hier eine Chance auszubrechen und zurückzufinden. Die Frage wohin bleibt offen.

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Ähnliche


Neuauflage des Buches

„Das Geheimnis des Ringinger Erdstalls“

Joachim

Schmidt

ZEITFALLEN

Teil 1 und 2

© 2016 Joachim Schmidt

Auflage 1 überarbeitet

Umschlaggestaltung, Illustration: Joachim Schmidt

Lektorat,

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

978-3-7345-9378-9 (Paperback)

978-3-7345-9379-6 (Hardcover)

978-3-7345-9380-2 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für

Joana und Pia-Christin

Joachim Schmidt

Ein Grenzgänger

Autor mehrerer Bücher:

-Hinter den Tapeten

-Leonard in der Wo-Anderswelt (Märchen)

-Leonard und Anika in der Wo-Anderswelt (Forts.)

-Der Kelch

-Tomavic und die Zufälle (Forts. v. Der Kelch)

-Das Schicksalsrad

-Der Rabe und die vier Außenseiter

-Die Gezeitenfrau

-Der Mann im Baum

-Der Steinmetz und die Tochter des Bürgermeisters

www.schmidts-autorenprofil.de

Zu diesem Buch

Über Fantasie, Spannung und philosophische Gedanken bekommt der Leser ein anderes Bild vom Leben, eine neue Idee wird vorgestellt, die aber nur Anklang finden kann, wenn „Altes“ in Frage gestellt werden darf.

In der Vereinigung des männlichen und weiblichen Lebensprinzips löst sich die Illusion der Zweiheit, der Gegensätze auf. Ab hier beginnt vermutlich das, was man als wirkliches Leben bezeichnen kann, eine unendliche Vielfalt. Der Mensch gefangen im Netz der Illusionen und Abenteuer, findet hier eine Chance auszubrechen und zurückzufinden. Die Frage wohin bleibt offen.

In der gefühlsmäßigen Vereinigung von Mann und Frau im letzten Teil des Buches, scheint die wahre Liebe zu stecken, wobei die Betonung nicht im sexuellen Bereich, sondern in der Erschaffung bzw. Geburt jeglichen Lebens liegt.

Dieses Buch ist kein Krimi im herkömmlichen Sinne, es ist eine spannende, fiktive Erlebnisgeschichte durch vergangene Zeiten, ein Versuch, eine Philosophie als Abenteuer zu begründen.

Symbol des Erdstall

Zeitfallen

Im Ringinger Erdstall

Teil 1

Es war ein Tag wie jeder andere. Ich saß zum Mittagessen im Gasthaus Adler und genoss es an diesem Wochenende alleine zu sein. Keine Verpflichtungen, keine Termine, keine Ansprache, einfach nichts, nur ich.

Ich weiß nicht wieso, aber plötzlich verspürte ich eine innere Unruhe. Ich kannte dieses Gefühl aus der vergangenen Woche. Ab und zu erwachte ich mitten in der Nacht, begleitet von einem merkwürdigen Kribbeln im Bauch. Jetzt meldete es sich ohne Grund wieder, wirklich ohne Grund? Dieses Mal allerdings in Verbindung mit einem leichten Magenkrampf. War etwas mit dem Essen oder dem Getränk nicht in Ordnung?

In der Hoffnung, dieses unangenehme Gefühl loszuwerden, stand ich auf und ging, in Gedanken versunken, auf die Toilette. Zumindest dachte ich, dass ich dort hin ging, als ich mich plötzlich vor einer unbekannten Türe befand. Ihre alten, von Rissen durchzogenen Verzierungen, zogen meinen Blick magisch an und ich spürte mit einer absoluten Sicherheit, dass sich hinter dieser Türe etwas Geheimnisvolles befinden würde. Je näher ich auf die Türe zuging, desto mehr verstärkte sich dieses prickelnde Etwas in mir und wanderte dabei langsam in Richtung Herz.

Ich ignorierte dieses Gefühl und schaute mich aufmerksam um. Dann öffnete ich vorsichtig die etwas quietschende Türe. Enttäuscht stellte ich fest, dass ich wohl in einer Abstellkammer des Gasthauses gelandet sein musste. Am Ende dieses Raumes standen große, gefüllte Plastiksäcke gegen eine uralte Holztür gelehnt, die sie fast verdeckten. Was sollte ich tun? Zunächst war ich versucht, sofort umzukehren, denn mein Verstand gab mir zu bedenken, dass ich hier eigentlich nichts verloren hatte und deshalb wollte ich auch nicht in dieser peinlichen Situation entdeckt werden, aber etwas Unbestimmtes hielt mich davon ab. Während ich weiter auf das verzogene Holz der gelblich verblichenen Türe starrte, sie erinnerte mich irgendwie an längst vergangene Zeiten, verwandelte mein unangenehmes Herz-Magen-Gefühl in eine unbeschreibliche Neugier.

Kurzerhand schob ich zwei Müllsäcke auf die Seite und drückte den wurmstichigen, abgegriffenen, aber schön gedrechselten Holzriegel, nach unten. Meine zweite Vermutung, einer weiteren Abstellkammer, gefüllt mit Getränkekisten und Müll gegenüberzustehen, bestätigte sich nicht. Ich sah nur einen engen, leeren, dunklen Gang, aus dem es merkwürdig modrig roch. Für mich nicht unangenehm, ich liebe diese Art von Kellergerüchen, eher verführerisch, verlockend, Weinregale erwartend. Seitlich nahm ich, wie zur Aufforderung, eine dicke Kerze in einem Halter wahr.

Oft lassen sich Zufälle logisch irgendwie begründen, aber warum ich an diesem Tag, als absoluter Nichtraucher ein Feuerzeug bei mir trug, konnte ich mir nur so erklären, dass ich es beim Anzünden meines offenen Kamins vor einigen Tagen, aus Versehen in die Tasche gesteckt hatte.

Ich schnappte die Kerze, zündete sie an, und machte mich auf, meine Neugierde zu befriedigen. Jetzt stand nicht mehr die Frage im Raum, ob ich vom Wirt eventuell entdeckt werden könnte, jetzt hatte ich nur noch eines im Sinn, ich wollte das Geheimnis dieses uralten, von Menschenhand gemeißelten Ganges lüften. Er führte direkt in sandsteinhaltigen Fels und erinnerte mich an einen Zeitungsartikel, den ich vor kurzem gelesen hatte. Dieser handelte von rätselhaften unterirdischen Anlagen, sogenannten Erdställen.

Sie wurden im Mittelalter oder früher unter Friedhöfen, Kirchen oder alten Siedlungsplätzen angelegt. Niemand weiß heutzutage noch genau warum. Angeblich waren es keine Zufluchtsräume, dazu waren die Gänge und Höhlungen viel zu eng. Sie dienten auch nicht als Vorratskammern oder Wohnungen, denn es herrscht hier, wenn überhaupt, keine optimale Durchlüftung. Im Volksmund wurden und werden sie immer noch als Gnomen-, Zwergen-, Alraun-, Geisterhöhlen, Jungfrauenlöcher, Erdweiblschlupfe und Ähnlichem bezeichnet.

Es zog mich geradezu in dieses düstere Dunkel hinein. Mit der flackernden Kerze in der Hand schloss ich rasch die Türe hinter mir und glitt langsam, tief gebückt, Schritt für Schritt in den Gang. Es musste ein derartiger Erdstall sein. Ich beobachtete fortwährend die Kerze, die mir hoffentlich rechtzeitig Sauerstoffnot ankündigen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Nach sehr engen 20 Metern, erreichte ich eine noch schmälere, schräg nach unten verlaufende Röhre, die ich, wollte ich weiter forschen, auf dem Bauch durchkriechen musste. Langsam wurde es mir mulmig, aber die Kerze, die ich vorneweg hielt, ging nicht aus, und nachdem der Gang wieder waagrecht verlief und sich endlich, Gott sei Dank etwas ausweitete, spürte ich wieder nur zügellose Neugierde.

Der Gang durch puren Sandstein gehauen besaß, vermutlich, um einer Einsturzgefahr vorzubeugen, einen Rundbogen als Decke. Konnte es vielleicht doch sein, dass hier, während kriegerischer Auseinandersetzungen, dieser Ort für Auserwählte als Schutz diente? Durchforschte ich soeben ein frühchristliches Versteck? Oder wurde der Gang noch für andere Zwecke benützt, vielleicht stammte er aus einer Zeit von vor hunderten oder tausenden von Jahren? Für Elementarwesen gemacht? Bei diesem Gedanken überzog meinen Rücken eine Gänsehaut und irgendwie überlief mich ein Gefühl, als würden meine Körperhaare zu Berge stehen. Mein Herz schlug schlagartig schneller. Auch bewegten sich meine Kopfhaare. Ich empfand es wie ein vorbeiziehender Lufthauch. Dieser irritierte meine Rationalität total, denn die Kerzenflamme schien er offensichtlich nicht zu berühren.

Ich dachte sofort ans Umkehren, was allerdings nicht so einfach gewesen wäre, denn die Enge der Röhre in welcher ich mich nun befand, ließ eine Drehung so gut wie nicht zu, und hätte ich mich rückwärts bewegt, wäre es durchaus möglich gewesen, dass mich meine Kleider in diesem Gang regelrecht verkeilt hätten.

Die ersten Schweißtropfen rannen mir von der Stirn, als der Schlupf, dem Himmel sei Dank, in einer geräumigen, sackförmigen Ausbuchtung endete, wo man sich gebückt aufhalten konnte.

Ein auffälliges Zeichen blickte mich vom Ende der Wand an. Ich betrachtete es genauer. Es sah aus wie drei in einen Stein gemeißelte Ringe. Sie stierten mich an und ich sie. Es gelang mir nicht, ihnen zu widerstehen. Ich glotzte und starrte, bis ich plötzlich das Gefühl empfand, von ihnen aufgesogen zu werden. Dann, auf einmal, kein Kerzenlicht mehr, nur Dunkelheit und das Empfinden, ohne dass ich mich dabei bewegte, durch einen dunklen Kanal zu stürzen.

Ich riss die Augen auf und nahm plötzlich einen weitaus größeren Höhlengang wahr, als jener, in dem ich vor kurzem noch gelegen hatte. Entfernt vernahm ich Stimmen.

„Urahse ehme gosschero“, wir sollten hier bleiben, übersetzte mein Gehirn, ohne mit diesen Lauten vertraut zu sein.

Was war geschehen? Wie lange lag ich da? Ich betastete mich. Alles war an Ort und Stelle, kein Bruch, keine Verletzung, keine Schmerzen. Irgendjemand hatte mich wohl in einen anderen Höhlenabschnitt gebracht, während ich, vielleicht bereits ohnmächtig, unter Atemnot gelitten hatte? Vielleicht entdeckte der Wirt mein Vorhaben und wollte mir auf diese Weise helfen? Aber diese Stimmen?

Ich tastete nach der Kerze. Sie lag ohne ein Restglimmen des Dochtes neben mir. Weit weg schien das Gestein etwas heller. Ich richtete mich auf und bewegte mich langsam in diese Richtung. Auch die Stimmen wurden lauter, ich konnte sie aber nicht mehr deutlich verstehen.

„Tascha ohme kulpa“, oder so ähnlich vernahm ich gerade noch Laute.

Es waren schnelle, gutturale Laute. Vorsichtig tastete ich um einen Fels und erkannte abseits im Zwielicht Schatten, die sich unterhielten und wild gestikulierten. Ich suchte nach einer Möglichkeit, ungesehen an ihnen vorbei ins Freie zu gelangen. Zwischen Felsen kriechend erreichte ich den Ausgang. Helles Sonnenlicht flutete in die Höhle. Dem Herrgott sei Dank, konnten die Gestalten mich nicht sehen, denn sie befanden sich offensichtlich jetzt in einem Nebengang.

Wo war ich? Wie gelangte ich aus dem kleinen Erdstall in diese große Höhle? Alles sah anders aus. Die Natur bizarr, ungepflegt aber von wilder Schönheit und mit einer schwül-warmen Temperatur ausgestattet. Keine Häuser, dafür riesige, menschenhohe Farne, noch größere Bäume, die mich an Mammutbäume aus meiner Zeit erinnerten, herrliche, bunte Staudengewächse, deren Blüten an langen Schlingen herabhingen mit Insekten darauf, so groß wie Vögel.

Die mich umgebenden Geräusche erinnerten mich an den Regenwald in der Karibik, den ich vor Jahren mit meiner Frau besucht hatte. Papagaiengekrächze, immenses Gezwitscher und dumpfes, uriges Gebrüll.

Ein Traum? Bestimmt erlebte ich einen „Realtraum.“ So etwas soll es ja geben, Träume, die sich so anfühlen, als ob alles in ihnen Erlebte wirklich sei. Gleichzeitig weiß man aber, dass man träumt. Aber so real? Ich zwickte mich, hielt mir die Nase zu, zog mich an den Haaren. Nein, ich befand mich in keinem Realtraum. Ich landete vermutlich in einer anderen Zeit. Genauso, wie es ab und zu in Sciencefiction-Filmen passierte aber in welcher Zeit? Diese großen Ringe in der Sandsteinwand des Erdstalls, hatten sie mich tatsächlich verschlungen und dann in diese Zeit ausgespien?

Zeitreisen waren für mich nichts Unbekanntes, ich las sehr gerne Bücher darüber, aber ausgerechnet mir sollte so etwas passiert sein?

Meine innere Aufgewühltheit beruhigte sich langsam, ich dachte wieder logisch, nur so konnte ich einen Plan entwerfen. Wenn ich tatsächlich in einer parallelen Welt, oder einer vergangenen Zeit gelandet war, dann sollte ich vorsichtig sein und mich vorläufig erst einmal verstecken. Eine kleine Erdhöhle, groß genug, um hineinzuschlüpfen, wurde zum vorläufigen Beobachtungsposten. Ich schob gerade noch einen Stein vor das Loch, als die Erde zu beben anfing. Ein riesiges Tier, Saurier oder Drache, darüber wusste ich zu wenig bescheid, stapfte zur Höhle, schaute hinein und schrie erbärmlich laut.

„Ohhrr grahhh.“

Es wurde ganz still, auch die Stimmen erstarben abrupt. Mein Platz war sicher und ich befürchtete nichts, aber, als dieses Tier sich umdrehte und wildschnaufend, so stark an meinem Versteck vorbeistampfte, dass der Boden bebte, blieb mir beinahe das Herz stehen und mein Körper erstarrte zur Salzsäule.

Mein Gott, ich besuchte augenblicklich offensichtlich irgendeine Urzeit. War es das Paläozoikum, das Mesozoikum, das Tertiär oder das Quartär? Ich wusste es nicht, auf jeden Fall eine Zeit, in der es Urmenschen und große, längst ausgestorbene Tiere gab. Wollte ich hier Erkundigungsmärsche unternehmen, so musste ich mich vorsehen. Durch einen Spalt beobachtete ich, wie misstrauische, bärtige und am ganzen Körper behaarte Menschen aus der Höhle lugten. Schnell verschwanden sie in gebückter Haltung und mit Speeren in den Händen in eine dem Untier entgegengesetzten Richtung.

Während ich abwartete, entspannte sich mein Körper. Dann überfluteten mich angstvolle Gedanken. Wie sollte ich jemals wieder in meine Zeit zurückkehren? Konnte ich es noch einmal in der Höhle versuchen, nur in umgekehrter Richtung? Panik wollte sich ausbreiten und in meinem Gehirn festklammern. Um vor diesen Angst einflößenden Gedanken nicht den Verstand zu verlieren, setzte ich mir ein Ziel. Etwas befahl meinem Gehirn nach einer logischen, nicht chaotischen, Lösung Ausschau zu halten. Wenn ich schon diese einzigartige Möglichkeit besaß, eine mir fremde Welt zu besuchen, so wollte ich mich darin auch ein wenig umschauen. Ein Buch über frühere Zeiten zu lesen, das konnte schließlich jeder, aber selbst darin herumspazieren, das war eine andere Geschichte und was für eine! Offensichtlich befand ich mich in einem urwaldartigen, bergigen, subtropischen Land. Vorsichtig glitt ich aus meiner Minihöhle und bewegte mich unter dem Schutz der dunklen Bäume und den Schatten herumliegender Felsbrocken, zwischen mannshohen Gräsern und Pflanzen, langsam bergab. Lebte ich hier tatsächlich in der Vergangenheit, vielleicht sogar auf dem Hochsträß, wo ich herkam, dann würde nun, am Fuße des Berges, wo in meiner Zeit die Donau verlief, sich das Meer befinden müssen. Soviel wusste ich aus der Urzeit. Ich hatte in dieser Gegend sogar auf Feldern Versteinerungen von Muscheln und Seeigeln gefunden.

Es war einfach unglaublich, aber wenn ich mich, trotz meines realen Ortsempfindens nur in einem Traum befand, dann bräuchte ich nicht wirklich Angst vor Gefahren zu haben. Doch dieses Risiko wollte ich zunächst nicht wirklich eingehen.

Zum ersten Mal schaute ich genauer an mir herab und erschrak. Also doch ein Traum? Ich war mit Fellen bekleidet und barfuß. Meinen Gedanken schaukelten hin und her, Traum oder Wirklichkeit? Um nicht wieder das Gefühl zu bekommen durchzudrehen, lief ich, die Umgebung nicht aus den Augen lassend, meinem Ziel, unbedingt das Urmeer sehen zu wollen, weiter. Knackende Zweige, von affenähnlichen Gestalten verursacht, ließen meine Aufmerksamkeit nach oben schweifen. Hier zwischen den Ästen dieser mammutartigen Bäume würde ich bestimmt ein Nachtquartier finden, dachte ich. Auch Früchte und Wasser, die meine Grundbedürfnisse befriedigten, gab es zu Genüge, aber eigenartigerweise hatte ich kein Verlangen danach.

Eine innere Gewissheit machte mich glauben, auf dem richtigen Weg zu sein. Doch, befand ich mich wirklich auf dem „Ur-Hochsträß“, meiner Heimat, dann wäre ich noch ca. 6 km vom Meer entfernt, immer vorausgesetzt, meine Zeitrechnung und die geologischen Gegebenheiten würden auch stimmen.

Das Gehen fiel mir nicht schwer, denn meine Hornhäute an den Fußsohlen fühlten sich so unempfindlich an, als ob ich schon immer barfuß gelaufen wäre.

Die Dunkelheit kam völlig überraschend von einem Augenblick auf den anderen und als ich auch noch schauriges Gekreische vernahm, suchte ich mir zwischen breit gewachsenen Ästen eines Baumes mit einem dichten Blätterdach ein Quartier. Wie ein falscher Affe fühlte ich mich zwischen all den Pflanzen. Dünne Lianen verwickelte ich so miteinander, dass sie mir Halt boten und ich im Schlaf nicht herunterfallen konnte.

Da lag ich nun, geschützt, umhüllt von Blättern und Lianen. In der Hoffnung dabei einzuschlafen, ließ ich noch einmal die Ereignisse Revue passieren.

*

Durch einen Erdstall wurde ich in eine frühere Zeitepoche katapultiert. Die Begegnung mit den Menschen und diesem Urtier. Traum oder Wirklichkeit, das war immer noch die brennende Frage.

„Mein Körper und die Kleidung deuteten auf einen Traum“, so dachte ich.

Durch die Ähnlichkeit der Bergformation und meinem Realempfinden nach, glaubte ich eher an die unwahrscheinlichere Möglichkeit eines Zeitsprunges. Wie konnte ich beide Wahrscheinlichkeiten miteinander verknüpfen, bzw. war das Rätsel überhaupt zu lösen?

Ich betrachtete meinen Körper noch etwas genauer. Es war nicht mein mir bekannter Körper. Er besaß viel stärkere Knochen und einen intensiven Haarwuchs. Die Muskeln waren kräftig und die Haut glich eher einem Stück Leder mit vielen Narben. Meine Gedanken aber waren mir vertraut, denn ich konnte mich ja an Vergangenes erinnern.

Mein Geist, meine Seele oder was auch immer in einem anderen Körper? Wie geht das denn? Dann müsste sich ja mein alter Körper noch im Erdstall befinden. Was so viel bedeuten würde wie, dass es mir zumindest theoretisch möglich sein müsste, wieder in ihn zurückzukehren. Aber wie? Und dann diese merkwürdigen Kreise im Gestein, die mich so angezogen hatten? Gab es diese Kreise überhaupt noch auf der Seite meiner Neuzeitepoche? Und würde ich wieder mit ihrer Hilfe in mein normales Leben zurückfinden?

Wenn ich in mich spürte, so bestand im Augenblick nicht unbedingt das Bedürfnis, so schnell als möglich zurückzukehren, viel eher empfand ich neben gewissen Ängsten eine unbeschreibliche, neugierige Erwartungshaltung, die mich zum weiteren Handeln antrieb.

Erst als ich meine Augen aus Erschöpfung schloss, nahm ich die paradiesischen Geräusche und Düfte rings herum wahr. Keine Autos, keine Flugzeuge, keine landwirtschaftlichen Maschinen, nur ein tiefes Echo allen Lebens hatte mich eingehüllt. Ich versank in einen von Allem befreienden, traumlosen Schlaf.

Lautes Geschrei weckte mich. Mein Herz schlug sofort Alarm und der Adrenalinspiegel erhöhte sich um ein Vielfaches. Unter mir lief eine Gruppe dieser Urmenschen, gut gelaunt, aber enorm achtsam, durch den Wald. Zwei trugen ein blutiges Tier über den Schultern, das sie wohl erlegt hatten. Da ich aussah wie sie, machte ich mich mutig durch wilde Schreie bemerkbar.

„Uhaka, uhaka, kummulu!“ Woher kamen diese komischen Worte? Doch gleichzeitig wusste ich auch um ihre Bedeutung:

„Hallo, hallo Freunde.“

Sie erschraken. kannten mich aber anscheinend tatsächlich, denn sie verstanden meine Laute. Sie riefen mir freudig zu, ich solle heruntersteigen. Ihre Freude war begründet gewesen, denn sie hatten gedacht, ein Tier hätte mich zerfetzt. Verdutzt schaute ich an mir herunter und in der Tat sah ich einige verschorfte Kratzspuren an Armen und Schenkeln. Großspurig winkte ich ab.

Trotz unserer abgehackten Laute wussten wir, was der andere dachte und deshalb verstand ich auch diese Sprache. Es waren keine Wörter, wie ich sie kannte, sondern einfache Laute, um auf sich und Anderes aufmerksam zu machen, aber auch um zu kommunizieren. Vermutlich konnte ich über die Schwingungen der Laute ihren Sinn verstehen.

Sie erkannten mich, ich war einer von ihnen, konnte mich aber nicht an sie erinnern. Ich tat, was sie wollten. Sie waren erstaunt, dass ich lebte, denn in ihren Augen war ich, wie durch ein Wunder, den Klauen eines Reißwolfes entkommen. Ich reihte mich hinter dem letzten Mann ein. Mein Körper bewegte sich wie der ihrige, wie der eines Menschen, der schon immer von Gefahr umgeben war, leicht geduckt, mit wachen Ohren und suchenden Augen. Er führte sein eigenes Leben, ein Leben, das ganz darauf abgestimmt war, so lange wie möglich zu überleben. Wir bewegten uns hügelabwärts, entlang eines kaum sichtbaren Pfades, bewaffnet mit Speeren, Schlagstöcken und spitzen Steinen.

Wir erlegten ein rehartiges Tier mit seltsamer Kopfform und riesigen Reißzähnen. Das rauschende Geräusch, das ich bereits am Abend zuvor ganz leise auf dem Baum wahrgenommen hatte, verstärkte sich. Nachdem wir einen kleinen Hügel erklommen hatten, standen wir plötzlich vor dem Abbruch einer steil abfallenden Küste mit einer flachen Brandung.

Es war also wahr, es gab dieses Meer tatsächlich und ich befand mich am Rande des alten Hochsträß vor vielleicht ca. zwei Millionen Jahren. Weit, weit im Hintergrund erkannte ich ein mächtiges, langgestrecktes, dunkles Bergmassiv mit weißen Gipfeln. Es mussten die Alpen sein. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, bis mich ein freundschaftlicher Schlag auf den Rücken in die neue Wirklichkeit versetzte.

Ein Begleiter zeigte nach unten und dort erkannte ich in einer sandigen Bucht weitere Gestalten. Eine freudige Erregung übermannte mich, als ich plötzlich stolperte, strauchelte und den Halt verlor. Ich stürzte kopfüber senkrecht nach unten und plötzlich wusste ich, wo und wer ich war. Ich gehörte zu dieser Gemeinschaft, war dort aufgewachsen und hatte bereits ein schwieriges Leben hinter mir. Am Strand erwartete mich meine Frau mit Kindern, sie warteten aber umsonst.

Ich erwachte durch einen kräftigen Schlag auf den Kopf, riss die Augen auf und starrte in ein freundliches, weiches Gesicht. Es lächelte, die Augen, umrahmt von herrlichen, langen, schwarzen Haaren, kamen mir irgendwie bekannt vor. Auf meinem Hinterkopf breiteten sich Schmerzen aus. Während ich ihn abtastete, spürte ich eine klebrige Flüssigkeit. Es war mein eigenes Blut. Ich schaute mich um und sah einen Felsbrocken am Boden liegen, der vermutlich auf mich herabgefallen war. Aber wo befand ich mich? Wo war die Brandung? Wo die Bäume und Pflanzen? Ich sah nur Felsen. Mein Körper war wieder in Felle gekleidet und mir war kalt. Unter einem Felsvorsprung erkannte ich andere Menschen, die sich alle um ein großes Feuer scharten. Die Frau half mir auf und führte mich zu diesem Feuer. Nicht weit weg, außerhalb der Höhle, rauschte ein breiter Fluss vorbei. Schwankend lief ich aufs Feuer zu und ließ mich zwischen den anderen nieder, die mich aufmunternd, aber auch lachend anblickten. Die Frau versorgte meine Kopfwunde mit trockenem Moos.

„Der Geist des Berges meint es heute nicht gut mit Dir, Du solltest ab und zu auch nach oben schauen, nicht nur auf Dein Schnitzwerkzeug.“ Ich verstand nicht, nickte aber trotzdem. Da ich zu keiner Antwort fähig war und um etwas Zeit zu gewinnen damit ich mich besser orientieren konnte, spielte ich den Benommenen.

Ich wusste nicht, was los war, eben noch zwischen Jägern am Meeresstrand und jetzt vor einem Feuer in einer Höhle. Spielte meine Seele verrückt, hüpfte sie ziellos durch Zeit und Raum?

Die Frau legte einen Steinschaber und ein mir bekanntes Elfenbeinfigürchen vor mich hin und lachte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir uns kannten und auch mochten. Wilde Gesichter mit dunklen Augen schauten durch struppige Haare und hörten auf einen erzählenden Mann. Das, was er zu sagen hatte, drückte er mit Hilfe eines Stöckchens aus, mit welchem er sehr emotional Striche auf den Boden zeichnete während er stammelte:

„Tau ona guro unna hollo…“.

Er vermittelte einen Plan, wie man am besten einen großen Säbelzahntiger, an einer ganz bestimmten Stelle, in eine Falle locken und erlegen konnte. Ich war innerlich zu stark aufgewühlt, um ihm ganz zu folgen. Meine Gedanken stürzten wie Gebirgsbäche auf mich ein. Wo war ich gelandet? Wer war ich im Augenblick? Träumte ich schon wieder einen anderen Realtraum?

Aber mein Kopf brummte. Normalerweise verspürt man während des Träumens keine so intensiven Kopfschmerzen. Also doch wieder alles, was ich sah, real nur in einer anderen Gegend. Ich betrachtete das Püppchen vor mir. Das Elfenbeinfigürchen glich genau dem, was in meiner Zeit im Blaubeurer Museum ausgestellt stand und in der Höhle „Hohler Fels“, vor nicht allzu langer Zeit ausgegraben worden war. Es sah aus wie ein Mensch mit Löwenkopf, nur, dass es hier noch zwei Beine und Arme mit Pranken besaß. Ich selbst sollte es erschaffen haben? Wie konnte man so etwas jemandem aus meiner Zeit klar machen, ohne ausgelacht zu werden?

Es war nicht die einzige Figur, die unter meinen Händen eine Form gefunden hatte, mir fiel es wieder ein und ich wusste jetzt auch plötzlich, wo ich war, aber dieses Wissen stammte nicht unbedingt von mir. Irgendjemand war noch in diesem Körper anwesend. Ich hatte ihn wohl auf eine mir unbekannte Weise in eine Ecke gedrängt.

Es konnte eigentlich nur der „Hohle Fels“ sein, welcher sich nur wenige Kilometer von meiner Wohnung in Ringingen entfernt befand. In meiner Zeit joggte ich oft an ihm vorbei, und jetzt wurde mir auch klar, wie dieser Fluss vor der Höhle heißen musste. Es konnte nur die Donau bzw. die Ur-Donau sein, die damals den Verlauf des Schmiech- und Blautales nahm. Sie lief zu Urzeiten genau durch dieses Tal von Ehingen aus über Schelklingen nach Blaubeuren in Richtung Ulm. Aber sie sah total anders aus, sie war breit und wild, mit viel Schottergestein und Felsbrocken bestückt, vermutlich alles von den Alpen abgetragen und mitgerissen. Trotz allem, so schien es mir, war sie überquerbar, wahrscheinlich, weil die Schneeschmelze in den Bergen noch nicht eingesetzt hatte. Es musste die Donau sein. Also landete ich in einer Zeit vor ca. vierzigtausend Jahren. Wow, was für ein Ereignis, welch ein Zufall. Zufall? Ich schaute mich um, aber, obwohl ich hier in dieser Höhle öfter einem Trommelkonzert beigewohnt hatte, erkannte ich diesen Raum kaum. Ich nahm sie jetzt als viel kleiner war.

Anscheinend hatte es sich tatsächlich alles so abgespielt, wie es Archäologen aus meiner Zeit vermuteten. War wirklich alles nur ein Zufall gewesen oder erfüllte sich mir nur ein Wunsch, den ich oft geistig ausgesandt hatte? Oft spazierte ich in meiner Zeit durch dieses Tal und dachte, wie schön es wäre, einmal wie früher hier zu leben, glaubte allerdings nie wirklich an eine derartige Möglichkeit.

Jagen, wie die anderen Männer, wollte ich nicht wirklich, viel eher fand ich Gefallen an meinen Elfenbeinschnitzereien. Ich wurde bestaunt und nicht selten tauschte ich meine Arbeiten gegen frisch erlegtes Wild ein. Also warum sollte ich jagen und mich den Gefahren aussetzen. Deshalb fragte ich diese Frau:

„Kannst Du mir neue Hörner zum Schnitzen besorgen?“ Sie schüttelte nur ungläubig den Kopf und zeigte auf eine Stelle in der Höhle, wo ein ganzes Arsenal an großen Stoßzähnen wie abgenagte Knochen herumlag. Sofort deutete ich auf meinen Kopf und sie ließ mich durch ihr Kopfnicken wissen, dass sie verstanden hatte. Wieso verstand sie eigentlich?

Eine Frage meiner vielen Fragen schaffte sich Platz. Wenn alles, was ich über diesen Ort dachte stimmte, dann würde mich brennend interessieren, wie das Tal bei und um Urspring jetzt aussehen würde?

Urspring befand sich in meiner Realzeit kurz hinter Schelklingen. Dort, so weiß man, schlängelte sich die Donau einst mäanderartig am Fuße der Schwäbischen Alb entlang. Ich wollte, um dies bestätigt zu wissen, unbedingt irgendwann nachschauen. Es konnte nur wenige Kilometer entfernt sein. Aber wie, und dann noch alleine? Ich konnte die Gefahren, die vermutlich auf mich warteten, nicht richtig einschätzen?

Ich hielt mir den Kopf, täuschte starke Schmerzen vor und zog mich, um ruhig planen zu können, in die Höhle zurück. Genau neben meinem Elfenbeinberg befand sich ein Lager aus Ästen, Moos Gras und Fellen, das vermutlich mir gehörte. Ich ließ mich darauf nieder und hoffte, die schöne Höhlenbewohnerin würde mich besuchen. Tatsächlich kam sie zu mir und legte sich wie eine Katze auf meine Brust und gab wohlige Laute von sich.

Ich erwachte von lautem Krachen. Blitze erhellten die letzten düstern Winkel der Höhle und ließen das Antlitz meiner Gefährtin in seiner wilden Schönheit, wie in einer Dia-Show auf- und abtauchen. Die Höhlenbewohner hatten sich ebenfalls zurückgezogen und schliefen völlig unbeeindruckt. Ich dagegen war wie von der Tarantel gestochen hochgeschossen, als mich der Lichtstrahl eines Blitzes vor dem Eingang der Höhle blendete und den kurz darauf folgenden Knall sogar meinen Körper erzittern ließ.

Das Feuer am Eingang glostete noch und verbreitete einen angenehmen, rauchigen Duft verbrannter, angeschwemmter Hölzer. Mein gesamter Körper vibrierte vor Erregung. In jeder Zelle spürte ich die geheimnisvolle Mystik, die mich umgab. Vorsichtig schlüpfte ich neben meiner Nachtpartnerin aus den Fellen und begab mich zum Eingang. Ich schaute mich um und da mich niemand bemerkte, bediente ich mich eines noch liegen gebliebenen, durchgebratenen Stück Fleisches, ergriff einen Speer und verließ eilig die Höhle. Der Himmel graute bereits, aber die tief herabhängenden Wolken verdunkelten den anbrechenden Tag und tauchten die Umgebung in eine neblige Szenerie. Immer wieder zuckten breite Blitze kreuz und quer. Als ich springend von Stein zu Stein über die Ur-Donau hetzte, begann es zu regnen. Diesen Regen konnte ich mit nichts aus meiner Zeit vergleichen, er fiel wie lange, dicke Schnüre vom Himmel.