Zeta - Andreas Brandhorst - E-Book

Zeta E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Aus den Tiefen des Alls, aus interstellaren Fernen, taucht ein Objekt auf, das zunächst für einen Asteroiden gehalten wird. Doch dann steuert es eine Umlaufbahn um den Saturn an und beginnt, ein regelmäßiges Signal auszusenden. Man tauft es auf den Namen Zeta. Eine auf dem Saturnmond Titan stationierte Forschungsgruppe, eine vom Mars entsandte Expedition und ein Forschungsschiff der Erde machen sich auf den Weg, um die Geheimnisse des Objektes zu erkunden. Noch ahnt niemand, dass Zeta die Menschheit vor ihre größte Herausforderung stellen wird …

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DASBUCH

Aus den Tiefen des Alls, aus interstellaren Fernen, taucht ein Objekt auf, das zunächst für einen Asteroiden gehalten wird. Doch dann steuert es eine Umlaufbahn um den Saturn an und beginnt, ein regelmäßiges Signal auszusenden. Man tauft es auf den Namen Zeta. Eine auf dem Saturnmond Titan stationierte Forschungsgruppe, eine vom Mars entsandte Expedition und ein Forschungsschiff der Erde machen sich auf den Weg, um die Geheimnisse des Objektes zu erkunden. Noch ahnt niemand, dass Zeta die Menschheit vor ihre größte Herausforderung stellen wird …

ZETA – Die erfolgreiche Audio-Originalserie jetzt auch als Buch

DERAUTOR

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, hat mit seinen Romanen die deutsche Science-Fiction-Literatur der letzten Jahre entscheidend geprägt. Spektakuläre Zukunftsvisionen verbunden mit einem atemberaubenden Thriller-Plot sind zu seinem Markenzeichen geworden. Etliche seiner Romane wurden preisgekrönt und zu Bestsellern. Andreas Brandhorst hat viele Jahre in Italien gelebt und ist inzwischen in seine alte Heimat in Norddeutschland zurückgekehrt.

ANDREAS BRANDHORST

ZETA

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe 02/2024

Copyright © 2024 by Andreas Brandhorst

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung von Motiven

von Shutterstock.com

(Johan Swanepoel, freestyle images)

und iStockphoto (gremlin)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30544-4V001

www.diezukunft.de

»Nicht ein leises Ticken schlägt an unser Ohr, wenn irgendwo zwei Sterne aufeinander rennen – was mag erst außerhalb dieser Welt vorgehen, wovon wir nicht das Geringste erfahren!«

CHRISTIANGOTTFRIEDDANIELNEESVONESENBECK (1776 – 1858)

Inhalt

DIEWELTVONMORGEN

ERSTERTEIL

ZETA

ZWEITERTEIL

VORSTOSSINSUNBEKANNTE

DRITTERTEIL

DASPANDORA-PRINZIP

VIERTERTEIL

LABYRINTH

FÜNFTERTEIL

DASKOSMIKUM

EPILOG

ANHANG

KONTAKTMITDEMAUTOR

DIE WELT VON MORGEN

Die Menschheit hat die Großen Wirren des einundzwanzigsten Jahrhunderts überstanden und das Jahr 2150 erreicht. Nach dem Jahrhundert der Unvernunft blühen »neue Rationalität« und Wissenschaft. Durch Fusions- und Konversionsenergie wurden die Klimakrise überwunden und das Sonnensystem erschlossen. Für die Menschen auf der Erde hat ein goldenes Zeitalter begonnen. Die weitgehende industrielle Automation produziert alle lebensnotwendigen Güter und auch genug synthetische Nahrung für den ganzen Planeten, ohne die Umwelt zu belasten. Arbeit findet weitgehend auf freiwilliger Basis statt und dient vor allem dem Erwerb von Meriten, von Bonuspunkten für die Benutzung öffentlicher Ressourcen. Aus der UNO ist das »Gremium« geworden, eine globale administrative Instanz. Unterstützt wird das Gremium von den »QIs«, den Quantenintelligenzen, die über das Wohl der Erde und ihrer Bewohner wachen. Sie helfen bei der Entwicklung der »Enhus« (enhanced humans), gentechnisch veränderter und optimierter Menschen, die physisch und psychisch leistungsfähiger sind als der ursprüngliche Homo sapiens und nach und nach zu einer eigenen Spezies heranwachsen.

Die Menschheit siedelt überall im Sonnensystem. Es gibt Städte auf dem Mars, Kolonien auf den Monden der Gasriesen Jupiter und Saturn sowie die »Autarkien«, unabhängige Habitate weit draußen, bei Uranus, Neptun und Pluto. Sie sollen einmal zu Sprungbrettern für Reisen zu anderen Sternen werden, aber die Erde könnte den Autarkien zuvorkommen, denn in der Umlaufbahn des Mondes wird das erste interstellare Schiff, die Excelsior, für den Flug nach Proxima Centauri vorbereitet, mit nur 4,2 Lichtjahren Entfernung der sonnennächste Stern.

Das Gremium ist bestrebt, die Einheit der Menschheit zu wahren, aber hier bahnt sich ein Konflikt insbesondere mit der marsianischen Unabhängigkeitsbewegung MaRe an, der »Marsianischen Republik«. Bisher ist es dem Gremium und den QIs gelungen, die verschiedenen Interessen auszugleichen und Spannungen rechtzeitig abzubauen.

Leistungsstarke Teleskope haben bei den Exoplaneten in anderen Sternsystemen nach Anzeichen von intelligentem Leben gesucht, ohne jedoch Hinweise auf fremde Zivilisationen zu finden. Doch dann entdecken sie plötzlich etwas: Aus den Tiefen des Alls, aus interstellaren Fernen, kommt ein Besucher und stellt die Menschheit vor ihre größte Herausforderung.

ERSTER TEIL

ZETA

DAS SIGNAL

NIGHTINGALE LOI, ERDMOND

1

»Sie sieht gut aus«, sagte Nightingale Loi und meinte das Schiff, das im Dock der Werft Luna Drei Gestalt angenommen hatte, tausend Kilometer über dem Mond der Erde. »Sie sieht immer besser aus.«

»Der Bau der Excelsior ist fast abgeschlossen«, entgegnete der Leitende Konstrukteur Lukas Linraki, der die Flugkontrollen der Inspektionskapsel bediente. Sensorpunkte glänzten auf seinem kahlen Kopf, aber er gehörte nicht zu den Enhus, den gentechnisch veränderten und optimierten »enhanced humans«. »Bald beginnt die Testphase.«

»Noch einhundertvierundachtzig Tage, ein halbes Jahr.« Nightingale seufzte. »Ich kann es kaum erwarten.«

Nach der kurzen Schubphase glitt die Inspektionskapsel antriebslos an den offenen Gerüsten der lunaren Orbitalwerft vorbei. Es gab keinen Gravitator an Bord, der ein künstliches Schwerefeld bildete, dafür war die Kapsel zu klein. In der Schwerelosigkeit bildete Nightingales feuerrotes Haar eine Wolke über ihrem Kopf.

Das Schiff, die Excelsior, war fast siebenhundert Meter lang und ähnelte für Nightingales staunende Augen einer großen, zarten Blume, vielleicht einer Orchidee, mit Blütenblättern aus Synth, Graphen und Stahlkeramik. Es gab keine Drehkörper oder Rotationselemente wie bei manchen interplanetaren Schiffen und den Habitaten der Autarkien im äußeren Sonnensystem. Rumpf, Ausleger und die lateralen Funktionsmodule bestanden aus starren, ineinander verschachtelten Elementen, die strukturelle Stabilität auch bei sehr hohen Geschwindigkeiten gewährleisten sollten.

Lukas’ Hände strichen über die Kontrollen, das Triebwerk der Inspektionskapsel zündete, und eine weitere Schubphase brachte Nightingales Haar auf die Schultern zurück. Mit wenigen Metern pro Sekunde näherten sie sich dem Heck der Excelsior und den drei bereits installierten Konvertern. Ihre Abschirmung wirkte wie ein filigranes gläsernes Wurzelgeflecht.

»Es sind die leistungsstärksten Konverter, die wir jemals gebaut haben«, verkündete Lukas stolz. »Und die Excelsior hat gleich drei davon. Zwei genügen für volle Einsatzbereitschaft, einer für die Lebenserhaltungssysteme und Gravitation.«

»Redundanz«, murmelte Nightingale.

Der Konstrukteur an den Kontrollen der Inspektionskapsel nickte. »Sie haben eine sehr lange Reise vor sich. Die längste, die Menschen je unternommen haben. Redundanz soll Ihr Überleben selbst unter schwierigen Umständen gewährleisten.«

Ein Schiff im Schiff, dachte Nightingale, während sie die Konstruktionsdrohnen beobachtete. Sie sahen aus wie kleine Käfer im Wurzelgeflecht der Konversionsabschirmung. Doppelter Rumpf, zwei-, mitunter sogar dreifach ausgelegte Bordsysteme, spezielle Überlebenszellen.

»Proxima Centauri«, fügte Lukas hinzu und blickte zur Seite. »Sie werden in die Geschichte eingehen. Ich beneide Sie.«

»Weil meine Crew und ich in die Geschichte eingehen?«

»Nein. Weil Sie Dinge sehen werden, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.«

Die Inspektionskapsel flog langsam am Heck der Excelsior vorbei. Die Erde geriet in Sicht, dreihundertachtzigtausend Kilometer entfernt, ein blaues Juwel auf dem schwarzen Samt des Alls.

Der Konstrukteur aktivierte die Manövrierdüsen der Kapsel und gab ihr damit ein neues Bewegungsmoment. Sie drehte sich, und die Excelsior und der Mond unter ihr erschienen wieder vor der transparenten Pilotenkanzel.

»Ich habe mich beworben«, sagte er. »Vor zwölf Jahren, als man mit den Planungen anfing. Leider hat es mein Name nicht auf die Kandidatenliste geschafft.«

»Sie haben das Schiff gebaut«, stellte Nightingale fest. »Dafür danke ich Ihnen.«

Lukas Linraki nickte erneut, diesmal zufrieden.

Sie näherten sich dem Bug der Excelsior. Der Konstrukteur hob eine Hand und wies nach draußen. »Ihnen wird genug Konversionsenergie für die starken Bugschilde zur Verfügung stehen, die Sie brauchen, wenn Sie die zirkumsolare Oortsche Wolke durchqueren und außerhalb des Sonnensystems auf relativistische Geschwindigkeit beschleunigen. Mehrfach gestaffelte elektromagnetische Felder schützen Sie vor Mikrometeoriten. Objekten von Asteroidengröße müssen Sie ausweichen. Die QI des Schiffs wird sie rechtzeitig erkennen.«

Ein kurzes glockenartiges Läuten tönte aus dem Lautsprecher des Kommunikationssystems.

»Luna Drei an Inspektionsflug Linraki«, erklang eine Stimme.

Der Konstrukteur berührte eine Schaltfläche. »Hier Linraki. Ich höre.«

»Nightingale Loi ist bei Ihnen, nicht wahr?«, fragte die Stimme.

»Ja.«

»Kehren Sie unverzüglich zurück!«

Nightingale wechselte einen überraschten Blick mit Lukas. »Wir haben gerade erst begonnen, uns das Schiff anzusehen«, wandte sie ein.

»Kehren Sie unverzüglich zurück«, betonte die Stimme. »Luna Drei Ende.«

2

Eine halbe Stunde später saß Nightingale Loi in einem schmucklosen Besprechungszimmer an Bord von Luna Drei. Francis Lorean, Obmann der Werft, brachte zwei Becher mit heißem synthetischem Kaffee und setzte sich zu ihr an den rechteckigen Tisch.

»Wir waren gerade erst aufgebrochen, Lukas und ich«, sagte Nightingale. »Warum haben Sie uns zurückgerufen?«

»Anweisungen«, antwortete der dürre, langgliedrige Lorean knapp. Er stand wieder auf, wankte wie schwerfällig zum großen Wandbildschirm und schaltete ihn ein. Die Kraterlandschaft des Mondes erschien auf dem Schirm, wie durch ein Fenster betrachtet.

Der Obmann kehrte ungelenk zum Tisch zurück und sank vorsichtig in seinen Sessel. Er war in der dritten Generation auf Luna geboren und an eine wesentlich geringere Schwerkraft gewöhnt als Nightingale. In Luna Drei hatte man sich auf einen Kompromiss geeinigt. In den zentralen Bereichen schufen die Gravitatoren eine Schwerkraft von vierzig Prozent der Erdnorm, noch immer recht viel für jemanden von Luna, passend für Marsianer und gerade noch genug für Menschen von der Erde.

Nightingale trank einen Schluck vom kalt werdenden Kaffee. Sie war nicht verärgert, nur neugierig. »Von wem stammen die Anweisungen?«

Der wortkarge Obmann deutete mit dem Zeigefinger nach oben.

»Von der Erde?«

Lorean nickte.

»Warum?«, wollte Nightingale wissen. »Was steckt dahinter? Worauf warten wir hier?«

Die Tür öffnete sich, und zwei Sicherheitsbeauftragte in leichten Einsatzanzügen traten ein, mit Kommunikationshelmen, die über dunkle Datenvisiere verfügten, und Waffen in den Gürtelhalftern. Ihnen folgte eine Frau in mittleren Jahren, die eine türkisfarbene Hose-Jacke-Kombination trug, ein Tablet in der rechten Hand hielt und sich kurz im Besprechungszimmer umsah, bevor sie zur Seite trat und einer vierten Person mit einem Nicken bedeutete, dass sie hereinkommen konnte, einem schlanken, hochgewachsenen Mann, dessen anthrazitfarbener Anzug das Emblem des Gremiums aufwies: eine stilisierte Darstellung der Erde, umrahmt vom Schriftzug Pax et Libertas, Frieden und Freiheit. Nightingale schätzte ihn auf fünfzig oder sechzig, womit er in den besten Jahren war, aber in seinen Augen gab es etwas, das nicht dazu passte, eine besondere Klarheit, wie man sie vielleicht bei einem viel jüngeren Menschen erwartete. Hinzu kam ein dünner heller Streifen am Hals, der vom rechten Ohr nach unten reichte und unter dem Jackenkragen verschwand. Ein Langlebiger, schloss sie. Jemand, der genug Meriten für die teure lebensverlängernde Behandlung erworben hatte. Ein Ehrenwerter.

»Darf ich vorstellen?« Die Frau in der türkisfarbenen Kombination wandte sich dem großen Mann zu und deutete eine Verbeugung an. »Der ehrenwerte Elroy Emmon Skarabi, Gesandter des Gremiums.«

Nightingale stand respektvoll auf, ebenso Lukas Linraki.

Skarabi, der möglicherweise nicht fünfzig oder sechzig Jahre alt war, sondern hundertzwanzig oder hundertdreißig, sah den Obmann an. »Bitte gehen Sie.«

Linraki hob die weißen Brauen. »Dies ist meine Werft.«

»Bitte gehen Sie«, wiederholte Skarabi.

Die Frau, die ihren Namen nicht genannt hatte, wies zur offenen Tür.

Mit einem leisen Schnaufen setzte sich Obmann Linraki in Bewegung und verließ den Raum, gefolgt von den beiden bewaffneten Sicherheitsbeamten.

Die Frau legte ihr Tablet auf den Tisch. »Niemand kann Sie sehen oder hören«, verkündete sie und verließ das Besprechungszimmer ebenfalls.

Hinter ihr schloss sich die Tür.

Skarabi deutete auf den Sessel, in dem Nightingale eben noch gesessen hatte. »Bitte nehmen Sie Platz.«

Nightingale kam der Aufforderung nach. Der ehrenwerte Gesandte des Gremiums nahm das Tablet, strich mit dem Zeigefinger übers Display und legte es wieder auf den Tisch.

»Sie fliegen nicht nach Proxima Centauri«, sagte er.

Die Enttäuschung war so immens, dass Nightingale für einige Sekunden keinen Ton hervorbrachte.

»Warum nicht?«, fragte sie schließlich.

Skarabi ging zum Wandschirm und berührte die Schaltflächen am unteren Rand. Die Kraterlandschaft des Mondes verschwand und wich einer schematischen Darstellung des Sonnensystems mit seinen acht Planeten, dem Kuipergürtel und der Oortschen Wolke. Das System schrumpfte und wich nach links, und auf der rechten Seite erschien ein Dreifachsystem, bestehend aus dem Doppelstern Alpha Centauri A und B, beide etwa so groß wie die Sonne, und dem abseits davon gelegenen Roten Zwerg Proxima Centauri. Eine grüne Linie entstand, führte zunächst von Alpha nach Beta, dann nach Proxima und schließlich in Richtung des Sonnensystems auf der linken Seite.

»Deshalb«, sagte Skarabi. Er kehrte zum Tisch zurück und setzte sich. Die Augen mit der auffallenden Klarheit in ihnen richteten einen ernsten Blick auf Nightingale.

»Was Sie hier sehen und hören, bleibt unter uns«, sagte er. »Das Gremium verpflichtet Sie hiermit zu strengster Geheimhaltung, Expeditionsdirektorin Loi. Allein mit Ihrer Crew dürfen Sie darüber sprechen.«

»Bin ich noch Expeditionsdirektorin?«, fragte Nightingale. »Gibt es noch eine Crew?«

»Haben Sie mich verstanden?«, erwiderte der Ehrenwerte. »Wenn Sie Ihre Geheimhaltungspflicht verletzen, werden Sie als Expeditionsdirektorin abgesetzt und verlieren alle Meriten, die Ihnen bisher gutgeschrieben wurden.«

»Ja«, sagte Nightingale, »ich habe verstanden.«

»Gut.« Skarabi zeigte auf den Wandschirm. »Kennen Sie den wahren Grund für den geplanten Flug nach Proxima Centauri?«

»Den wahren Grund?«, wiederholte Nightingale verwundert. »Es geht darum, ein fremdes Sonnensystem zu erreichen und zu erkunden. Proxima Centauri ist uns am nächsten und wird von fünf Planeten umkreist, mindestens einer davon in der habitablen Zone. Vielleicht gibt es dort Leben. Und selbst wenn nicht, Proximas Welten eignen sich möglicherweise für eine Besiedlung.«

»Proxima Centauri ist ein Flare-Stern«, erklärte Skarabi. »Es kommt immer wieder zu starken koronalen Massenauswürfen, wodurch die Helligkeit des Sterns und seine Röntgenstrahlung stark zunehmen. Das sind eher lebensfeindliche Bedingungen.«

Nightingale schwieg und wartete.

»Der eigentliche Grund für Ihre Mission ist – beziehungsweise war – das Signal.«

Nightingale beugte sich langsam vor. »Ein Signal?«

»Zum ersten Mal haben wir es vor zwanzig Jahren empfangen, von Alpha Centauri A«, sagte Skarabi. »Ein halbes Jahr später wiederholte es sich von Alpha Centauri B, und nach einem weiteren halben Jahr kam es von Proxima Centauri. Anschließend empfingen wir es einmal etwa alle drei Jahre, immer von Proxima. Ein moduliertes Signal, eindeutig nicht natürlichen Ursprungs.«

Lieber Himmel, dachte Nightingale. »Ein künstliches Signal?«

»Davon gehen wir aus.« Der ehrenwerte Elroy Emmon Skarabi sprach mit ruhiger, kühler Stimme. Er klang fast wie ein Enhu, fand Nightingale. »Das war der Grund, vor zwölf Jahren mit der Planung der Proxima-Mission und dem Bau der Excelsior zu beginnen.« Er blickte wieder zum Wandschirm. »Vor einem Jahr kam das Signal zum letzten Mal von Proxima Centauri. Wir rechneten mit einer Wiederholung in weiteren zwei Jahren, aber stattdessen erreichte uns ein Signal nicht von Proxima Centauri, mehr als vier Lichtjahre entfernt, sondern vom Rand unseres Sonnensystems, aus einer Distanz von acht Lichtstunden. Und knapp einen Tag später empfingen wir ein weiteres Signal von Proxima, eigentlich zwei Jahre zu früh und etwas anders moduliert als die ersten. Die Botschaft könnte ›Wir kommen‹ lauten und die Mitteilung vom Rand unseres Sonnensystems so viel wie ›Wir sind da‹.«

Nightingale dachte darüber nach und betrachtete die grüne Linie, die von Proxima Centauri zum Sonnensystem führte.

»Wenn ich das richtig verstehe …«, begann sie.

Diesmal schwieg und wartete der Ehrenwerte.

Nightingale überlegte laut. »Was auch immer das Signal während der vergangenen Jahre gesendet hat … Es befindet sich nicht mehr bei Proxima Centauri, vier Komma zwei Lichtjahre entfernt, sondern am Rand unseres Sonnensystems, in einer Entfernung von nur noch etwa acht Lichtstunden. Und das Signal seiner Ankunft erreichte uns eher als das des Aufbruchs.«

Sie zögerte erneut und glaubte, einen Knoten in ihren Gedanken zu haben.

Einige Sekunden lang blieb es still. Skarabi saß reglos und stumm da.

»Das ist absurd«, sagte Nightingale schließlich. »Das ›Signal des Aufbruchs‹, wenn wir es so nennen wollen, bewegte sich mit Lichtgeschwindigkeit und war vier Komma zwei Jahre zu uns unterwegs. Aber der Sender traf vorher bei uns ein. Das ist unmöglich! Es würde bedeuten, dass er sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegt, und nichts in unserem Universum kann schneller sein als das Licht.«

Der ehrenwerte Skarabi sah sie wortlos an. Seine Miene gab nichts preis.

»Sind Sie sicher, dass die Signale in allen Fällen denselben Ursprung haben?«

»Es gibt keine absolute Gewissheit«, gestand Skarabi ein. »Doch unsere QIs gehen mit einer Wahrscheinlichkeit von neunundneunzig Komma vier Prozent davon aus, dass es sich um ein und dieselbe Signalquelle handelt.«

»Also tatsächlich Überlichtgeschwindigkeit?«

»Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Wir müssen sie akzeptieren.«

»Aber es ist unmöglich!«, wiederholte Nightingale.

»Etwas ist nur so lange unmöglich, bis das Gegenteil bewiesen wird«, erklärte Skarabi. »Wir wissen nicht, wann genau die Signalquelle den Flug von Proxima Centauri zu uns begonnen hat. Wenn sie sofort aufbrach, lag ihre Geschwindigkeit nur ein wenig über der des Lichts.«

»Nur ein wenig«, ächzte Nightingale.

»Wenn sie sich später zu uns auf den Weg machte, ein, zwei oder drei Jahre nach Aussenden des letzten Proxima-Signals, muss sie allerdings mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit zu uns unterwegs gewesen sein.« Nach einer kurzen Pause fügte der Ehrenwerte hinzu: »Wir halten es für denkbar, dass es sich um eine Botschaft handelt. Um eine Art von ›Seht, wozu wir imstande sind!‹«

Der Knoten in Nightingales Gedanken verschwand nicht, er lockerte sich nur ein wenig. Sie atmete tief durch. »Mit wem oder was haben wir es zu tun?«

»Das sollen Sie herausfinden«, entgegnete Skarabi. »Es wird Ihre neue Aufgabe, Ihre neue Mission. Minus zehn, Expeditionsdirektorin Loi. Die Excelsior startet in zehn Tagen.«

»Ausgeschlossen! Das Schiff …«

»Wir rüsten es mit allem Notwendigen aus«, unterbrach sie der Ehrenwerte vom Gremium. »Die Excelsior wird raumtüchtig sein. Sie brechen in zehn Tagen auf.«

»Warum so hastig?«, fragte Nightingale und ahnte die Antwort.

»Die Marsianer bereiten ebenfalls eine Expedition vor. Sie dürfen uns nicht zuvorkommen, ebenso wenig die Autarkien bei Uranus und Neptun. Der erste Kontakt mit einer fremden Zivilisation könnte unmittelbar bevorstehen. Sorgen Sie dafür, dass die Erde Kontrolle darüber bekommt und behält.«

Der Gesandte des Gremiums nahm das Tablet und reichte es Nightingale. »Darin finden Sie alle relevanten Daten, Expeditionsdirektorin. Ihnen bleiben zehn Tage für die Vorbereitungen.«

TITAN

NORA VAN DYKE

3

Das Klettern fiel Nora nicht schwer, sie war federleicht – in der Schwerkraft des Titan wog sie nur achteinhalb Kilo anstatt knapp sechzig wie auf der Erde. Schutzanzug und Ausrüstung fügten dem eigenen Gewicht einige weitere Kilo hinzu, aber sie konnte trotzdem aus eigener Kraft fliegen.

Auf dem höchsten Punkt des Bergrückens, tausend Meter über der Ebene, blieb sie stehen. Links von ihr, im Süden, war das Terrain weitgehend flach, bestehend aus Eis hart wie Felsgestein bei Temperaturen von minus hundertachtzig Grad und bedeckt von Tholin-Ablagerungen. In der Ferne sah sie, was in den vergangenen beiden Jahrzehnten aus der ursprünglichen Forschungsstation geworden war, eine Stadt mit mehr als fünfzigtausend Einwohnern. Jemand hatte sie »Jothos« benannt, nach dem ersten Menschen, der seinen Fuß auf die Oberfläche des Titan gesetzt hatte, und bei diesem Namen war es geblieben.

Auf der rechten Seite, im Norden, lag schwarz und violett das Ligeia Mare, ein See aus flüssigem Methan mit zahlreichen felsigen Buchten und einer Fläche von mehr als hundertzwanzigtausend Quadratkilometern. Über den nördlichen Ufern hatten sich dichte Wolken gebildet, und ein dunkelbrauner Vorhang senkte sich dort herab. Ein Regen aus Methan und Ethan ging nieder, bestehend aus Tropfen, die einen Zentimeter groß wurden und in der geringen Schwerkraft eine ganze Stunde brauchten, um von den Wolken den Boden zu erreichen.

Nora blickte nach oben. Der gelbbraune Dunst lichtete sich, eine erste kleine Lücke entstand. Gleich, dachte sie. Nur noch einige wenige Minuten.

Zeit genug für den Harnisch.

Er öffnete sich, als sie ihn vom Instrumentengürtel löste. Nora nahm die Gurte, befestigte sie an Handgelenken, Armen, Schultern und Hüften. Eine zweiteilige Folie entfaltete sich, bestehend aus ultradünnem durchsichtigem Synth.

Sie streckte die Arme, breitete damit die Flügel aus und lächelte.

Normalerweise gönnte sie sich einen solchen Ausflug nur einmal im Monat, und der letzte, der sie weit nach Süden gebracht hatte, lag erst zwei Wochen zurück. Doch nun war sie wegen einer besonderen meteorologischen Konstellation hier, ein auf Titan sehr seltenes Ereignis. Erica, die Quantenintelligenz von Jothos, hatte die genaue Prognose erstellt, und Nora vertraute ihren Berechnungen.

Sie blickte erneut nach oben.

Höhenwinde trieben die Wolken auseinander. Der offene Bereich dehnte sich aus. Saturn erschien, gewaltig und prächtig mit seinen Ringen. Mehrere Monde waren erkennbar. Die KI des Schutzanzugs identifizierte sie und ließ ihre Namen im Helmvisier erscheinen: Hyperion, Rhea, Tethys und Enceladus, wo Exobiologen vor siebenundsechzig Jahren Leben im subglazialen Ozean entdeckt hatten wie zuvor auf dem Jupitermond Europa.

Eine ganze Minute lang nahm Nora den Anblick stumm in sich auf. Dann aktivierte sie ihren Kommunikator.

»Nora Van Dyke an Jothos.«

»Wir hören dich klar und deutlich, Nora«, antwortete Conrad sofort.

»Während der nächsten Stunde möchte ich nicht gestört werden.«

»Verstanden, Nora. Wir behalten deine Telemetrie im Auge, lassen dich aber ansonsten in Ruhe. Guten Flug!«

Sie lächelte erneut. »Danke.«

Unter den Ringen des Saturn sprang Nora mit ausgebreiteten Armen dem tausend Meter tiefer gelegenen Ligeia Mare entgegen.

Nora fiel nicht, sie flog. Sie brauchte nicht einmal mit den Polymer-Flügeln zu schlagen, die geringe Thermik in der Nähe des großen Methansees gab ihr Auftrieb genug. Für einen Moment schloss sie die Augen und erinnerte sich an ihren Kindheitstraum vom Fliegen: die Arme strecken und aufsteigen, von warmer Luft getragen, zu den Wolken empor oder einem herrlich bunten Regenbogen entgegen.

Auf Titan gab es keine Regenbögen, und die Luft, die zu fünfundneunzig Prozent aus Stickstoff und zu fünf Prozent aus Methan bestand, war alles andere als warm – bis auf minus zweihundert Grad konnte die Temperatur sinken. Doch der Schutzanzug wärmte, die Flügel trugen Nora, und ihre Fantasie schuf den fehlenden Regenbogen beim Vorhang aus fallenden Methantropfen nördlich des Ligeia Mare.

Die Flügel trugen sie in eine andere Welt, ohne Sorgen und ohne die Last der Verantwortung, die sie als Erste Administratorin von Titan trug. Hier kehrte die jugendliche Frische zurück, die sie schmerzlich vermisste, wenn sie sich zu oft und zu lange Verwaltungsaufgaben widmen musste, anstatt das Neue zu erforschen und Unbekanntes zu entdecken.

Nora öffnete die Augen, schlug nun doch mit den Flügeln, wurde schneller und stieg noch etwas weiter auf. Über ihr funkelten und glitzerten die Ringe des Saturn im Licht der fernen Sonne, unter ihr drehte sich ein Mond fast so groß wie ein Planet, mit Seen und Flüssen aus Methan und Ethan, mit Bergen und Klippen aus Eis und mit einem salzigen Ozean tief unter seiner eisigen Kruste.

Eine Zeit lang dachte Nora an nichts und genoss einfach nur das Fliegen. Der Bergrücken, den sie zuvor erklommen hatte, blieb hinter ihr zurück, der schwarze See mit den violetten Rändern kam näher. Sie hörte das Rauschen der Luft und manchmal ein leises Knarren und Knacken im Harnisch. Einmal legte sie die Flügel an, ließ sich fallen, mehrere Hundert Meter tief, und als sie die Synth-Schwingen wieder ausbreitete, fühlte es sich nach einem jähen Aufwind an, der sie zum Saturn tragen wollte.

Eine halbe Stunde später über den südlichen Ausläufern des Ligeia Mare klang plötzlich eine Stimme aus ihrem Kommunikator.

»Nora? Ich weiß, dass du nicht gestört werden möchtest, aber mir scheint, wir haben hier etwas Wichtiges.«

Aus einer Höhe von fünfhundert Metern blickte Nora auf den dunklen See hinab und stellte sich eine Bootsfahrt darauf vor. »Um was geht’s?«

»Wir bekommen Besuch.«

Ein Schiff?, dachte sie erstaunt. Niemand hatte sich angekündigt, niemand wurde erwartet. Sie sah wieder nach oben, zum Saturn, und stellte fest, dass sich die Wolkenlücke zu schließen begann. Der gelbbraune Dunst verdichtete sich, die Ringe des Saturn verloren ihren Glanz.

»Von der Erde?«, fragte sie. »Vom Mars?« Oder vielleicht von draußen?, fügte sie in Gedanken hinzu. Von den Autarkien bei Uranus, Neptun und Pluto?

»Negativ«, entgegnete Conrad. »Das Objekt ist etwa vierhundert Kilometer groß und kommt offenbar aus dem interstellaren Raum.«

»Ein Asteroid«, sagte Nora.

»Wenn es ein Asteroid ist, dann von einer Sorte, die wir nicht kennen.« Conrad klang seltsam bei diesen Worten. »Das Objekt wird langsamer, langsam genug für eine hohe Umlaufbahn um den Saturn. Und es sendet ein Signal.«

Nora dachte darüber nach, was das bedeutete.

»Ich kehre so schnell wie möglich zu euch zurück«, entschied sie, schlug mit den Flügeln und flog nach Süden.

4

Als sie Jothos erreichte, war der Flug über Ligeia Mare kaum mehr als eine ferne Erinnerung, beiseitegeschoben von etwas viel Wichtigerem. Aufregung prickelte in ihr, aber sie ließ sich nichts davon anmerken und schlüpfte wieder in die Rolle der ruhigen, würdevollen Ersten Administratorin, einer Person mit Besonnenheit und Weitblick.

Sie nahm sich Zeit genug, im Ausrüstungsraum des »Rathauses«, wie sie die Leitstelle von Jothos nannten, den Schutzanzug gegen eine weite dunkelblaue Hose und eine fast knielange beigefarbene Hemdjacke einzutauschen, überprüfte ihr Erscheinungsbild in einem holografischen Spiegel und machte sich dann auf den Weg zum Übersichtsraum in der obersten Etage des dreistöckigen Gebäudes. Dort traf sie nicht nur Conrad an, mit dem sie während des Flugs kurz gesprochen hatte, sondern auch Eusebius, Verbindungsmann der Autarkien für den wissenschaftlichen Austausch, und die Exogeologin Rebecca DeSantis.

»Eigentlich sollte ich draußen beim Bohrloch sein.« Rebecca sprach noch schneller als sonst. Vier silberne Nadeln hielten ihr kastanienbraunes Haar auf dem Kopf zusammen. »Aber dies hier ist noch interessanter als der Ozean tief unter unseren Füßen.«

Eusebius stand vor dem Hauptschirm, kräftig gebaut für einen Autarken, die Hände auf den Rücken gelegt. Pechschwarzes Haar fiel ihm glatt bis auf die Schultern. Er drehte sich halb um und zeigte ein dunkles Gesicht mit großen jadegrünen Augen.

»Nora«, sagte er und lächelte zur Begrüßung. Seine schneeweißen Zähne schienen zu leuchten. Wie üblich trug er uniformartige Kleidung, in einem tiefen Violett wie die Ränder von Ligeia Mare und mit Abzeichen, deren Bedeutung Nora nicht kannte.

Sie nickte ihm und Rebecca zu, wandte sich dann an den jungen Conrad, der erst vor wenigen Monaten von der Erde eingetroffen war.

»Wie sieht’s aus?«, fragte sie betont ruhig. »Wie ist die Lage?«

Conrad strich sich eine Strähne seines wirren blonden Haars aus der Stirn. »Das Objekt hat seine Geschwindigkeit weiter verringert. Wir gehen davon aus, dass es eine hohe Umlaufbahn über Saturn ansteuert.«

Nora trat näher zum Hauptschirm, der den Saturn, sein Ringsystem und die Monde zeigte. Ein blinkender roter Punkt wies auf die Position des Objekts hin. »Ein … Ding, das seine Geschwindigkeit verringert, obwohl Saturns Schwerkraft es beschleunigen müsste …«, murmelte sie.

»Außerirdische!«, rief Rebecca. »Ein fremdes Raumschiff!«

Nora hob mahnend die Hand. »Vorsicht. Keine voreiligen Schlussfolgerungen. Sind die anderen informiert, Conrad?«

»Nein. Wir haben noch keine Meldung herausgegeben.«

»Es wird nicht mehr lange dauern, bis es bekannt wird«, sagte Eusebius mit seiner seltsam glatten Stimme. »Die Forschungsstationen auf Enceladus, Rhea und Phoebe verfügen über Radar und gute Teleskope.«

»Was ist mit dem Signal?«, fragte Nora.

Rebecca wies zur Kommunikationsstation. »Es ist sehr leise, will heißen: Es hat sehr geringe Energie und verlor sich bisher im Strahlungsrauschen des Saturn. Erica hat uns darauf aufmerksam gemacht. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass es sich wiederholt, alle neunundfünfzig Minuten und sechs Komma drei Sekunden.«

»Die Intervalle werden kürzer«, fügte Conrad hinzu. »Bei jeder Wiederholung um eins Komma vier sieben Sekunden.«

»Eine Art Countdown?« Nora beobachtete den blinkenden roten Punkt.

»Könnte sein.«

»Wofür?«

Conrad zuckte mit den schmalen Schultern. »Unbekannt. Die Sonden im Orbit von Iapetus weiter draußen haben uns erste Bilder geschickt. Erica …«

»Hier sind sie«, ertönte die Stimme von Jothos’ Quantenintelligenz.

Saturn und seine Ringe verschwanden vom Hauptschirm, dafür erschien ein unregelmäßig geformter Felsbrocken mit einer Länge von vierhundert und einem maximalen Durchmesser von etwas mehr als dreihundert Kilometern, wie die eingeblendeten Daten zeigten.

»Sieht aus wie ein gewöhnlicher Asteroid.« Nora betrachtete das Objekt. »Was wissen wir sonst noch?«

»Der vermeintliche Asteroid dreht sich nicht«, antwortete die QI. »Er hat keine eigene Rotation. Und trotz der Verringerung der Geschwindigkeit haben die Sensoren der Iapetus-Sonden bisher keine energetischen Emissionen gemessen, die auf ein Triebwerk hindeuten.«

»Magie?«, fragte Eusebius und zeigte erneut sein strahlend weißes Lächeln.

»›Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden‹«, zitierte Rebecca. »Arthur C. Clarke, vor hundertfünfzig Jahren.«

Der Autarke nickte bedächtig, was ein wellenartiges Wogen durch sein schulterlanges schwarzes Haar schickte.

»Hinzu kommen mehrere Massendiskrepanzen«, fuhr Erica fort. »Das Objekt ist an manchen Stellen leichter als an anderen.«

Die Bilder auf dem Hauptschirm schienen sich in Infrarotaufnahmen zu verwandeln, die dem Objekt rote, gelbe und blaue Töne gaben. Die roten Markierungen bildeten eine Art Fleckenmuster, in dem sich keine Regelmäßigkeiten erkennen ließen. Die gelben und blauen Bereiche wirkten wie miteinander verschlungen.

»An den roten Stellen ist die Massenkonzentration sehr hoch«, erklärte Erica. »Dort wiegt das Objekt viel mehr, als eigentlich zu erwarten wäre. Gelb und Blau weisen auf geringere Masse hin. In den gelben Regionen könnte der Asteroid sogar hohl sein.«

»Hohl«, intonierte Rebecca begeistert. »Mit der Fähigkeit, die eigene Geschwindigkeit unabhängig von äußeren Einflüssen zu verändern. Ich sag’s ja, ein Raumschiff!«

»Das wie ein Asteroid aussieht?«, erwiderte Nora über die Schulter hinweg. »Und vierhundert Kilometer groß ist?«

»Mein Codegenerator hat das Objekt ›Zeta‹ genannt«, verkündete Erica.

»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«, fragte Nora.

»Ja«, antwortete die Quantenintelligenz. »Nach dem Milesischen Zahlensystem, das im antiken Griechenland und in Byzanz verwendet wurde, entspricht Zeta der Zahl Sieben, und das Signal des Objekts besteht aus sieben Impulsen.«

Plötzlich begannen Noras Gedanken zu wirbeln.

»Wisst ihr, was das bedeutet?«, beendete Rebecca nach einigen Sekunden das Schweigen. »Erstkontakt! Hier draußen beim Saturn. Bei uns!«

Wieder folgte kurze Stille.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Conrad.

Nora räusperte sich. »Was rätst du uns, Erica?«

»Ich schlage vor, ihr schickt der Erde einen Bericht. Ich habe ihn bereits vorbereitet, mit allen Informationen, über die wir derzeit verfügen.«

Nora blickte kurz zur Seite. Das dunkle Gesicht des Autarken verriet nichts. Eusebius und die Autarkien noch weiter draußen im Sonnensystem waren nicht an irgendwelche Anweisungen von der Erde gebunden.

»In Ordnung«, entschied sie. »Sende den Bericht. Wann können wir mit Antwort rechnen?«

»Frühestens in drei Stunden.«

Nora ging zu einer der Konsolen im Übersichtsraum, setzte sich und streckte die Hände nach den Kontrollen aus. »Auf Titan gibt es keine Geheimnisse, oder? Wir sind hier eine große Familie. Erica, gib den Bericht auch in unser Kommunikationssystem. Alle sollen Bescheid wissen.«

Eusebius beobachtete sie aufmerksam. Rebecca und Conrad nickten wohlwollend und zufrieden.

»Wir warten ab, was die Erde zu sagen hat.« Noras Finger berührten Schaltflächen. »Und in der Zwischenzeit versuchen wir, so viel wie möglich über Zeta herauszufinden.«

5

Nora saß in ihrem Büro, starrte auf den Bildschirm und las noch einmal die kurze Nachricht, die von der Erde gekommen war.

»Sammeln Sie weitere Daten über Objekt Zeta. Wir erwarten alle zwei Stunden einen ausführlichen Bericht. Unternehmen Sie nichts. Wir wiederholen: Unternehmen Sie nichts! Keine aktiven Maßnahmen, keine aktiven Sondierungen. Beschränken Sie sich darauf, zu beobachten und zu messen. Wir schicken die Excelsior.«

Sie hatte mehr erwartet, viel mehr, und gewiss kein Verbot.

»Nora?«, ertönte eine vertraute Stimme.

»Ja, Erica?«

»Eusebius hat unser Kommunikationssystem benutzt und den Autarkien von Uranus und Neptun eine Nachricht geschickt.«

Nora verzog das Gesicht. Hier konnte sie sich das leisten, sie war allein. »Das war zu erwarten, nicht wahr? Ich meine, dies ist eine ziemlich große Sache, und natürlich weist er die Autarken darauf hin. Du hast nicht zufällig mitgehört?«

»Er hat seine Nachricht mit einem Quantencode verschlüsselt«, antwortete Erica. »Ich habe bisher nicht versucht, sie zu entschlüsseln, denn dies erfordert eine explizite Anweisung von dir und wäre dennoch ein Verstoß gegen das diplomatische Protokoll.«

Nora schnitt eine zweite Grimasse. »Nur dann, wenn es bekannt würde«, erwiderte die Pragmatikerin in ihr, die durchaus eine Daseinsberechtigung hatte. »Wie auch immer, lass es. Wir wissen, was er gemeldet hat.«

»Wenn du mir einen Hinweis gestattest …«

»Natürlich.«

»Die Autarkien werden ein Schiff schicken, wenn sie dazu in der Lage sind. Und es wird dauern, bis jemand von der Erde eintrifft. Das letzte Versorgungsschiff kam erst vor wenigen Monaten.«

Es hatte ihnen Conrad Conradis gebracht, einen eifrigen jungen Mann, fand Nora, Nachfolger des Koordinators Radko Aristo, der bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war.

»Die Excelsior dürfte wesentlich schneller sein als irgendein Versorgungsschiff«, meinte sie.

»Sie ist noch nicht fertig«, wandte Erica ein. »Den mir vorliegenden Daten zufolge werden noch etwa zehn Tage benötigt, um die Excelsior auf einen interplanetaren Flug vorzubereiten. Sie wird uns frühestens in zwei Monaten erreichen.«

Zwei Monate!, fuhr es Nora durch den Sinn.

»In zwei Monaten kann ziemlich viel geschehen«, sagte sie vorsichtig.

»In der Tat.«

»Die Autarkien könnten uns zuvorkommen.«

»Das wäre möglich.«

»Wir sind ein Vorposten der Erde.« Nora sprach langsam. »Wir tragen Verantwortung. Es ist unsere Pflicht, die Interessen der Erde zu wahren.«

Es wohnten zwei Seelen in ihr. Die eine gehörte der ruhigen, disziplinierten, auf Ausgleich bedachten Administratorin, Oberhaupt einer Forschungsstation, die zur Stadt geworden war, zum Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit bei den Monden des Saturn. Die andere war die Seele der Abenteurerin, die allein aufbrach und mit Synth-Flügeln über Ligeia Mare flog. Diese Nora erkannte mit klarer Deutlichkeit eine Chance, wie man sie nicht nur einmal im Leben bekam, sondern wie sie sich nur einmal in der ganzen Geschichte der Menschheit bot. Der erste Kontakt mit fremdem intelligentem Leben, mit einer extrasolaren Zivilisation! Und sie sollte einfach abwarten und den historischen Moment, direkt vor der Haustür, jemand anderem überlassen?

»Es wäre dumm, die Hände in den Schoß zu legen, während andere versuchen, das fremde Objekt zu erreichen und Nutzen aus ihm zu ziehen«, sagte sie.

»Nutzen?«, fragte Erica.

»Außerirdische Technologie«, antwortete Nora. Die Abenteurerin in ihr dachte an unbekannte Welten und die Wunder des Universums.

»Wir haben klare Anweisungen erhalten«, erinnerte sie die Quantenintelligenz.

»Die Erde ist eins Komma vier Milliarden Kilometer von uns entfernt. Dort sieht man die Dinge anders. Der Blickwinkel ist ein anderer.« Die Abenteurerin versuchte, die disziplinierte Administratorin zu überzeugen. Es gab einen letzten Widerstand.

»Nora …«

»Ich bin immer noch hier.«

»Ich habe gerade eine Nachricht über das QI-Netzwerk erhalten. Sie ist nicht offiziell, und es fehlt eine Bestätigung, aber ich vertraue den Quellen. Der Mars will ebenfalls ein Schiff schicken.«

Nora sah vom Bildschirm auf. »Wann?«

»In wenigen Tagen«, lautete die Antwort. »Und es wird Wochen vor der Excelsior hier eintreffen.«

Noras Finger huschten über Tasten und Schaltflächen. »Wenn ich den aktuellen Stand der Umlaufbahnen richtig im Kopf habe …« Sie betrachtete das Diagramm auf dem Schirm. »Derzeit ist der Mars weiter von uns entfernt als die Erde.«

»Offenbar haben die Marsianer vor, einen Erkunder von einer ihrer Mining-Basen im Asteroidengürtel zu entsenden«, erwiderte Erica. »Nach meinen Schätzungen könnte er bereits in drei Wochen hier sein.«

Nora stand langsam auf. »Wenn die Erde wartet, gerät sie vielleicht ins Hintertreffen.«

»Das wäre theoretisch möglich«, räumte Erica ein.

»Wir sind ihr verpflichtet.«

»Zweifellos.«

Eigentlich war es ganz einfach, dachte Nora.

»Eigentlich ist es ganz einfach«, sagte sie laut. »Wenn ich die Entscheidung allein treffe, kann auch nur ich allein zur Rechenschaft gezogen werden.«

»Was entscheidest du?«, fragte die QI.

»Das weißt du längst, Erica.« Nora lächelte und verließ ihr Büro.

Im Übersichtsraum des »Rathauses« trat Nora an den Konsolen vorbei zum großen Hauptschirm zwischen den beiden Fenstern, durch die man über die Stadt blicken konnte, zu der Jothos geworden war. Ihre Finger strichen über die Kontrollen und riefen erneut eine schematische Darstellung des Saturn und seiner Monde auf den Schirm, zusammen mit dem blinkenden roten Punkt, der auf die Position des Objekts hinwies.

»Es ist noch langsamer geworden«, stellte sie fest. »Langsam genug für eine fast kreisförmige Umlaufbahn, wie ich sehe. Ziemlich weit draußen. Von uns aus gesehen. Iapetus ist wesentlich näher dran.«

Nora drehte sich um, als sie keine Antwort erhielt. Der junge Conrad war da, ebenso Rebecca und Eusebius, der die Kleidung gewechselt hatte und eine ockerfarbene Uniform trug, die sein schwarzes Haar noch mehr zur Geltung brachte. Cora saß an der Kommunikationsstation, den Rücken gerade, den Kopf hoch erhoben, die Hände an den Frequenzscannern. Tiber mit dem schütteren Haar, die blasse Maya, der alte Korwain Curl und Florence mit dem Gesicht voller Sommersprossen – sie behielten die Systemanzeigen im Auge und achteten darauf, dass alles in Jothos einwandfrei funktionierte. Dies war die Koordinationsgruppe, deren Mitglieder jeweils für drei Jahre von Jothos’ Bewohnern gewählt wurden. Sie bildeten den »Rat« des Rathauses.

»Wir kennen die Nachricht von der Erde.« Rebecca sprach wieder sehr schnell. »Wir sollen nichts tun.«

Normalerweise entschieden sie gemeinsam. Aber diesmal nicht, dachte Nora. Die Schuld sollte allein sie treffen. Wenn es später so etwas wie Schuld gab.

»Iapetus wird dem Objekt in wenigen Stunden recht nahe sein.« Nora deutete auf den Hauptschirm. »Wir schicken eine der Iapetus-Sonden. Einen neutralen Beobachter.« Sie blickte kurz zu Eusebius, der ihre Worte ohne erkennbare Reaktion zur Kenntnis nahm. »Wir bringen die Sonde in eine niedrige Umlaufbahn und lassen sie das Objekt passiv sondieren.«

Rebecca nickte zufrieden.

»Und weiter?«, fragte Conrad. Er schien etwas zu ahnen und erinnerte sich vielleicht daran, dass er als Koordinator der Gruppe eine gewisse Kontrollfunktion ausübte.

»Eine Revision der Iapetus-Anlagen wäre in zwei Wochen fällig«, sagte Nora. »Wir ziehen sie vor. Was ist mit dem Cruiser? Wie schnell kann er startklar gemacht werden?« Die letzten Worte richtete sie an Florence.

Der »Cruiser« war ein Inspektionsboot, das sowohl für Flüge in der Atmosphäre des Titan als auch für Reisen zu den anderen Saturnmonden verwendet werden konnte.

»Zwei Stunden sollten genügen«, antwortete Florence. »Kommt darauf an, was du mitnehmen möchtest.«

Nora glaubte fast zu sehen, wie die anderen die Ohren spitzten.

»Wissenschaftliche Instrumente«, sagte sie. »Was wir in den nächsten Stunden auftreiben und entbehren können. So viel, wie in den Laderaum des Cruisers passt.«

»Für Iapetus?«, fragte Eusebius von den Autarkien.

»Als Ersatz für die dortige alte Ausrüstung«, log Nora und schritt zum Ausgang. »Ich fliege selbst. Conrad, du übernimmst hier …«

»Ich möchte mitkommen!«, bat der junge Mann.

»Ich ebenfalls!«, fügte Rebecca hinzu.

Nora zögerte an der Tür. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Vielleicht brauchte sie Hilfe. »Na schön. Florence, du vertrittst mich hier, bis ich zurück bin.«

Eusebius trat vor. »Wenn Sie gestatten, Administratorin … Ich begleite Sie ebenfalls, als wissenschaftlicher Emissär der Autarkien.« Er lächelte kühl. »Ich wollte mir Ihre Anlagen auf Iapetus schon immer einmal ansehen.«

Nora wollte zuerst ablehnen. Doch dann kam ihr der Gedanke, dass es vielleicht besser war, Eusebius in der Nähe zu haben. Dadurch konnte sie ihn und seine Verbindung zu den Autarkien leichter unter Kontrolle halten.

»Na schön«, sagte sie. »Bereiten wir uns vor. In zwei Stunden geht’s los.«

EIN MAHNMAL

NIGHTINGALE LOI, ERDMOND

6

Dreißig Kilometer von Imbria entfernt, der drittgrößten Stadt auf Luna, im Mare Imbrium gelegen, hielt Nightingale den Wagen an. Das Rumpeln hörte auf, und plötzlich wurde es so still, dass sie laut den eigenen Herzschlag hörte, einen dumpfen Trommelschlag in den Ohren.

Vor ihnen stand die Erde dicht über dem grauen Horizont, groß und blau, hier und dort mit weißen Wolkenschleiern. Rechts, ein Stück weiter im lunaren Norden, erhoben sich die Reste einer Konverterruine, die zum Mahnmal geworden war. Zwei kleine runde Hügel erinnerten an die Schilde der geschmolzenen Abschirmung.

»Wie lange ist es her?«, murmelte Nightingale nachdenklich.

»Achtundfünfzig Jahre, zwei Monate und dreizehn Tage«, antwortete Chen neben ihr.

»Die Erbauer sind unvorsichtig gewesen«, sagte Nightingale. »Sie hatten es zu eilig. Das größte wissenschaftliche Zentrum des Mondes sollte hier entstehen. Stattdessen kam es zu einem Tschirnow-Zwischenfall, der zu einer Katastrophe für den ganzen Mond hätte werden können, und vielleicht auch für die Erde.«

»Es geschah während des Jahrhunderts der Unvernunft.«

»Es sollte uns eine Mahnung sein, nicht wahr? Lieber dreimal überlegen als zweimal. Vorsicht immer an erster Stelle.«

Nightingale aktivierte den Zoomeffekt des hohen, breiten Panoramafensters, und der westliche Teil der Ruinen kam näher. Vor ihnen wurden die Sensorcluster der permanenten Überwachung sichtbar, die einen Alarm auslösten, wenn sich jemand oder etwas bis auf fünfhundert Meter näherte. Hinter dem Kordon aus Wächtern, deren Aufmerksamkeit nie nachließ, lag die Irregularität, geschaffen von der Tschirnow-Strahlung, als die Abschirmung des Konverters instabil geworden war: ein weißer Quader aus Pseudomaterie mit einer Kantenlänge von etwas mehr als sieben Metern und von silbernen Linien durchzogen. Der Zoom zeigte mehrere kleine Öffnungen.

Nightingale zeigte darauf. »Man hat Sonden hineingeschickt. Nicht eine von ihnen ist zurückgekehrt.«

»Vielleicht ist es noch zu früh«, sagte Chen. Seine Stimme war tief und ruhig. Nightingale hatte sie von Anfang an mit einem Felsen verglichen, dem kein Sturm und keine Flut etwas anhaben konnten. »Es könnte sich um temporale Verzerrungen handeln. Die Sonden befinden sich vielleicht irgendwo in der Vergangenheit oder erreichen uns in naher oder ferner Zukunft.«

»Vielleicht ist das, was wir sehen, nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs«, spekulierte Nightingale. »Nach einer Hypothese ist die Irregularität dort drüben das Kondensat einer viel größeren Anomalie, die sich durch andere Dimensionen und fremde Zeitstrukturen erstreckt.«

»Wir haben inzwischen gelernt, mit Konversionsenergie umzugehen«, meinte Chen, »und wir brauchen sie für unsere Gravitatoren und Antriebssysteme. Aber sie bleibt gefährlich, deshalb überlassen wir die Kalibrierung der Abschirmung unseren KIs oder besser noch den Quantenintelligenzen.«

»Wir Menschen sind einfach nicht gut genug, oder?«

»Die Leistungsfähigkeit gewöhnlicher Menschen hat überschaubare Grenzen.« Chen klang weder anmaßend noch arrogant. Es war eine Feststellung, getroffen von einem Enhu.

»Wer kalibriert Zeta für uns?«, fragte Nightingale.

»Sind wir deshalb hier, an diesem besonderen Ort? Mit Ausblick auf die Erde?«

»Das ist eher ein Zufall«, erwiderte Nightingale. »Ich wusste nicht, dass man sie von hier aus sehen kann. Ihr Anblick ist durchaus symbolträchtig, wenn man die Umstände bedenkt, aber wir sind vor allem hier, weil ich ungestört mit dir reden wollte, alter Freund.«

Sie sah wieder zum blauen Planeten über dem lunaren Horizont und dachte daran, was dort alles geschehen war und was geschehen konnte.

»Konversionsenergie …«, sagte sie noch immer sehr nachdenklich. »Ein zweischneidiges Schwert. Oder wie die beiden Seiten einer Medaille. Nützlich und gefährlich liegen manchmal dicht beieinander. Das könnte auch bei Zeta der Fall sein. Der Name stammt von Titans QI, kam mir zu Ohren.« Sie ließ zwei oder drei Sekunden verstreichen. »Was wissen die Quantenintelligenzen über das interstellare Objekt?«

»Ich glaube, sie wissen nicht mehr als wir«, sagte Chen.

»Du glaubst? Bist du nicht sicher?«

Nightingale musterte ihn und forschte in seinem Gesicht, als wäre er ein normaler Mensch. Seine Haut war glatt und perfekt, vollkommen makellos. Sensorpunkte und Interfacespots reichten von den Schläfen herab über den Hals und von dort aus am Rückgrat entlang, wie sie wusste. Seine dunklen Augen sahen selbst Röntgenstrahlung, und für die Ohren konnte die leiseste Stille voller Geräusche sein, wenn er wollte. Konfigurierbare Zellstränge in Muskeln und Sehnen versetzten ihn in die Lage, schneller zu laufen als der schnellste menschliche Sprinter. Er vergaß nur, was er vergessen wollte: Sein Gehirn enthielt semiorganische Speicherelemente für direkten Datenzugriff mit einer Kapazität von hundert Exabyte, und über die Interfacespots ließen sich externe Gedächtnisse anschließen. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren wusste Chen mehr als der Gelehrteste unter den Gelehrten auf der Erde. Er dachte mit der rasenden Gründlichkeit einer KI und konnte sich mit Quantenintelligenzen verbinden, um einen direkten Dialog mit ihnen zu führen.

Chen verfügte über volles Personenrecht, so wie alle Enhus nach dem Ende der Genetischen Konflikte. Nightingale hatte das letzte Aufflammen jener Auseinandersetzungen vor zwanzig Jahren in ihrer Heimatstadt Manila erlebt. Damals war sie zweiundzwanzig gewesen, eine junge Studentin der Astrobiologie, und Chen sieben, ein Knabe, geflohen aus einem von den Puristen zerstörten genetischen Laboratorium. Sie hatte ihn versteckt, damit ihr Leben riskiert und seins gerettet. Seitdem gab es eine Brücke zwischen ihnen, ein unzerreißbares Band der Freundschaft.

»Die Denksphären der Quantenintelligenzen sind gewaltig«, entgegnete er. »Stell sie dir ebenso groß vor wie das Universum.«

»Du könntest eine direkte Frage stellen«, schlug Nightingale vor.

»Das habe ich.«

»Und?«

»Die Antwort lautete: Wir sind neugierig.«

Nightingale überlegte. »Was meinst du, Chen? Was hältst du von der Sache?«

Seine perfekten Lippen formten ein makelloses Lächeln. »Ich bin ebenfalls neugierig.« Das Lächeln verschwand, er wurde wieder ernst. »Bei Zeta handelt es sich um ein extrasolares Artefakt, so viel scheint sicher. Den Rest müssen wir herausfinden.«

»Das ist ein ziemlich großer Rest.«

Chen nickte.

Nightingale sah über die graue Oberfläche des Mondes hinweg. »Ich bin zwölf Jahre lang für eine Mission ausgebildet worden, die überhaupt nicht stattfindet. Zwölf Jahre! Und plötzlich wird alles über den Haufen geworfen.«

»Weil Zeta hier ist und nicht mehr bei Proxima Centauri.«

Nightingales Blick kehrte zu ihm zurück. »Hat man dir damals die Wahrheit gesagt, als du für die Excelsior ausgewählt worden bist? Hat man dir gegenüber auch nur etwas angedeutet?«

»Nein. Ich habe von Zeta ebenso spät erfahren wie du. Sogar einige Stunden nach dir.«

Nightingale zweifelte nicht eine Sekunde lang daran, dass er die Wahrheit sagte.

»Skarabi, der Gesandte des Gremiums, mit dem ich gesprochen habe … Ich glaube, mit den Hinweisen auf das Signal wollte er mich ablenken. Er hat es zu sehr betont.«

»Wovon hätte er dich ablenken wollen?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Nightingale. »Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen. Du weißt mehr als ich.«

»Ich weiß sogar viel mehr als du.« Wieder fehlte jede Spur von Selbstüberhöhung in Chens Stimme. »Ich verfüge über so viel Wissen wie die größten Bibliotheken auf der Erde und vielleicht sogar noch mehr. Aber ich weiß nicht alles.«

»Unsere Lagrange-Teleskope haben Biosignaturen auf Dutzenden von Exoplaneten entdeckt, aber keine Spuren intelligenten Lebens«, überlegte Nightingale laut. »Zumindest keine technischen wie zum Beispiel Satelliten oder Habitate in Umlaufbahnen, etwas in der Art. Wir scheinen weit und breit die einzige technologische Zivilisation zu sein.«

»In diesem kleinen Zeitabschnitt«, gab Chen zu bedenken. »In der schmalen Lücke zwischen zwei Wimpernschlägen des Universums. Es könnte zahlreiche Techno-Zivilisationen vor uns gegeben haben, und nach uns werden sich möglicherweise noch viel mehr in der Milchstraße und anderen Galaxien ausbreiten.«

»Vielleicht hat der ehrenwerte Skarabi deshalb so deutlich auf das Signal hingewiesen. Um den technologischen Aspekt zu betonen. Obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre.«

»Eine denkbare Erklärung«, fand Chen.

»Und doch werde ich das Gefühl nicht los …« Sie stockte.

»Ja?«

»Dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Chen … Bedeutet das Signal mehr als nur ein ›Wir sind hier‹ oder ›Wir kommen zu euch‹? Ist es entschlüsselt worden? Enthält es eine Botschaft für uns?«

»Wenn es eine solche Botschaft gibt, habe ich nichts von ihr erfahren.«

Nightingale horchte in sich hinein und stellte fest, dass ihr Unbehagen nicht nachgelassen hatte.

»Kurz vor der Ankunft des Objekts beim Saturn hat sich das Signal verändert«, sagte sie. »Es wiederholt sich schneller, in kürzer werdenden Abständen. Man spekuliert, dass es sich um einen Countdown handeln könnte. Einen Countdown wofür?«

»Unbekannt«, entgegnete Chen. »Du stellst Fragen, auf die wir Antworten suchen sollen. Das ist unsere Aufgabe, unsere neue Mission.«

Nightingale nickte. »Die Excelsior hat eine neue Mission bekommen, ja. Und eine neue Crew. Kleiner als die alte und mit zwei Personen, die ich nicht kenne.«

Er nickte. »Newton und Floyd.«

»Wir sollten sieben sein, und jetzt sind wir vier«, sagte Nightingale. »Samanta, Xavier und die anderen … Sie sind ebenso lange und gründlich ausgebildet worden wie wir, aber sie müssen zu Hause bleiben. Warum? Weshalb hat die Einsatzleitung entschieden, von der ursprünglich geplanten Besatzung nur uns beide zu nehmen plus Amaranth Newton, ein Enhu wie du, und Effraim Floyd, der für mich ein vollkommen unbeschriebenes Blatt ist. Ich habe nichts über ihn herausfinden können.«

»Ich auch nicht, und das ist erstaunlich genug«, kommentierte Chen.

»Geheimdienst?«, spekulierte Nightingale.

»Das wäre möglich und sogar plausibel, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht.«

»Was ist mit Amaranth Newton?«

»Ich kenne ihn nicht persönlich«, sagte Chen. »Er ist neunzehn Jahre alt und gehört zu einer neuen, noch leistungsfähigeren Entwicklungslinie. Er hatte mehrmals Kontakt mit Effraim Floyd, wie ich von den QIs erfahren habe. Offenbar haben sie schon einmal zusammengearbeitet.«

Entwicklungslinie, wiederholte Nightingale in Gedanken. So nannte er es, nicht Generation. »Zusammengearbeitet wobei?«

»Unbekannt.«

Nightingale dachte darüber nach und kam zu keinem konkreten Ergebnis.

»Wie ist die Situation?«, fragte sie. »Die allgemeine Situation meine ich.«

»Da gibt es kaum etwas Neues zu berichten«, erklärte Chen. »Du kennst die Lage. Neue Kontroversen bahnen sich an, zwischen Erde und Mars.«

»Und den Autarkien.«

»Ja. Deren Stimmen sind in den letzten Jahren immer lauter geworden. Sie sehen sich als die wahren Vorposten der Menschheit im Sonnensystem, als die einzigen echten Pioniere. Die interstellare Mission der Excelsior war ihnen ein Dorn im Auge, weil sie sich dazu berufen fühlen, die ersten Menschen zu sein, die das Sonnensystem verlassen und fremde Welten erforschen. Jetzt kommt das Fremde aus dem interstellaren Raum zu uns, und die Autarken glauben, ein Vorrecht auf den Erstkontakt zu haben. Was Erde und Mars betrifft …«

Chen zögerte kurz. Nightingale vermutete, dass er Daten aus seinen Erinnerungsspeichern abrief.

»MaRe und Terra Solar«, sagte Nightingale.

»Die ›Marsianische Republik‹ gewinnt auf dem Mars immer mehr Einfluss«, erklärte Chen. »Und je stärker ihre Bewegung wird, desto mehr Anhänger findet Terra Solar auf der Erde.«

»Die Puristen aus der Zeit der Genetischen Konflikte. Jene Leute, die dich fast umgebracht hätten … Es gibt sie noch immer. Sie haben nur die Fahnen gewechselt.«

»So könnte man es umschreiben.«

»Alle Macht der Erde«, murmelte Nightingale. »Die Menschen außerhalb von ihr sind Kolonisten, mehr nicht. Keine Unabhängigkeit, für nichts und niemanden. Die Erde über alles!«

»Die Quantenintelligenzen führen entsprechende Simulationen durch«, sagte Chen in seinem ruhigen Ton. »Ich habe mehrere virtuelle Welten besucht, in denen sich MaRe auf dem Mars und Terra Solar auf der Erde durchgesetzt haben.«

»Wohin könnte das führen?«, fragte Nightingale.

»Zu neuen Nationalismen. Zu blindem Fanatismus und weiteren Jahrzehnten der Unvernunft. Vielleicht sogar zu Krieg.«

»Klingt nicht nach einer wünschenswerten Zukunft.«

»Wir sind hier«, sagte Chen. »Dies ist das Jetzt. Es liegt an uns, die Zukunft zu gestalten.«

»Genau das ist der Punkt«, erwiderte Nightingale und spürte, wie sich ihr Unbehagen verdichtete. »Du hast eben davon gesprochen, was auf dem Spiel steht. Was wir beim Saturn finden oder nicht – es könnte zu einem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit werden. Erde, Mars, die Habitate und Autarkien im äußeren Sonnensystem, die Niederlassungen auf den Eismonden … Die Mission der Excelsior entscheidet vielleicht darüber, wie es mit uns weitergeht. Ganz abgesehen davon, dass ich gern wissen würde, was es mit Amaranth Newton und Effraim Floyd auf sich hat, die weniger für den Flug der Excelsior qualifiziert sind als Samanta, Xavier und die anderen.«

Sie deutete zum weißen Quader der Irregularität. »Das zweischneidige Schwert, Chen. Gefahr und Nutzen, in einer Sache vereint. Was ist Zeta? Wirklich der Gesandte einer fremden Zivilisation? Dazu imstande, schneller zu fliegen als das Licht? Überlichtgeschwindigkeit, Chen! Das bedeutet eine Technologie, die der unsrigen weit voraus ist.« Noch immer war ihr Blick nach draußen gerichtet. »Die Irregularität dort hätte Mond und Erde vernichten können. Wir hatten Glück. Werden wir mit Zeta ebenso viel Glück haben?«

»Ich weiß, was du meinst«, vernahm sie Chens tiefe Stimme. »Du denkst an die Inka, Maya und Azteken. An die Ureinwohner von Nord- und Südamerika. An Völker, die ›entdeckt wurden‹ und untergingen.«

»Das ist ein Aspekt, ja«, pflichtete ihm Nightingale bei. »Die Begegnung mit höher entwickelten technischen Kulturen ist auf unserem Heimatplaneten für die technisch Unterentwickelten nie gut ausgegangen.«

»Wir sind gewappnet«, sagte Chen.

»Sind wir das? Selbst wenn du recht hast und unsere Kultur durch diesen Erstkontakt keinen oder keinen schweren Schaden nimmt … Auch der mögliche Nutzen von Zeta könnte so scharf sein, dass wir uns an ihm schneiden.«

»Gibt die Metapher wirklich so viel her?«, fragte Chen und bedachte sie mit einem humorvollen Blick.

Nightingale lachte plötzlich, und ein Teil ihres Unbehagens löste sich auf. »Vielleicht nicht. Wie dem auch sei …« Sie wurde wieder ernst. »Angenommen, Zeta steckt voller superfortschrittlicher Technologie. Wer sie entdeckt und einzusetzen lernt, wäre allen anderen weit überlegen. Allein die Möglichkeit von Überlichtgeschwindigkeit! Stell dir überlichtschnelle Raumschiffe in den Händen der Autarken vor.«

»Sie würden aufbrechen, um die nächsten Sternsysteme zu besiedeln.«

»Die Autarkien hätten damit einen enormen strategischen Vorteil gegenüber Erde und Mars. Ihnen stünden auf fernen Welten praktisch unbegrenzt Ressourcen zur Verfügung. Innerhalb weniger Jahrzehnte würden sie zum dominanten Machtfaktor der Menschheit. Ich bin ziemlich sicher, dass Erde und Mars nicht bereit wären, das tatenlos hinzunehmen. Ähnlich sähe es aus, wenn allein die Erde oder der Mars Zetas überlegene Technik bekämen. Aus der politischen Konfrontation könnte schnell eine militärische werden.«

»Bisher sind das alles Spekulationen«, sagte Chen. »Wir haben den Auftrag herauszufinden, worum es sich bei Zeta überhaupt handelt. Vielleicht erwartet uns ja etwas ganz anderes, als wir denken.«

»Du meinst, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt?«, fragte Nightingale.

»Wir sollten uns vor bestimmten Erwartungen hüten«, mahnte er. »Es würde unseren Blick einschränken.«

Nightingale nickte langsam. »Na schön. Noch ein letzter Punkt, bevor wir nach Imbria zurückkehren. Was ist mit unserer Situation? Der Mars hat sehr schnell reagiert, es ist bereits ein Schiff unterwegs, die Aonia, ein Erkunder von einer Mining-Basis im Asteroidengürtel. Und dann hätten wir da noch Saturn selbst. Die Titanier sind angewiesen, nichts zu unternehmen und die Ankunft der Excelsior abzuwarten. Sie sollen nur Daten sammeln, weiter nichts. Aber das ist natürlich Unsinn.«

»Unsinn?«, fragte Chen.

»Und ob«, bekräftigte Nightingale. »Ein einmaliges Ereignis in der Geschichte der Menschheit, und auf Titan soll man die Hände in den Schoß legen, während andere Zeta unter die Lupe nehmen oder gar für sich beanspruchen? Wenn ich dort die Entscheidungen zu treffen hätte …«

»Ich nehme an, du würdest dir das Objekt ansehen«, vermutete Chen. »Aber würdest du das auch tun, wenn du damit gegen strikte Anweisungen verstößt?«

»Auf Titan ist die Erde weit, weit weg. Und die Neugier dort dürfte sehr, sehr groß sein. Sie haben Zeta praktisch vor der Haustür! Und natürlich weiß man auch dort, was ›auf dem Spiel‹ steht, um dich zu zitieren. Die Verantwortlichen werden ein Schiff schicken, da bin ich sicher. Mit anderen Worten: Die Titanier werden Zeta als Erste erreichen.«

»Sie obliegen der terranischen Legislative«, sagte Chen förmlich. »Es würde bedeuten, dass die Erde primären Zugriff hat.«

»Wenn man rechtliche Maßstäbe anlegt«, räumte Nightingale ein. »Aber wie gesagt, beim Saturn ist die Erde weit weg. Die Autarkien sind näher, ebenso der Mars. Die Titanier werden jemanden schicken, die Versuchung ist zu groß. Und ein Autarker ist bei ihnen, ein Verbindungsmann von Uranus.«

»Eusebius«, sagte Chen.

»Was wissen wir über ihn?«

»Er vertritt die Interessen der Autarkien.«

»Eben. Was immer die Titanier und er hinsichtlich Zeta herausfinden oder entdecken, Eusebius wird es für die Autarkien nutzen wollen. Und ebenso die Marsianer, die ebenfalls vor uns da sein werden. Was wissen wir über die Besatzung der Aonia?«

»Sie ist ein kleines Schiff der Explorer-Klasse«, erklärte Chen, »nicht größer als sechzig Meter, ausgestattet mit einem alten Konverter, der mit seiner Abschirmung fast ein Drittel des Rumpfes ausmacht.« Offenbar rief er wieder Daten ab. »Die Crew besteht nur aus zwei Personen. Pilot Hannibal Laurentis, neunundvierzig Erdenjahre alt, ist auf dem Mars geboren. Er gilt als vernünftig und rational. Jemand, mit dem man über alles reden kann. Die Schürferin Roxa Mahwe, siebenunddreißig Jahre, wurde ebenfalls auf dem Mars geboren und gehört zu MaRe. Sie gilt als besonders eifrige Anhängerin der Marsianischen Republik.«

»Prächtig«, sagte Nightingale. »Genau das habe ich befürchtet. MaRe und Zeta. Wie lange braucht die Aonia bis zum Saturn? Wissen wir das schon?«

»Zwei, höchstens drei Wochen. Es kommt darauf an, mit wie viel Konversionsenergie sie fliegen. Ihr Konverter ist alt, sie sollten besser vorsichtig sein.«

»Gehen wir mal von drei Wochen aus«, meinte Nightingale. »Und dann vergehen noch einmal fünf Wochen, bis wir eintreffen.« Sie ächzte. »In fünf Wochen kann viel passieren, Chen.«

»Es lässt sich nicht ändern«, erwiderte er. »Erde und Saturn stehen ungünstig. Unter anderen Umständen könnten wir es schneller schaffen, aber wir sind an die Gesetze der Himmelsmechanik gebunden. Die können wir uns nicht zurechtbiegen.«

Nightingale hatte mehr als ein Jahrzehnt in der fast euphorischen Vorfreude darauf verbracht, ein fremdes Sonnensystem erforschen zu können, mit Welten, die nie zuvor ein Mensch betreten hatte. Stattdessen bekam sie es mit einem Objekt zu tun, bei dem es sich vielleicht um das Artefakt einer extrasolaren Zivilisation handelte und das zum Mittelpunkt eines von menschlichen Egoismen angestachelten politischen Konflikts zu werden drohte. Wissenschaft, darum ging es ihr, nicht um Politik.

»Einen Vorteil hat unsere Situation«, meinte Chen. »Wir können während des Fluges Datenmaterial von den Titaniern abfragen, falls sie sich wirklich Zeta nähern und das Objekt untersuchen, und diese Daten analysieren. Auch die Erde wird uns über Zeta auf dem Laufenden halten, und falls beim Saturn irgendeine Gefahr auf uns lauern sollte, erfahren wir rechtzeitig davon, um uns entsprechend vorbereiten zu können.«

Das war nicht ganz von der Hand zu weisen, fand Nightingale. »Wir rechnen noch einmal alles durch. Vielleicht fällt uns eine Möglichkeit ein, die Flugzeit zum Saturn zu verkürzen.«

Nach einem letzten Blick auf das Mahnmal der Konverterruine wendete sie den Wagen und fuhr in Richtung Imbria.

Seit achtundfünfzig Jahren, zwei Monaten und dreizehn Tagen ruhte der weiße Quader unbewegt neben den Resten des Konverters. Seit dem Unglück hatten die aufmerksamen elektronischen Augen der Sensorcluster nie eine Veränderung an ihm bemerkt.

Bis jetzt.

Mehrere silberne Linien, die den alabasterfarbenen Quader durchzogen, leuchteten auf, und einige der kleinen Öffnungen in ihm schlossen sich. Ein kurzes Flackern folgte, wie vom Licht einer Flamme, das für einen Moment aus dem Nichts auf die weiße Pseudomaterie fiel.

Der Boden in unmittelbarer Nähe des Quaders vibrierte. Staub stieg einige Zentimeter weit auf.

Das Licht verblasste und verschwand.

Die Vibration hörte auf, der Staub sank.

Der weiße Quader lag wieder inaktiv.

ÜBER SATURNS RINGEN

NORA VAN DYKE, AN BORD DES INSPEKTIONSBOOTS

7

Iapetus erschien vor ihnen, dunkel auf der einen Seite, hell auf der anderen. Die Entfernung war auf eine halbe Lichtsekunde geschrumpft, auf hundertfünfzigtausend Kilometer, und nun wuchs sie wieder. Auf der Steuerbordseite wölbte sich Saturn, nah und gewaltig, umgeben von einem Ringsystem, das eine Million Kilometer durchmaß. Iapetus verdankte seine zwei unterschiedlichen Hemisphären dem äußeren und wesentlich größeren dunklen Saturnring, der nur einige Dutzend Meter dick war – ein dünnes, fragiles kosmisches Kunstwerk, bestehend aus Myriaden Eis- und Gesteinsbrocken.

»Wird es nicht langsam Zeit für eine Kurskorrektur?«, fragte Eusebius. Er saß hinten, direkt neben der Luke, und trug wie sie alle einen Raumanzug. »Ich meine, wir wollen doch nach Iapetus, oder, Nora?«

Sie blickte durchs gewölbte Bugfenster. Mit bloßem Auge war Zeta noch nicht zu sehen. Der Navigationsschirm zeigte das Objekt als hell leuchtende Markierung neben und hinter dem Eismond, in einer höheren Umlaufbahn.

Ein akustisches Signal erklang.

»Das ist die dritte Anfrage von Iapetus«, meldete Rebecca, die an den Kommunikationskontrollen des Inspektionsboots saß. »Enceladus und Tethys haben sich ebenfalls gemeldet.«

Nora schüttelte langsam den Kopf. An diesem besonderen Ort war sie nicht die Frau, auf deren Schultern die Verantwortung für Jothos und die anderen Außenbasen des Saturn lastete, sondern die andere Nora, die sich nach dem Abenteuer sehnte, nach der Begegnung mit dem Unbekannten. Sie fühlte sich losgelöst, nicht allein wie während des Flügel-Flugs über den Seen und Bergen von Titan, doch von den Routinen des Gewöhnlichen getrennt, voller Kraft und Tatendrang. Florence würde sich auf Titan um alles kümmern, deshalb brauchte sie sich keine Sorgen zu machen.

»Ich habe nichts gehört«, sagte sie. Ihre Hände ruhten an den Navigationskontrollen, nur für den Fall. Der Kurs war programmiert, die KI des Cruisers überwachte ihn.

»Glauben Sie wirklich, dass Sie damit durchkommen?«, fragte Eusebius.

Eine neue Schubphase brachte nach der Schwerelosigkeit etwas Gewicht zurück. Im Bugfenster wich Iapetus nach links. Direkt voraus bemerkte Nora, wie einige ferne Sterne verschwanden – etwas verdeckte ihr Licht.

»Es wäre Ihnen sicher lieber gewesen, ich hätte gewartet und Zeta Ihren Autarkien überlassen«, erwiderte Nora, den Blick nach vorn gerichtet, doch es klang weder provozierend noch vorwurfsvoll. Der Schub hörte auf, die Schwerelosigkeit kehrte zurück. »Aber was, wenn ihnen der Mars zuvorgekommen wäre? Sie hätten mit uns zusammen auf die Excelsior warten müssen, die den Saturn erst in zwei Monaten erreicht, und hätten als Vertreter der Autarkien tatenlos zugesehen, wie die Marsianer Zeta übernehmen.« Sie sah kurz zur Seite. »Sie wissen, dass ein marsianischer Erkunder vom Asteroidengürtel unterwegs ist. Er könnte schon in drei Wochen hier sein.«

»Und Sie wollen allen zuvorkommen«, erwiderte Eusebius. »Beabsichtigen Sie, Zeta für die Erde zu beanspruchen? Oder für Titan?« Er lachte kurz, aber es klang ein wenig unsicher. »Erhoffen Sie sich Ruhm und einen Platz in der Geschichte?«

Die Fragen verrieten Nora seine Denkweise. Er dachte in Ideologien und klaren Grenzen zwischen den Autarkien und dem Rest der Menschheit.