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Beschreibung

Unter den Absätzen der Mörderischen Schwestern, in ihren Sätzen und Geschichten finden sich entzweite Schulfreundinnen, Hausbesetzer, wehrhafte Fahrgäste und eine Schamanin. Es sind enttäuschte Mütter, hart arbeitende Frauen, listige Detektive, tatkräftige Rentnerinnen, eine ehrgeizige Sängerin, eine alternde Femme fatale, die alle neben weiblichem Charme und scharfem Verstand auch Waffen jeder Art, Gift und Allergene zum Einsatz bringen. Aus einer manchmal auch animalischen Perspektive schreiben die Mörderischen Schwestern über Totschlag, Betrug und Rache, darüber, wie man sich zur Wehr setzt, wie jemand auf’s Kreuz gelegt wird oder Täter zu Opfern werden. Dieses Buch vereint 22 spannende, kritische und literarische Texte. Sie sind überraschend, satirisch, ernst und humorvoll, leise und schrill.Mörderisch gut, die Schwestern! Mit Beiträgen von: Barbara Ahrens, Ulrike Bliefert, Ute Christensen, Andrea Gerecke, Laszlo Hartmann, Carla Maria Heinze, Astrid Ann Jabusch, Bettina Kerwien, Slavica Klimkowsky, Ria Klug, Maria Kolenda, Salean Maiwald, Andrea Maluga, Marianne Meuser, Dolores Pieschke, Heidi Ramlow, Connie Roters, Susanne Rüster, Waltraud Schade, Barbara Schlungbaum, Comsha Stein, Gisela Witte

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periplaneta

MÖRDERISCHE SCHWESTERN e.V. Berlin

„Zerstöckelt – Eine tödliche Anthologie“

Hrsg: Susanne Rüster , Heidi Ramlow, Ria Klug

1. Auflage, September 2021, Periplaneta Berlin, Edition Totengräber

© 2021 Periplaneta - Verlag und Medien

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Korrektorat: Marion A. Müller

Cover: Marion A. Müller; unter der Verwendung von royality free vectors by Vecteezy.com: stiletto by tikofff1; blood by P Animates

Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-223-0

epub ISBN: 978-3-95996-224-7

MÖRDERISCHE SCHWESTERN e.V. Berlin

Zerstöckelt

Eine tödliche Anthologie

Hrsg: Susanne Rüster, Heidi Ramlow, Ria Klug

periplaneta

Heidi Ramlow

Schubert-Fieber

Der Abend war schwül. Samira hatte in der Pause die Fenster weit geöffnet, aber selbst das brachte keine Abkühlung. Die Hitze staute sich trotz der dicken Mauern im Gotischen Saal der Zitadelle. Vereinzelte Zuhörer waren schon gegangen. Leise schloss Samira die Fenster. Sie mochte diese mittelalterliche Festung; ein ganz besonderer Ort ihrer Kindheit, über den ihre Spandauer Großmutter ihr viele Gruselgeschichten erzählt hatte.

Sie trat ins Freie. Einmal durchatmen! Die Dämmerung legte sich auf den bleiernen Abend. Fledermäuse huschten um den Juliusturm, unterwegs zum nächtlichen Beutefang. Die Großmutter hatte ihr immer Angst gemacht vor diesen tagscheuen Tieren, hatte behauptet, sie würden sich gerne in Frauenhaar wickeln, besonders in rotes.

Sie ging zurück in den Saal. Vor einem der Fenster war ein Podest aufgebaut, daneben der Flügel, davor standen die Stuhlreihen der Zuhörer. Samira faszinierte die Backstein-Gotik, das warme, indirekte Licht der Fenster, die Kandelaber neben dem Podest, deren Kerzenschein die Gesichtszüge weich werden ließen. Der richtige Rahmen für den Abschluss der Meisterklasse und für ihren ersten Auftritt bei den Burgkonzerten. Und die Akustik zwischen diesen Backsteinmauern – einfach hervorragend. Ihr Herz klopfte.

Drei Lieder präsentierte jede Sängerin. Der Siegerin winkte ein Stipendium am Mozarteum in Salzburg. Ihr ganz persönlicher Traum! Ihre stärkste Konkurrentin Alma hatte ihren Auftritt bereits hinter sich und war von Juroren und Publikum frenetisch beklatscht worden.

Aber auch Samira galt als Favoritin, das wusste sie, ihr Sopran klang lyrischer als der von Alma. Ihre Blase meldete sich. Ausgerechnet jetzt! Das verdammte Lampenfieber. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit bis zu ihrem Auftritt und ging zur Toilette. Ihr Mund war trocken, ihr Atem heiß. Aus dem Wasserhahn trank sie einige Schlucke, gurgelte dann, spuckte das Wasser zurück ins Becken.

„Aufgeregt?“, hörte sie eine Stimme hinter sich fragen. Alma war in den Waschraum gekommen. Sie sah fantastisch aus mit ihren hochgesteckten, blonden Haaren und dem langen, schwarzen Kleid mit Spaghettiträgern. Sie verzauberte alle mit ihrem Aussehen und ihrer Stimme. Samira hatte das Kontrastprogramm gewählt, ganz in Weiß und trägerlos.

„Max begleitet heute hervorragend am Flügel“, sagte Alma leise, „allerdings glaube ich, dass ihm Schubert nicht so liegt.“

„Den Eindruck hatte ich nicht auf den Proben!“ Samira ordnete ihre halblangen, roten Haare, steckte die weiße Seidenrose hinters Ohr und dachte an die letzte Nacht mit Max. Ob Alma etwas ahnte?

„Jedenfalls toi, toi, toi für deinen Auftritt. Max ist ja soooo süß mit seiner wilden Mähne!“ Alma lächelte sie an, als hätte sie den Sieg schon in der Tasche, nicht nur den Sieg als Sängerin, sondern auch den Sieg um Max’ Gunst. Max, der Unnahbare.

„Er ist vor allem ein ausgezeichneter Pianist!“, sagte Samira und verließ den Waschraum.

An die Seite des Podestes stellte ein Techniker einen Ventilator, für alle Fälle. Auch das wird keine Kühlung bringen, dachte Samira. Die Zuschauer hatten den Saal wieder gefüllt, langsam wurde es still. Max und Samira blieben noch einen Augenblick neben dem Flügel stehen, bis die Deckenbeleuchtung ausging. Max nahm kurz ihre Hand und drückte sie. Sie liebte diesen professionellen Träumer.

Der Professor der Meisterklasse stellte Samira vor. Mäßiger Applaus folgte. Die Zuschauer würden schwer zu packen sein nach der Pause; die Hitze machte auch ihnen zu schaffen. Die Gewitterluft knisterte förmlich.

Samira streckte den Nacken und dachte an den Kuss. Alma stell­te ein Glas Wasser auf den Flügel. Wie aufmerksam von ihr! Vielleicht schätzte sie ihre Konkurrentin falsch ein. Samira be­merkte, wie Max der schwarze Seidenpulli zu schaffen machte … Der Ventilator wird ihm vielleicht Kühlung bringen, dachte sie. Erregung, etwas wie Fieber stellte sich bei ihr ein. Der Ventilator wurde angestellt, unterste Stufe, das brachte kaum etwas.

Max und Samira traten auf das Podest. Während das Publikum applaudierte, setzte er sich an den Flügel und legte die Noten zurecht. Samira stand unter Strom, wie immer, wenn sie sang. Zwei Lieder aus der „Winterreise“ ließen die Zuschauer aufhorchen. Für den Abschluss hatte sie Schuberts „An die Musik“ ausgewählt, die Originalversion in D-Dur. Ein leichtes Nicken von ihr und Max legte die Hände auf die Tasten und spielte die ersten Takte. Pianissimo setzte sie ein, ein Zittern ging durch ihre Seele.

„Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,

Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt …“

Hart hatte Samira sich diesen Auftritt erarbeitet. Auf alles verzichtet, was sonst Jugend ausmacht, Partys, Kinobesuche, lange Kneipenabende. Heute nun der krönende Abschluss dieser Anstrengung. Max hatte sein Stipendium für das Mozarteum schon in der Tasche. Während er Akkord um Akkord leise in die Tasten griff, fühlte Samira ihr eigenes Genie. Die Kunst, legato zu singen, Töne zu verbinden. Elisabeth Schwarzkopf, Plácido Domingo, Dietrich Fischer-Dieskau – alle hatten Schuberts Musik ihre Stimme gegeben. Das war Dichtung in Tönen. Ehrfürchtig zelebrierte sie jeden Ton, die Höhen vibrierten, zärtlich und leise. Worte und Töne verschmolzen miteinander, zergingen auf der Zunge, sie fühlte ihre Wirkung. Das Publikum hing an ihren Lippen, mit dieser Hymne „An die Musik“ fesselte sie es vollkommen.

„Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden …“

Max legte ihr jeden Ton zu Füßen. Sie spürte seine Fingerfertigkeit, und ihr Körper wurde zur Stimme, selbstvergessen im Gefühl. Ein leichter Luftzug des Ventilators streifte sie, unterbrach das Sterben im Klang. Mein Gott, Max! Du Zauberer auf dem Flügel!

„Hast mich in eine beßre Welt entrückt!“

Kurzes Zwischenspiel zur zweiten Strophe. Schubert starb bereits mit 31 Jahren, ging es Samira durch den Kopf. Sie wischte sich mit einem weißen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Alma den Ventilator höherstellte. Endlich Kühlung, dachte sie und war ihrer Konkurrentin dankbar für die Hilfe. Die letzten Akkorde des Zwischenspiels, kleines Nicken von Max für ihren Einsatz. Sie fühlte den starken Luftstrom, als sich der Ventilator in ihre Richtung drehte und weiter zu Max. Kühle! Endlich Kühle!

Ein Notenblatt wehte ihm ins Gesicht. Mitten im Einsatz hielt Samira inne. Totenstille im Saal. Nur das Aufwirbeln der Notenblätter durch den Ventilator war zu hören. Max’ Hände gehorchten ihm nicht mehr. Er konnte das Stück nicht auswendig spielen, das wusste Samira. Der Professor kam mit seinem Mikrofon zu ihnen gelaufen. Aus, dachte Samira. Es ist aus. Das Mozarteum bleibt weiter ein Traum.

Einige Zuschauer lachten und applaudierten. Samiras Gedanken überschlugen sich. Hastig trank sie das Glas Wasser, das Alma ihr auf den Flügel gestellt hatte. Heiß war die letzte Nacht gewesen, in der Samira ihren Liedern Leben eingehaucht hatte. Der Schweiß auf ihren Körpern, der sich mit Lust vermischte, zur Lust wurde, während sie nach einem Blues in Max’ Armen versunken war. Saturday Night Fever auf klassisch? Improvisation, vierhändig! In diesen warmen Sommernächten konnte man nicht nur in Schubert aufgehen … Samira hatte noch nicht den Nimbus, aber dieses Charisma, das einen Star ausmacht, das sagte Max ihr letzte Nacht. Warum bestand ihr Repertoire eigentlich nur aus klassischer Musik? Improvisation! Ihr wurde schwindlig. Improvisation! Leichter Regen klopfte gegen die Fenster. Poch, poch, poch.

Wie gelähmt saß Max vor dem Flügel, als Samira leicht mit den Fingern schnippte, poch, poch, poch. Beim Jazz hatte sie ihn gestern überrascht mit ihrer Coolness, ihrer Erotik und ihrem Reibeisencharme in der Stimme! Improvisation! Samira nahm dem Professor das Mikrofon aus der Hand. Finger schnippend trat sie hinter Max, zog ihm das Jackett aus und warf es elegant über das Klavier. Ihr wurde flau in der Magengegend. Der Professor sammelte die Notenblätter auf.

Dieses karge Klangbild! Sie zog Max zu sich hoch und raunte: „Fever, unser Song der letzten Nacht!“ Seine Hände glitten an ihrem Körper entlang und sie wiegten sich in den Hüften. Er küsste ihren Nacken und während er die Tasten berührte wie vorher ihren Körper, begann sie: „Never know how much I love you …“

Samira spielte mit dem Mikrofon. Ihre Stimme hatte ein Timbre wie nach einer versoffenen, verrauchten, schwülen Jamsession.

„Fever!“

Sie befanden sich in einer anderen Sphäre. In Musik gekleidete Gefühle pur! Worte in Harmonien! Virtuos meisterte Max jede Nuance, verschmolz mit ihrer Stimme. Sie stützte sich auf den Flügel. Schwarze Punkte verloren sich vor ihren Augen. Draußen grummelte die Gewitterfront. Wetterleuchten erhellte den Raum. Einige Zuschauer hielt es nicht auf den Stühlen, sie tanzten am Rande engumschlungen.

„Fever!“

Der Professor legte die Notenblätter wieder vor Max auf den Flügel. Samira brannte lichterloh! Der Regen prasselte inzwischen unüberhörbar. Es riss ihr fast die Eingeweide aus dem Körper. Ihr war übel. Sie schwankte.

„What a lovely way to burn,

what a lovely way to burn,

what a lovely way to burn …“

Im Nachhall von Samiras Stimme spielte Max leise, ganz leise Schuberts „An die Musik“ und nickte ihr zu. Und der lyrische Sopran stimmte ein:

„Oft hat ein Seufzer deiner Harf’ entflossen,

Ein süßer, heiliger Akkord von dir

Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,

Du holde Kunst, ich danke dir.

Du holde Kunst, ich danke dir.“

Den letzten Ton hauchte Samira fast nur noch, das Nachspiel pianissimo. Sie taumelte. Ein greller Blitz erhellte den Raum. Stille. Vorbei, alles vorbei. Dann krachte der Donner, das Gewitter entlud sich genau über ihnen. Sie verneigten sich tief vor dem Publikum. Nach Sekunden tosender Applaus. Ein weiterer Blitz – und Schlag auf Schlag folgte der Donner. Standing Ovations von den Juroren! Dann sackte Samira zusammen.

Allgemeiner Tumult entstand. Der Professor rief nach einem Arzt. Max fächelte ihr Luft zu. Im Saal rannten Leute hin und her. Aus den Augenwinkeln sah Samira, wie Alma ihr Wasserglas austauschte, das auf dem Flügel stand. Ihre Blicke kreuzten sich. Ein leichtes, triumphierendes Lächeln umspielte Almas Augen. Sie neigte sich zu Samira.

„Du warst die Beste! Volle Punktzahl aller Juroren!“, hörte Samira sie sagen, während ihr die Sinne schwanden.

Am nächsten Tag überschlugen sich die Berliner Zeitungen über das „Schubert-Fieber“ und den tragischen Tod einer begabten Sängerin.

Alma fuhr mit dem Stipendium in der Tasche nach Salzburg.

Eine Woche später lud man sie zur Vernehmung vor.

Astrid Ann Jabusch

Alle meine Enkel

Alles fing damit an, dass ich einen seltsamen Anruf bekam.

„Rat mal, wer dran ist!“, klang es aus dem Hörer.

„Kevin?“, hatte ich gefragt. „Mein Enkel Kevin?“

Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, denn ich habe keinen Enkel, erst recht keinen, der Kevin heißt. Aber ich war zu Scherzen aufgelegt und außerdem extrem neugierig.

„Ja, ich bin’s, Kevin“, bestätigte der Anrufer.

„Das ist aber lieb, dass du mal wieder anrufst!“, sagte ich. „Kevin, mein Junge, wo hast du denn so lange gesteckt? Willst du deine alte Oma nicht mal wieder besuchen?“

„Äh, ja … Oma …“ Kevin hatte nicht mit meiner Begeisterung gerechnet. Aber er fing sich schnell. „Kann ich dich mal was fragen, Oma?“

„Aber sicher, mein Junge. Aber sag mir doch zuerst, wie es der Mutti geht. Hach, ich bin so neugierig, was du mir alles zu erzählen hast.“ Und wie ich das war!

Er ignorierte die Frage nach seiner Mutter und kam gleich zur Sache.

„Kannst du mir Geld leihen, Oma?“

„Natürlich! Dafür sind Omas doch da! Früher hab ich dir auch immer Geld fürs Kino gegeben. Weißt du noch?“

„Oma, ich will nicht ins Kino. Ich brauche das Geld für ein Auto. Für ein Gebrauchtes natürlich. Zehntausend ganz dringend, wenigstens aber acht. Ich hab einen neuen Job. Aber da fährt kein Bus hin, weißt du?“

Ich seufzte und vertröstete ihn auf den nächsten Nachmittag. Innerlich rieb ich mir die Hände. Ich hatte noch einiges vorzubereiten und machte mich sofort ans Werk.

Als der vereinbarte Zeitpunkt näher rückte, wurde ich doch etwas nervös. Was war das für ein junger Mann, der meinte, älteren Menschen einfach Enkel unterschieben zu können? Würde er vielleicht bewaffnet sein?

Es wurde Nachmittag und pünktlich um vier Uhr nachmittags klingelte es. Ich sah durch den Türspion. Ja, das war wohl „mein“ Kevin. Er war zwei Schritte zurückgetreten, sodass ich ihn in seiner ganzen Schönheit bewundern konnte: Da stand ein Männlein, Anfang 20 vielleicht. Ich konnte das schlecht schätzen, denn zu meiner Zeit war man in dem Alter bereits erwachsen. Kevin war blass und schmächtig, hatte hängende Schultern, die Basecap mit dem Schirm nach hinten gedreht und die Hosen in den Kniekehlen, als würde er volle Windeln tragen. Was für ein Würstchen!

In der Hand hielt er einen traurigen Blumenstrauß. Ich sah sofort: Aldi – runtergesetzt auf 99 Cent. Mit einer Mischung aus Verwunderung, Mitleid und Abscheu öffnete ich die Tür und ließ ihn herein. Auf eine großmütterliche Umarmung verzichtete ich. Das schien auch Kevin lieber zu sein. Er war sehr nervös. Bezweifelte er etwa, dass ich seine Großmutter war?

Kurze Zeit später befand er sich in meinem Wohnzimmer und knetete seine Basecap. Die hatte er abnehmen müssen, als er ins Zimmer trat. Das gehört sich so. Aber ohne die alberne Mütze, die anscheinend wie ein Sicherheitshelm gewirkt hatte, hing er schutzlos auf meinem Sofa. Er war wirklich alles andere als ein Prachtkerl. Und wohl auch nicht gerade der Hellste, wie es schien.

„Noch ein Plätzchen, Kevin?“, fragte ich zuckersüß und wies auf den Teller mit Gebäck vom letzten Jahr.

Kevin nahm ein Stück und grunzte. So schwierig hatte ich mir die Verständigung nicht vorgestellt. Auch Kevin schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Angestrengt sortierte er die Worte, dann platzte es aus ihm heraus: „Oma, du wolltest mir doch Schotter geben. Wo isser? Ich muss nämlich wieder los.“

Boah! Der Kerl verlor wirklich keine Zeit.

„Junge!“, tadelte ich. „Nun mal langsam. So viel Geld habe ich nicht im Haus. Das ist viel zu gefährlich! Denk nur an die Betrüger. Wir gehen gleich gemeinsam zur Bank und dann bekommst du es. Aber zuerst kannst du mir noch einen kleinen Gefallen tun.“

Kevin guckte mich skeptisch an.

„Bitte Kevin, hilf doch mal. Ich muss die Pflanzenkübel rein schaffen, bevor es draußen richtig friert. Mir sind sie zu schwer. Aber du bist doch stark!“

Tatsächlich wuchtete Kevin einen Kübel nach dem anderen in den Keller. Der arme Kerl ackerte und schwitzte wie vermutlich noch nie zuvor seinem Leben. Erst als er deutliche Anzeichen von Schwäche zeigte, lenkte ich ein und spendierte ihm eine Cola.

„Lass mal gut sein für heute, mein Kleiner. Jetzt fahren wir erst einmal zur Bank.“ Dann ging ich zum Telefon und wählte. Als ob ich nicht bemerkt hätte, dass Kevin blass geworden war, erklärte ich schnell: „Wir gönnen uns ein Taxi zur Feier des Tages.“

Es dauerte auch nicht lange, bis es an der Tür klingelte. Das war natürlich kein Taxi, sondern ein Mann mit Dreitagebart und Glatze, der mit wehendem Mantel und in Begleitung von zwei uniformierten Polizisten hereingestürmt kam. Und schon klickten die Handschellen um Kevins Gelenke. Erst dann wandte sich der Bärtige an mich.

„Ich bin Kommissar Lehmann, LKA 3, Abteilung für Wirtschaftskriminalität & Betrug. Danke, Frau Müller, das war sehr mutig von Ihnen.“

„Hat mir großen Spaß gemacht“, lachte ich und winkte meinem falschen Enkel nach.

„Beim nächsten Mal rufen Sie mich trotzdem bitte früher“, mahnte Lehmann noch. Ich gelobte Besserung und schob Kevin, die beiden Uniformen und den Dreitagebart aus meiner Tür.

Alles wäre gut gewesen, wenn ich nicht ein paar Tage darauf wieder so einen Anruf bekommen hätte. Diesmal von einem vermeintlichen Großneffen. Er nannte sich Judschien. Er musste die Dachrinnen reinigen. Eigentlich schon etwas zu spät im Jahr – aber warum ließ er sich auch erst jetzt bei seiner Tante blicken? Außerdem hatte er zwölf große Bücherkisten auf den Boden zu schaffen. Die standen mir schon lange im Weg.

Kommissar Lehmann bedankte sich wieder bei mir und versprach beim dritten Mal mit einer großen Schachtel Pralinen zu kommen. Aber nur, wenn er von Anfang an Bescheid wissen würde!

Ich hatte weder Lust auf Pralinen, noch auf einen weiteren Verwandtenbesuch dieser Art. Da kam mir eine Idee: Wenn ich nicht wollte, dass falsche Enkel zu mir kamen, musste ich ihnen eben zuvorkommen.

Ich nahm das Telefonbuch, schlug es irgendwo auf und fing an, die Einträge nach Kevins, Justins, Marvins, Schantalls, Schackelines und Nicoles zu durchsuchen. Zwar steht ja heute längst nicht mehr jeder im Telefonbuch, trotzdem wurde es eine sehr lange Liste. Dabei schrieb ich nur die auf, die auch einen Adresseintrag hatten und mindestens 20, besser 30 Kilometer von mir entfernt wohnten.

„Wer sind Sie?“, schrie Nicole Koslowski tags darauf in den Hörer, als ich mich vorgestellt und kurz mein Anliegen formuliert hatte. Der Geräuschpegel am anderen Ende der Leitung war höllisch. Lautes Geschrei wurde in regelmäßigen Abständen von einem schrillen elektronischen Piepsen übertönt.

„Schackeline, hör doch mal auf mit dem Gepiepe!“

„Mein Name ist Ennepe, Sieglinde Ennepe“, begann ich noch mal von vorn. „Ich bin eine Cousine Ihrer Mutter und möchte mit Ihnen eine familiäre Angelegenheit besprechen.“

„Ich habe mit dieser Familie nichts zu schaffen! Mit niemandem von dieser aasigen Verwandtschaft. Sagen Sie denen das!“

„Laaaangsam! Es geht um so etwas wie eine … Erbschaft“, schob ich schnell nach, bevor Nicoles Stimme sich vollkommen überschlug.

Es folgte eine Stille von bemerkenswerter Tiefe. Ich spürte förmlich, wie es im Kopf meiner neuen Großnichte arbeitete.

„Eine Erbschaft …! Wirklich?“ Nicole bewegte das bedeutsame Wort ehrfürchtig im Mund, als müsse sie es erst kosten. Sie flüsterte jetzt. „Und? Isses … viel?“

„Nicole, mein Kind. Ich darf dich so nennen? Sag du Tante Sieglinde zu mir. Es geht um Folgendes: Mir selbst waren keine Kinder vergönnt. Natürlich frage ich mich, wer einmal in meinem schönen Haus am See wohnen wird. Du bist meine nächste Angehörige und ich möchte meine Angelegenheiten gern noch zu Lebzeiten regeln.“

Ich machte eine Pause, um meine Worte Wirkung entfalten zu lassen. Am anderen Ende war es jetzt mucksmäuschenstill.

„Ich bekomme keine sehr große Rente. Allerdings brauche ich ja keine Miete zu zahlen. Deshalb komme ich sehr gut über die Runden. Noch lieber wäre es mir aber, wenn ich zusammen mit meiner Familie in dem schönen Haus wohnen könnte. Mir reicht ja die kleine Wohnung im Dachgeschoss und eine Gartenbank unter den Apfelbäumen im Sommer. Könntest du dir vorstellen, zu mir zu ziehen?“

Nicole brauchte eine Weile. Dann räusperte sie sich. „Das wär schön!“, antwortete sie mit so weicher Stimme, dass ich sie fast lieb gewann. Doch gleich darauf kippte der Ton wieder ins Schrille. „Und wo ist der Haken?“

Ich seufzte. Dass die Menschen auch immer gleich eine Falle hinter allem vermuten müssen!

Wenig später kaufte ich einen leckeren Kuchen und besuchte als liebe Tante Sieglinde verkleidet Nicole in ihrer Zweizimmerwohnung, die sie mit ihrer nervigen Tochter Jacqueline teilte.

Ich zeigte meiner selbst erwählten Großnichte rund ein Dutzend Fotos von einem traumhaft schönen Häuschen, das ich mal irgendwo im Urlaub am Tegernsee fotografiert hatte. Nicole war so gebannt, dass sie sogar den Flachbildschirm ausschaltete und das plärrende Gör in sein Zimmer verbannte.

„Wenn wir uns verstehen, werden auch die Kosten kein Hindernis sein“, meinte ich zuversichtlich.

„Was denn für Kosten?“, fragte Nicole.

„Für die Umschreibung im Grundbuch, Behördenkram und so was. Das ist für mich ein Haufen Geld.“

„Ach so, Gebühren. Dit is ja blöd.“

Ließ die geizige Ziege unseren Deal jetzt wegen ein paar Euros platzen? „Ja, aber dafür gehört dir dann ja praktisch das Haus“, schob ich schnell nach.

„Heißt das, ich soll das zahlen?“

Na, endlich! Sie hatte begriffen! „Ach Nicole, dann wäre uns allen geholfen. Wenn wir uns mit den Formalitäten beeilen, könnten wir schon bald deinen Einzug feiern“, jubelte ich. Der Fisch hing an der Angel.

Nicole brauchte noch ein paar Tage, um die 5.000 Euro zu besorgen, die ich für die Umschreibung verlangt hatte. Erst mal nur zur Übung. Das Finanzielle ging dann aber reibungslos vonstatten. Ich hatte angeregt, das Ganze in bar abzuwickeln, um beim Finanzamt keine Begehrlichkeiten zu wecken. Nicole übergab mir den Umschlag mit dem Geld in einem Café in ihrer Nähe und ich versprach, mich zu melden, sobald die Ummeldung erledigt war. Dann schenkte ich ihr und ihrem Gör mein liebstes Alte-Tanten-Lächeln, das ich einstudiert hatte … und sah zu, dass ich wegkam.

Bei Marvin war ich schon etwas mutiger. Ihn hatte ich zu meinem Neffen auserkoren. Er arbeitete irgendwo in einer Spedition im Büro und verdiente gar nicht schlecht. Für 30.000 Euro auf mein ausländisches Konto beteiligte er sich am Ausbau des Dachgeschosses. Es traf ja keinen Armen.

Bei Timo musste ich mich mehr ins Zeug legen. Das lag nicht an den 200.000 Euro, die ja vielleicht für den Anbau samt Wintergarten etwas hoch veranschlagt waren. Aber schließlich hatte das Landhaus, das ich auf zahlreichen Fotos zeigte, mehr als dreimal so viel Wohnfläche wie noch Nicoles Häuschen und sogar ein Schwimmbad. Nein, Timos Misstrauen entsprang unserem engen Verwandtschaftsstatus. Er habe seine beiden Omas noch gut gekannt, argwöhnte er, als ich mich als seine Großmutter vorstellte.

Aus dem Nichts heraus musste ich einem Großvater eine bislang unbekannte erste Frau erschaffen. Diese stattete Opa zwar mit einem Kind aus, konnte sie aber nicht in den heiligen Stand der Ehe führen, weil die Eltern des Liebespaares streng verfeindet waren. Die Frucht dieser verbotenen Beziehung wurde der bald folgenden offiziellen Ehefrau in die Wiege gelegt, erklärte ich ihm das Familiengeheimnis, das auch unbedingt eins bleiben müsse. Seine Skepsis schwand nie ganz, wurde aber durch die Aussicht auf eine 3,5-Millionen-Villa außer Kraft gesetzt. Tja, die Geldgier kann bisweilen den Familiensinn immens fördern.