Zen – der Weg des Fotografen - David Ulrich - E-Book

Zen – der Weg des Fotografen E-Book

Ulrich David

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Beschreibung

Der Weg zu ausdrucksstarken Bildern beginnt mit dem Sehen dessen, "was ist". Wie Sie mit Ihrer Kamera zu einer achtsamen, authentischen Wahrnehmung der Welt wie auch Ihres Inneren finden und so besser fotografieren, lernen Sie mit diesem Buch. Es hilft Ihnen in sechs Lektionen, Kreativität und fotografischen Ausdruck sowie Ihr Thema und Ihren Stil zu entwickeln. Sie gehen den "Weg des Fotografen" ganz praxisnah, mit der Kamera in der Hand, mit täglichen Übungen zu Konzentration, Achtsamkeit und Beobachtungsgabe, die sich eng an die Lehren des Zen anlehnen. Dabei schulen Sie Ihr handwerkliches Können und schärfen Ihren Blick für das Wesentliche. Ob Sie dabei mit einem Smartphone oder einer Digitalkamera fotografieren, ob Sie in die Fotografie einsteigen oder als Fotoprofi neue Inspiration suchen – dieses Buch hilft Ihnen, einen neuen und tiefen Zugang zu Ihrer Kreativität zu finden.

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David Ulrich ist aktiver Fotograf und Buchautor mit Veröffentlichungen in zahlreichen Büchern und Zeitschriften wie Aperture, Parabola, Mānoa und Sierra Club. Seine Fotografien waren in mehr als 75 Einzel- und Gruppenausstellungen in Museen, Galerien und Universitäten weltweit zu sehen. Derzeit ist er stellvertretender Leiter der Pacific New Media Foundation in Honolulu, Hawaii, und lehrt seit über zwanzig Jahren an der University of Hawaii, Mānoa. Zuvor war er als Professor und Leiter des Fachbereichs Bildende Kunst am Cornish College of the Arts in Seattle sowie Extraordinarius und Leiter der Abteilung Fotografie am Art Institute of Boston (heute: Lesley University College of Art and Design) tätig gewesen. Als engagierter Referent und Workshopleiter hält er Seminare und Präsentationen über Fotografie, Kreativität und Wahrnehmung. Seine Programme haben tausende von Menschen auf Konferenzen, Fortbildungen, Fachhochschulen und Universitäten, Workshop- und Kunstzentren inspiriert.

David Ulrich ist Autor von »The Widening Stream: The Seven Stages of Creativity« und hat ferner am Band »Through Our Eyes: A Photographic View of Hong Kong by Its Youth« mitgewirkt. Er hat einen Bachelorabschluss an der Museum School of Fine Arts in Boston und einen Master an der Rhode Island School of Design erworben. Darüber hinaus ist er beratender Redakteur des Magazins Parabola, für das er regelmäßig Beiträge schreibt.

Zu diesem Buch – sowie zu vielen weiteren dpunkt.büchern – können Sie auch das entsprechende E-Book im PDF-Format herunterladen. Werden Sie dazu einfach Mitglied bei dpunkt.plus+:

 

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David Ulrich

Zen – der Weg des Fotografen

Tägliche Übungen für mehr Kreativität in der Fotografie

David Ulrich

Übersetzung: Christian Alkemper (BdÜ)

Lektorat: Boris Karnikowski

Fachlektor: Torsten Andreas Hoffmann

Korrektorat: Petra Kienle, Fürstenfeldbruck

Satz: Ulrich Borstelmann, www.borstelmann.de

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de (unter Verwendung eines Fotos des Autors)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

Print978-3-86490-613-8

PDF978-3-96088-605-1

ePub978-3-96088-606-8

mobi978-3-96088-607-5

1. Auflage 2019

Translation Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2019 dpunkt.verlag GmbHWieblinger Weg 1769123 Heidelberg

Authorized translation of the English language edition of Zen Camera © 2018 by Watson-Guptill Publications, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.

Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.

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Easter Sunday, Stony Brook State Park, New York, 1963, Minor White.

The Minor White Archive, Princeton University Art Museum, Nachlass Minor White (x1980-3969); © Trustees of Princeton University.

Inhalt

Einleitung… damit du deinen Vers dazu beitragen kannst

Grundlegende Prinzipien und Methoden

Ihre täglichen Aufzeichnungen

Bewusstsein, frei von störenden Gedanken

Tägliche Beobachtung

Lektion eins: Beobachtung

Die fünf visuellen Elemente der Fotografie

Werkzeuge und Übungen

Lektion zwei: Achtsamkeit

Achtsamkeit in der Fotografie

Das erhöhte Bewusstsein

Werkzeuge und Übungen

Lektion drei: Identität

Stil und Authentizität

Kommunikation und Evozierung

Werkzeuge und Übungen

Lektion vier: Übung

Prozess und Einschwingung

Digitale Wachsmalstifte

Der Anfänger-Geist

Werkzeuge und Übungen

Lektion fünf: Beherrschung

Freiheit und Disziplin

Inspiration

Grenzen verschieben

Werkzeuge und Übungen

Lektion sechs: Präsenz

Inszenierung oder Präsenz?

Sichten, Bearbeiten, Optimieren

Die Macht der Aufmerksamkeit

Übungen in Präsenz und Aufmerksamkeit

Fotografie und Erweckung, die Schrecken und Freuden des digitalen Lebens

Die Illusion der Getrenntheit

Das digitale Leben und die Zen-Praxis

Die Fotografie im 21. Jahrhundert

Literatur

Danksagung

Index

Waikiki Beach, Honolulu, Hawaii, David Ulrich

Einleitung … damit du deinen Vers dazu beitragen kannst

»Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.«

László Moholy-Nagy, 1934

Fotografie ist eine mächtige Form des visuellen Ausdrucks – und jeder kann sie nutzen.

Wahrscheinlich hat jeder einzelne von Ihnen eine hochentwickelte Kamera in der Tasche. Schließlich wollen Sie in der Lage sein, jederzeit sofort ein Foto zu machen, sobald Sie sich inspiriert fühlen. Mit einem solchen Gerät können Sie in allen Situationen – vielleicht mit Ausnahme hochkomplexer Beleuchtungsszenarien oder unter extremen Bedingungen – aufregende Fotos machen. Digitalkameras – insbesondere solche in Smartphones – haben unsere Herangehensweise an die Welt ebenso revolutioniert wie unsere Interaktion mit anderen. Keine Erfahrung ist perfekt, keine Mahlzeit beendet, keine Freundschaft vollzogen, solange wir nicht ein Foto gemacht haben. Das Foto beweist, dass das alles wirklich passiert ist. Ich war Zeuge dieses Ereignisses, traf diesen Menschen, genoss diese Erfahrung.

Allzu oft lenkt uns moderne Technologie ab, saugt uns unsere Energie aus, zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich – weg vom Wesentlichen. Wenn Sie aber durch die Kamera auf die Welt blicken, fällt Ihr Blick auf eine Geste, ein Bild, einen Ausdruck und Sie erleben den unersetzlichen Funken von Achtsamkeit und Gegenwart. Dies kann eine plötzliche Eingebung sein, die den Schleier Ihres selbstbezogenen Denkens lüftet und Sie näher ans Leben im Hier und Jetzt heranführt. Die Kamera kann dabei helfen, Ihre Wahrnehmung zu befreien, um die Dinge klar und aufmerksam zu betrachten, etwas darüber zu erfahren, wer Sie wirklich sind, und Ihr Wesen für einen nicht mehr versiegenden Quell von Empathie und Mitgefühl für all die zu öffnen, denen Sie auf Ihrem Weg begegnen. Die Kamera ist die Bestätigung für das »Ich bin« des Daseins und seine Existenz in der Welt.

In »Zen – der Weg des Fotografen« geht es nicht nur um das Fotografieren. Es geht um Sie. In sechs Lektionen soll Ihnen dieses Buch helfen, mit einer Kamera Ihre Kreativität zu entwickeln und zu pflegen – in allen Bereichen Ihres Lebens. Es möchte Sie lehren, zu sehen und in aller Tiefe und mit allen Sinnen den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen. Es hilft Ihnen, das großartige Gebot des Sokrates – Erkenne dich selbst! – zu verstehen und den Keim Ihres authentischen Selbst freizulegen, der unter vielen Schichten der Konditionierung und Sozialisierung verborgen ist. Und ja, natürlich lernen Sie hier auch, besser zu fotografieren und effektiv durch Bilder zu kommunizieren.

Die sechs Lektionen in diesem Buch bilden einen Zyklus und stecken voller Anregungen und Schlüsselkonzepte, die Ihnen helfen, Ihre eigenen Arbeiten zu entwickeln. Sie sind für jedermann relevant, egal ob Sie Profi sind oder ob Sie erst seit kurzem ein wachsendes Interesse entwickeln, mit Ihrer Smartphone-Kamera zu arbeiten. Die Lektionen lassen sich flexibel an verschiedene Entwicklungsstufen anpassen. Sie haben vielleicht schon viele tausend Fotos gemacht und die technischen Aspekte sind Ihnen vertraut, aber Sie suchen einfach nach neuer Inspiration. Oder Ihnen ist bereits klar, was Sie mit Ihrer Kamera zum Ausdruck bringen möchten, Sie sind aber mit den Verfahren, die über »Point and Click« hinausgehen, schlicht nicht vertraut. So oder so ist dieses Buch das richtige für Sie. Für das erstmalige Durcharbeiten der Lektionen sollten Sie 12 – 15 Wochen ansetzen, was etwa der Länge eines Universitätssemesters entspricht. Diesen Bearbeitungszyklus können Sie dann im Laufe der Jahre immer wieder von vorn durchlaufen. Ich habe diesen Lektionen den größten Teil meines Lebens gewidmet, immer mit dem Ziel des persönlichen und künstlerischen Erwachens vor Augen.

40 Jahre lang hat dieses Buch Stück für Stück in meinem Kopf Gestalt angenommen. Ich bin Professor für Fotografie an einem ganz normalen amerikanischen College und habe Menschen aller Altersstufen, kultureller Hintergründe und Berufsgruppen in Kursen und Workshops zum Thema Fotografie unterrichtet. Ich unterrichte Kinder und Erwachsene überall in den USA einschließlich meiner aktuellen Heimat Hawaii und habe Fotokursprogramme in Hongkong und China entwickelt. Einige meiner Schüler streben danach, die Fotografie zu ihrem Beruf zu machen, andere suchen den Reichtum eines kreativen Ausdrucks in ihrem Privatleben. Ich habe unzählige Male verfolgt, wie meine Schüler die große Freude und Erfüllung entdeckten, die damit einhergeht, sich selbst kreativ auszudrücken. Dies hilft ihnen, Hoffnung und Selbstvertrauen zu gewinnen und gibt ihrem Wesen eine Stimme, die entweder zuvor verborgen oder von Angst und Unsicherheit verdeckt war. Wenn sie dann diese ihnen ganz eigene Art, die Welt zu sehen, entdecken, erschließen sie ihr ganz eigenes Potenzial.

In dem Moment, in dem meine Schüler die Fotografie als Mittel zur persönlichen Entwicklung nutzen, überschreiten Sie die vorgeblichen Grenzen ihrer Gedanken und Ausdrucksfähigkeit. Dies hat mich im Innersten angerührt und ich habe so viel daraus gelernt, wie sie die Welt durch eine Kamera sehen. Es war ihr Wunsch nach Hilfsmitteln, Übungen und Anleitung, der dieses Buch entstehen ließ. Seine sechs Lektionen haben sich für Generationen von Schülern bewährt. Meinen Schülern schulde ich tiefsten Dank.

In »Zen – der Weg des Fotografen« wird die Kamera zum edelsten aller Zwecke eingesetzt: zu sehen lernen, was ist.

»Zen – der Weg des Fotografen« steht in der Tradition großartiger Bücher, die künstlerisches Schaffen mit persönlichem Wachstum verbinden. »Der Weg des Künstlers« von Julia Cameron hilft Menschen dabei, ihre natürliche Kreativität wiederzuentdecken und Zweifel und Ängste zu überwinden. »Garantiert zeichnen lernen« von Betty Edwards stimuliert Vorstellungskraft und Innovationsfähigkeit des menschlichen Gehirns durch das Zeichnen, und der Klassiker »Acting. Die ersten sechs Schritte« von Richard Boleslavsky vermittelt die Kunst der Konzentration und der eingehenden Betrachtung durch die Schauspielerei. Diese Bücher sind ausgesprochen populär und erfolgreich – sie haben sich tausend-, in einigen Fällen sogar millionenfach verkauft. Was diese Bücher für ihre jeweilige künstlerische Richtung bedeuteten, will »Zen – der Weg des Fotografen« für die Fotografie sein. Hierzu setzt es die Kamera zum edelsten aller Zwecke ein: zu sehen lernen, was ist.

Im Kern geht dieses Buch weit über die Fotografie als solche hinaus: Es zielt auf die Entwicklung einer echten inneren Praxis ab. Hierzu verwende ich eine Sprache, die dem traditionellen Zen entstammt. Ich selbst gehöre keiner Zen-Linie an, aber mein Fotolehrer Minor White hat Zen ausgiebig studiert und in seinen Unterricht integriert. Das Wort »Zen« verweist auf den folgenden Seiten weniger auf eine ganzheitliche Lehre als auf deren Geist. Ich fühle mich nicht berufen, kompetent über Zen zu sprechen; berichten kann ich jedoch über meine Erfahrungen als Suchender, Fotograf und Lehrer.

So wie in »Zen und die Kunst des Bogenschießens« Pfeil und Jagdbogen zur Vermittlung der Prinzipien des Zen verwendet werden, erhalten Sie hier wirklichkeitsnahe Lektionen, bei denen wir die Kamera einsetzen. Im Zen ist die authentische Erfahrung das wichtigste Mittel des Verstehens, während die westliche Aufklärung lehrt, dass das Verständnis der Ratio entstammt. In einem Koan – einer Art Zen-Rätsel – wird gefragt: Wie sah dein ursprüngliches Gesicht aus, bevor du geboren wurdest? Dieses Rätsel lässt sich nicht mit dem Verstand beantworten. Zen setzt die Praxis über die Theorie und deswegen ist auch »Zen – der Weg des Fotografen« ausgesprochen praxisorientiert. Sie finden hier zahlreiche Werkzeuge und Übungen, die Ihnen dabei helfen, Ihr Ganzsein und Ihr unverwechselbares Wesen zu erkennen.

Auf die Frage, warum sie an meinen Fotokursen teilnehmen, nennen Schüler eine Menge Gründe. Im Laufe der Jahre ist mir aufgefallen, dass das zunächst meistgenannte Ziel, »bessere Bilder zu machen«, immer mehr durch zwei andere, wesentlichere Ziele ersetzt wurde. Erstens fühlen sich viele Schüler von der Quelle ihrer Kreativität entfremdet. Sie leben ein hochgradig strukturiertes Leben, das von der »Tyrannei des Dringlichen« beherrscht wird, und haben weder Zeit noch Raum, um sich auf eine Suche nach ihren kreativen Ausdrucksmöglichkeiten und ihrer Selbstverwirklichung einlassen zu können. Vor allem nehmen sie eine diffuse Frustration wahr – ein Gefühl, dass ein wesentlicher Teil ihres Selbst verloren gegangen, verschüttet worden ist. Sie wollen ihre Fähigkeit zum innovativen Denken wiedergewinnen und in authentischer Weise kreativ sein – sich selbst treu.

Athens, Ohio, David Ulrich

Das ist der Preis für unsere umfassend vernetzte Welt mit ihrer ständigen Verfügbarkeit. Unsere Seele ist ausgedörrt. Das Herz unseres Geistes hat aufgehört zu schlagen. Wir sind nicht mehr mit den kreativen und fantasiebegabten Teilen unseres Denkens verbunden – dem, was häufig als »rechte Gehirnhälfte« bezeichnet wird. Die Rationalität herrscht auf Kosten von Intuition, emotionaler Weisheit und dem Wissen um die grenzenlosen Inhalte des Unbewussten. Wir haben die mächtige Sprache der Metaphern und Symbole aus den Augen verloren. Einer meiner Schüler beschrieb diesen Zustand als »den subtilen und allgegenwärtigen Zwang des systematisierten Denkens«. Die Poesie ist tot.

Die Versenkung – das stetige Betrachten ein und derselben Frage aus immer neuen Richtungen, das Abwägen dieser Frage zu unseren Gefühlen, das Pflanzen von Keimen im Unbewussten, damit dort eine Antwort wachsen kann: Diese Kunst ist verloren gegangen. Meine Schüler haben das Gefühl, in der Echokammer ihres eigenen Geistes zu stehen, in der die immer gleichen Gewohnheiten und begrenzenden Denkmuster herrschen. Und sie wollen da raus.

Ich habe Jahre damit verbracht, eine Antwort auf die Fragen und den Frust meiner Schüler zu finden. Eine befriedigende Antwort habe ich nicht gefunden, aber zwei Dinge sind ganz offensichtlich. Erstens: Kreativität ist unser natürliches Geburtsrecht. Jeder – auch Sie! – kann Kreativität lernen. Ein häufig genanntes Zitat von Picasso lautet: »Jedes Kind ist ein Künstler. Das Problem ist, ein Künstler zu bleiben, wenn man erwachsen geworden ist.« Zweitens: Unser Denken vollzieht sich im Verborgenen, in den Tiefen unseres Geistes. Nach Ansicht der modernen Psychologie läuft ein großer Teil des Denkens unbewusst ab – d. h. jenseits rationaler Gedanken –, und sie führt dazu zahlreiche Belege an. Uneins sind sich die Wissenschaftler hinsichtlich des Anteils der unbewussten Teile des Denkens, er wird aber gemeinhin auf 75 bis 95 Prozent taxiert. Echte Intelligenz integriert die bewussten und unbewussten Teile des Gehirns. Sie können sich Ihrer eigenen verborgenen Motivationen, Ihrer Symbolsprache und Ihrer Quellen für kreatives Denken und intuitives Verstehen bewusst werden.

Die Kunst – vor allem die Fotografie – kann Ihnen dabei helfen, in die tieferen Schichten des Geistes vorzudringen und Sie so zurückführen zu einem unerschöpflichen Quell der Kreativität.

Kreativität wie auch Zen sind Lebensweisen. Praktiziertes Zen bietet dieselben Freuden, Herausforderungen und Entdeckungen, die auch Kreativität hervorbringt, und übertrifft diese sogar. Etwas, was sowohl kreativem Arbeiten als auch Zen gemein ist, ist die Versenkung in einen Vorgang um seiner selbst und nicht des Ergebnisses willen – ganz im Hier und Jetzt. Die Freude am Nichtwissen, an Fragen und Entdeckungen und an der Suche nach dem Ruhepunkt in der Mitte des Hamsterrads sind grundlegende Eigenschaften, die sowohl der Künstler als auch der Suchende haben. Kreativität kann ebenso wie Zen dabei helfen, uns präsenter, wacher und lebendiger zu machen.

Bereits sehr früh in meinem Leben habe ich herausgefunden, wie es ist, im Jetzt zu sein.

Im Pfadfinderlager lernte ich einst das Schießen mit einer Kleinkaliberwaffe. Ich war verblüfft darüber, wie es ist, mit einer solchen Waffe zu üben. Es erforderte volle Aufmerksamkeit: Ein Moment der Ablenkung hätte katastrophale Folgen haben können. Mit meiner Hand entfesselte ich gewaltige Kräfte. Die schiere Energie war spürbar und ungemein befriedigend. Ich wollte also möglichst schnell eine eigene Schusswaffe. Mein lieber Vater verbot mir jedoch den Besitz von Waffen jeglicher Art. Stattdessen kaufte er mir eine Kamera. Die erfreuliche Folge war, dass meine Leidenschaft sich von den Waffen ab- und dem Schießen mit der Kamera zuwandte. Das Auslösen der Kamera gab mir ein ähnliches Gefühl der Allmacht, wie es zuvor der Abzug der Waffe getan hatte. Auch mit einer Kamera musste ich präsent, wachsam und in der Lage sein, flüchtige Momente festzuhalten. Die Fotografie gab mir dankenswerterweise ein ähnliches Machtgefühl, verbunden mit einem eleganten Sinn für Kreativität, wie es Mitte des 20. Jahrhunderts kein anderes Werk- oder Spielzeug in Amerika bot. Ich begab mich also auf eine höchst erfüllende kreative Reise, die sich bis zum heutigen Tag fortsetzt – fast 55 Jahre, nachdem ich meine erste Kamera bekommen habe.

Self-portrait at Twelve und El Capitan, Yosemite Valley, 1962, David Ulrich

Als Fotograf und Dozent habe ich den Einsatz von Kameras und Technologie mit dem Ziel gefördert, das Bewusstsein und die Individualität des Fotografen voranzubringen und gleichzeitig zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft beizutragen. Digitale Werkzeuge haben unsere Art zu reden, zu reisen und zu arbeiten, unser Streben und unsere Schwächen revolutioniert. Alle Werkzeuge sind Erweiterungen des menschlichen Körpers. Der Pinsel ist eine Erweiterung des Auges und der Hand. Computer und Handys sind nichts anderes als Erweiterungen des menschlichen Nervensystems oder kürzer: unseres Gehirns. Die Kamera schließlich ist eine Erweiterung von Auge und Geist. Dies ist die zentrale Annahme von »Zen – der Weg des Fotografen«: dass die Kamera in unserer Hand unser Potenzial erweitern und uns helfen kann, unser in der Konditionierung gefangenes Selbst zu befreien.

Die Fotografie gibt jedem von uns ein leistungsstarkes Werkzeug für kreative Inspiration, Selbstverwirklichung und auch persönliche, umfassende Kommunikation an die Hand.

Es ist leicht, sich in moderne Kameras und Smartphones zu verlieben: Sie sind ästhetische und elegante Werkzeuge, die in der Hand zu halten und zu verwenden dank ihres innovativen Designs äußerst befriedigend ist. Und: Sie machen tolle Fotos. Praktisch jeder macht heute Fotos – und zwar jede Menge. Schätzungen zufolge werden allein in diesem Jahr eine Billion Fotos gemacht. Mit Instagram, Flickr und Snapchat können diese Fotos dann ohne Verzögerung weltweit verteilt werden. Die Fotografie gibt jedem von uns ein leistungsstarkes Werkzeug für kreative Inspiration, Selbstverwirklichung und auch persönliche, umfassende Kommunikation an die Hand.

Um es mit Walt Whitman zu sagen:

Oh ich, oh Leben! auf alle diese wiederkehrenden Fragen, Auf diesen unendlichen Zug der Ungläubigen, Auf die Städte, die voller Narren sind, Was habe ich darauf für eine Antwort – oh ich, oh Leben?

Dies aber ist die Antwort: Du bist hier. Damit das Leben blüht und die Persönlichkeit. Damit das mächtige Spiel weitergeht und du deinen Vers dazu beitragen kannst.

Welches wäre Ihr Vers?

Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Buch zu lesen. Sie können es, wenn Sie möchten, von vorne bis hinten durchlesen, oder Sie stöbern mal hier, mal dort und finden heraus, was für Sie interessant und wichtig ist. Nutzen Sie Werkzeuge und Übungen nach Belieben, wenn Sie sich bereit dazu fühlen. Oder Sie genießen die volle Dosis, verwenden »Zen – der Weg des Fotografen« als Leitfaden und führen die Übungen in der Art und Reihenfolge wie angegeben aus. Die sechs Lektionen orientieren sich an einer Lernabfolge: von bescheiden und einfach bis hin zu subtil und komplex. Die Lektionen bilden mehr oder minder auch den Übergang vom Selbst zum Anderen ab und helfen Ihnen, Ihre kreative Rolle in der Gesellschaft und im Dienste der Kultur als Ganzes zu finden.

Viele Fotografen und ihr Werk werden in diesem Buch erwähnt. Informieren Sie sich online über sie, oder besser noch: Leihen Sie ihre Bücher aus Ihrer Stadtbücherei aus, denn schließlich reicht die Abbildungsqualität online häufig nicht an die Vierfarbreproduktionen in Druckwerken heran. Ich habe auch eine Liste der Bücher, die ich für die Recherche verwendet oder im Text zitiert habe. Und ich habe Bücher aufgeführt, die sich besonders für die fotografische Ausbildung eignen.

Sie werden überrascht sein, wie viel Sie einfach dadurch lernen können, dass Sie eine Kamera benutzen. Für den Einstieg brauchen Sie kein fotografisches Wissen und doch werden Sie feststellen, dass Sie schon nach kurzer Zeit Ihre eigene authentische Sichtweise entdecken werden. Eine Kamera mit Einstellmöglichkeiten oder ein Profigerät und Kenntnisse zur Bedienung mögen Ihnen dabei helfen, Ihren kreativen Pfad weiterzugehen, aber notwendig sind sie nicht. Es ist nie zu früh oder zu spät. Sie schaffen das. Viele meiner Schüler sind erwachsen und haben die Schule schon vor vielen Jahren verlassen. Sie werden lernen, wie Sie ausdrucksstarke Fotos machen und dabei Zugang zu Ihrer eigenen Kreativität finden. So werden Sie am Ende Schöpfer – und nicht nur ein Konsument – von Inhalten. Viele Menschen empfinden es als befreiend zu lernen, mit der Kamera zu sehen – ganz unabhängig davon, wie viel technisches Geschick oder was für eine Kamera sie haben. Es ist nicht das Equipment, das einen Fotografen ausmacht.

»Zen – der Weg des Fotografen« richtet sich an jeden – ob Fotograf(in) oder nicht. In diesem Buch erzähle ich immer wieder kleine Anekdoten und gebe die Erfahrungen mancher meiner Schüler wieder. Und ich zeige auch einige ihrer Bilder. Da ich derzeit abwechselnd formal am College lehre und Workshops für Mitglieder meiner Gemeinde durchführe, finden Sie in »Zen – der Weg des Fotografen« einen breiten Querschnitt von Werken verschiedenen Niveaus. Hierzu gehören auch solche von Anfängern. Meine Schüler erzählen häufig, dass das Befolgen dieser Anleitung auch in vielen anderen Bereichen ihres Lebens jenseits der Fotografie hilfreich für sie ist. Wenn Sie eine Sache gut machen, dann hilft Ihnen das bei jeder anderen Aktivität, die Sie in Angriff nehmen möchten.

Ich werde Sie ermutigen, Ihnen Dinge beibringen, Sie unterstützen und Sie herausfordern. Sie müssen es nur zulassen. Ich werde Sie schulen und Ihnen helfen, die Mittel für einen reichhaltigen kreativen Ausdruck zu finden. Ich werde Sie herausfordern, Risiken einzugehen, Dinge auszuprobieren, die Sie vorher nicht ausprobiert haben, und Ihre vorgeblichen Grenzen zu überschreiten. Trauen Sie sich, sich mir zu öffnen und gemeinsam mit mir in neue und unbekannte Gebiete vorzustoßen?

Mit der Kamera für die Hosentasche oder auch einem großen Profigerät können Sie die Ursprünge Ihrer eigenen Kreativität wiederentdecken, die Schleier lüften, die Ihr innerstes authentisches Selbst vor Ihnen verbergen, und die Natur der Welt selbst, ihre vielen Wunder, ihre Freuden und Ungerechtigkeiten und ihre blendende Schönheit sehen, die einen oft auch schwer ums Herz macht. Durch eine Kamera können Sie Ihre tief empfundenen Sorgen vermitteln, Ihre ganz eigenen Wahrnehmungen übersetzen, bei anderen Leidenschaft, Freude oder Tränen auslösen und sogar die Welt verändern. Eine Kamera kann Sie anderen näher bringen und Ihnen helfen, Einfühlungsvermögen zu entwickeln und einen direkten Zugang zu den Motiven, Handlungen und Worten anderer zu gewinnen. Sie hilft Ihnen, die vielen Ebenen Ihres Selbst zu verstehen und eine authentische und wechselseitige Beziehung mit der Welt um Sie herum aufzubauen. Vor allem aber kann Ihre Kamera Ihnen helfen, den Augenblick zu erfassen und mit ihm zu interagieren. Durch das Bildermachen können Sie Ihren eigenen Blick auf die Welt, Ihre eigene Stimme, Ihren eigenen Vers entdecken und ausdrücken.

Alles, was Sie brauchen, ist eine Kamera. Irgendeine Kamera.

Fangen wir an.

Watermelon, Akron, Ohio, David Ulrich

Grundlegende Prinzipien und Methoden

Die nachfolgend beschriebenen Prinzipien und Übungen sind grundlegender Natur. Sie bilden das Fundament Ihrer fotografischen Praxis – sowohl bei der Lektüre dieses Buchs als auch dann, wenn Sie mit Ihrer Kamera auf Motivsuche sind. Diese Werkzeuge sorgen für gute Arbeitsgewohnheiten und eine gesunde, wache Geisteshaltung. Sie sind so etwas wie Tonleitern für Musiker oder Aufwärmübungen für Sportler. Für einen Fotografen sind diese Prinzipien und Methoden nicht nur ein Ausgangspunkt, sondern vielmehr eine ständige Praxis für sein kreatives Leben.

Ihre täglichen Aufzeichnungen

Wenn Sie ein Künstler an der Kamera sein möchten, müssen Sie häufig fotografieren. Kreativität braucht etwas, woran sie sich entzünden kann. Regelmäßiges und fortlaufendes Üben fördert Ihre Fähigkeiten und Ihre fotografische Vorstellungskraft. Natalie Goldberg, Autorin des ausgezeichneten Schreibbuchs »Schreiben im Café: Writing Down the Bones«, nutzt tägliches Schreiben als Übung, um die Kreativität anzuregen und »einen klaren Kopf zu bekommen«. Ihr Zen-Lehrer Dainin Katagari Roshi sagte zu ihr: »Warum machst du das Schreiben nicht zu deiner Zen-Praxis? Wenn du tief genug eintauchst, bringt es dich überall hin.« Ein ausgezeichneter Ratschlag. Während der gesamten Zeit, die Sie mit dem Studium dieses Buchs verbringen, empfehle ich Ihnen, mindestens 100 bis 200 Fotos pro Woche zu machen. Diese werden Ihre täglichen Aufzeichnungen sein, ähnlich einem freien Tagebuch mit Gedanken und Eindrücken. Vielleicht erscheint Ihnen diese Zahl sehr hoch gegriffen, aber für einen Fotografen ist sie das absolute Minimum. Zu Zeiten des Rollfilms fanden auf einem 35-mm-Film 36 Aufnahmen Platz und 100 Fotos waren gerade mal drei Filme.

Bilder aus meinen täglichen Aufzeichnungen, aufgenommen mit einer Handykamera

Fast jede der sechs Lektionen in diesem Buch hat einen abschließenden Abschnitt mit dem Titel »Werkzeuge und Übungen«. Hier finden Sie Vorschläge, wie Sie sich der Welt durch die Kamera nähern. Sie können diese Übungen im Rahmen Ihrer täglichen Aufzeichnungen machen. Sie meinen, Sie hätten nicht genug Zeit? Fassen Sie sich ein Herz! Fotografie ist eine schnelle Angelegenheit und die meisten Fotografen machen 200 Bilder in ein oder zwei Stunden.

Fotografieren Sie täglich oder wenigstens beinahe täglich. Reservieren Sie eine bestimmte Tageszeit für das Bildermachen oder verpflichten Sie sich, im Rahmen Ihrer täglichen Aktivitäten zu fotografieren. Im Idealfall tun Sie beides – jeden Tag mindestens eine halbe oder eine ganze Stunde lang. Wenn Ihre Kamera Einstellungen erlaubt, aktivieren Sie zunächst den Programm- oder den Automatikmodus. Falls Sie mit Ihrem Handy fotografieren, machen Sie sich mit dessen Fokus- und Belichtungseinstellungen vertraut. Tippen Sie dazu in der auf Ihrem Display dargestellten Szene einmal auf den Punkt, der fokussiert werden und die Belichtungseinstellung bestimmen soll. Einige Smartphone-Apps ermöglichen je nach Kameramodell und Software getrennte Fokus- und Belichtungspunkte. Behandeln Sie Ihre Kamera wie ein Beobachtungswerkzeug und finden Sie Wege, das Fotografieren in Ihre täglichen Abläufe zu integrieren. Einer meiner derzeitigen Schüler – ein vielbeschäftigter Fotograf – hat sich eine Monatskarte für den Bus gekauft und fährt damit jeden Tag zur Arbeit und nach Hause, um auf diesen Fahrten seine Motive zu finden. Damit steckt er mitten in einem überaus spannenden Projekt. Mit einer kleinen, unauffälligen Kamera fotografiert er die Geschichten der Menschen im Bus und Szenen, die vor dem Fenster vorbeiziehen. Bei Ihren täglichen Aufzeichnungen geht es gar nicht darum, »gute« Fotos zu machen. Versuchen Sie nur zu sehen, was da ist. Sorgen Sie dafür, dass Ihrer Kamera nichts entgeht. Fotografieren Sie, was Ihnen gefällt. Machen Sie Bilder, die mit der ganzen Bandbreite Ihrer Reaktionen auf die Welt spielen: leichtes Interesse, Neugier, Wertschätzung, Abneigung, Ekel, Empörung, Schönheit, Liebe und Hass. Halten Sie fest, was mit Ihren Meinungen und Überzeugungen konform geht, und bilden Sie respektvoll Szenen oder Ereignisse ab, die Ihnen fremdartig erscheinen oder Ihren Standpunkten zuwiderlaufen Fotografieren Sie während dieser Erkundungsphase alles, was bei Ihnen eine Reaktion auslöst, gleich welcher Art – außer vielleicht Gleichgültigkeit. Halten Sie Ausschau nach Situationen, die Sie wirklich fesseln, die eine kraftvolle Reaktion hervorrufen und zu denen Sie eine starke Verbindung spüren.

Sie sehen ein faszinierendes Lichtspiel? Fotografieren Sie. Sie beobachten einen anderen Menschen und für einen kurzen Moment lässt er seine Maske fallen und offenbart seine wahre Persönlichkeit? Fotografieren Sie. Am Himmel türmen sich riesige Wolken zu einem beeindruckenden Gewitter auf? Fotografieren Sie. Eine ganz bestimmte Wandgestaltung oder ein zerrissenes Filmplakat im langen Schatten der Abendsonne? Fotografieren Sie. Fremde Menschen auf der Straße bewegen sich für einen kurzen Moment ungewollter Zweisamkeit wie tanzend vor Ihrem Objektiv? Fotografieren Sie. In der Dämmerung steigt der Vollmond über dem Haus nebenan auf? Fotografieren Sie.

Fangen Sie mit dem an, was Ihnen gefällt. Leidenschaft lässt sich nicht erzwingen, wohl aber ermutigen und locken. Die Kraft, die einem guten Anfang innewohnt, kann Sie auf Ihrer gesamten Reise begleiten. Es gab in meinem Leben eine ganze Reihe von Projekten – Bücher wie auch fotografische Studien –, bei denen ich anfangs nur mäßig begeistert von der Idee und eigentlich nicht richtig bei der Sache war. Diese Projekte verliefen dann meist nach kurzer Zeit im Sand und ich habe mich nie wieder mit ihnen befasst. Projekte jedoch, die mein Herz und meinen Verstand gefangen nahmen oder aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstanden, entfalteten sich prächtig und ich habe sie immer bis zum Ende durchgezogen.

Meine Bitte: Seien Sie ehrlich zu sich selbst. Machen Sie keine Fotos irgendwelcher Motive, nur weil Sie ähnliche Bilder schon einmal gesehen und sie Ihnen gefallen haben. Vermeiden Sie Klischees und Stereotypen. Ich lebe und lehre in Hawaii. Nach Angaben von Eastman Kodak wurde zu Zeiten des Rollfilms in keinem anderen US-Bundesstaat mehr Zelluloid belichtet als hier. Offenbar gilt dieser Grundsatz auch in Zeiten der Digitalfotografie. In meinen Einführungskursen sehe ich zahllose Sonnenuntergänge und Szenen oberflächlicher Schönheit, leider aber nur wenige kostbare Bilder von der unglaublichen kulturellen Vielfalt dieser Inseln. Manchmal muss man sich durch die Klischees durcharbeiten, um zum Kern dessen zu gelangen, was man sich vorstellt. Das ist auch in Ordnung so. Sie werden im Laufe der Zeit viele unterschiedliche Fotos machen. An dieser Stelle wollen wir Selfies, Essensfotos und Schnappschüsse von Familie und Freunden erst einmal von der kritischen Prüfung ausnehmen. Legen Sie diese getrennt vom Rest in einem separaten Ordner oder Album ab.

Organisieren Sie Ihre Fotos und betrachten Sie sie täglich. Sie können dies abends oder immer dann tun, wenn Sie im Laufe des Tages ein paar freie Minuten haben. Suchen Sie nach wiederkehrenden Themen und zentralen Formen oder Gestalten. Analysieren Sie, wie Sie Farbe und Form einsetzen, wie auch Ihre Faszination für oder Abneigung gegen ganz bestimmte Themen. Vor allem aber: Suchen Sie nach Bildern, die Sie unmittelbar berühren: Jene Bilder und Szenen, die Sie aus Ihrem Innersten anrufen und Ihr Wesen auf eine Weise berühren, die Sie noch nicht richtig erklären können. Legen Sie diese – und nur diese – seltenen Juwelen in einem separaten Ordner ab.

Wenn Sie die Kamera Ihres Smartphones verwenden, laden Sie Ihre Fotos mindestens einmal pro Woche auf Ihren Computer hoch. Sie können sie zwar mit dem Dateibrowser Ihres Smartphones betrachten, aber oft ist es hilfreich, Bilder auch auf einem größeren Bildschirm anzuzeigen. Verwenden Sie zum Betrachten Ihrer Bilder ein Programm, das Ihnen eine bequeme Thumbnail-Übersicht zum schnellen Durchblättern bietet. Ich bevorzuge Adobe Bridge oder Lightroom. Beide Programme ermöglichen das Sortieren und Organisieren von Bildern in Sammlungen. Mischen Sie Ihre Bilder, suchen Sie nach verbindenden Elementen oder sich herauskristallisierenden Ideen. Verbringen Sie jede Woche etwas Zeit damit, Ihre Alben durchzusehen. Lassen Sie sich anfangs noch nicht dazu hinreißen, Ihre Bilder zu bearbeiten und zu bewerten. Der Optimierung wenden wir uns erst später zu. Sie werden feststellen, dass sich einige Bilder noch nicht vollständig anfühlen. Vielleicht stehen diese für ein sich entwickelndes Thema, das noch nicht zur Umsetzung gekommen ist.

Ich verwende Adobe Bridge als Dateibrowser zum Anzeigen und Verwalten von Bildern. Hierzu gehören auch die Handybilder aus meinen täglichen Aufzeichnungen.

Ich hüte mich davor, meine Fotos wahllos auf Instagram, Facebook oder in anderen sozialen Medien zu veröffentlichen. Viele der Bilder, die ich tagtäglich mache, sind lediglich Skizzen zu Ideen, mit denen ich schwanger gehe, die aber noch nicht reif sind für das Licht der Welt. Andere Bildideen hingegen sind rund und diese teile ich gerne offen. Ich finde, dass zu viele oder zu wenige Likes in den sozialen Medien meine Suche nach Klarheit und Ausdruckskraft verfälschen oder mich entmutigen können. Meiner Erfahrung nach ist es viel wichtiger, eine kreative Gemeinschaft mit jenen zu bilden, deren Antworten man vertrauen kann. Wenn Sie daran interessiert sind, können Sie eine Facebook-Seite zum Teilen und zum Sammeln von Reaktionen auf Bilder erstellen oder eine entsprechende Online-Plattform nutzen. Ein Kniff, den ich in meinem Unterricht verwende: Wir ignorieren die Likes für ein Bild (wie auch deren Fehlen). Sagen Sie immer, warum Sie positiv oder negativ auf ein Bild reagieren. Geben Sie Gründe dafür an, warum ein Foto Ihrer Meinung nach gelungen ist oder noch Verbesserungspotenzial hat. Wenn es ums Lernen geht, schulden wir einander echte und ehrliche Antworten.

Bei Ihren täglichen Aufzeichnungen liegt der Schwerpunkt auf dem Prozess, nicht auf dem fertigen Produkt.

Wenn wir versuchten, unsere Ideen durch Fotos auszudrücken, riet mein Lehrer Minor White oft: »Fang die Welle, nicht nur das Kräuseln.« Viele unserer Bilder sind Skizzen sich entwickelnder Ideen, auch wenn wir sie noch nicht als solche erkennen. Der unbewusste Teil unseres Geistes hat – neben dem bewussten – seine eigene Integrität und wir müssen ihm viel Platz zum Manövrieren geben, damit eine Bildidee in aller Anmut und Vollständigkeit Gestalt annehmen kann.

Bei Ihren täglichen Aufzeichnungen liegt der Schwerpunkt auf dem Prozess, nicht auf dem fertigen Produkt. Beim Rollfilm haben wir Kontaktabzüge jedes belichteten Bilds gemacht und mit Fettstiften Anmerkungen dazu notiert, was uns gefällt, wie das Bild freigestellt werden könnte oder wie sich ausgeglichene Tonwerte erzielen ließen. Unsere Kontaktbögen waren heilig, denn sie waren ein vollständiges Protokoll unseres Herzens und unseres Geistes. Und deswegen haben wir sie akribisch für die Zukunft archiviert. Von Bild zu Bild ließ sich unsere tiefer werdende Verbindung mit dem Motiv verfolgen – von den ersten zögerlichen Versuchen bis hin zum Crescendo von Einblick und Verstehen. Die digitalen Bildbetrachtungsprogramme von heute können die Funktion der Kontaktbögen weitgehend übernehmen.

Aber auch als professioneller Fotograf führe ich immer noch tägliche Aufzeichnungen mit fotografischen Skizzen und Eindrücken. Ich finde es einfach wichtig, meine Ideen zu verfeinern, neue Richtungen zu entdecken und meinen Geist wachzurütteln, um wirklich offen zu bleiben. Meine Handykamera habe ich immer dabei: Sie ist zu meinem Skizzenwerkzeug geworden. Erst in der Umsetzungsphase des Prozesses greife ich zu meinen Profikameras. Mit der Handykamera bleibe ich im Fluss und mit meiner Umgebung in direkter und unmittelbarer Verbindung. Die Qualität der Skizzen ist mir egal – es bekommt sie sowieso niemand zu sehen.

Machen Sie einfach Aufnahmen und verschwenden Sie noch keinen Gedanken an das Endergebnis. Ein Schriftsteller geht die berüchtigte leere Seite mit ein paar lockeren und spontanen Schreibübungen an und bringt erst dann seine »gewichtigen« Gedanken zu Papier. In gleicher Weise sollten Sie erst einmal ein paar Fotos machen, ohne die Frage im Hinterkopf zu haben, ob Ihre kreative Arbeit »gut genug« ist.

Gönnen Sie sich den Raum und den Luxus der reinen Freude am Fotografieren um seiner selbst willen. Feinarbeit und Vervollkommnung haben ihre eigene Zeit. Nehmen Sie keine Bearbeitungen vor. Bewerten Sie nichts. Beobachten Sie lediglich mit Interesse, welche Bilder entstehen.

Fotografieren Sie wie die Zen-Meister, die mit der Gewissheit der spontanen, aus der Aufmerksamkeit geborenen Geste malten. Kreis, Dreieck und Quadrat, Sengai Gibon (1750–1838). Lizenziert unter Creative Commons.

Bewusstsein, frei von störenden Gedanken

Die frei fließenden Eindrücke und Ideen, die durch die Kamera gelangen, bringen Ihnen etwas über die Welt und sich selbst bei. Die Fotografie kann Ihnen helfen, die normalen Wahrnehmungsfilter zu umgehen und die sogenannte rechte Gehirnhälfte – die Quelle von Intuition, Phantasie und Kreativität – zu aktivieren. Hier kann der Geist ungebunden fließen. Im Zen wird diese offene und empfängliche Geisteshaltung als »Bewusstsein ohne Bewusstsein« bezeichnet, vielleicht einfacher zu verstehen als »Bewusstein ohne störende Gedanken«.

Sobald ein optischer Eindruck auf das Auge fällt und von der Netzhaut erfasst wird, scannt das Gehirn seine Datenbank – das Gedächtnis – und versucht die Szene auf Grundlage von vorhandenem Wissen und Erfahrungen zu interpretieren. Was Sie sehen, wird in der Regel bereits durch Ihre Ansichten, Wünsche und Erfahrungen verzerrt. Diese oft unbewusste Handlung besteht darauf, Dinge zu benennen und begrifflich einzuordnen. Der Verstand legt über die Bilder der Welt sein eigenes Spiegelbild.

Bewusstsein ohne Bewusstsein – auf Japanisch Mushin – bezieht sich auf einen Geist, der sich geöffnet hat und nicht unablässig mit der eigenen Reflexion beschäftigt ist. Gedanken und Gefühle dürfen kommen und gehen: Sie gleiten wie Wolken vor dem Bewusstsein des Geistes vorüber. Die Künste des Zen – das Bogenschießen und die Schwertkunst – vermitteln eine tief greifende und instinktive Weise des Handelns frei von den Hindernissen jeglicher Bindung und diskursivem Denken. Möchten Sie ohne Meinung und Urteil sehen, dann müssen Sie Ihren Blickwinkel wie bei einem Weitwinkelobjektiv vergrößern. Ihr Geist arbeitet ohne Unterlass, was jedoch nicht heißt, dass Sie assoziatives Denken und reaktive Gefühle nicht hinter sich lassen könnten: Ihr Geist ist dann nur noch Zeuge. Aus dieser Perspektive können Sie dann Ihr eigenes Denken, sogar Ihr eigenes Sehen sehen.

Das Wechseln in ein Bewusstsein ohne Bewusstsein ist möglich – sogar für jene von uns, die sich von subjektivem Denken leiten lassen. Der Verstand arbeitet mit Wörtern und Konzepten und sträubt sich oft gegen formorientiertes Denken. Deswegen zögert er, sein vorgebliches Territorium der verbalen Argumentation zu verlassen. Eine Methode, mit der man sich dem Bewusstsein ohne Bewusstsein annähern kann, besteht darin, das rationale Denken in seiner ständigen Tätigkeit zu unterbrechen. Hierzu gibt man ihm eine Aufgabe, die nicht durch analytisches Denken erfüllt werden kann. Versuchen Sie beispielsweise, ein Schaltgetriebe im Kopf zu fahren oder Ihre Gefühle mit Farben und Formen darzustellen. In »Garantiert zeichnen lernen« vermittelt Betty Edwards Ansätze des Sehens, mit denen die linke analytische Hirnhälfte umgangen und die kreativen und ganzheitlichen Fähigkeiten der rechten Hälfte erweckt werden. Dabei ist Entschlossenheit ein mächtiges Werkzeug. Edwards behauptet, dass die bloße Handlung des Zeichnens Sie in einen Zustand versetzen kann, in dem Sie sich Ihrer selbst wie auch des gesehenen Objekts wesentlich stärker bewusst sind. Sie lehrt Übungen wie das Zeichnen eines auf dem Kopf stehenden Motivs – eine Tätigkeit, die das analytische, linear handelnde Gehirn unmöglich ausführen kann. Diese Aufgabe kann nur bewältigt werden, indem man die Kontrolle aufgibt und sich nur noch auf die Bewegung der Hand konzentriert. Die Aufmerksamkeit so auf den Körper zu richten, hilft beim Erreichen eines veränderten Bewusstseinszustands, der besser geeignet ist, Dinge anders wahrzunehmen und – wie Künstler häufig berichten – mit der eigenen Tätigkeit »eins zu werden«.

Ihre Kamera

Bei modernen Kameras liegt der Schwerpunkt heutzutage vor allem auf den kreativen Möglichkeiten. Sie sind gut beraten, die Bedienung Ihrer Kamera zu erlernen. Achten Sie dabei vor allem darauf, sich mit den grundlegenden Zusammenhängen zwischen Blendenwert, Verschlusszeit (das ist die Öffnungsdauer des Verschlusses) und ISO-Wert (mit dem die Lichtempfindlichkeit des Sensors oder Films bestimmt wird) vertraut zu machen. Diese Parameter sind grundlegende Tools für die kreative Selbstentfaltung mit der Kamera. Besorgen Sie sich ein Buch oder Video oder besuchen Sie einen Kurs, in dem diese Grundlagen vermittelt werden. Wenn Sie lernen, die Einstellungen Ihrer Kamera zu nutzen, können Sie im manuellen Modus oder mit Blenden- oder Verschlusspriorität fotografieren und die Ihnen zur Verfügung stehenden Belichtungs-, Schärfentiefen- und Blendenfunktionen nutzen. Lernen Sie den Belichtungsmesser und die Messmodi Ihrer Kamera kennen und machen Sie sich mit der Bedienung der Autofokusfunktionen vertraut, um Ihr Motiv wie gewünscht scharfzustellen (oder auch unscharf abzubilden).

Es gibt viele exzellente Bücher und Online-Ressourcen zum Erlernen fotografischer Grundlagen. Auf meiner Website creativeguide.com finden Sie unter Teaching > Class Resources and Handouts eine Reihe von Handouts (in englischer Sprache), die Ihnen dabei helfen können, die Grundlagen der Fotografie und der digitalen Bildbearbeitung zu erlernen. Die PDF-Datei »Digital Photography Fundamentals« bietet grundlegende Informationen über die Bedienung einer Kamera und den Belichtungsdreiklang aus Blendenwert, Verschlusszeit und ISO-Wert zur Steuerung des Lichts.

Am Ende sollten Sie Ihre Kamera so gut kennen, dass sie zu einer Verlängerung Ihrer Hand und Ihres Auges wird. Schließlich wollen Sie sich nicht gerade dann mit den Bedienfunktionen herumschlagen, wenn Sie ein sich schnell veränderndes Motiv fotografieren möchten. Dasselbe gilt für Handykameras. Machen Sie sich mit den Parametern vertraut, die Ihnen die Herstellersoftware bietet. Und wenn Ihnen diese zu begrenzt ist, stehen Ihnen eine Vielzahl von Apps zur Verfügung, die die Funktionalität der Kamera über die Herstellersoftware hinaus erweitern. Selbst bei einem Smartphone sollten Sie dessen Kamera gut genug kennen, um schnell und intuitiv damit arbeiten zu können.

Wenn Sie den Kauf einer Kamera in Betracht ziehen, würde ich an Ihrer Stelle warten, bis Sie etwas Erfahrung mit dem Fotografieren gesammelt haben. Es gibt zahllose Kameratypen und jeder davon ist für einen ganz bestimmten Einsatzzweck konzipiert. Aspekte, die bei einer Kamera eine Rolle spielen, sind etwa Portabilität, Größe und Gewicht, Pixelwert, Sensorformat, die Qualität des Objektivs, die Benutzerfreundlichkeit, Reputation des Anbieters, Erschwinglichkeit, Herstellersupport und weitere bestimmte Merkmale. Ich gebe niemals Empfehlungen zu Kameras oder Objektiven ab, bevor ich nicht genau weiß, wie die betreffende Person ihre Kamera nutzen will. Machen Sie sich vor dem Kauf klar, was Sie brauchen.

Die Lektionen in »Zen – der Weg des Fotografen« können Sie mit jeder beliebigen Kamera bearbeiten – ob mit einem konventionellen Gerät oder einer Kamera in einem aktuellen Handy. Wie Sie Ihr Equipment erweitern, lässt sich ganz bodenständig daraus ableiten, was Sie fotografieren, was Sie sehen und welche technischen Bedürfnisse Sie im Laufe der Zeit entwickeln.

Makapu‘u Lighthouse, O’ahu, Hawai‘i, David Ulrich

Die Begegnung mit dieser Szene rief eine unmittelbare und intuitive Reaktion mit der Kamera hervor.

Shelburne Falls, Massachusetts, David Ulrich

Viele Menschen, die fotografieren, sagen, dass der bloße Akt, die Kamera in die Hand zu nehmen und frei auf die Welt zu reagieren, bereits das Bewusstsein erweitern und den Akt des Sehens verstärken kann. Man kann nicht aufhören zu denken, aber man kann seinen Fokus vom rationalen Denken auf die kreative und phantasievolle Seite des Geistes verlagern. »Nicht zu wissen« und die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten – neugierig, unbelastet und staunend – kann das Sehen und das Machen von Bildern auf mächtige Weise verändern. Das mag zunächst ganz einfach klingen, doch der Schein trügt: Es zu praktizieren, kann eine große Herausforderung darstellen.