Zimmer mit Mord -  - E-Book

Zimmer mit Mord E-Book

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Beschreibung

Ein Grandhotel, Zimmer mit Geheimnissen und ein Concierge, der alles weiß Ein erstklassiges Hotel von 1913 bis 1969 in Köln: 16 deutsche Krimiautorinnen und -autoren verbreiten Hochspannung und Humor in ihren kriminellen Kapiteln um hektische Mörder, schwere Koffer und verstörte Reisende. Die Autoren sind: Ingrid Noll, Gisa Klönne, Romy Fölck, Ralf Kramp, Carsten Sebastian Henn, Elke Pistor, Volker Bleeck, H. P. Karr, Ilka Stitz, Jan-Erik Sander, Sabine Trink­aus, Klaus Stickelbroeck, Brigitte Glaser, Heidi Möhker, An­dreas Izquierdo und Paul Schaffrath, die beiden letzteren auch als Herausgeber.

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Seitenzahl: 333

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Andreas Izquierdo / Paul Schaffrath (Hg.)

Zimmer mit Mord

Kriminelle Hotelgeschichten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe 2020 by cmz-VerlagAn der Glasfachschule 48, 53359 RheinbachTel. 02226-912626, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat:Beate Kohmann, Bonn

Schlussredaktion:Kirsten Blanck, Bonn

Satz(Aldine 401 BT 11 auf 14,5 Punkt)mit Adobe InDesign CS 5.5:Winrich C.-W. Clasen, Rheinbach

Umschlagfoto (Calum Lewis: Morning in the Bedroom, 2018):www.unsplash.com

Umschlaggestaltung:Lina C. Schwerin, Hamburg

Gesamtherstellung:Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

eISBN 978-3-87062-343-2

20201125

www.cmz.de

Gisbert Haefs

zum 70. Geburtstag am 9. Januar 2020

Inhalt

Das Personal

Zimmer mit Mord 1

VON ANDREAS IZQUIERDO

1913 – Vor dem Krieg

Auf der Flucht

VON ILKA STITZ

1913 – Vor dem Krieg

Die Stimme aus dem Jenseits

VON SABINE TRINKAUS

1919 – Weimarer Republik

Agatha

VON ELKE PISTOR

1925 – Weimarer Republik

Der schwedische Meisterdetektiv

VON PAUL SCHAFFRATH

Zimmer mit Mord 2

1930 – Nach der Weltwirtschaftskrise

Ein fetter Mann im Fenster

VON RALF KRAMP

1934 – Nach der Machtergreifung

G – Ein Hotel sucht seinen Concierge

VON H. P. KARR

1942 – Bombennächte

Und oben sitzt ein Führer

VON VOLKER BLEECK

Zimmer mit Mord 3

1947 – Hungerwinter

Der Schulfreund

VON GISA KLÖNNE

1949 – Nachkriegszeit

Gnattke

VON JAN-ERIK SANDER

1952 – Wirtschaftswunderzeit

Der bedauerliche Vorfall in Zimmer 22

VON KLAUS STICKELBROECK

1953 – Bundestagswahlen

Kein Richter und kein Henker

VON HEIDI MÖHKER

Zimmer mit Mord 4

1961 – Spießerjahre

Weihnachten im Grandhotel

VON INGRID NOLL

1962 – Spießerjahre

Die Gala

VON ROMY FÖLCK

1966 – Gegen das Establishment

Die Generalin

VON BRIGITTE GLASER

1969 – Mondlandung

Rot die Reben, blau die Partei

VON CARSTEN SEBASTIAN HENN

Zimmer mit Mord 5

Autorennotizen

Das Personal

Monsieur Gisbert [məˈsjø ʒɪsˈbɛʁ] ist ein Concierge der alten Schule, ein Mann, der immer da ist und alles organisieren kann, kein eigenes Leben zu haben scheint und den seine Gäste ebenso verehren wie er sie. Ihm gehört das Grand Hotel Bellevue nicht, aber jeder, der ein Problem hat, gleichgültig, ob angestellt oder durchreisend, fragt Monsieur Gisbert. Er ist beleibt, belesen, beliebt. Vorzugsweise raucht er Gauloises ohne Filter, besitzt einen unerschöpflichen Vorrat an Witzen, bei denen er sich niemals wiederholt, und ein Faible für Kriminalgeschichten. Gutes Essen liebt er über die Maßen, dessen Genuss ihm seine alte Freundschaft mit dem Oberkellner erleichtert. Er ist nicht verheiratet und bewahrt über eventuelle Liebschaften Stillschweigen.

Matthias, der Oberkellner, wird von allen »Monsieur Mathis« genannt; das Bellevue ist ja wahnsinnig französisch. Mathis ist ein außerordentlicher Kenner der französischen Küche, der jedes arrogante Benehmen manch eines Gastes elegant abfedern kann.

Anna arbeitet als eines von fünf Zimmermädchen. Sie hat ihr Herz am rechten Fleck und besitzt die seltene Gabe vorausschauenden Denkens, wodurch sie die Anweisungen ihrer Herrschaft bereits nach der ersten Hälfte des Satzes vervollständigen kann und diese sofort in die Tat umsetzt.

Gustav ist der Chauffeur des Hotels, tadellos gekleidet in einer schmucken Uniform, leider aber immer mit einem Ölfleck am linken Unterärmel der Jacke und einem »Trauerrand« unter dem rechten Zeigefingernagel. Mit dem jeweils aktuellen Autotyp holt er die Hotelgäste vom Bahnhof ab und fährt sie auch abends in die Oper der Stadt.

Baron Konrad von Ascheberg ist Dauergast und entstammt einem uralten westfälischen Adelsgeschlecht. Seine Familie ist seit Generationen verarmt und hat längst den Stammsitz ihres Geschlechts verkaufen müssen. Er hält sich mit dubiosen Tätigkeiten über Wasser, von denen man nichts erfährt.

Hänschen ist fünfzehn Jahre alt und arbeitet als Liftboy und Kofferträger. Er ist Waisenjunge und irgendwann von Monsieur Gisbert von der Straße aufgelesen worden.

Zimmer mit Mord

1.

Sie sollen alle Selbstmord begangen haben.

Im zweiten Stock.

Erhängt.

Es gibt auch noch andere Geschichten, wie die vom Lehrer Görtz, der 1953 gestorben ist. Wer das ist? Niemand weiß das. Nur seinen Grabstein kennt man. Tauchte eines Tages einfach aus der tiefen Erde auf.

Es gibt Fotos davon.

Und da ist auch noch dieser junge Bursche, Edward, der wurde erhängt, weil er die Tochter des Gutsbesitzers geliebt haben soll. Also Mord, kein Selbstmord. Pole soll der gewesen sein, Zwangsarbeiter mitten im Krieg, und ich denke, ist Edward eigentlich ein polnischer Name? Egal. Die Geschichte ist einfach zu tragisch, um sie nicht weiterzuerzählen.

Als ich an der Neusser Landstraße, kurz vor Fühlingen, am Wegrand halte, frage ich mich, welche von den vielen Geschichten wirklich wahr ist. Die mit den Lichterscheinungen? Die mit den unheimlichen Stimmen? Die mit dem Poltergeist? Der soll einem Kölner erschienen sein, und als der Mann fragte, ob der Geist einen Moment auf ihn warten könne, damit er ihn auch seinem Kumpel zeigen könne, da hat er wohl gesagt: »Ja, klar, kein Thema, ich hab Zeit.« Grinsend schließe ich meinen Wagen mit einem Klick auf die Fernbedienung: Klar, Jung, keen Thema, isch hann Zick!

Alles Schauermärchen.

Vermutlich.

Der Makler ist jedenfalls schon da.

So ein freundlicher, kleiner, rundlicher Mann mit dichtem, grauen Schnauzer.

Drückt mir die Hand und sagt: »Schön, dass Sie da sind. Sie werden staunen! Kommen Sie!«

Wir haben nur ein paar Schritte bis zum Haupttor und tatsächlich: Ich staune. Zwei gewaltige Steinsäulen, dazwischen ein verrostetes, aber kunstvoll geschwungenes Tor aus Eisen.

Dahinter aber: das Haus!

Es erhebt sich gegen den dunkelgrauen Himmel; fünf Steinbögen zieren den Haupteingang, darüber eine Balustrade, darauf zwei weitere Stockwerke. Es ist eines von der Sorte, die man aus Gruselschockern kennt: verwunschen, marode, geheimnisvoll, und ich denke, vielleicht ist doch alles wahr, was man sich darüber erzählt: der Lehrer, der Zwangsarbeiter, der Poltergeist, die Selbstmörder, die Stimmen.

»Es muss einmal wunderschön gewesen sein«, sage ich.

»Ja, das war es. Das Schönste weit und breit. Ganz herrlich war das!«, bestätigt der Makler und schiebt das geschwungene Tor auf.

Es quietscht – natürlich. Und zwar so, dass es einem durch Mark und Bein geht.

Fasziniert sehe ich es an: Es gibt weder Fenster noch Türen, nur schwarze Löcher, die über einen hinwegstarren wie die Augen eines Totenschädels. Alles an diesem Gebäude war einmal herrschaftlich, bedeutend, reich. Jetzt aber ist es vollkommen verfallen.

Eine Schande, so etwas.

Wir treten auf den großen Vorplatz.

Der Makler schließt das Tor.

Wieder dieses dramatische Quietschen.

Dann dreht er sich um, lächelt und macht eine präsentierende Geste: »Darf ich vorstellen: das Bellevue!«

Erst jetzt sehe ich, dass sich vom Haupthaus Flachbauten wie Arme nach links und rechts strecken, die in zwei Gebäude münden, die wie Wehrtürme wirken. Bäume und Sträucher haben sich fast das gesamte Gebäude geholt. Vermutlich gibt es noch zwei Flügel auf der Rückseite, so dass das ganze Anwesen wie ein riesiges U aussieht.

»Stimmt es, was man sich über das Gebäude erzählt?«

Der Makler runzelt die Stirn, als wüsste er nicht, worauf ich anspiele, aber an seinen Augen sehe ich, dass er das ganz genau weiß.

»Was meinen Sie?«, fragt er vorsichtig.

»Dass es spukt!«

Einen Moment starrt er mich an, dann macht er eine wegwerfende Handbewegung: »Ach, das …«

Einen weiteren Kommentar scheint ihm das nicht wert zu sein, aber ich hake nach: »Und?«

»Die Leute erzählen viel. Gerade hier in Köln. Sie kommen nicht von hier, oder?«

Ich schüttele den Kopf: »Hamburg.«

»Ah, verstehe.«

»Was verstehen Sie?«

»Der Norddeutsche redet nicht viel. Der Kölsche schon.«

Ich seufze.

Alle glauben, dass die Norddeutschen nicht viel reden. Vor allem die Kölner. Wenn die sich mal mit etwas anderem befassen würden als mit sich selbst, wüssten sie, dass der Norddeutsche ohne Ende redet.

»Die Vorbesitzer sollen sich alle erhängt haben!«, beginne ich erneut. »Im zweiten Stock!«

Der Makler zuckt mit den Schultern: »Sehen Sie es sich doch an! Hier wohnt seit Jahrzehnten niemand mehr. Und die Vorbesitzer haben sich so lange um das Erbe gekloppt, bis sie darüber gestorben sind. Auf ganz natürliche Weise. Jetzt gehört es deren Kindern, und die denken ganz praktisch: verkaufen und den Gewinn unter sich aufteilen.«

»Dann ist an den Geschichten also nichts dran?«

»Das habe ich nicht gesagt«, beginnt der Makler geheimnisvoll. »Nur nicht so, wie Sie das vielleicht gehört haben.«

Ich blicke wieder auf das Haus.

Sieht es mich gerade an?

Schließlich reiße ich mich davon los und sage: »Sehen Sie, ich will das alles hier in Luxuswohnungen umwandeln. Und wenn mich potentielle Käufer fragen, möchte ich ihnen auch etwas über das Gebäude erzählen können. Aber wenn es geht – ohne Poltergeist, Grabstein und Selbstmörder.«

»Verstehe«, antwortet der Makler. »Geschichten gibt es viele. Das Bellevue war mal ein Hotel.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Hat kurz vor dem Ersten Weltkrieg eröffnet. Und ein paar Geschichten, die sich darin zugtragen haben, sind vielleicht der Grund dafür, dass so viele andere im Umlauf sind.«

»Was denn für Geschichten?«

Der Makler reibt sich verlegen über den Nacken: »Na … so Geschichten halt.«

»Jetzt machen Sie es mal nicht so spannend.«

»Ich glaube, das hat alles mit dieser Kiste angefangen …«

»Was für eine Kiste?«

»Na, diese Kiste aus Ägypten. 1913 war das, glaube ich.«

1913 – Vor dem Krieg

Auf der Flucht

VON ILKA STITZ

Das schmiedeeiserne Tor stand offen, und ihre Droschke rumpelte den gepflasterten Weg auf das Hotel zu. Bellevue entzifferte Eva die geschwungenen Lettern über dem Portal. Ein prächtiger Bau, dessen imposante Fassade mit der pfeilergestützten Vorhalle in der Mitte und gedrungenen Türmen an den Ecken die gesamte Breite des Vorplatzes beherrschte. Neben einem dort parkenden schwarzen Automobil kam die Kutsche zum Stehen. Keine Menschenseele war zu sehen, außer Vogelgezwitscher nichts zu hören. Das Anwesen strahlte trotz der Nähe zur Stadt eine seltsame Verlassenheit aus. Nur das Schnauben der beiden Pferde und das Knarren des morschen Ledergeschirrs störten die Ruhe.

Eva betrachtete das große Hotel. Ein Haus, dem Stand ihres Mannes angemessen, Lord Benedict Cyril Pace. So gesehen ein passendes Quartier, aber natürlich entsprechend kostspielig. Zu viel für sie, eine ehemalige Sängerin in einem Pariser Varieté, und einen Lord, der zwar ein richtiger Lord, aber eben dank seiner Leidenschaft für das Kartenspiel auch ein ruinierter war. In Gedanken überschlug Eva ihre Barschaft, was schnell erledigt war, denn viel war es nicht mehr.

Im Gegensatz zu ihr schien Benedict weder von dem Gebäude noch von ihrer mangelnden Zahlungskraft beeindruckt zu sein; er betrachtete den Weg zur Einfahrt.

»Er ist nicht da, Benedict, Liebster«, beruhigte sie ihn. Sie war überzeugt, dass sie Yann in Paris abgehängt hatten.

»Ich habe ein schlechtes Gefühl. Weil wir die Kiste mit dieser Adresse aufgegeben haben …«

Diese vermaledeite Kiste! »Du hättest sie gar nicht erst mitnehmen dürfen!«

»Dich hätte ich auch nicht mitnehmen dürfen«, sagte Benedict und lächelte sie an.

Ja, davon ganz abgesehen … Doch ausgerechnet Odilon auch noch dieses sperrige Teil zu stehlen! Als er im Varieté fast über das Gepäckstück mit dem Kairoer Absender gestolpert war, hatte Benedict einfach nicht widerstehen können.

Schuld war das Ägyptenfieber, dem immer mehr Leute verfielen, ihr Mann ebenso wie sein kürzlich verstorbener Vater und eben auch ihr Patron, Odilon Sauvage. Odilon, der gerade wegen seiner Begeisterung für ägyptische Artefakte einen Narren an Benedict gefressen hatte – bis dessen Spielschulden in den Himmel wuchsen. Da verstand auch ein Odilon Sauvage, bei aller Sympathie, keinen Spaß.

Nun schuldete Benedict Odilon Sauvage, der nicht nur Betreiber eines erfolgreichen Pariser Varietés und einiger berüchtigter Spielhöllen war, sondern auch eine respektierte Größe in dubiosen Kreisen, ein Vermögen von zweitausend Francs, eine Kiste mit Plunder – und seine beste Sängerin. Und Eva wusste aus Erfahrung: Odilon vergaß nie und verzieh auch nie. Da mit dem Tod von Benedicts Vater eine zuverlässige Geldquelle versiegt war, blieb ihnen nur die überstürzte Flucht in Evas alte Heimat Köln.

Um ihre Spuren zu verwischen, hatten sie sich natürlich im Hotel nicht anmelden können; die Kiste hatten sie aber auf gut Glück an die Kölner Adresse geschickt.

Eva strich ihrem Mann die blonde Strähne aus der Stirn und küsste ihn auf die Wange. »In Paris war er die ganze Zeit hinter mir her, während du sie aufgegeben hast«, bekräftigte sie. Eva kannte Odilons Mann fürs Grobe seit Jahren; einmal auf der Spur, war Yann wie ein Bluthund.

»Ein wundervolles Haus«, versuchte sie von der Sorge um den Verfolger abzulenken. Benedict nickte abwesend, als der Fuhrmann den Schlag öffnete und sie ausstiegen ließ.

Benedict sah der Kutsche nach, bis sie hinter einer Biegung verschwand. Als das Rumpeln und Knirschen der Räder verstummt war, herrschte Stille. Er straffte den Rücken und wechselte die Reisetasche von der rechten in die linke Hand. Erst jetzt schien er das Gebäude wahrzunehmen. »Ja, nicht wahr? Hoffentlich haben sie noch ein Zimmer für uns.«

Eva sah sich um. Irgendwelche Gäste waren nicht zu sehen. War das Hotel womöglich geschlossen? »Und hier logiert ein Bekannter von dir?«

»Ja. Baron Auerbach hat meinem Vater seinerzeit dieses Hotel für einen Kölnaufenthalt wärmstens empfohlen.«

»Seinerzeit …« Dieser Baron Auerbach war vermutlich ein ebenso fanatischer Ägyptenanhänger wie ihr Mann, dachte Eva und runzelte die Stirn. Aber offenbar nicht ganz so ruiniert wie Benedicts Familie, wenn er sich den Aufenthalt hier leisten konnte. Eva erinnerte sich noch genau an den Wortlaut des Briefes von Benedicts älterem Bruder, der außer der Nachricht vom Tode des Vaters die Botschaft enthielt, dass der alte Marquess alles Geld für den alten Krempel verschleudert habe, Benedict also auf keinerlei Barschaft hoffen solle. Und dass ihm selbst auch nur der Titel und ein marodes Schloss geblieben seien, Benedict also von weiterer Schnorrerei absehen möge.

Paris war verbranntes Pflaster, England nutzlos, also blieb nur Köln. Zwar hatte Eva die Stadt vor Jahren verlassen, um nach dem Tod der Eltern in Paris eine berühmte Sängerin zu werden, aber zurechtfinden würde sie sich hier weiterhin. »Hoffentlich lebt der Baron noch«, merkte Eva an.

»Sicherlich. Als ich ihn vor Jahren kennenlernte, war er noch ein junger Mann …«

Beide erschraken, als eine Tür aufgerissen wurde und ein Mann herauseilte. »M’sieurdames!« Seine langen Beine steckten in einer schwarzen Hose, die Jacke mit dezenten Litzen saß tadellos am hageren Leib. Steifbeinig hastete er auf sie zu, zog vor ihnen die Mütze.

»Madame, Monsieur, entschuldigen Sie, aber Ihr Erscheinen war nicht angekündigt. Selbstverständlich hätte ich Sie mit dem Wagen abgeholt!« Er deutete auf das in der Sonne blitzende Fahrzeug. »Gestatten, Gustav, Chauffeur des Hauses. Wenn Sie mir bitte Ihr Gepäck …«

Benedict überließ ihm die Tasche. Dann fiel sein Blick auf das Automobil. »Ah, ein Audi!«

Benedict war also nicht nur ein Kenner ägyptischer Altertümer, sondern auch moderner Automobile. So viel gab es noch an ihrem Lord zu entdecken!

»In der Tat! Eine Limousine des Typ E«, antwortete Gustav mit erhobenem Kinn. »Für unsere Gäste legen wir Wert auf besonderen Komfort.«

Und für den Chauffeur, dachte Eva angesichts des verklärten Blicks des Fahrers. Allerdings könnte er bei der Pflege seiner Uniform größere Sorgfalt walten lassen. Sie musterte den Ölfleck, der auf seinem Ärmel prangte.

»Ein Freund von mir fuhr einen Typ B«, meinte Benedict und umrundete den Wagen.

Der Chauffeur nickte anerkennend. »Das Modell wurde vor zwei Jahren Alpensieger in Österreich. Unser Wagen ist erst ein Jahr alt, Baujahr 1912, und natürlich eine ganz andere Klasse.«

Benedict pflichtete ihm bei. »Respekt.«

Gustav nickte ein weiteres Mal. Er räusperte sich. »Folgen Sie mir bitte. Unser Concierge, Monsieur Gisbert, wird Ihnen weiterhelfen.«

Ihnen war nicht zu helfen, befürchtete Eva. Mit einem letzten Blick auf die still in der Sonne liegende Zufahrt betrat sie am Arm ihres Gatten das Hotel.

Rotgoldgestreifte Tapeten, zwischen den großen Bleiglasfenstern Sessel mit passendem Samtpolster, kleinere Sessel um runde Tischchen aus dunklem Holz. Von der Decke hingen zwei Kristallleuchter, die im einfallenden Sonnenlicht funkelten. Der schwere Orientteppich dämpfte ihre Schritte.

Hinter dem Tresen stand ein junger Mann, etwas vornübergebeugt, und las. Allerdings nicht in dem großen aufgeschlagenen Folianten vor ihm, sondern in einem daraufliegenden Buch. In einem Aschenbecher glomm eine filterlose Zigarette und schickte eine Rauchfahne zur Decke. Als er die Gäste bemerkte, schlug er das Buch zu und schob es beiseite. The Innocence of Father Brown konnte Eva den auf dem Kopf stehenden Titel entziffern und Chesterton, als sie vor dem Tresen stand. Ein englischsprachiger Roman, wie es schien; von dem Autor hatte sie allerdings noch nichts gehört. Der junge Mann strich sich seinen Schnauzer glatt. »Willkommen in unserem bescheidenen Etablissement, Monsieur, Madame.«

Wie alt mochte er sein? Zwei-, dreiundzwanzig Jahre? »Sie sind Franzose?«, fragte Eva auf Französisch und dachte an Yann. Hoffentlich fand der in diesem Concierge keinen Verbündeten. »Schon der Chauffeur erweckte den Eindruck …«

»Mais non!«, erwiderte der Concierge. »Aber wir bemühen uns, la culture française et le savoir-vivre zu verbreiten. Sie sind aus dem Lande des Grand Napoléon?«

Eva lächelte. »Ich bin aus Köln, habe aber lange in Paris gelebt.«

Monsieur Gisbert lächelte wohlwollend zurück. »La cité de l’amour, wie überaus erwärmend. Aber ohne seinen Dom gibt es für einen Kölner ja kein Wohlsein.«

»Haben Sie ein Zimmer für uns?«, unterbrach Benedict ihr Geplauder. »Für drei Nächte …«

Monsieur Gisbert nickte verbindlich und schlug eine Seite im Folianten um; sein Zeigefinger glitt die beschriebenen Zeilen entlang. »Hm, ein Zimmer ist nicht mehr frei. Ich bedaure sehr.« Dann blickte er auf, schwieg und musterte erst Benedict, kurz, dann Eva, eingehend.

Eva hielt seinem Blick stand, da war sie anderes gewohnt. »Oh, Monsieur, wie kann das sein?« Sie sah sich um. »Es ist niemand hier!«

Der Concierge nickte. »Wir haben gerade elektrisches Licht bekommen, die Arbeiten werden erst heute abgeschlossen. Daher nein, kein Zimmer. Doch unsere Kaisersuite hat einen wunderbaren Blick in den Garten. Ja. Ich denke, die ist angemessen.« Er wirkte so zufrieden, als hätte er sie mit den eigenen Händen für sie errichtet.

»Sie befindet sich in der oberen Etage. Und wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise dienlich sein kann, so lassen Sie es mich wissen. Das Haus steht ganz im Dienste seiner Gäste; kein Ding ist unmöglich.«

»Das ist sehr freundlich.« Eva war erleichtert. Hoffentlich mussten sie die Suite nicht vorab bezahlen …

»Wenn Sie mir noch Ihre Namen …«

»Of course – äh, ja, natürlich. Mein Name ist Benedict Cyril Pace, und das ist meine Frau Eva.« Er legte den Arm um sie. Vielleicht wegen der Blicke, mit denen der Concierge sie bedachte. Doch. Ganz sicher wegen der Blicke.

»Lord Benedict Pace«, ergänzte Eva und verstummte abrupt. Warum ließ sie sich so ablenken von diesem sonderbaren Mann? Natürlich hätte Benedict besser einen falschen Namen angegeben, aber nun lag das Kind im Brunnen.

»Oh, ein Lord als Gast bei uns.« Der junge Concierge sah beeindruckt aus. »Wie schön. Eine Kleinigkeit noch …« Er trug ihre Namen schwungvoll in das Buch ein, dann sah er sie beflissen an. »Bei uns ist es üblich, füglich im Voraus zu zahlen. Acht Mark und achtzig Pfennig die behagliche Nacht.« Monsieur Gisbert sah sie mit erhobenen Brauen an. »Bar oder mit Scheck?«

Der Preis an sich war in Ordnung; er lag sogar unter dem, was man in Paris für ein vergleichbares Etablissement zu zahlen hätte. Aber es war dennoch zu viel. Sie hätten sich momentan noch nicht einmal den Abstellraum in einer schäbigen Pension leisten können.

»Natürlich. Sofort.« Benedict griff in die Innentasche seines Jacketts, die Hand kam indes leer wieder heraus. »Well, sagen Sie, logiert eigentlich Baron Auerbach noch hier? Er war es übrigens, der uns Ihr Hotel empfohlen hat.«

»Wie überaus weitsichtig von ihm. Ja, in der Tat, der Herr Baron ist unser Gast.«

»Er ist ein alter Freund meines Vaters. Ich würde ihn gern begrüßen, ist er im Hause?«

»Bedaure.«

Das war schlecht. Eva ahnte, dass Benedict wegen der Hotelrechnung auf den Baron gesetzt hatte.

»Wann kommt er zurück?«, fragte Benedict.

Monsieur Gisbert hob bedauernd die Hände. »Er pflegt seine Abtrünnigkeiten nicht zu erläutern.«

»Wie bedauerlich.«

Der Concierge faltete die Hände. »Wenn Sie mir nun mitteilen würden, wie Sie die Rechnung zu begleichen gedenken, stelle ich Ihnen flugs die Quittung aus. Drei Nächte im Voraus? Das macht summa summarum sechsundzwanzig Mark und vierzig Pfennige. Wäre das genehm?«

»Ja, doch, sicher.«

»Sie zahlen in bar?«

»Ja, aber können wir das vielleicht später erledigen? Wir sind wirklich sehr erschöpft von der Reise.«

»Tut mir aufrichtig leid, Mylord. Aber ich bin angehalten, für die prompte Begleichung der Rechnung Sorge zu tragen.« Die Stimme des Concierge ließ keinen Spielraum für Kompromisse.

»Lieber Monsieur Gisbert«, gurrte Eva mit einem Augenaufschlag, der das ewige Eis zum Schmelzen bringen würde, »mein lieber Monsieur Gisbert, können Sie nicht eine Ausnahme machen? Sie lieben Frankreich, das spüre ich; Paris, kennen Sie Paris?«

Der Concierge verneinte.

Eva beugte sich zu ihm über den Tresen. »Wissen Sie, ich war in Paris eine bekannte Sängerin, vielleicht kann ich hier ja eine Kostprobe geben, quasi als Anerkennung Ihrer Großmut … Gleich heute Abend zur Freude Ihrer Gäste … Was meinen Sie? Ein Auftritt, quasi als Anzahlung für die erste Nacht?«

Monsieur Gisbert zögerte einen Augenblick, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. »Bedauere, ich habe meine Anweisungen … Dergleichen ist nicht zutunlich. Wir sind ein sehr besonderes Haus.«

»Und ich bin eine sehr, sehr besondere Künstlerin …« hauchte Eva und schob ihren Busen vor.

Monsieur Gisbert schaute unbeeindruckt in sein Buch. »Vielleicht haben Sie etwas anderes von Wert, was Sie als Pfand hinterlegen, dann könnte ich eines meiner Augen zudrücken.« Er musterte zweifelnd die Reisetasche, die, das musste Eva einräumen, verschlissen und wenig vielversprechend wirkte. »Aber Sie reisen offenbar mit sehr kleinem Gepäck.«

Benedict wiegte den Kopf. »Nur für den Moment. Zu dumm, das Baron Auerbach nicht da ist, er könnte für uns bürgen. Aber vielleicht können Sie sich ein wenig gedulden. Wir erwarten noch ein größeres Gepäckstück. Aus Paris. Ich hoffe, es ist kein Problem, dass wir es an dieses Hotel adressiert haben. Es ist recht sperrig. Darin befinden sich aber einige Dinge von großem Wert.«

Eine unhandliche, vor allem aber schwere Kiste, wie Eva wusste, denn sie hatte sie gemeinsam mit Benedict über die Hintertreppe des Varietés zur ihrer Kutsche geschleppt. Bei Nacht und Nebel. Und ob sich darin etwas von Wert befand, würde sich erst zeigen müssen.

Der Concierge überdachte Benedicts Angebot und nickte endlich. »Gut. Das ist eine billige Unbill.«

Benedict schaute ihn verständnislos an. Eva lächelte. Kein Wunder, der junge Mann pflegte wirklich eine wunderliche Ausdrucksweise. Monsieur Gisberts Blick ruhte derweil auf ihr. Vielleicht erwog er ja doch ihr Angebot zur Bereicherung der abendlichen Unterhaltung.

»Nun, ich werde Ihnen das Gepäckstück bringen lassen, sobald es eingetroffen ist. Dann werden wir sehen.« Er betätigte die Klingel auf dem Tresen, und ein Junge kam herbeigelaufen. »Hänschen wird Ihr Gepäck hinaufbringen. Der Lift ist dort nebenan.« Er wies den Gang entlang, aus dem der Junge herausgekommen war.

»Ah, eine Kleinigkeit noch …«, hob Benedict an und warf einen schnellen Blick zur Eingangstür. »Es mag sein, dass sich ein Herr nach uns erkundigt. Ein Franzose. Es wäre gut, erführe er nichts von unserer Anwesenheit.«

»Wie Sie wünschen – Mylord.«

Der Page öffnete ihnen die Tür und stellte die Reisetasche ab. Benedict wühlte in seiner Jacketttasche und fand noch eine Münze, die er dem Jungen in die Hand drückte. Mit einer Verbeugung schloss dieser die Tür hinter sich.

Eva sah sich um. Zierliche Sessel, eine Kommode, ein passender Tisch boten allen Komfort. An den Salon schloss sich das Schlafzimmer an. Benedict war ihr gefolgt und ließ sich auf das breite Bett fallen. »Eine gute Tasse Tee könnte ich jetzt gebrauchen.«

Eva lehnte am Fenster und sah hinaus. Der Ausblick in den Garten, fast einen Park, war malerisch; bunt blühende Rabatten, kleine Baumgruppen, rechts und links eingehegt von den Seitenflügeln des Gebäudes. Sie wandte sich zu Benedict und sah ihn an, ihren Mann, wegen dessen gefährlicher Leidenschaften sie auf der Flucht waren. Und sie dachte an Yann, ihren Fels in der Brandung des Varietés. Und nun ihr Verfolger. Was würde er tun, fände er sie? »Mir wäre ein Cognac lieber. Ich bin doch ein wenig beunruhigt, Liebster. Meinst du, wir können diesem Monsieur Gisbert vertrauen? Wenn …«

»Nun ja«, sagte Benedict. »In der Tat wirkt er ein wenig unerfahren. Ein so junger Mann und schon Concierge …«

Es klopfte an der Tür. Eva erschrak. Ihr Herzschlag beruhigte sich bei dem Gedanken, dass Yann sicher nicht so höflich gewesen wäre. Ein Zimmermädchen wartete vor der Tür, ein Tablett balancierend, auf dem eine Kanne, zwei Tassen, Zuckerdose und Milchkännchen sowie eine halbvolle Karaffe und zwei Cognacschwenker standen.

»Madame, ich habe Tee für Sie bereitet. Aber vermutlich ist auch eine Stärkung ganz angenehm, nach der strapaziösen Reise.« Eva trat beiseite, damit das Mädchen ihre Last abstellen konnte. Nach einem Knicks ging es wieder hinaus.

»Was sagt man dazu …« Eva staunte.

Benedict erhob sich von dem Bett, schenkte ihnen beiden eine Tasse Tee ein und füllte die Gläser mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Der Duft von Earl Grey und Cognac verteilte sich im Raum. »Das Hotel ist wirklich jeden Pfennig wert, das muss man sagen.« Er trank einen Schluck, stellte das Glas auf das Nachtschränkchen.

Eva spürte dem Geschmack des Cognacs nach und beobachtete Benedict, der sich wieder auf dem Bett ausstreckte, die Ruhe selbst. So war er. Kein Gedanke mehr an Yann oder die offene Hotelrechnung, Seit sie ihn in Paris überstürzt geheiratet hatte, schien ein Problem immer zwei neue nach sich zu ziehen, aber ihr Lord genoss das Leben. Savoir-vivre eben. Da war er französischer als die Franzosen. Yann dagegen war die Zuverlässigkeit in Person. Immer hatte sie sich auf ihn verlassen können. Auch Odilon Sauvage konnte sich auf ihn verlassen. Sein Patron, und bis vor kurzem auch ihrer. Sie wusste genau, dass Yann nicht allein wegen des Geldes hinter ihnen her war, sondern weil Odilon selbst ein Auge auf sie geworfen hatte. Er würde sie zurückhaben wollen.

Sie nahm einen großen Schluck und betrachtete ihren Lord, den Spieler und Hallodri, der im Handumdrehen ihr Herz gewonnen hatte.

»Komm her, Darling«, er hob einladend die Bettdecke. »Beschäftigen wir uns mit erfreulicheren Dingen.«

Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür.

»Ihr angekündigtes Gepäck ist eingetroffen.« Der Chauffeur trug zusammen mit einem Fuhrknecht die Kiste in den Salon. Benedict drückte beiden seine letzten Geldstücke in die Hand, damit sie gingen.

»Ah, Gepäck aus Ägypten. Wie interessant.« Monsieur Gisbert war unbemerkt eingetreten, als die beiden Kistenträger gerade die Suite verließen.

»Das alte Ägypten war eine außerordentliche Zivilisation«, sagte der Concierge. »Wussten Sie, dass die Pyramiden keineswegs von Sklaven erbaut worden sind, wie alle behaupten?« Er betrachtete die Kiste von allen Seiten.

»Wer sonst sollte denn diese unliebsame Arbeit verrichten? Sklaven gab es doch im Überfluss«, erwiderte Benedict ruppig. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand in seinem Fachgebiet wilderte, obgleich er selbst darin nur dilettierte. Und ein Concierge, soweit kannte Eva ihren Lord inzwischen, gehörte nicht zu den raren Spezialisten, deren Urteil Benedict würdigte.

Monsieur Gisbert zündete sich eine Zigarette an und zog daran. Den Rauch ausstoßend, antwortete er abwesend: »Wer sonst sollte solch gigantische Bauwerke errichten, Bauwerke zu Ehren eines Königs und Gottes, wenn nicht freie Menschen mit freiem Willen?« Er streifte den Aschekegel über einem Bakelitdöschen ab, das er in der anderen Hand hielt. »Natürlich waren Sklaven im Altertum die Basis der Wirtschaft, in Ägypten, wie fürderhin im alten Griechenland oder Rom. Auch in Karthago, dem Erbfeind der Römer, bildeten Sklaven einen Wirtschaftsfaktor. Haben Sie sich einmal mit den Karthagern befasst? Nein? Welch Frevel! Hier wurde in nuce vieles schon gedacht und gemacht, was die moderne Wissenschaft stets dem Genius der Griechen oder Römer zuschreibt. Welch Fehlung! Vielmehr waren es doch die Karthager, die Schiffe am Fließband produzierten! In diesen Tagen wären Kaiser Wilhelm und Großadmiral Prinz Heinrich von Preußen gut beraten, sich eingehend mit den Fertigkeiten der Karthager zu befassen, ja, sogar über den Schiffbau hinaus! Hannibal und seine Kesselschlacht bei Cannae zum Beispiel, davon konnte auch ein Helmuth von Moltke lernen.«

»Können Sie uns freundlicherweise beim Öffnen der Kiste behilflich sein?«, unterbrach ihn Eva. Benedicts wissenschaftliche Exkurse stillten ihren Bildungshunger bereits ausreichend.

»Dann wollen wir einmal sehen …« Der Concierge rüttelte am Deckel, der sich keinen Millimeter bewegte.

Eva hatte sofort erkannt, dass das so einfach nicht sein würde. »Können Sie uns eine Brechstange, einen großen Schraubenzieher oder dergleichen besorgen? Und eine Zange.«

»Sehr wohl, Lady Pace«, sagte der Concierge.

»Und wenn nicht kostbare Artefakte«, murmelte Benedict, als sich die Tür hinter Monsieur Gisbert geschlossen hatte, »dann liegt da vielleicht eine Mumie drin.«

Am Nachmittag brachte Monsieur Gisbert eine Brechstange, und Benedict machte sich sogleich ans Werk. Dicht an dicht reihten sich die Nägel auf dem Kistenrand, für die Ewigkeit verschlossen, schien es Eva. Nun, angesichts ihres Transports über Tausende von Kilometern kein Wunder. So sehr sich Benedict aber auch mühte – die Kiste blieb verschlossen. »Und jetzt?«, fragte er.

Eva zuckte hilflos die Schultern.

Es klopfte. Eva schrak zusammen. Himmel! Kam das aus der Kiste? Ah, nein, es war nur an der Tür, das Zimmermädchen meldete, Monsieur Gisbert habe eine Nachricht für sie; sie möchten sich bitte hinunterbemühen.

Der Concierge sah ihnen entgegen. »Ein Franzose war hier und hat sich nach Ihnen erkundigt.«

Eva und Benedict wechselten einen Blick. Yann. Der Teufelskerl hatte sie gefunden.

»Er ist gegangen«, sagte der Concierge und schüttelte sich eine Zigarette aus einem braunen Päckchen. »Ein unangenehmer Mensch mit schauerlicher Redensart. Er meinte, ein Gepäckstück sei doch für Sie eingetroffen. Ich indes erklärte, nichts dergleichen zu wissen. Nun, Gustav hat ihn nach- und eindrücklichst hinausgeworfen.«

Eva spürte, wie Benedict versteifte. Vielleicht war das nur eine Falle, und Yann lauerte hier irgendwo auf eine günstige Gelegenheit. Andererseits, welche Gelegenheit wäre günstiger als diese? Mit Monsieur Gisbert als Komplizen?

»Und das hat er geglaubt?« Benedict runzelte die Stirn.

»Selbstverständlich. Würden Sie meine Worte bezweifeln?« Monsieur Gisbert neigte den Kopf und wirkte trotz seiner Jugend wie ein Geistlicher. Bis er erneut an seiner Zigarette zog. »Ist der Inhalt der Kiste denn zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte er beiläufig.

»Ja. Doch.«

»Also werden Sie imstande sein, die Rechnung zu begleichen?« Er hob die Brauen.

»Gewiss«, sagte Eva.

Der Concierge zog an seiner Zigarette, und nachdem er sie alle in eine dichte Rauchwolke gehüllt hatte, nickte er. »Sagen Sie mir denn, worum es sich handelt?«

»Wenn Sie sich bis morgen gedulden, dann werden wir alles gesichtet haben.«

»Nun gut, ausnahmsweise will ich …« Eine Stimme vom Ende des Korridors unterbrach ihn. »Monsieur Gisbert? Eine Frage zum Menü heute Abend.«

»Entschuldigen Sie, mein Rat ist offenbar in der Küche vonnöten. Was unsere Angelegenheit betrifft, werde ich mich bis morgen gedulden.«

Zurück in der Suite wandte sich Benedict erneut der Kiste zu. Eva beobachtete ihn bei einem weiteren Versuch, den Deckel zu heben.

Ein Geräusch von der Tür ließ sie innehalten. Besorgt drehte sich Eva um. Die Tür stand offen, im Dämmerlicht des Flures erkannte sie nur einen Schemen, der auf der Schwelle verharrte.

»Eva, Chérie! Da bin ich.« Yanns vertrauter bretonischer Zungenschlag. »Du weißt, so leicht gebe ich nicht auf.«

»Yann!«

»Du hast es mir schwer gemacht, euch zu finden. Sehr schwer.«

Erst jetzt nahm Eva wahr, dass der Franzose eine Waffe in der Hand hielt.

»Komm nicht auf dumme Gedanken, Engländer!« Er wedelte mit seiner Pistole, während er eintrat und die Tür hinter sich schloss. »Ah! Da ist ja die Kiste!«

»Du Schurke!«, rief Benedict. »Ich werde meine Schulden schon begleichen; Spielschulden sind Ehrenschulden.«

Yann nickte Benedict zu. »Ich nehme an, durch den Verkauf von Odilons Artefakten? Amüsant, seine Schulden aus der Tasche des Gläubigers zu begleichen. Hat es den kleinen Lord nicht gewundert, dass die Kiste so zufällig im Weg stand? Ich wusste doch, er würde nicht widerstehen können.« Zu Eva gewandt fragte er: »Habt ihr schon die Diamanten in der Statue entdeckt?« Sein Blick streifte die verschlossene Kiste. »Ah, ihr habt sie noch gar nicht geöffnet? Eva, glaubtest du wirklich, Odilon interessierte sich für den alten Krempel? Er schmuggelt Edelsteine auf diese Weise. Als ich es herausfand, wusste ich, das ist der Schlüssel für unser neues Leben. Was hältst du von Amerika?«

Yanns Lächeln verursachte Eva eine Gänsehaut.

»Wir lieben uns schon seit Jahren!«

Benedict starrte Eva ungläubig an. »Was sagt er da? Was hast du mit diesem Kerl zu schaffen?«

»Nichts, Darling!«

Yann trat einen Schritt auf sie zu. »Was soll das, Eva? Du wolltest doch von Odilon weg, warst seine Avancen leid. Gejammert hast du, dass er dich nicht gehen ließe, hast mir ständig in den Ohren gelegen, mit dir zu fliehen.«

Eva wich zurück. »Yann, du warst mir wie ein Bruder, ein vertrauter Freund. Nie habe ich dir Hoffnung gemacht. Ich liebe Benedict. Und jetzt steck die Waffe weg, der Concierge kann jeden Augenblick heraufkommen.«

»Der ist beschäftigt. Aber du hast recht, hier erregen wir Aufmerksamkeit. Also raus hier!« Yann trat zurück, winkte sie zur Tür und drückte Benedict seine Pistole in den Rücken. »Los jetzt, runter in den Park!« Er trieb sie vor sich her den Korridor entlang Richtung Treppe.

Der Concierge! Er würde ihnen helfen. Doch Evas verzweifelte Hoffnung erstarb, die Halle war leer, Monsieur Gisbert offenbar noch in der Küche.

Ungesehen kamen sie in den Park.

»Gehen wir ein paar Schritte«, forderte Yann sie auf und schob Benedict vor sich her einen Pfad entlang, der zwischen den Bäumen verschwand.

Eva blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen. Was konnte sie tun? Sie musste Yann aufhalten … »Yann, bitte! Es hat doch keinen Sinn!«, rief sie verzweifelt.

Benedict stolperte über eine Wurzel, Yann geriet ins Straucheln. »He!«

Eva registrierte, wie Benedict in die Tasche des Jacketts griff und eine Pistole herauszog. Seit wann besaß Benedict eine Waffe …?

Ein Schuss fiel, fast gleichzeitig ein zweiter … Dann war es still.

Eva schlug die Hand vor den Mund und starrte fassungslos auf ihren Mann, der zu ihren Füßen auf dem Boden lag, die Pistole noch in der Hand. Blut quoll aus einem Loch in seiner Brust. Drei Schritte entfernt lag Yann. Sonnenlicht fiel durch die Baumwipfel und legte sich wie eine goldene Decke über die beiden leblosen Körper.

Eine große Leere breitete sich in Eva aus. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie neben Benedict auf die Knie sank. »O mein Gott!«

Was sollte sie jetzt nur tun?

Die wenigen Habseligkeiten hatte sie schnell gepackt. Die Tasche warf Eva aus dem Fenster. Nur gut, dass noch keine weiteren Gäste im Hause waren. Und einen Gärtner hatte Eva auch nicht gesehen. Gute Aussichten, dass so schnell niemand die beiden Leichen entdeckte. Jetzt hieß es nur noch, die Dunkelheit abzuwarten.

Der Concierge war in seine Lektüre vertieft und nickte kurz, als Eva an ihm vorbeiging. »So ein herrliches Wetter! Ich gehe ein wenig spazieren«, informierte sie ihn mit belegter Stimme.

Die Tasche lag noch unter dem Fenster, die beiden reglosen Körper unter der Baumgruppe. Sie konnte die beiden doch unmöglich so zurücklassen. Sollte sie eine Grube ausheben? Unschlüssig sah sie sich um, überall fester Boden, aussichtslos. Aber was war das da? Auf einer Lichtung abseits des Pfades war ein Haufen aus Totholz, Zweigen und Laub aufgeschichtet. Bei ihnen zu Hause wurde das Grün immer verbrannt. Ob das auch hier so war? Einerlei, sie hatte keine andere Wahl.

Anna, das Erste Zimmermädchen, lief rascher, als es in der distinguierten Atmosphäre des Bellevue üblich war, zur Rezeption, auf die das noch blasse Licht der Morgensonne fiel.

»Monsieur Gisbert, die Herrschaften aus der Kaisersuite sind offenbar abgereist!«

Der Concierge zuckte zusammen. Wie sollte er der Direktion erklären, dass er bei einem zwielichtigen Paar eine Ausnahme bei der Bezahlung der Rechnung gemacht und keine Vorkasse verlangt hatte? Aber er bewahrte seine Contenance. »Dann richten Sie die Räume bitte für die neuen Gäste her«, sagte er ruhig zu Anna.

Mit sich selbst hadernd, verließ Monsieur Gisbert die Rezeption, um einige Minuten frische Luft im Park hinter dem Hotel zu atmen. Er zündete sich eine neue Zigarette an und ging ein paar Schritte den Pfad zur Lichtung entlang. Dann kniff er die Augen zusammen. Unter den hohen Bäumen am Ende bemerkte er noch immer den Totholzhaufen von den Gartenarbeiten in der letzten Woche. Anscheinend war er inzwischen deutlich größer geworden. Seltsam. Wie auch immer, er hätte längst verbrannt gehört. Er würde mit dem Gärtner ein ernstes Wort reden müssen.

In der Kaisersuite stand einsam die verlassene Kiste. Der Deckel war verschlossen. Jemand klopfte.

1913 – Vor dem Krieg

Die Stimme aus dem Jenseits

VON SABINE TRINKAUS

Im letzten Moment wich der Chauffeur der Droschke aus, die in halsbrecherischem Tempo aus der Einfahrt zum Bellevue bog. Der Motor erstarb mit einem Röcheln. Der Fahrer – Gustav, so hatte er sich eben vorgestellt, als er Adam Crugherr und seine Gattin Elvira in Köln am Hauptbahnhof abgeholt hatte – stieß einen leisen Fluch aus, wandte dann den Kopf. »Madame, Monsieur, ich bitte um Entschuldigung.«

»Nichts passiert, mein Lieber.« Adam nickte ihm beruhigend zu, während sich seine Gattin Elvira immerhin zu einem schwächlichen Lächeln hinreißen ließ. Seit sie am Morgen in Koblenz in die Eisenbahn gestiegen waren, hatte sie kaum ein Wort verloren. Ein unbeteiligter Beobachter hätte das möglicherweise den Strapazen der Reise angelastet, denn Elvira war von zarter und feinnerviger Konstitution. Adam hingegen wusste es besser. Seine Gattin befand sich seit Wochen im Zustand der latenten Katatonie. Und er, Adam, war am Ende seiner Kraft und Weisheit. Dabei war es eben jene nervöse Empfindsamkeit, die ihn einst so zu ihr hingezogen hatte. Wie eine delikate Lichtgestalt war sie ihm erschienen, Elvira, ehemals noch Comtesse von Beisenstein. So exotisch, zart und flirrend, so ganz anders als alle Frauen, die er vor ihr getroffen hatte, dort in der rheinischen Provinz, in der er als wohlhabender Erbe eines florierenden Brauereibetriebs durchaus als gute Partie gegolten hatte. Er hatte sein Glück kaum fassen können, als sich Elvira bereit erklärt hatte, die nächste Frau Crugherr zu werden. Und er hatte sich und ihr geschworen, sie zur glücklichsten Frau der Welt zu machen.

Während Gustav den Motor wieder zum Leben erweckte und in gemessenem Tempo die Auffahrt zum Bellevue hinaufrollte, musterte Adam seine Gattin heimlich. Das Sonnenlicht, das durchs Wagenfenster fiel, ließ ihr weißes Madonnengesicht fast durchsichtig erscheinen. Zarte blaue Äderchen schimmerten an ihren Schläfen; die übergroßen, traurigen Augen glänzten fiebrig. Ein leiser Seufzer entrang sich seiner Brust.

Gustav bremste erneut, wieder ein wenig zu abrupt, diesmal, um eine Kollision mit zwei Fahrrädern zu verhindern, auf die sich ein junges Paar vor dem prächtigen Portal just schwang, um fröhlich klingelnd in Richtung Park zu verschwinden. Gustav verbot sich jeden Anflug von Neid angesichts dieser Lebensfreude und Vitalität. Er konzentrierte sich lieber auf den livrierten Herren, der nun den Wagenschlag öffnete und Elvira aus dem Sitz half, bevor er beflissen um das Automobil herumeilte, um auch Adam beim Aussteigen behilflich zu sein. Dann warf er Gustav, der sich aus seinem Fahrersitz geschält hatte und nun wohlig die langen Storchenbeine reckte, einen tadelnden Blick zu. »Parbleu!«, zischte er. »Diese Fingernägel, dégoûtant! Und dieser Fleck, Gustav, wie oft habe ich dir gesagt, dass du diesen furchtbaren Fleck entfernen lassen musst, bevor du unsere Gäste …«

Eine sonore Stimme übertönte sein Schimpfen. »Adam, mon cher ami!« Monsieur Gisbert kam mit ausgebreiteten Armen die breite Freitreppe hinunter. »Wie lange ist das her?«

Lange, dachte Adam, während er sich von Gisbert umarmen und kräftig auf den Rücken klopfen ließ. Sehr lange, und doch war Gisbert ein Grund, dass Adam das Bellevue gewählt hatte. Sie kannten sich eigentlich eher flüchtig, waren sich in einer Zeit begegnet, in der sie beide noch grün hinter den Ohren gewesen waren. Aber Gisbert hatte einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Man traf schließlich nicht alle Tage einen so vortrefflichen Mann, feinsinnig und gebildet, der schon in jungen Jahren fließend in mehreren Sprachen zu parlieren vermochte, außerordentlich musikalisch war und dessen Talente und Klugheit zudem von Herzenswärme und einem trefflichen Humor aufs Feinste ergänzt wurden. Ja, wenn es irgendjemanden gab, den Adam bei der heiklen Mission, in der er unterwegs war, gern in seiner Nähe wissen wollte, dann war es Gisbert, an den der Livrierte, der eben Gustav gescholten hatte, nun ein tadelndes Zungenschnalzen richtete.

Gisbert schlug sich in gespielter Verzweiflung die Hand vor die Stirn. »Mein braver Mathis, du hast völlig recht!«, rief er aus. »Wo bleiben nur meine Manieren?« Er wandte sich an Elvira, die wie eine Marmorstatue dastand und mit somnambulem Blick an der prächtigen Hotelfassade hochsah, auf deren Zinne sich eben ein Rabe niederließ. »Pardonnez-moi