Zeitströme. Über Flüsse und Menschen - Carsten Kluth - E-Book

Zeitströme. Über Flüsse und Menschen E-Book

Carsten Kluth

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Beschreibung

»Im Fluss ist etwas Unfassbares.« – Wie Flüsse uns Menschen bewegen

Es begann mit einem Plan. Sich auf den Weg zu machen, berühmte Flüsse abzuwandern: die Geschichten aufzuschreiben, die Flüsse uns Menschen seit Urzeiten erzählen. Doch bei seinen Recherchen und Wanderungen stellt Carsten Kluth fest, dass diese Flüsse ihm Fragen eröffnen, die viel tiefer reichen als gedacht: Wie haben Flüsse uns Menschen geformt? Was ist ein Fluss, was treibt ihn an? Und wenn er doch flüssig ist, wie können wir ihn dann überhaupt begreifen?

Kluth betritt jene Schwellen und Zwischenräume, in denen sich Beobachter und Beobachtetes nicht mehr so leicht trennen lassen, in denen die Grenzen der Identität, zwischen Realität und Fiktion langsam verschwimmen. Im mitreißenden Strom zwischen Autofiktion, Geschichte und Naturbeobachtung erzählt er davon, was es heißt, als Mensch wahrhaft im Fluss zu sein – und warum unser Leben dem Fluss gerade im Tod so nahe ist.

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Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Es begann mit einem Plan. Sich auf den Weg zu machen, berühmte Flüsse abzuwandern: die Geschichten aufzuschreiben, die Flüsse uns Menschen seit Urzeiten erzählen. Doch bei seinen Recherchen und Wanderungen stellt Carsten Kluth fest, dass diese Flüsse ihm Fragen eröffnen, die viel tiefer reichen als gedacht: Wie haben Flüsse uns Menschen geformt? Was ist ein Fluss, was treibt ihn an? Und wenn er doch flüssig ist, wie können wir ihn dann überhaupt begreifen?

Kluth betritt jene Schwellen und Zwischenräume, in denen sich Beobachter und Beobachtetes nicht mehr so leicht trennen lassen, in denen die Grenzen der Identität, zwischen Realität und Fiktion langsam verschwimmen. Im mitreißenden Strom zwischen Autofiktion, Geschichte und Naturbeobachtung erzählt er davon, was es heißt, als Mensch wahrhaft im Fluss zu sein – und warum unser Leben dem Fluss gerade im Tod so nahe ist.

Zum Autor

Carsten Kluth pendelt zwischen Kreuzberg 61 und dem ostholsteinischen Land. Dort erkundet er neben seiner Bibliothek auch das umliegende Gelände, den wild wuchernden Garten, die Wälder und die Flüsse. Mit seinem Buch »12 Farben Grün« wurde er zum ersten Nature-Writing-Seminar des Literhauses München eingeladen. Zudem war er Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB). Er ist Mitglied des Kunstkollektivs »Wilde Kehlen« zur literarisch-musikalischen Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen mit regelmäßigen Life-Performances auf dem holsteinischen Land, in Hamburg, Lübeck und Berlin.

Carsten Kluth

Zeitströme

Über Flüsse und Menschen

HarperCollins

Originalausgabe

© 2025 by Carsten Kluth

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers

© 2025 by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung von Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung von Mona Eing & Michael Meissner

E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN9783749908189

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Urhebers und des Verlags bleiben davon unberührt.

1 Ankunft

Theia

Zwischen den spiegelnden Sommern der Jahre 1997 und 1998 übernachtete ich an den Wochenenden, die ich in New York City verbrachte, oft in einem Hostel in Harlem in der 123. Straße, Ecke Malcolm X Avenue. Dort lernte ich Mischa kennen, der nach kurzem Kennenlernen und den ersten Geschichten, die er erzählte, auf mich den Eindruck von Schwemmgut machte. Er war wie eines jener glattgeschliffenen, von der Sonne gebleichten Hölzer, die nach Hochwasser an den Ufern der Gewässer zurückbleiben. Heute kann ich mich an sein Aussehen nicht mehr erinnern, dabei habe ich in dieser Hinsicht ein gutes Gedächtnis. Namen entfallen mir, der Klang einer Stimme, Ort und Zeit einer Gelegenheit, der bestimmte Geruch eines Körpers, all das mischt sich mit den anderen Erinnerungen, aber ein Gesicht, der Schwung einer Augenbraue, die Form eines Nasenflügels, die Farbe der Augen – das vergesse ich normalerweise nicht. Bei ihm schon. Mischa stammte aus Leipzig und war mit seiner Freundin als Teil des gewaltig anschwellenden Stromes der Menschen, die man damals Ausreisewillige nannte, über Prag und die DDR nach Westdeutschland gekommen, wo die Ankömmlinge schnell eingesickert waren, sich lokal verteilt und etabliert hatten, bis auf jene wie eben Mischa, der nicht aufhören konnte, sich weitertreiben ließ und damals, Mitte der 1990er-Jahre, zwischen Malcolm X Boulevard und Midtown hin- und herschwappte. Durch Mischa hörte ich zum ersten Mal von Theia, aber vielleicht auch nicht, denn als ich viel später nachforschte, fand ich heraus, dass seine Outer-Space-Theorien von der Herkunft des Wassers durch den Einschlag eines riesigen Chondrits erst lange nach unserem Kennenlernen aufkamen. Mischa ist mir seit unseren gemeinsamen New Yorker Wochenenden wie ein einleuchtendes Prinzip, das Prinzip des Fließens, das nach der Vorstellung des Thales der Quell allen Lebens ist. Dass alles, was ist, ein und denselben Ursprung hat, das Feuchte, das Wasser, das Fließen, das Göttergewimmel.

Damals: Die Flüsse waren vor den Meeren, sagt Mischa (im New York von 1998). Wir trinken in einem Russencafé in Little Odessa, vor uns der Atlantik, umgeben von Männern in ballonseidenen Trainingsanzügen. Über uns ein weiter Himmel, der von hier bis nach Europa reicht, sich vor allem aber über Wasser erstreckt. Die Erde hat einen falschen Namen, sie müsste eigentlich »Wasser« heißen. Alles hängt vom Wasser ab, und seine Daseinsform ist das Fließen. Und doch war die Erde einmal wirklich nur Erde, besaß kaum Wasser. Vor den Flüssen war Theia, ein marsgroßer Asteroid aus Eis, der aus dem äußeren Asteroidengürtel das Wasser der Flüsse brachte, sagt Mischa, als wir über die Brooklyn Bridge schlendern. Mischa weiß solche Sachen aus der Galerie in Central Park West, in der er als Mädchen für alles arbeitet, die Klospülung betätigt, nachdem sein Chef scheißen war, ihm dafür das gerade in den amerikanischen Markt eingeführte Viagra stiehlt, hier eine Tablette, da eine Tablette.

Die Astronomen streiten sich darüber noch, einige meinen, bei einem solch gewaltigen Zusammenprall müsse alles Wasser verdampft sein, andere glauben das nicht, und überhaupt müsse »Wasser« ja nicht nur in flüssiger Form oder als Eis oder Dampf vorliegen. Anhand der in Erde und Mond vorhandenen Isotope ist die Herkunft des Materials von weit her wohl wahrscheinlich. Transneptunisch, 4,4 Milliarden Jahre alt, marsgroß, das sind die Hausnummern, die aufgerufen werden. Die Gesamtheit der Erde besteht also aus trockener Materie aus dem Innern des sich bildenden Sonnensystems und aus wasserhaltigen Körpern – was man so alles unter Wasser eben verstehen kann –, die sich vom Rand der sich immer weiter verdichtenden Materiewolke zum Zentrum bewegten. Dass ich in diesem Moment, da ich diese Zeilen schreibe, einen Kaffee trinke, dass dessen Flüssigkeit sich mit der Flüssigkeit meines Körpers vermengt, dass mein Körper andauernd Flüssigkeit absondert, jeden Tag literweise, all das ist das Ergebnis des Fluges eines riesigen Eisklotzes – was immer man auch unter Eis verstehen mag. Der Wasserkreislauf – Ergebnis eines unwahrscheinlichen Zufalls. Der Kreislauf allen Fließens – Ergebnis eines zufälligen Impulses, sagt Mischa und deutet auf den träge auflandenden Atlantik. Wie wahrscheinlich ist es, dass gerade diese zwei Himmelskörper in diesem Moment die identischen Koordinaten durchlaufen? Zwei Objekte, die ineinanderkrachen, und dass aus dieser Kollision etwas entsteht, auf dem alles beruht: die Tatsache des Fließens.

Mischa zwinkert mir zu. Die Luft ist gesättigt mit Zuversicht. Der Himmel spannt sich über den Westen, festgemacht an seinen höchsten beiden Punkten, an den hundertzehnten Stockwerken des World Trade Centers. Unter diesem Himmel beten wir das Fließen an, nicht wahr, sagt er, es ist überall. Wasser, Energie, Reisen, Handel, Metaphern. Nicht wahr?

Viel später erst konnte ich die Vibration wahrnehmen, die Aussetzer. Die Fremdheit. Dass die Erde ein Planet der Flüsse ist, heißt nicht, dass es immer so war. Dass es so bleiben muss. Die Erde selbst ist fest. Fließt nicht.

Nur wenige Querstraßen landeinwärts sind sämtliche Läden, Restaurants, die Plakate, Flugblätter, die Namen der Friseursalons in kyrillischer Schrift geschrieben. Über den East River und nach Brooklyn, durch Viertel, in denen Spanisch, Viertel, in denen Jiddisch, Arabisch, Polnisch gesprochen wird. Von einem Zapiekanka-Büdchen aus sehe ich den Mond über dem World Trade Center aufgehen. Wahrscheinlich würde man, suchte man nur sorgfältig genug, in jedem Haus Brooklyns kleine Puppenhäuser finden, in denen wiederum Zimmer sind, die ihrerseits ein kleines Häuschen enthalten, mit vielen Zimmern, von denen jedes einzelne wieder ein Häuschen enthält. So unterschiedlich die Zimmer auch sind, so unterschiedlich die Sprachen, Gesten, der Habitus der Menschen, so eindeutig zusammengehörig und gleichzeitig nicht greifbar. So fremdvertraut wie der unscheinbare Schuppen in Little Odessa, zu dem Mischa uns führt, in dem es nach Schweiß, Fett und frischen Birkenblättern riecht, mit denen massige Männer sich gegenseitig auf die Rücken schlagen. Der Eindruck ist so fremd, die Atmosphäre so angereichert und im Übergang zu etwas Neuem, dass ich förmlich spüre, wie sich Zuschreibungen lösen. Und etwas Neues ins Blickfeld gerät.

Mischa ist ein Trickster, ein auf den Hund gekommener Loki. Über Theia geht es nur kurz, mit einem prüfenden Blick, ob ich anbeiße. Da es mehr als zwanzig Jahre dauern soll, bis ich’s tue, lässt er den Haken los, füttert nicht, lockt nicht, erzählt nicht weiter. Wie so oft zeigt sich die Chance erst, wenn sie vorbei ist. Heute denke ich, dass ich neben einem der Götter saß, im Russencafé in Little Odessa, die mit dem Wasser zur Erde kamen. Eng zusammengedrängt ritten sie zur Erde, zwangen einem trockenen Klumpen Materie ihren Willen auf, und ihr Wille war: Transit, Veränderung, Fluss. Die Erde steckt uns in den Knochen, die Erde ist ein faschistischer Ekel, unkreativ bis zum Anschlag, zufrieden damit, bewusstlos, trocken und immer verschmäht, um die Sonne zu treiben. Die Schwierigkeiten und die Schönheit, Streit und Liebe und ewige Verwandlung kamen aus der tiefen, extraterrestrischen Nacht, dort, wo sich die Flussgötter zwar hatten sammeln können, wo es aber zu kalt war für ihr Fließen.

Das Drängen der Wassergottheiten im Dämmerlicht des mittleren, des äußeren Sonnensystems. Ein Fehler oder Voraussicht, wahrscheinlich aber einfach Zufall hat sie hierher verschlagen, ihrem Begehren so weit entfernt, der Götter Wasser über der Götter Land fließen zu lassen.

Von Theia aus gesehen war die Erde nicht zu erkennen, nicht mit bloßem menschlichen Auge. Ich stelle mir vor, sagt Mischa, dass es dort im Inneren des Planetoiden keine Vorstellung gab von der Erde. Dass es dort keine Idee der Erde gab. Theia und die Erde, eine unwahrscheinlichere Kombination kaum vorstellbar, sagt Mischa ein anderes Mal, als wir auf dem Broadway von ganz unten in Bowling Green in zwei Tagen bis nördlich von Sleepy Hollow wanderten, wo er sich in die Albany Post Road verwandelt. Um uns herum entrollt sich die Stadt in Rechtecken, durch die der eine Weg sich schräg stellt. Widerstreitende Prinzipien. Kurz vor der Columbia-Universität essen wir einen Hotdog.

Mischa traf ich häufig am Nachmittag. Sein Gebiss bröckelte, er war bei den Vernissagen nicht vorzeigbar und hatte deshalb um diese Zeit meistens frei. Selten besuchte er mich in meiner Unterkunft in Harlem, meistens trafen wir uns in einer von ihm ausgesuchten Kneipe oder in einem Restaurant, öfter im Alphabetvillage oder in Hell’s Kitchen. Wir aßen Caesar Salad und tranken Bier. Mischa zeigte mir Queens, ich kam mit ihm durch Yonkers, vor allem aber liefen wir die Straßen von Brooklyn ab. Einmal, mitten im polnischen Viertel, stoppte er, fasste mich an der Schulter und deutete in eine Straße, die nach Westen verlief, durch die der Blick frei glitt, über den East River, nach Manhattan. Und Mischa hob an zu sprechen: »Der Himmel fließt in steinernen Kanälen; / Denn zu Kanälen steilrecht ausgehauen / Sind alle Straßen, voll vom Himmelblauen.« Damals googelte man noch nicht einfach so, man musste an einen Festnetzrechner; so fand ich erst später heraus, dass die Worte von Oskar Loerke waren. Später, viel später erfuhr ich von Emanuele Coccias Theorie der Ozeanischen Atmosphäre. Und noch einmal später hörte ich bei François Jullien von der gewalttätigen Trennung von Theorie und Praxis. Damals, im polnischen Viertel in Brooklyn, war es nur Mischa, der gestikulierend, im Übereifer spuckend, das Dilemma eines fernen Brockens Eises illustrierte. Was genau wollte man dort, in der habitablen Zone?

Auf Erden ist damals kein Fließen. Alles erstarrt. Die Starre ist die Voraussetzung. Alle sind sie hier, niemand ist dort, aber ein Ziehen ist dort, mit jedem weiteren Tag der sehr gedämpften Farben. Später wird Heiligkeit auf Heiligkeit, Wesen auf Wesen unterschieden, angebetet, gefürchtet, verflucht, bedankt werden. Das Fließen, die vornehmste Aufgabe Theias. Das Fließen der Beginn des Wünschens, und so spüren auch die vielen unruhigen, am Ende oder in der Mitte des Sonnensystems kaltgestellten, oder geborenen, rückerdachten Göttinnen des Fließens ihre Wünsche, die Götter der Flut, die Gottheiten der Seerettung und des Regens, die Haigötter, Flussgötter, Quellnymphen, Hungerquelldämonen, Meeresgottheiten, der Gott des Regens Chaac und die Muttergöttin des Süßwassers Atabey, die Göttin der horizontalen Gewässer Chalchiuhtlicue und der Gott des Regens Tlāloc, die traumschöpfenden Regenbogenschlangen, die Kopffüßlergöttinnen, die Bagobo-Aale, die Fischergötter und Gottheiten der verborgenen Seen, die Schlangengöttinnen der Seebeben, Bulan, dessen Tränen die Flüsse speisen werden und dessen Arm zur Erde wird, die Regenten des Wassers und die Beschützer vor dem Wasser, die Bringer des Wassers und jene, die es verwehren, die es willkürlich zuteilen, zerstörerisch aufwühlen, Ilocano, die das Meerwasser salzig werden lässt, und Oden, deren süßer Regen die Erde erquickt und fruchtbar macht, auch die Dämonen, Untiere und Monster, die Seedrachen, Ungetüme, die üblen Aufrührer, die Fischeentführer und Wellenauftürmer, die Kaventsmänner und die Sirenen, die lockenden Geschlechter, die Riesensalamander und die Schlangen- und Drachengöttinnen, die Zukunftschauenden und die Beauftragten der Überschwemmungen, die Brückengöttinnen, die die Fruchtbarkeit des Wassers, die Kraft des Fließens kontrollieren, des Fließens der Körperströme zu Orgasmus und Befruchtung, dass Fließen allen menschlichen Verkehrs, der Straßen, Geld-, Handels-, Touristenströme, Wanderungen, Gedanken, der Heerzüge und der Gebete, Psamathe, Göttin der Sandstrände, Phorcys, Gott der verborgenen Gefahren der Tiefe, die Götter der Spring- und Sturmfluten, Schaumgeister, Salzseelen, Göttinnen des Eises, Göttinnen der Höhlen, der Spalten, des Versickerns, der Osmose, Riesenkrabben, Seemannsheuer, Frachtversicherungen, auch Rán, die die Seelen der Ertrunkenen in einem Netz einsammelt, Saga, die in der Nähe des Wassers Odin zum Trinken animiert, Nixen, Wassergeister, Nehalennia, die Göttin der Nordsee, zurückbleibend hinter den Neufundland zustrebenden Drachenbooten, die neun Wellentöchter von Ægir, die Brunnengöttinnen, die heilenden Gottheiten, die Plagen, die wilde Jagd im Schneesturm, die wohlgesinnten Wassergöttinnen des Nordens, die Mineralquellengötter, die Feuergötter des Wassers, Göttinnen der Feuchtigkeit, der Moore, der Nebel und Wolken, der Wetter und Pfützen, der stinkenden Tümpel, die Succubi und Wasserdämonen, die Göttin der wilden Räume, aber auch die Wassergottheiten des Rechts und der Solidarität, der Kanäle und des Transports, die Göttinnen des jenseitigen Wassers, des Todes und der Nacht, der sternenlosen Flüsse, des dunklen und trüben Wassers, des halben Vergessens, der dunklen Transparenz, der Gespenster, der Wiederkehr, der Sexualität und der Seekühe, der Amphibien, der Schönheit und der Liebe. Und immer enthüllen sich neue Ausprägungen: die Göttinnen und Götter der Elektrizität und der Kommunikation, die um 1900 von Louis-Ernest Barrias und Evelyn Beatrice Longman in monumentalen Skulpturen antiken Vorbildern nachgebildet wurden und heute die Zentrale von AT&T in Dallas schmücken. Die Göttinnen des Verkehrs und die Götter des Gerüchts reisten mit, die Göttinnen der Wanderschaft von Menschen und Tieren. Und jene des Aus- und jene des Einatmens.

Aber sind denn wirklich alle diese Wesen in diesem Brocken Eis enthalten, der zwischen Mars und Jupiter als Asteroid um die ferne Sonne wanderte, oder noch viel weiter entfernt, so weit, dass bei der Vorstellung allein alles Geräusch verstummt, jenseits des Neptuns, dort, wo die Sonne auch nur ein Stern unter anderen, dort, wo es immer wie in einer Sternennacht ist, dort, wo die absolute Kälte die Gottheiten zusammenpresst? Oder begleiteten sie die trockene, wüste, flusslose Erde auf ihrer eigenen Bahn, so wie Lagrange es berechnete? Was auch immer einmal herausgefunden werden wird, es ist ziemlich sicher, dass kein Meeresgott auf Erden über die Fluten herrschte, denn es war keine Flut, und keine Quellgeschöpfe drückten das Wasser aus den Steinen, und Odin trank keinen Schnaps mit Saga, denn es gab kaum Wasser auf Erden, aber es gab Wasserstoff und Kohlenstoff auf Theia, wo auch immer Theia gewesen sein mag, bevor sie diesen einen Anstoß bekam, der sie zur Kollision trieb, diese Reise der Flussgottheiten beginnen ließ. Und weil sie eben da waren, auch wenn sie damals, zu Zeiten der jungen Erde, vor Milliarden Jahren noch nicht da waren, weil nicht erdacht, aber eben doch waren, wie in jeder ordentlichen Saga, jeder Schöpfungsgeschichte souverän an den Beginn der Zeiten gesetzt, sie erst später ins Vergessen sanken (diesem menschlichen Ozean, der ebenso wie alles andere darauf angewiesen ist, dass etwas fließt, die Säfte durch den Körper, das Blut durchs Gehirn, der Strom durch die Synapsen, die Informationen von Mensch zu Mensch), sind sie auch gewesen oder sind noch und kommen wieder, wie das Göttinnen an sich haben, diese leichten Wesen des Tages und der Nacht.

Und so ist der Beginn eines Nachdenkens über Flüsse nur möglich als das Nachdenken über die Ankunft der Flusswesen. Denn mit dem Wasserstoff, der sich mit dem Sauerstoff des Kohlenstoffes verband und zu Urerdzeiten in mächtigen Regenstürmen auf die eruptierende, feuerspeiende Oberfläche des jungen, pubertierenden Planeten herabstürzte, verdampfte, sich sammelte, wieder zerstoben wurde, sich verband mit anderen Urstoffen, Mineralien, sich irgendwann beruhigte und zu hegen begann, was sich noch gebildet hatte, langkettige Moleküle, Ergebnisse einer lebhaften Chemie, der Hin-und-her-Bewegung von Energie in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, begann also die Magie, um irgendwann eine Erscheinung der Selbstständigkeit, eine erste Variation der Autopoiesis zu entdecken, also das, was Leben ist, das, was göttlich, dämonisch, zeugend, menschlich und nichtmenschlich ist. Das Leben ist eingebettet und geboren in die Flüsse. Sein Prinzip ist jenes der Flüsse. Seine Gedanken sind jene der Flüsse, sein Begehren äußert sich als Fluss. Wie immer bei solchen Geschichten gibt es eine gewisse Zwangsläufigkeit, dieser marsgroße Mythos, dessen Überbleibsel möglicherweise einerseits im Magma des Erdkerns als Anomalien vorhanden sind und andererseits im Monatslauf die Erde als ihr Trabant begleitet – dieses Göttergeschoss, dieser Göttinnentransport, musste die Erde treffen, seine Fracht abladen, die Entwicklung in Gang setzen. Musste? Ja, nun, wie sonst sollte dieser ungeheure Denkaufwand begründet werden, der daraus entstand, dieser Haufen an Gefühlen, diese Synchronisation der Welt? Und doch ist es knapp ausgegangen, hätte einer gewackelt, hätte ein Sonnenwind die Bahn des Asteroiden leicht verändert, hätte die Ursprungsverteilung nur eine Winzigkeit anders sich verhalten, nie wären wir entstanden. Und nie würde etwas fließen. Morgens, wenn ich den Kaffee einschenke, wenn die Träume auf dem Rückzug, die Brote der Kinder zu schmieren sind, die Tagesverteilung der Aufgaben ansteht, also sich das Leben eines durchschnittlichen Westeuropäers zu entfalten beginnt, dann kommt manchmal ein Gedanke, wie eine umgedrehte Pyramide: Einmal war beinahe nichts, jetzt ist so viel.

Einmal lud ich Mischa ein, mich nach Hudson, dem am gleichnamigen Fluss gelegenen Kleinstädtchen und Ausflugsziel, zu begleiten. Ich schrieb für einen Bekannten einen Artikel über Frederic Edwin Church und wollte Olana besuchen, das Anwesen, in dem er lange gelebt hatte. Mischa tat sich schwer beim Aufstieg zum Anwesen. Auf den Hudson sah er beiläufig. Ich witterte Missgunst. Diesmal – als gelehriger Schüler Mischas – entwickelte ich meine Sichtweise. Ich erklärte, dass es am Ufer eines Flusses zwei Arten der Beobachtung gäbe, die geprägte und die offene. Sehe ich den Fluss als Fluss, sehe ich das Objekt. Es gibt einen Rahmen, der von der Quelle bis zur Mündung reicht, einen Strom, den ich vom bescheidenen Ursprung bis zu seinem Ende konzeptionell zur Hand habe. So wie ich vor einem Menschen stehend sagen kann: Dies ist ein Mensch. Sehe ich mir den Fluss aber offen an, lasse ich das Phänomen tatsächlich auf mich wirken, dann ist nicht mehr klar, was der Fluss ist. Gehört nur die Oberseite seines Bettes dazu, nicht aber auch das Grundwasser, das er speist? Gehört der Regen, der Quelle und Strom befüllt, dazu (manche sprechen von Flüssen der Luft) oder nicht? Gehören die winzigen Krebse, die kleinen Mückenlarven in den ruhigen Seitenarmen, die Fische, die badenden, stöckeholenden Hunde dazu, gehöre ich dazu, wenn ich einen Fuß hineinstecke oder ein Stück mitschwimme? Kann ich Teil eines Flusses sein? Gehört der Gletscher zum Fluss, der doch eindeutig Teile seines Bettes geformt und Teile seines Wassers beigesteuert hat, wenn auch vor langer Zeit? Gehört die Produktivkraft des Flusses dazu, die er in den Mühlen an seinen Ufern und im Transport von Schiffen oder durch die Freude der Urlauber, den Fang der Fischer erzeugt? Gehört das flussinduzierte Denken dazu, die Metaphern, die Bilder, die Systeme, die Geschichten, die Götter? Das flussinduzierte … Fühlen? Franz Anton Mesmers »Flutstoff«, in den der Mensch gehüllt ist, was er ja der Theia-Hypothese zufolge auch irgendwie ist? Oder wenn man die Hülle-Metapher nicht möchte, dann kann man es von der anderen Seite her sehen und sagen, der Mensch besteht zu allergrößten Teilen aus dem Flutstoff, Katastrophenniederschlag. So weitet sich, was der Fluss sein kann, er kann das Wetter sein, das ihm das Wasser zuführt, er kann der Fisch sein, der in ihm geboren wird, lebt, aus ihm von einem Bären gefangen, kilometerweit ins Inland geschleppt und dort verspeist wird, die vom Meer und dem Fluss mitgebrachten Nährstoffe, die so verbreitet werden, den Wald düngen, der kühlt und Feuchtigkeit ausdünstet, Wetter macht, den Fluss speist und so weiter. Der Fluss, ein Fluss, würde Timothy Morton sagen, ist mehr als ein Strom von Wasser, den ich überblicken kann, physisch und konzeptionell, er ist vielmehr ein Hyperobjekt, ein nicht vollständig erfassbares Objekt, das in Zeit, Raum, Verkörperung, Prozessen, Bedeutung die Kapazitäten eines Beobachters weit übersteigt. 1Ein Fluss, jeder Fluss, beginnt nicht an seiner Quelle und endet nicht in seiner Mündung, sondern faltet sich in der Metapher des Fließens in die Welt auf: Elektrische Ströme fließen und Informationen, der Verkehr tut’s und das Geld, manche zerfließen vor Liebe und Gefühl, Menschen strömen und Insekten. Das Wasser hat es vorgemacht, andere Substanzen, Essenzen, Konzepte haben das Rezept übernommen. Wo Flussgötter waren, sind Hydrologen und Poeten, Ökonomen und Biologen, Fachpolitiker und Mythologen. Aber so wie die alten Straßengötter von Verkehrsministern nicht ganz schlecht ersetzt werden, so haben auch die Götter der Wasserflüsse ihre Herrschaft nur geteilt und holen sie sich hier und da zurück, sei es, dass einem Fluss wie dem Ganges Rechte verliehen werden, sei es, dass sie sich diese Rechte einfach zurückholen, mit purer Gewalt. Oder indem sie verschwinden.

Auf dem Rasen Olanas stehend, grunzte Mischa dazu nur. Ich ließ mich, so erinnere ich mich, nicht beirren und machte weiter. Der Nachmittag nebelte ein, wir fuhren zurück in die Stadt, je näher wir der Mündung kamen, desto lebhafter und selbstsicherer wurde Mischa. Heute überrascht mich Mischas Unwohlsein nicht, man reist nicht ungestraft in die Kindheit eines wichtigen Wesens.

In »American Gods« erzählt Neil Gaiman, wie Götter aus aller Welt mit den Einwanderern in die USA kommen, wo sie miteinander leben, sich bekriegen, sich versöhnen, so wie die Menschen, die sie einst oder noch verehren, auch. Odin ist da, aber auch der afrikanische Spinnengott Anansi, die germanische Frühlingsgöttin Ostara, slawische, karibische Gottheiten. Alle aber sind nur mächtig, wenn an sie geglaubt wird, und so verblassen sie gegenüber den modernen Gottheiten, den Medien, dem Geld, der Information, den biologischen und chemischen Verstärkern. So klingend die Namen der alten Götter auch sind, sosehr sie Details des menschlichen Denkens, Fühlens, Fürchtens und Begehrens auch abbilden, die neuen Götter sind ihnen überlegen, weil sie alle ein und dieselbe Sache anbieten. Bewegung, beschleunigte Bewegung, schwindelerregenden Umsatz, wirbelnde Entgrenzung. Entgrenzung in der Bewegung, Verströmen, am Ende ein Entkommen aus der Identität. Die neuen Götter, gegen die Mr. Wednesday – der ein abgeschabter Wotan ist – die anderen herkömmlichen Gottheiten ein letztes Mal mobilisieren will (zu seinem ureigenen Nutzen, versteht sich, so wie man das in Asgard immer schon gehalten hat), sind die alten Götter, sind Bewegung und Fließen, sind Ausbreitung und Fluss. Über Flüsse nachdenken heißt, über die Einhegung der Flüsse nachzudenken. Es hat einen Grund, warum den Göttinnen des Fließens die starren Vatergötter folgten – was fließt, ist prinzipiell ohne feste Form, aber die Schöpfung Gottes braucht eine Form, beginnend mit dem Namen. In der Genesis tritt der Mensch zum ersten Mal als Ackerbauer auf, er ist Teil der zyklischen Maschine, die Gott auf die Erde setzt, nach den sieben Tagen der Schöpfung. Erst in Genesis 2,4-6 wirft er sie an. »Zu der Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen, und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte; aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens.« Man kann diese Stelle des Schöpfungsberichts als Überrumpelung Gottes verstehen. Feuchte steigt auf, ohne dass wir annehmen müssen, dass dieses Aufsteigen Gottes Wille gewesen wäre. Sumpf, Chaos, das dionysische Element, die Frau, die Sexualität. Dagegen: die klare Form, die geordnete Verwaltung, die berechenbare Zukunft, die apollinische Schönheit. Chtonische Untiefe gegen helle Oberfläche. »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser«, heißt es in der Genesis 1,1-2, und wenig später erfahren wir davon, wie Gott die Chaosflut teilt und bändigt in »das Wasser unterhalb des Gewölbes und das Wasser oberhalb des Gewölbes« (Gen 1,7). So entstehen die Kontinente und das Meer. Mir scheint, dass wir einen lernenden Gott vor uns haben. Der erste Anlauf gelang nicht so recht, es war finster, einerseits war die Erde wüst und andererseits wirr. Eine wirre Wüste. Eine verwirrende Wüste. Eine wüste Gegend: eine unordentliche, eine verwirrende Gegend, ein Wald, ein aufgepeitschtes Meer. »Die Wüste ist ein Land voller Überraschungen, manche davon schrecklich«, schreibt Edward Abbey. 2 Die Wüste ist in ihrer Wüstheit nicht für den Menschen gemacht, sie unterläuft seine Wünsche nach Kontakt, sie entzieht sich seinem Zugriff, ist ihm feindlich und gibt nur, wenn sie will. So wie Abbey auf die Wüste sieht, muss Gott auf die erste Version seiner Schöpfung gesehen haben, und es muss ihm Angst gemacht haben. Hans Blumenberg berichtet von seinem Missverständnis des in der Aula des Lübecker Katharineums angebrachten Bibelzitats: »Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit« Psalmen 111,10. Der Herr fürchtet sich. Und nehmen wir Abbeys Schilderungen der Wüste ernst, dann ist diese menschenfeindliche Umgebung dazu geeignet, Furcht zu erzeugen. Gottes Geist schwebt über den Wassern, der chaotischen Flut des Anfangs und entdeckt keinerlei Sinn in allem, was er geschaffen hat. Der Beginn des biblischen Gottes ist ein Verzweiflungsmoment. Im hebräischen Originaltext erschafft Gott Adam aus adamah, dem Ackerboden, und er schafft das Paradies, einen statischen Raum für den Menschen. Und er trägt den Menschen auf, allen Tieren und Pflanzen Namen zu geben, auf dass sie geordnet würden. Camille Paglia übersetzt die Angst Gottes in die Angst des (westlichen) Menschen und identifiziert die Benennung als das, was sie ist: Herrschaft durch Einteilung, Hierarchisierung. »Benennen ist Kennen; Kennen ist Beherrschen. (…) die Größe des Westens [ist] die Folge einer Selbsttäuschung, einer falschen Gewissheit (…). Die Kulturen des Fernen Ostens haben nie auf diese Weise wider den Stachel der Natur gelöckt. Fügsamkeit, nicht Aufbegehren ist ihre Devise. Die buddhistische Meditation strebt nach Einheit und Einklang mit der Wirklichkeit. Die Physik des 20. Jahrhunderts macht eine Kehrtwendung zurück zu Heraklit und erklärt, alle Materie sei Bewegung. Es gibt, mit anderen Worten, keine Dinge, es gibt nur Energie.« 3 Die Furcht Gottes ist also die Furcht vor der chtonischen Natur? Dem ewigen Fließen? Der Gott der Bibel also ein Feind des Fließens? Am Ende der Feind der vielen Potenzialitäten, die mit Theia aus dem Weltraum zu uns gekommen sind? Die Furcht Gottes vor dem extraterrestrischen Wasser: eine Weisheit, die in einem solaren Maßstab xenophob ist? Die Weisheit Gottes, die aus der Furcht entsteht, folgen wir dem Blumenberg’schen (Miss-)Verständnis, eine Blaupause für den Zug zum Festen, zur Form, zur patriarchalischen Eigentumsgesellschaft, zur Fixierung auf das bekannte, genormte Schöne? Zur Eindämmung der Flüsse, Bedeichung der Meere, Trockenlegung der Sümpfe und Polder? Die Vergrabung der Flüsse, das Anhalten der Wunschmaschinen? 4 Hydrologisches Geoengineering als direkte Metapher für die Kulturarbeit und den »Prozeß der Ichwerdung«, so wie Freud Letztere mit der damals gerade geschehenen Trockenlegung der Zuydersee vor der niederländischen Küste verglich. 5 Aber selbst Gottes Allmacht kann die Wüstenei, das Chaos nicht ganz verbannen, und so verbleiben Schlupfwege hinaus aus dem Paradies, der Baum der Weisheit, und es gibt eine Wüstenkennerin.

Menschen sind Transitwesen. Alles Leben verwandelt sich, ist verunsichernd und umkämpft. Den Flüssen wird ihr Fließen vorgeworfen, dem Wandel die Veränderung. Identität und Homogenität nicht als Momente von Übergängen, sondern als Wesenskern. Aber: »Täglich erneuert unser Körper 600 Millionen Zellen. Jede Woche bekommen wir eine neue Magenschleimhaut. (…) Wir erhalten jedes Jahr einen nahezu vollständig neuen Körper.« 6 So unterscheidet sich der Mensch, aus einiger Entfernung betrachtet, prinzipiell wenig von der Biegung eines Flusses: Flusskiesel, durchströmendes Wasser, eine Wasserspinnenhöhle, Entenfüße, die für ein paar Minuten hindurchziehen, Algen, die einen Sommer lang zum Licht wachsen. Er ist das Eis des Winters, das die Oberfläche bedeckt und an den hängenden Zweigen der Bäume zarte Muster klöppelt, der Pollenschaum des Frühjahrs, die Zickzackkurse der Flusskrebse, des Süßwasserplanktons, er ist das Schlagen der Meerforellenflossen, die im Herbst stromaufwärts ziehen. Er ist der kleine Krater der Regentropfen, die vergehen, und die Staudämme alter, in den Strom gestürzter Eschen, die vom Pilz getötet wurden. Also ist er auch ein klein wenig die Weite Sibiriens, durch das die mit dem Eschenpilz infizierten Baumstämme auf langen Güterwagen in die EU gebracht wurden, er ist eben auch das Gespräch der Eisenbahner, die Säure der Essiggurke und die Öligkeit des Vodkas. So wie der Fluss alles aufnimmt, was in ihn gerät, so wie manche Wetterfront Saharasand mit sich bringt, mancher Fisch von der anderen Seite der Erde zurückkehrt, Zugvögel aus den Äquatorgebieten auf ihm landen, Touristen in ihren Schuhen Samen aus Südamerika oder vom Broadway mitbringen oder aus Wismar und der Fluss alles aufnimmt und verwandelt. Über Flüsse nachdenken: über Fügungen, Senkungen, Schwemmen, Erstarrungen, Aufbrüche, Verbindungen nachdenken. Alle sind im Fluss, im eigenen, im Fremden, sind Ufer und an Ufern, suchen Halt, sind schon fortgeschwemmt, umgestaltet, durchbrochen, neu hingelegt. So hält es auch der Mensch, der doch so viel Aufwand darein legt, er selbst zu bleiben und nicht ein anderer zu werden.

Schwartau I

Manche kennen die Schwartau, einen kleinen Fluss im östlichen Ostholstein, besser als ich. Noch viele, viele mehr haben nie von ihm gehört. Wie viele solcher Flüsse gibt es weltweit? Sehen sie, aus einiger Entfernung betrachtet, nicht wahrscheinlich alle gleich aus? Ganz individuell in ihrem gekurvten, verringelten Verlauf, aber doch sehr ähnlich? Ein Anfang, ein dünner, etwas dicker werdender Faden, dann der Verlust in einem größeren Arm, der schon ein Fluss ist. Möglicherweise mündet er in einen See, oder ein solcher Dutzend-Fluss erreicht auch ohne solchen Aufschub sein Ende, zwangsläufige Entindividualisierung, das Meer. Und doch sind sie alle so eigen wie ein beliebiger Mensch, es kommt nur darauf an, sich einem von ihnen zu nähern, aus der Nähe und im Einzelnen seine Bestandteile zu unterscheiden, oder, im Gegenteil, aus der mittleren Entfernung, seine Wendungen, seine Launen zu erleben, wenn er schwillt, flutet, saugt, schwemmt, überrollt, wenn er sich zurückzieht, sickert, verschwindet, leidet, wenn er hegt, brütet, pflegt, bringt, wenn er entgegensteht, spielt, Treppe ist, wenn er sich verbreitet, verdunstet, verströmt in seine Umgebung, wenn er sich vermischt, verdreckt, sich gemein macht, sich auflöst, körnig wird, wenn er mit Leichtigkeit eine Vielheit wird aus Schlamm und Ästen, Steinen und Schrott, Fischen und Fliegen, Vögeln und Kot, die Spinne ist, die an einem ruhigen Tag über sein sich in Vielheiten, Lagen bewegendes Uferwasser eilt, der Wind ist, der wasserreich über ihn streicht, der Schall ist, der an ihm abprallt, ich bin, der ich sie beobachte, die Dinge, die sich an diesem Ort zusammengetan haben, einen Fluss zu bilden, und das am nächsten und nächsten und wieder nächsten Ort erneut tun, bis der Fluss endlich ins Fließen kommt.

Die Schwartau war immer da. Lange habe ich sie nur beobachtet. Erst in den letzten Jahren habe ich angefangen, sie zu beschreiben. Wie beschreiben? Irgendwann stellt sich die Frage, früher oder später.

In den zweieinhalb Jahren, während derer ich mich mit einigen Flüssen beschäftigte, mit dem Fließen und seinem eigentümlichen Gegenteil, ging ich regelmäßig zur Schwartau, um ein Marmeladenglas voll Wasser und Schlamm zu schöpfen. Als ich damit begann, hatte ich ein Konzept: Ich wollte an der Mündung beginnen und mich bis zur Quelle vorarbeiten. Alle zweihundert Meter, so dachte ich, würde ich eine Probe nehmen, bis ich etwa hundertfünfzig Proben zusammenhätte. So würde ich in einem ganzen Jahr den ganzen Fluss abdecken. Ich stellte mir vor, dass ich die Gläser in Zehnerreihen auf Regalbretter stellen würde, fünfzehn Reihen übereinander, so in etwa. Oder ich würde mit einem Glas beginnen und in die Breite gehen. Oder ich würde sie im Garten in der Form der Schwartau aufstellen. Die Gläser, würde ich mir vorstellen, seien der Fluss, aber jedes einzelne sei darüber hinaus etwas Besonderes, in seiner jeweils zufälligen Mischung würde sich eine eigene Individualität zeigen … so, dachte ich, würde ich dem auf die Spur kommen, was das Fließen ist und was ein Fluss ist. Ich hielt ein paar Wochen durch, um genau zu sein: sieben Wochen. Sieben Rewe-Gläser, in denen einmal Marmelade oder eingelegte Gurken, Zwiebeln oder Rote Beete gewesen waren, standen nun mangels eines besseren Ortes auf meinem Schreibtisch. Eineinhalb Kilometer Fluss … von der Mündung bis in den Kurpark hinein. Innerhalb von zwei Tagen hatte sich der Schlamm gesetzt, bizarre Skulpturen aus Ästchen, Blättergerippen und kleinen Steinen schälten sich heraus. Noch Wochen brauchte das Wasser, um sich endgültig von den kleinen Teilchen zu klären, den Schwebstoffen, die überall im Flusswasser sind und bei der leichtesten Erschütterung wieder aufschäumen, sich vermischen. Dieser Nebel aus noch organischer, bald zu anorganischer Materie zersetzten Teilchen zeigt einen der vielen Übergänge an. Sobald sich das Wasser einigermaßen geklärt hat, tauchen verlässlich, auch in Wasser, das eiskalt gewesen ist, als ich es schöpfte, die Hüpferlinge auf, kleine weiße Punkte, die das Wasser durchstreifen. Sie werden sehr lange weiterleben, ich weiß das, denn ich habe ein Glas, das seit Jahren am Fenster steht und immer noch von den Tierchen bewohnt wird. Leben ist eine Funktion. Es wird immer Leben geben.

Das Gläserexperiment aber hat mich überzeugt, dass die Analyse eines Flusses ihre Grenzen hat. Er kann nicht zerlegt werden. Die Summe seiner Einzelteile ist mehr als alle Teile zusammenaddiert. Im Fluss ist etwas Unfassbares.

Ich selbst habe viele Sommer und Winter und manchen Herbst meiner Kindheit nur wenige Hundert Meter von der Schwartau entfernt zugebracht. Wenn man das Einzugsgebiet eines Flusses ihm zurechnen möchte, dann gibt es einen namenlosen Bach, der die Felder rund um das Dorf Groß Parin »entwässert«, wie man das nennt, und der größtenteils unterirdisch verläuft, nur auf unseren zwei Grundstücken nicht, die von einer Straße getrennt werden, unter der der Bach ohne Namen hindurchfließt. Die Wahrheit ist, dass er nicht unterirdisch verläuft, sondern unter die Erde gezwungen wurde, wie viele Bäche seiner Größe während der großen Strukturmaßnamen in den 1960er- und 1970er-Jahren. Auf alten Fotos kann man noch erkennen, wie er offen in Wiesen liegt, auch einen kleinen Tümpel in der Wiese gegenüber gab es im Oberlauf. Einen anderen Ort gibt es im Oberlauf noch, an dem das Wasser des Bachs das Licht des Tages sieht und das Dunkel der Nacht. Es ist ein kleiner Weiher mit einer Insel darin. Vor über achthundert Jahren stand dort eine Motte, so hießen die einfachen Schutztürme des Landadels. Tatsächlich war es nicht viel mehr als eine Art Safe House im Falle eines Angriffs. Die eigentlichen Wohnhäuser lagen jenseits des Wassergrabens, und die Palisaden, die sie umgaben, dienten wahrscheinlich eher dazu, die Haustiere zusammenzuhalten und einen gewissen Schutz vor tierischen und menschlichen Räubern zu gewährleisten. Es gibt eine Geschichte in meiner Familie, nach der eine Urgroßtante dort beim Spielen einen Ring gefunden hätte, der in der Folge für allerlei sich ereignendes Unglück verantwortlich gemacht worden ist und bald wieder vergraben wurde. Lange wusste man, wo er lag, wagte aber nicht, ihn wieder auszugraben. Viele Jahrzehnte später ging der Ring bei Straßenarbeiten dann wohl endgültig verloren. Inzwischen ist ein weiterer Weiher angelegt worden. Das Rohr, durch das der Bach fließt, wurde angezapft, um eine frisch ausgehobene Kuhle zu füllen. Durch ein Überlaufrohr und ein weiteres Rohr ein paar Meter tiefer findet das Wasser des Sees dann den Weg auf unser Grundstück, sodass es nun zwei Zuflüsse gibt, eine künstliche, vom Menschen angelegte Gabelung. Nun fließt der Bach etwa vierzig Meter weit durch den Hühnerhagen, der so heißt, weil dort früher die Hühner freiliefen und heute auch wieder. Diese Strecke ist die Strecke, die mir als Kind am besten vertraut war, während der etwa hundert Meter lange Verlauf durch das jenseits der Kreisstraße liegende Grundstück mir erst während meiner Jugend und eigentlich erst in den letzten Jahren wirklich bekannt wurde. Dorthin bin ich, sind wir, seltener gegangen. Ebenso an den eigentlichen Fluss. Wenn wir zur Schwartau gegangen sind – vielleicht drei oder vier Mal in den Sommerferien, im Winter noch seltener, häufiger waren wir im Hobbersdorfer Holz, durch das ein weiterer Zufluss zur Schwartau fließt und das überall von kleinen Tümpeln, Wassergräben durchsetzt ist, aus denen wir im Frühjahr manchmal Froschlaich fischten, um die Metamorphose der Eier, der Kaulquappen, der kleinen Wesen zu beobachten, die zunächst eine Mischung aus Frosch und Fisch zu sein schienen und dann auf einmal, immer überraschend, vollkommen fertig ausgebildet waren (aber wie alles, wird auch das nur einmal geschehen sein und nicht regelmäßig) –, wenn wir also zur Schwartau gegangen sind, dann immer zu der Stelle unterhalb der zur Stadt Bad Schwartau näheren Brücke, die wir heute die erste Brücke nennen. Dort stand ein großer Baum, an dem ein langer Strick festgemacht war, mit einem Knoten am Ende, auf den man sich stellen oder setzen und auf dem man sich mit Schwung in die Mitte des Flusses tragen lassen konnte, der dort tief genug war, um sich hineinfallen zu lassen. Schon lange ist der Baum umgestürzt und hat seine gesamte Rinde verloren, sodass ich nicht sagen kann, was es für ein Baum war, aber ich tippe auf eine Eiche. Heute ist ihr Fuß von verschiedenen Moosarten bewachsen, abenteuerliche Formen bei näherem Ansehen. Biomorphe Architektur, Science-Fiction-Fantasien, Träume des Brutalismus. Lange liegt der Baum am Ufer, seine Krone ist vom Wasser abgetragen, aber sein Stamm ist widerstandsfähig. Diesseits seines Körpers hat sich eine kleine Bucht aus feinem Sand gebildet, im Sommer ein Strand für Kinder und Hunde, jenseits sprießt Springkraut. Zu der Zeit, als am Oberlauf unseres namenlosen Baches die Motte stand, errichtete nur wenige Meter hinter dem Baum (der damals sicher noch nicht gekeimt hatte) ein Bischof seine Burg. Sie erstreckte sich, vermuten die Heimatforscher und Archäologen, drei-, vierhundert Meter auf dem Höhenzug Richtung Stadt und war wohl eher schmal. Heute kann man noch Spuren der Wälle an den beiden Schmalseiten erkennen, und es gibt Fundamente eines Torhauses. Zur Zeit der Burg werden die Hänge höchstens von Buschwerk bestanden gewesen sein, das regelmäßig auf den Stock gesetzt worden ist, einerseits für den Überblick und um den Feinden keine Deckung zu gewähren, andererseits sicherlich auch, um Feuerholz zu gewinnen. Dazu kamen die Schweine, die durch den Wald getrieben wurden, um zu fressen, und die während der Jahrzehnte oder des Jahrhunderts der Burg (viel länger scheint sich der Bischof hier nicht gehalten zu haben) sicherlich die meisten Keimlinge, die nicht von dornigem Gestrüpp (Brombeeren, Schlehen) geschützt wurden, erwischt hätten. Und trotzdem ist es einfach, sich vorzustellen, dass dieser mächtige Stamm schon damals dabei gewesen sein könnte. Wie ein riesiger kaputter Sensor in die Vergangenheit liegt er da. Dreihundert Jahre wächst eine Eiche, dreihundert Jahre steht sie, dreihundert Jahre stirbt sie, sagt Robert Macfarlane.

Dieser Baum, der kleine Strand, die einfache Betonbrücke, das träge darunter durchtreibende Wasser, hier und da ein gefiederter Samen, ein vor der Zeit vertrocknetes Blatt, Staub und Haare, Sedimentquellen, das ist der Teil der Schwartau, den ich kenne, seit ich denken kann. Und ich kenne kaum den Fluss, wie die meisten Kinder habe ich den Fluss vor allem als Hintergrund genutzt für meine sich entwickelnden Gefühle. Ich möchte damit vor allem eine Binse unterfüttern, den alten Spruch, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigt, und sie etwas radikalisieren: Nicht nur steigt man nicht zweimal in denselben Fluss (auch der Hineinsteigende verändert sich ja körperlich und geistig, sodass das ganze Gedankenspiel generell wenig sinnvoll ist), man steigt, wenn überhaupt, ja nicht in den gesamten Fluss (ein eigentümlicher Gedanke, der einen Fluss zu einem irgendwie zusammenhängenden Wesen macht), sondern nur in einen Teil des Flusses. Selbst die wenigen Beobachter, die einen Fluss in ganzer Länge kennen, ihn abgegangen sind, ihn zu jeder Jahreszeit besuchen, ihn vielleicht sogar durchschwommen haben, kennen ihn nicht in Gänze, sie kennen diesen einen Teil, nicht jenen anderen eines anderen Jahres. So wie ein Mensch sich der eigenen Kenntnis fortwährend entwindet, entwindet sich auch der Fluss. Das ist einerseits schwer zu akzeptieren, vor allem für den einteilenden, den analytischen Menschen, es ist aber auch ein Versprechen für den eilenden Menschen: selbst ein paar Augenblicke können dich zu einem intimen Kenner machen, der etwas Einmaliges beobachtet. Das ist das Geschenk des Flusses, so wie es das Geschenk der Zeit ist.

Die Schwartau habe ich als Kind erlebt, aber ich kenne sie immer nur momentweise. Heute sehe ich den Fluss oft zwischen Parin und Techau, immer wieder einmal an seiner Mündung in die Trave. Manchmal sehe ich sie weiter flussabwärts an den Hängen des Riesebusches, kurz bevor sie die Eutiner Straße unterfließt und in den Kurpark mündet, wo sie in einer langen Kurve mit geraden Rändern bis zum Bahndamm fließt, während neben ihr ihr jüngster alter Arm sich durchs Schilf schlängelt. Dann versteckt sie sich zwischen Wäldern und Wiesen, fließt durch Marienholm, um endlich fast schnurgerade zur Trave zu laufen. Diese Strecke zwischen Kurpark und Mündung bin ich nur ein paar Mal entlanggelaufen. Auf einer Seite führt augenscheinlich ein Weg, ich habe aber immer die andere Seite benutzt, einen Trampelpfad, der schwer zugänglich ist. Manchmal, im Sommer, komme ich von Dänischburg herüber, wenn die Wiesen hochstehen, das Gras schon bleicht, die Samenstände schon rascheln, in diesem langen Vorlauf zum Herbst folge ich einem Pfad, was bedeutet, dass ich nicht der Einzige bin, der hierherkommt, aber viele sind es nicht. In Dänischburg sind die Parkplätze vor IKEA, der großen Mall, dem Baumarkt und den Möbelmärkten meistens voll, aber auf der Schwartauseite ist es immer leer. Selten stehen ein paar Angestellte rauchend hinter Sconto oder den Anlieferungsbereichen von MediaMarkt und Edeka. Hier scheint die Schwartau noch nicht mal uninteressant, sie scheint weitgehend vergessen. Ein paar Hundert Meter weiter, von Seeretz aus, kann man den Fluss über einen Weg an zwei Seen vorbei auf engen Pfaden erreichen. Angler lassen hier ihre Ausrüstungsgegenstände im Gebüsch, einen zusammengeklappten Stuhl, Eimer, Tüten, sogar ein großes Messer habe ich hier schon gefunden. Flüsse haben häufig solche Depots an ihren Rändern, Nebenwelten finden hier Platz. Alles in allem scheinen sich für den Fluss Spaziergänger, Angler, Beamte, Naturschützer, Bauunternehmer und ein paar Kinder zu interessieren.

Wie nun? Was kann man über einen Fluss sagen, wenn man schon das Konzept eines Flusses anzweifelt? Wenn man schon an ausreichender Beobachtung zweifelt? Vielleicht, indem man nicht etwas über einen Fluss im Allgemeinen aussagen will, etwas über sein Wesen als Fluss. Sondern nur über einen Teil. Nicht über die Schwartau reden, sondern über vierzig Meter eines namenlosen Baches, der, nachdem er das Grundstück verlassen hat, sofort wieder in ein Rohr gezwungen wird, darin durch feuchte Wiesen fließt, um endlich noch vor der Stadt, der der Fluss seinen Namen gegeben hat, in denselben zu münden. Beginne ich also am größeren der beiden Rohre, durch das der Bach auf das Grundstück gelangt. Hier erreicht das Gewässer seinen höchsten Stand und ist einen viertel Meter tief. Wie überall, ist auch hier der Boden schlammig, vor allem bei wenig Sauerstoff verrottendes Laub bildet eine schmierige, ölige Lage direkt unterhalb des hellen Sandes, der dem Bach ein freundliches Aussehen gibt. Der Sand wird aus dem eiszeitlichen Lehm ausgewaschen sein, der hier überall dicke Lagen bildet. Gräbt man irgendwo ein Loch, stößt man spätestens nach einem viertel Meter auf Lehm. Auf der anderen Grundstücksseite, wo der Bach sich etwa fünf Meter tief in den Boden gefressen hat, ist immer noch Lehm. Die Lage ist also mindestens fünf Meter dick, wahrscheinlich mehr. Mehrere Hunderttausend Jahre haben Gletscher, die hier bei uns bis zu tausend und in Skandinavien bis zu zweieinhalbtausend Meter Höhe erreichten, Felsen zu Findlingen und Findlinge zu Sand verrieben, und Ton ist entstanden. Ein Druck von mehreren Hundert Kilo pro Quadratzentimeter kann eine Menge anrichten über die Zeit. Unter dem immer wieder nach oben gewirbelten Sand gärt es an den Stellen, an denen sich genügend Biomasse ansammelt. Besonders in einem kleinen Seitenarm, der an einer Stelle das Wasser des zweiten Rohres aufnimmt, steigen im Sommer regelmäßig Blasen an die Oberfläche, Methan. Jetzt, da ich das hier schreibe, fällt mir ein, dass ich im nächsten Sommer eine Vorrichtung basteln sollte, ein umgedrehtes Glas auf Stelzen oder etwas Ähnliches, um das Gas einzufangen, um zu versuchen, es anzuzünden. Auch das wäre ein Teil des Flusses. Wenn ich im Winter jedes Jahr einen Teil des Nebenarms ausgrabe, um ihn vor dem Verlanden zu bewahren, hole ich schwarzen, schlierigen, stinkenden Matsch heraus, Teil einer anaeroben Welt, die im Sommer regelmäßig einen öligen Film auf die nichtbewegten Teile des Baches legt. Eine kleine Ölpest, die aber dem Leben im Bach und auch im fast stillstehenden Altarm wenig ausmacht. Denn Leben ist hier überall, in Menge und einer unüberschaubaren Vielfalt. Erst wenige Jahre ist es her, dass die Kinder im Frühjahr auf den ersten Metern Bach auf dem Gelände vier Teichmolche entdeckt haben. Kaum hatten wir diese ersten Exemplare, fanden wir weitere zehn, und bis Ende Juli wurden die Tiere größer und größer, hielten sich dann aber vor allem in den tieferen Teilen des ausgehobenen Altarms auf. Das Gelände ist ideal für diese Tiere. Zwischen den Wasserläufen und den Stillgewässern befinden sich Stein- und große Altholzhaufen, in denen genügend Raum zur Überwinterung für die Amphibien ist. Dazu stehen in und neben den Holzhaufen, des Stickstoffs wegen, die Brennnesseln hoch, und auch sonst gibt es viel Deckung für die kleinen Tiere. Tatsächlich leben so viele Molche im Gelände, dass es immer wieder passiert, dass ein Tier, meist ein kleines, mit dem Brennholz nach drinnen gerät und in der Wärme des Zimmers plötzlich wieder beweglich wird. Auch Wespen und Fliegen geraten so in zu frühe Wärme, und nicht alle Tiere überleben es wohl, aber es ist ein Ausgleich: Unsere Nachlässigkeit erlaubt eine Unordnung, ein »abwechslungsreiches Gelände«, wie es die Molche (und andere Tiere) mögen, dafür bringt eben jene Leben ermöglichende Schlamperei auch einen kleinen Teil des so entstandenen Lebens wieder in Schwierigkeiten. Unordnung, Vernachlässigung, Vergesslichkeit schaffen gute Orte, weil sie Optionen schaffen. Auf den angrenzenden Flächen, die von Robotern und Pestiziden in Schach gehalten werden, findet Leben nur leihweise statt.

Überhaupt ist der Bach mit seinen Randgewässern ein guter Ort für Leben (im Gegensatz zu Sein). Es ist ein Ort, der es leicht macht (machen kann), jenseits der Konzepte zu gelangen, indem man einfach beobachtet. Beobachtung funktioniert dabei (und eigentlich immer, würde ich sagen) nur in einem begrenzten Bereich. Sie funktioniert, wenn man still bleibt, wenigstens fünf Minuten. Hier am oberen Bachlauf ist mein liebster Ort für ein verlässlich immer wieder erscheinendes Wunder. Wer wartet, zu dem kommen die Wesen. Der Trick ist einfach und wurde vielfach beschrieben. Wilhelm Lehmann, ein Autor aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der die Landschaft um Eckernförde, das noch ein wenig nördlicher liegt als wir, so gut wie kaum ein anderer kannte, versuchte eine Betrachtung, als gäbe es den Betrachtenden gar nicht. Nicht zu messen, aufzunehmen, das ist das Ziel. Wie Gottfried Keller schreibt: »Gott hält sich mucksmäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn.« Und der in den 1920er-Jahren des 20. Jahrhunderts berühmt-berüchtigte Autor Myona (Salomo Friedlaender) befand, dass die Welt nur dem von ihr Reinen zufiele. Erst der Null-Zahl gehören alle Übrigen, erst dem Mittelpunkt der ganze Kreis. Das Welt-Nichts ist das Welt-Zentrum. Und Lehmann selbst erklärte einmal einem Schüler, der nach einer Deutung zu einem Gedicht Lehmanns fragte: »Eine Existenzsumme, mit Hilfe einiger Sicht- und Hörbarkeiten eingefangen, weiter liegt nichts vor, nicht mehr, nicht weniger. Wen es betrifft, an diesem Moment teilzunehmen, der braucht weiter keine Erklärung, sie würde vermutlich nur stören.« 1

Eine Existenzsumme. Wen es betrifft. Teilnahme. Vielleicht ist das eine gar nicht so schlechte Definition eines Flusses, fürs Erste: Ein Fluss ist die Summe der Existenz eines an ihm teilnehmenden Betroffenen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort.

Vor Jahren habe ich eine schmale Holzbrücke über den stillen Teil des Altarmes gelegt, von der aus bis in den frühen Juni hinein das flache Wasser gut zu beobachten ist. Hier kann man alle Arten von Wasserinsekten sehen, die dunklen, flachen Körper der Wanzen, die manchmal schillernden, oft wie kubistische Skulpturen wirkenden Gehäuse der Köcherfliegen- und die an Weltraummonster gemahnenden Libellenlarven, kleine, zarte Frösche, die Larven der Waffenfliegen, manchmal lang wie ein kleiner Finger, und an Stellen mit viel altem Laub auch die langen, vierfach ausziehbaren, technisch ausgefeilten, bleichen Schnorchel von Eristalis tenax, der Mistfliege, die die unwirtlichsten Orte beweidet und mit anaeroben, sauerstofflosen Umgebungen kein Problem hat. Hier ist der Bach eine ferne Erinnerung, Hüpferlinge, groß wie der Punkt am Ende dieses Satzes und blendend weiß, im Vergleich schon gigantische Bachflohkrebse klären das Wasser, Springschwänze, Plankton treiben selbst in scheinbar stehendem Gewässer, unsichtbare Wirbel, Teilchenbewegung. Verschiedene Schneckenarten, kleine, mit spitzkegeligen Hüten, größere, deren flache Häuser ein wenig an aufgepumpte Lakritzrollen erinnern, bürsten im Frühjahr die übriggebliebenen Halme der Seggen und des Schilfs, während sich dicke Horste von Sumpfdotterblumen schon im März entfalten, wenn ansonsten das Wasser noch frei von Bewuchs ist. Im wärmer werdenden Frühjahr erscheinen nackte, flache Wesen, Egel, die stumm am Grunde züngeln, sich an Stöcken und den Halmen des Schilfs festsaugen, bevor sie sich kopfüber rollen oder im Schlamm verstecken. Und ganz selten der kühle, dunkel schimmernde Kopf einer Ringelnatter, die elfenbeinfarbenen Flecken wie Ohrgehänge, Schmuck, nicht zu diesem Tier gehörig.

Ein anderer Ort ist das Ufer direkt am Einfluss des neuen Rohres, einer ständig durchströmten Stelle des Bachs, voller haariger Algen, Sandaufspülungen und gegen den Strom anpaddelnden Molchen, während am Rande der Strömung später im Jahr Frösche und Kröten im Wasser schweben. Einen halben Meter jenseits des Baches, im Erlenwald, sind es keine im Wasser lebenden Wesen, aber solche, die vom Wasser geprägt werden. An den Wurzeln der Erlen gedeihen rosafarbene, an Schlangen erinnernde Schuppenwurzen, Frühblüher wie die Anemonen und Gelbsterne, das Scharbockskraut und die Schlüsselblumen. Schon wenige Grad über null reichen aus, um die ersten Hummeln anzulocken. Die zehn Zentimeter aus dem Boden ragenden Wurzen, die blattlos nur aus Stiel und Blüten bestehen, schwanken unter der Berührung der Insekten, sie neigen sich dem Wind. Um beobachten zu können, muss ich in die Hocke gehen. So höre ich nicht nur das Murmeln des Baches, ich spüre auch die Wärme, die sich in den Mulden schon länger halten kann und kräftiger ist. Die Schuppenwurz lebt vor allem unterirdisch an den Wurzeln der Erlen (oder auch Pappeln und Haseln), die sie aktiv aussaugt. Dabei geht sie tief ins Holz, das im Frühjahr voller Pflanzensaft ist, voller Bach, könnte man sagen. Denn während der Bach sichtbar an mir vorbeifließt, breitet er sich gleichzeitig überall um mich herum aus, so wie die Schwartau ein Einzugsgebiet aus solchen Bächen wie dem unseren hat, ohne welches sie nicht der Fluss wäre, der sie ist, sondern allerhöchstens ein von Regenguss zu Regenguss erneut versickerndes und verdunstendes kurzes Rinnsal, so hat auch der Bach sein Einflussgebiet, jenes Gebiet, das er entwässert. Aber dorthin gibt er auch wieder Wasser zurück, er ist breiter als man es ihm ansieht, und einen Gutteil seines Wassers gibt er auch in die Vertikale ab, durch die Wurzeln der Bäume in deren Stämme und schließlich in die Blätter – und in die Körper der an ihnen schmarotzenden Parasiten. Hier also sehe ich ein Stück Bach vor mir, rosafarben, ein urtümliches Wesen, das wiederum dem es bestäubenden Insekt ein Stück Bach mitgibt, welches im Hummelmagen umgeformt wird, andere Blüten bestäubt und vielleicht über den Umweg einer Biene in Form von Honig am Ende auf dem Tisch eines Menschen landet. Man muss es nicht übertreiben mit der Spekulation, aber die Beobachtung eines Flusses sagt viel über unsere übliche Art zu sehen aus, die eine vorgeprägte ist, ein Weg, aus der Welt Sinn zu machen. Könnte man nicht etwas anderes sehen als einen Bach? Etwas, das mehr mit dem Leben dieses, ich will es einmal versuchsweise Ding nennen, zu tun hat, als es das Wesen eines Baches hat? Könnte man einen Bach nicht auch als eine Art Senke, eine Möglichkeit der Versammlung, einen Ort der Kreativität begreifen? Woher wissen wir, dass das Wasser, das eben an uns vorbeifließt, wirklich an der Mündung ankommt? Dass es nicht von Baumwurzeln aufgesaugt, von Hühnern, Katzen, Rehen getrunken, von der Sonne verdampft, von einer Gießkanne geschöpft, von hineinspringenden Kindern ans Ufer gespritzt wird? Dass es zu Holz wird oder Honig, zu Wolken oder den Knochen eines Hasen? Dass es nicht in einer der unzähligen Mündungen endet, die es begleiten? Wir wissen es tatsächlich nicht, denn wie wollten wir das feststellen? Mündungen und Quellen auf jedem Zentimeter Wegstrecke. Was wir wissen, ist, dass ein Bach, ein Fluss genügend Anziehungskraft hat, solange er nicht austrocknet, um zu werden und zu sein, was wir uns unter ihm vorstellen. Der Bach fließt, obwohl er die Erlen tränkt, die die Schuppenwurzen tränken, die die Hummeln und Bienen füttern, die Apfelbäume, Vögel und Menschen füttern. Der Bach und in noch viel größerem Maße die Schwartau sind Symbole eines Überschusses, der in sich selbst wieder ein Lebensraum wird, der Meerforellen aus der Ostsee heraus in ihre Geburtsorte lockt, kleine Seitenarme, Quellbäche, in denen sie wieder laichen, sterben, von Tieren ins Land getragen werden und das Land düngen, Pflanzen düngen, die so die Kraft erhalten, das Wasser des Flusses, der Bäche zu verdunsten, Wolken zu bilden, es regnen zu lassen. Umgekehrte Flüsse. Wo ist hier Anfang und Ende, wo ist Bach und Fluss, wo ist Nichtbach und Nichtfluss? Nirgends? Im Trockenen und in Wüsten? In den menschlichen Artefakten? Ich glaube das nicht und werde später noch einmal darauf zurückkommen. 

Seit einigen Jahren wird die Schwartau wiedergergestellt. Hergestellt in einem Teil, einigen Kilometern, von Groß Parin bis Techau, etwa einem Neuntel ihrer gesamten Länge. Großes Baugerät wird über extra gebahnte und häufig mit Eisenplatten ausgelegte Wege herangebracht. Die Platten schützen die Bagger und Lastwagen vor dem Versinken, dem Festfahren, den Klauen des Flusses. Er liegt da, schimmernder Schlangenrücken, muskulös, ein großes Tier, das wartet, was um es herum geschehen wird. Die Muskeln sind immer da, selbst wenn sein Pegel so niedrig ist, dass man bequem hindurch ans andere Ufer waten kann. Sie sind da, er spielt mit ihnen, spannt sie dann und wann an. Manchmal schwillt er mächtig, vor allem im Winter und im Frühjahr, im Jahr 2021 auch zweimal sehr gewalttätig im Sommer, als ob er Grüße quer übers Land schicken will, zu seinen Verwandten, die es ähnlich treiben. Im Sommer 2021 steht er auf, zerreißt sein Bett wie die Superhelden im Film ihren Alltagsanzug und sprengt mit Leichtigkeit die Kreisstraße auseinander, über die wir zum Städtchen gelangen. Er zerbricht sie. Spaltet sie, als ob es Spielzeug wäre und kein mit dem Untergrund verbundener Stein, Asphalt, Zement. Er erinnert daran, dass er all diesen Stein und Lehm und die Hügel und die Täler einst geformt hat. Das Wasser all das hier geformt hat. Es überhaupt erst hierhergebracht hat. Andere Gegenden des Landes verdanken ihre Form unterirdischen Kräften, diese hier dem Wasser. Heute drückt es von der See her, es kommt vom Himmel, es ist im Boden (und wenn es einmal nicht da ist, dann wird seine Bedeutung erst recht deutlich). Manchmal ist das Wasser überall. An trockenen Tagen aber ist der Fluss sein Vertreter. Er setzt Keller unter Wasser, der Regen, der ihm am Ende gegolten hätte, wie aller Regen in diesem Gebiet, und der mit gutem Recht genauso ein Zufluss ist wie die Wiesenbäche und kleinen Flüsschen weiter am Oberlauf, er hat das Land in kurzen, kräftigen Schlägen daran erinnert, wie mächtig er sein kann, woher er kommt. Die meisten Leute werden sich nicht für Urgeschichte interessieren, denke ich, sie werden nicht wissen, dass die Schwartau einst ein mächtiger Strom gewesen ist, der das gesamte heutige Lübecker Becken als Ausbuchtung, in Wartestellung als mächtiger See bedeckte, dass die Schwartau einer jener Flüsse war, die das vereiste Becken der Ostsee füllten, dass das Land ein Wasserland war, Schwemmland, Inselland, so wie es heute vielleicht Länder wie Bangladesch sind.

Einst stand das Eis hier einen Kilometer hoch. Tausend Meter. Heute ist die höchste Erhebung in der Umgebung der zweiundsiebzig Meter hohe Pariner Berg.