Zimt − Zwischen den Welten geküsst - Dagmar Bach - E-Book
SONDERANGEBOT

Zimt − Zwischen den Welten geküsst E-Book

Dagmar Bach

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die zweite Staffel der beliebten Bestseller-Serie geht weiter! Hilfe, ich habe eine Schwester! Vicky traut ihren Augen kaum, als sie wieder in einer ganz neuen Parallelwelt landet. Wann wird sie sich endlich an diese verflixten Weltensprünge gewöhnen? Und wann werden die mal nicht in ein sagenhaftes Schlamassel ausarten? Denn genau in dem finden sich Vicky und ihr Freund Konstantin wieder, als ihre Parallelversionen sich daran machen, ihre Liebe und ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen. Dabei hätte Vicky allein in ihrer eigenen Welt alle Hände voll zu tun! Mum will sich zur Bürgermeisterin aufstellen lassen, und ihre beste Freundin Pauline benimmt sich extrem merkwürdig. Doch in dem ganzen Weltendurcheinander merkt Vicky nicht, dass ihnen ein gefährlicher Widersacher dicht auf der Spur ist … Zimtschneckenduft, Parallelwelten und eine spannende Jagd – das neue Abenteuer für Vicky und Konstantin, das süßeste Pärchen der Jugendbuchgeschichte, ist noch nicht zu Ende: Fortsetzung folgt! Du kennst die bisherigen Bücher nicht? Macht nichts, die Bände sind auch unabhängig voneinander lesbar!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 391

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dagmar Bach

Zimt

Zwischen den Welten geküsst

Teil zwei

 

 

Über dieses Buch

 

 

Meine vertauschten Welten

Hilfe! Großeltern, die sich als kommende YouTube-Stars sehen, sind ja schon eine echte Herausforderung. Aber in eine Parallelwelt zu springen, in der man von jetzt auf gleich eine ältere Schwester hat – das ist eine ganz andere Nummer! Selbst mein Freund Konstantin, sonst ganz der Typ cooler Weltenspringer, ist diesmal überfordert. Und so übersehen wir leider Warnsignale in der echten Welt. Warum ist meine liebste Pauline plötzlich so merkwürdig abwesend? Und warum träume ich mit einem Mal so schlecht? Als ich begreife, was dahinter steckt, ist es fast zu spät. Und Konstantin und ich schweben in echter Gefahr …

Dagmar Bachs erfolgreiche Serie geht in die nächste Runde – zuckersüß und spannend!

 

Alle Bände der Zimt-Serie:

 

Staffel I

Band 1: Zimt und weg

Band 2: Zimt und zurück

Band 3: Zimt und ewig

Sequel: Zimt und verwünscht

 

Staffel II

Band 1: Zimt – Auf den ersten Sprung verliebt

Band 2: Zimt – Zwischen den Welten geküsst

Band 3: Zimt – Für immer von Magie berührt (Sommer 2023)

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

© Hermann Köpf

Dagmar Bach, geboren 1978, liebt Harmonie und heißen Tee und hat schon als Innenarchitektin dafür gesorgt, dass sich die Menschen um sie rundherum wohlfühlen. Zu ihren eigenen Lieblingsorten gehören ihre Geschichten, die sie seit einigen Jahren aufs Papier bringt. Ihr Debüt Zimt & weg erschien 2016 und wurde auf Anhieb ein »Dein SPIEGEL«-Bestsellererfolg. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in München. Mehr über die Autorin auf www.dagmarbach.de oder auf Instagram: @dagmarbach

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Für alle großen und kleinen Geschwister da draußenn –

und ganz besonders für meine Schwester Silke

Prolog

Parallelwelt

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er seinen Arm ein bisschen weiter streckte und hinter dem Regalbrett tastete. Er zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen, ehe er sich noch einmal auf die Zehenspitzen stellte, den Staub, der ihn in der Nase kitzelte, ignorierte und schließlich etwas zu fassen bekam.

Da war es. Endlich!

Mit spitzen Fingern zog er seine Beute zu sich, und am liebsten hätte er laut losgejubelt, besann sich aber eines Besseren.

Er war gut – so gut.

Gestern, in seinem Versteck unter dem Fenster von Pollys und Franks Haus, hatte er alles gehört. Alles, was er wissen musste.

Damit war ihr Schicksal besiegelt.

Sie waren so dumm! Sie dachten tatsächlich, sie wären jetzt für immer in Sicherheit? Dachten, dass ihnen, weil die Unterlagen sicher verschlossen waren, niemand mehr schaden konnte?Oh, wie sie sich irrten.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Aber so war es ohnehin viel besser.

Denn würde das nicht eine wunderbare Überraschung geben?

1.

Entsetzt schnappte ich nach Luft. Da schlich jemand um die Ecke der Garage und stieg über den Gartenzaun! Ein Mann, wie es schien, von Kopf bis Fuß schwarz angezogen, er verschmolz direkt mit der aufziehenden Nacht. Er wollte ganz offensichtlich nicht gesehen werden, doch ich wusste genau, dass er da war. In gebückter Haltung schob er sich durch den Garten, vorbei am Frühbeet und den Sträuchern neben der Terrasse, bis er im Schutz der Hauswand aus meinem Blick verschwand.

Mein Mund war staubtrocken, als ich wisperte: »Dad, da … da ist irgendein Typ.«

Mein Vater war gerade mit einer frischen Tasse Tee ins Wohnzimmer hereingekommen. »Was denn für ein Typ?«

»Einer, der ums Haus schleicht«, hauchte ich entsetzt.

Dad stutzte und sah sich um. »Wo?«

Ich schluckte und deutete nach vorne. »Na, da.«

Mum lachte leise, als sie sich auf der Couch zurücklehnte. »Ach, Vicky, du bist ein kleiner Angsthase. Noch nicht mal ich war so zartbesaitet mit fünfzehn.«

»Aber schaut doch mal, da … O Gott, was macht er da? Will der jetzt einbrechen?«

Mein Dad lehnte sich zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich in aller Seelenruhe neben meine Mutter auf das Sofa setzte.

»Ist das alles, was ich verpasst habe?«

Ich schluckte. »Gleich passiert es«, murmelte ich und starrte weiter wie gebannt auf den Typen in Schwarz – auf unserem Fernseher.

Es war Sonntagabend, und es lief Tatort, den wir seit Wochen nicht mehr gemeinsam gesehen hatten, weil ständig etwas los war. Erst jetzt, eine Woche nach Tante Pollys und Franks Hochzeit, hatte sich der Trubel etwas beruhigt. Aber Dad würde morgen schon wieder zu einer einwöchigen Geschäftsreise aufbrechen müssen, und deswegen wollten wir den Abend unbedingt zu dritt verbringen und unserer liebgewonnenen Tradition nachkommen – dem Krimiabend zum Wochenausklang.

Auch wenn der so rein gar nichts für meine Nerven war.

»Vicky, wenn du dich jetzt schon so aufregst, dann schaffst du den Abend nicht. Der Tatort läuft ja gerade mal fünf Minuten.«

»Die ersten Minuten sind immer die schlimmsten«, murmelte ich.

Weil da nämlich fast immer das Massaker passierte, die Leiche gefunden oder überhaupt erst gemeuchelt wurde, ehe die Kommissare das erste Mal zum Einsatz kamen.

Ach, vielleicht hätte ich lieber zum Traumschiff schalten sollen, hoffentlich würde ich in der Nacht schlafen können.

Doch Dad liebte den Tatort, und ich liebte meinen Dad.

»Sagt mir nachher Bescheid, wer gewonnen hat«, murmelte Mum, ehe sie sich in die karierte Merinowolldecke einwickelte und sich an Dads Seite kuschelte, der sofort schützend einen Arm um sie legte.

Dad grinste und deutete auf den Fernseher. »Zumindest dieser Typ da im Haus gewinnt nicht. Der ist nämlich gleich die Leiche, wetten?«

Ich grunzte nur. Gegen meinen Dad zu wetten versprach in etwa so viele Erfolgschancen wie der Versuch, meine Großeltern davon zu überzeugen, dass nicht jeder Mensch auf Erden gerne Schlager hörte.

Trotzdem unternahm ich einen halbherzigen Versuch. »Klar, der Schleicher ist niemals der Täter. Das wäre zu auffällig. Aber dieser andere Typ da, der eben mit seinem Mops spazieren gegangen ist, der könnte es sein.«

Dad richtete sich kerzengerade auf und runzelte die Stirn. »Welcher andere Typ?«

»Na, der, den du eben verpasst hast, als du deinen Tee geholt hast.«

Mein Vater murmelte einen seltenen Fluch, und ich kicherte in mich hinein. Wenn ich schon schlecht im Fällelösen war, konnte ich ihn zumindest prima auf die falsche Fährte locken.

»Dieser Mann mit dem Mops, was hat der genau gemacht?«, fragte Dad in seinem besten Anwaltsbefragungston, doch ich klappte demonstrativ den Mund zu.

»Ich sag nix. Ich kann schließlich nichts dafür, wenn du schon am Anfang schlampig ermittelst und den Fall nicht ernst nimmst.«

Unter Mums Decke hörte ich es leise lachen, und Dad nahm seinen Schreibblock zur Hand, den er immer griffbereit hatte.

»Tochter bekommt ab sofort weniger Taschengeld«, murmelte er, während er darauf herumkritzelte, als plötzlich dramatische Musik aus dem Fernseher drang.

Dann noch ein Paukenschlag – zack! –, es spritzte Blut, und der Mann von eben lief durch den Garten wieder in die Nacht, ehe die Kamera ausblendete.

»Jetzt hab ich nicht gesehen, wen er erwischt hat!«, beschwerte ich mich, und diesmal war es Dad, der feixte.

»Nicht aufgepasst, was?«

Ich wollte gerade nach dem Kissen hinter mir greifen und es auf ihn werfen, als mich der Zimtschneckenduft erfasste.

Und dann verschwand ich aus meinem Körper.

 

Zuerst fiel mir die Musik auf – eine Schnulze von Ed Sheeran – und dann etwas, wovon ich nie genug bekommen konnte: Ich fand mich eng umschlungen mit Konstantin wieder.

Doch diesmal hatte ich mein Gesicht nicht wie in letzter Zeit an seine Brust oder in seine Halsbeuge geschmiegt – oder meine Lippen auf seine gedrückt –, sondern: Wir tanzten. Meine Arme lagen locker um seinen Hals, während er mich sanft zu den Gitarrenklängen wiegte. Und obwohl er kein großer Tänzer war, hörte er selbst dann nicht auf damit, als uns beiden klarwurde, dass wir gesprungen waren. Er hob nur kurz die Augenbrauen und zwinkerte mir zu, um dann in einer kleinen Kopfbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu schütteln.

Seine Haare sahen exakt so aus wie … Moment mal – war das etwa immer noch die Parallelwelt, in die wir nun schon seit fünf Wochen sprangen?

Ich unterdrückte ein Stöhnen.

O nein, nicht schon wieder! Ich hatte so gehofft, dass die Sprünge in diese Welt endlich ein Ende hatten, wie das normalerweise immer war, wenn wir dort unsere Aufgabe erledigt hatten. Aber vermutlich dachte ich zu simpel.

Immerhin war die Logik der Parallelweltsprünge ja keine exakte Wissenschaft, sondern wir selbst hatten uns das aus dem, was Konstantin und mir in all den anderen Abenteuern so passiert war, zusammengereimt.

»Schnitt!«, brüllte da plötzlich jemand, und Konstantin und ich hüpften so erschrocken auseinander, dass ich wild mit den Armen ruderte und gerade noch verhindern konnte, auf meinen Allerwertesten zu fallen.

»Ich dachte, ihr wolltet tanzen und schmachten und nicht komische Gesichter ziehen. Jetzt können wir wieder von vorne anfangen. Aber egal, ich gehe spätestens um zehn nach Hause.«

Ein dunkelhaariges, vielleicht achtzehnjähriges Mädchen war neben uns aufgetaucht und funkelte Konstantin und mich abwechselnd so böse an, dass ich dachte, wir müssten beide gleich zu Staub zerfallen.

»Ehrlich, das ist so anstrengend mit euch! Erst sagt ihr, ihr wisst genau, was ihr wollt, und dann so was!«

»Janine, lass uns doch einfach ’ne kurze Pause machen«, sagte da ein Typ, den ich leider nicht erkennen konnte, denn er stand hinter einem Scheinwerfer, der auf Konstantin und mich gerichtet war und uns direkt ins Gesicht strahlte.

Wo waren wir hier eigentlich genau? Und was taten wir?

Ich trat ein Schritt zurück aus dem Rampenlicht und erkannte, dass wir uns im Garten des Hauses meiner Eltern befanden, genauer gesagt, in dem kleinen Pavillon im hinteren Bereich. Und trotzdem sah es anders aus als sonst:

Um uns herum war alles überbordend dekoriert. Mit Ballons, Wimpelketten und Fähnchen in den Bäumen, jeder Menge Laternen und Fackeln überall, Tische mit pastellfarbenen, flatternden Tischdecken und ganz viel anderem Dekofirlefanz.

Und – Leute. Überall standen Leute herum, und ein paar von ihnen kannte ich.

Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, wir wären mitten auf einer Hochzeit gelandet.

Und dass Konstantin und ich auf dieser Hochzeit eine … ziemlich zentrale Rolle spielten.

Gruselig!

Konstantin hatte genau wie ich seinen Blick schweifen lassen, ehe er langsam erwiderte: »Pause klingt gut. Gebt uns einen Moment, und dann machen wir gleich weiter.« Seine Stimme verriet nicht im Geringsten, dass die Situation ihn genauso überraschte wie mich.

Janine – ich hatte sie vorher noch nie in meinem Leben gesehen – wandte sich schnaubend ab.

»Na schön. Zehn Minuten. Aber dann ziehen wir den Rest durch.«

»Geht klar«, brachte ich hervor und blickte ihr nach, wie sie auf dem Absatz kehrtmachte und zu einem kleinen Tisch im Garten ging, auf dem einiges an Equipment stand. Die Kamera, die sie in der Hand gehalten hatte, bemerkte ich erst jetzt. Janine verband das Gerät per Kabel mit dem Laptop auf dem Tisch und fing an, hektisch auf der Tastatur herumzutippen. Der Typ, der die Pause vorgeschlagen hatte, machte sich daran, die Strahler – es waren mehrere, wie ich erst jetzt entsetzt registrierte – umzustellen und zu dimmen, damit sie uns nicht mehr so blendeten.

»Hey, wenn der Schnulzenkönig noch länger so herumflennt, dann werde ich jedem davon abraten, eure Shirts zu kaufen, egal wie viele Reels ihr dazu auf Insta postet«, grölte plötzlich irgendjemand jenseits der Scheinwerfer.

Neben mir hörte ich Konstantin nach Luft schnappen, und auch bei mir setzten sich die Puzzleteile im Kopf zusammen, als mein Blick von Konstantins Gesicht zu seiner Brust wanderte.

Er trug ein hellgraues Sweatshirt, und mitten auf seiner Brust prangte ein aufgesticktes, schnörkeliges Herz, in dem sich zwei verschlungene Buchstaben – nun ja, verschlangen.

V&K. Forever.

Natürlich! Unsere Parallel-Ichs bildeten dieses schreckliche Partnerlook-Pärchen, das eine gemeinsame T-Shirt-Kollektion auf die Beine stellen wollte. Und offenbar fand hier gerade ein Shooting für Marketingzwecke statt!

Wie schrecklich. Und nur geringfügig besser als eine Hochzeit.

Während Konstantin und ich noch jeder für sich die neue Situation zu verarbeiten versuchten, war neben mir wie aus dem Nichts Pauline aufgetaucht. Also, die Parallelversion von ihr natürlich.

»Ganz ehrlich, Vicky – ich weiß nicht, ob ich euch bewundern oder mich für euch fremdschämen soll.«

»Beides ist okay, glaube ich.«

Sie lachte und hakte sich bei mir ein. »Sag mal, die Szenen mit den Statisten sind doch eigentlich abgedreht, oder? Nikolas meckert die ganze Zeit, dass er keine Lust mehr hat, und meine Füße sind auch schon ganz erfroren.«

Pauline trug wie wir ein Shirt aus der V&K-Kollektion, allerdings erstreckte sich das riesige Herz über die komplette Vorderseite ihres Pullis. Darunter hatte sie Shorts und Sandalen an.

Sie wackelte mit den Zehen und sagte: »Anfang Mai ist für dieses Beachfeeling eindeutig zu kalt.«

Da hatte sie so was von recht! Was dachten sich denn unsere Parallelversionen? »Ich werde sehen, dass ihr … bald erlöst seid«, sagte ich.

Und ich hoffentlich gleich mit. Wie gerne würde ich am liebsten sofort wieder zurück in meine eigene Welt springen. Ich würde sogar den blutigsten aller blutigen Tatorte dafür auf mich nehmen.

Doch wann wir wie lange und in welche Parallelwelt sprangen, das konnten weder Konstantin noch ich uns aussuchen. Wir mussten unser Leben und die Sprünge nehmen, wie sie kamen, und dieser Sprung heute Abend war einer der peinlichsten seit … seit mindestens einer Woche.

Warum mussten unsere anderen beiden Versionen eigentlich so verdammt geschäftstüchtig sein? Im Dämmerlicht entdeckte ich jetzt bestimmt zehn Leute aus meiner und Konstantins Klasse, die das gleiche Outfit wie wir trugen und die wir offenbar gezwungen hatten, Teil unserer Kampagne zu sein. Ach, war das schrecklich.

»Oh, seid ihr schon fertig?« Meine Mum war gerade aus der Terrassentür getreten, in beiden Händen balancierte sie einen großen Topf, eine Schöpfkelle und einen Untersetzer für den Tisch. »Also, wie viele von euch wollten jetzt heiße Suppe?« Ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge, und keine zehn Sekunden später hatten sich alle um meine Mutter geschart.

»Vicky, holst du noch die Schüsseln, hab sie in der Küche schon rausgestellt.«

Ich warf Konstantin einen schnellen Blick zu, und als er leicht nickte – was bedeutete, dass er die Situation im Griff hatte –, flitzte ich kurz ins Haus, das ich zum Glück auch aus meiner Welt gut kannte, und kam mit dem vollgepackten Tablett wieder heraus.

»Wenn es bei euch nicht immer so gutes Essen geben würde, wäre ich schon längst weg«, nuschelte Xaver aus meiner Klasse, als er sich eine Suppenschale nahm und von meiner Parallel-Mum bis zum Rand auffüllen ließ. »Und ich hoffe, ihr habt nicht vergessen, dass man mein Gesicht nachher nicht erkennen darf. Ich will nur unscharfer Hintergrund sein!«

»Wenigstens sind die Pullis schön kuschlig«, warf Yoko ein, ehe sie sich einen Löffel Suppe in den Mund schob. »Aber gibt’s die eigentlich auch ohne Logo?«

»Ich glaube, das ist nicht der Sinn der Sache«, meinte Pauline, die jetzt ebenfalls vor Kälte hüpfend an die Suppe wollte.

Die Meinung teilte ich, nur konnte ich ja schlecht meinem anderen Ich das Geschäft kaputt machen. Deshalb lächelte ich unverbindlich und sah mich suchend im Garten um.

Normalerweise war es immer superspannend, bei einem Parallelweltsprung Zeit mit meiner anderen Familie zu verbringen, aber da ich in den letzten Wochen gefühlt fünfzigmal hier gewesen war, hatte das gerade keine Priorität. Denn diese Welt beinhaltete eine Gefahr, die uns vor ganz neue Probleme stellte. Hier gab es einen Mitschüler von uns, der ein falsches Spiel spielte. Finn. Finn, der unser Geheimnis rund um die Parallelweltsprünge kannte. Und der gedroht hatte, die Macht zu besitzen, uns für immer in dieser Welt festzuhalten. Eigentlich waren wir überzeugt gewesen, wir hätten ihn besiegt, aber vielleicht war das gar nicht der Fall? Vielleicht sprangen wir seinetwegen immer wieder hierher? Unter den Anwesenden im Garten schien er jedenfalls nicht zu sein, wie ich mit einem leichten Aufatmen feststellte.

»Kommt mal rüber, ihr beiden!«, herrschte uns Janine von ihrem Laptop-Tisch aus an und riss mich aus meinen Gedanken.

Wo hatten wir denn dieses sympathische Exemplar aufgetrieben? Konnte die nicht mal bitte sagen?

Aber egal, natürlich taten wir, was sie von uns verlangte. Schließlich konnten wir ihr nicht entgegnen, dass sie lieber auf unsere Parallelversionen warten sollte.

Janine scrollte auf dem Laptop durch die Aufnahmen, die sie bereits von uns gemacht hatte, und ich schaute ihr über die Schulter zu.

Konstantin und ich hatten in dieser Welt beide längere Haare als zu Hause, die von der anderen Vicky, in deren Körper ich gerade steckte, reichten sogar fast bis zur Taille. An diesem Abend fielen sie ihr in wunderschönen glänzenden Wellen über den Rücken, dafür durfte ich mich sicher bei Mum hier bedanken. Auf den Bildern vor uns auf dem Monitor sah es wirklich super aus, genau wie mein Freund, der …

Mir gelang es nur schwer, ein Seufzen zu unterdrücken, denn als Janine weiterblätterte, dachte ich kurzzeitig, dass Konstantin zehnmal cooler war als ich. Und mit dieser professionellen Beleuchtung konnte man meinen, dass er in seiner Freizeit modelte und nicht wahlweise im Skaterpark oder im Computerclub rumhing.

Aber wie gesagt, mein anderes Ich kam nicht so schlecht rüber. Die Haare machten da natürlich ganz viel aus, und dieser Blickn –

»Schmachte ich dich zu Hause auch immer so an?«, flüsterte ich Konstantin so leise ins Ohr, dass die anderen uns nicht hören konnten.

Konstantin verzog das Gesicht. »Keine Ahnung, ich finde, du –«

»O Gott!«, entfuhr es mir da.

Janine war zusammengezuckt und warf mir über die Schulter einen bösen Blick zu. »Ist was?«

»Da, auf dem Bild, da … da küssen wir uns ja.«

»Was du nicht sagst«, murmelte sie düster.

»Ja, aber –«

»Ihr habt das so gewollt, schon vergessen?«

»Aber da küssen wir uns – mit Zunge!«, brachte ich mühsam hervor. Nicht, dass mich die Tatsache an sich aus der Fassung brachte, natürlich küssten Konstantin und ich uns so, nur dass man das auf diesen Bildern so überdeutlich sah …

»Die Bilder müssen wir ja nicht nehmen«, sagte Konstantin, doch er schien nicht halb so schockiert zu sein wie ich. Im Gegenteil, er stand mit schief gelegtem Kopf da und betrachtete mit wachsendem Interesse, was Janine über den Bildschirm laufen ließ, während ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.

Diese beiden hier schienen sich wirklich wieder vertragen zu haben nach ihrer Trennung letzte Woche. Sie sahen ziemlich innig aus, wie sie sich in den Armen lagen, und ihre Lippen schienen förmlich aneinanderzukleben, und, tja, ihre Zungen …

»Wollten die, äh, wir nur Kussbilder?«, fragte ich leise, und statt Konstantin antwortete Janine.

»Pullis und Küsse, das war eure Ansage. Und wenn ihr euch eben nicht so angestellt hättet, wäre das Intro für eure Website und der Imagefilm für Insta und YouTube schon fertig. Aber das musstet ihr ja verpatzen«, schob sie gehässig hinterher, als ob wir es immer noch nicht kapiert hätten, dass sie tierisch genervt war.

»’tschuldigung«, murmelte ich automatisch und sah auf die Bildschirmuhr.

Kurz vor neun Uhr abends. Unser Absprung war direkt nach dem Tatort-Mord erfolgt, also etwa um halb neun. Damit waren wir schon sehr viel länger in dieser Welt als bei den letzten Sprüngen, die teilweise nur Sekunden gedauert hatten.

Beherzt griff ich nach Konstantins Hand und zog ihn vom Tisch weg. »Wir sind in fünf Minuten wieder da, dann können wir weitermachen.«

Nur widerwillig löste mein Freund seinen Blick vom Monitor und folgte mir ein paar Schritte in Richtung Hecke, wo wir ungestört reden konnten.

»Wir sehen hier echt super aus.« Er grinste, als ich ihm einen Seitenblick zuwarf, und zwinkerte mir zu. »Da wird mir selber gleich ganz warm ums Herz, wenn ich die Bilder sehe.«

Mir war auch gerade ziemlich warm geworden, aber die Steilvorlage würde ich ihm jetzt nicht geben.

Stattdessen murmelte ich: »Denk dran, wir sind nicht in Sicherheit.« Die Szenerie wirkte zwar friedlich, doch immerhin gab es in dieser Welt diesen anderen Finn.

Parallel-Finn hatte mit Vicky ein fieses Spiel gespielt, und fast zu spät hatten wir bemerkt, was er vorhatte: umfangreiche Forschungsunterlagen sowie die Quelle dazu von meiner Tante Polly klauen, womit er noch mehr Unfug hätte anstellen können. Uns in dieser Welt festhalten oder selber in andere Welten springen, zum Beispiel.

Aber Konstantin und ich hatten Schlimmeres verhindert, weil wir es geschafft hatten, die verschwundenen Unterlagen wieder zurück zu Polly und ihrem Mann Frank zu bringen. Und die hatten sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen.

Genau das allerdings war so verwirrend.

»Wenn wir Parallel-Finn wirklich das Handwerk gelegt haben, warum springen wir dann noch hierher?«, wisperte ich. »Ist vielleicht inzwischen etwas mit den Unterlagen passiert?«

Konstantin wurde eine Spur blasser. »Ich denke nicht, trotzdem sollten wir lieber sichergehen«, sagte er leise. »Ruf deine Tante an.«

Gute Idee! Schon hatte ich das Handy meines Parallel-Ichs in der Hand, und gleich darauf war Polly am Telefon. Ich erklärte ihr schnell, mit wem sie es zu tun hatte. »Sind die Sachen in Sicherheit?«, wisperte ich ins Handy, und Konstantin beugte seinen Kopf zu mir, damit er die Antwort meiner Tante hören konnte.

»Unsere Weltenspringer-Forschungen? Aber selbstverständlich!«, sagte sie sofort, und Konstantin und ich stießen gleichzeitig die Luft aus, die wir angehalten hatten.

»Und DasRätsel von Bertram auch?« Das war die alte Quelle, getarnt als nichtssagendes Taschenbuch, auf die Polly und Frank während ihrer Schulzeit zufällig gestoßen waren und auf der all ihre Erkenntnisse überhaupt beruhten.

»Keine Sorge! Alles schlummert in unserem Bankschließfach, und zwar doppelt gesichert. Wir haben den Bertram und unsere Unterlagen in einen Umschlag gesteckt, auf dem Testament steht.«

»Dann dürft ihr jetzt bitte niemals sterben, denn sonst ist das das Erste, was jemand aus eurem Fach herausholt.«

»Ach, keine Sorge, Frank und ich sind topfit, ehrlich gesagt, fühlen wir uns gerade wie sechzehn, also, ich muss ja sagen, ab vierzig wird das alles ja wieder ganz schön intensiv, vor allem sexuell gesehen, neulich haben Frank und ich –«

»Alles klar, schon kapiert«, sagte ich schnell. Das Intimleben von engen Verwandten war nichts, was ich mit genau diesen Leuten diskutieren wollte, auf gar keinen Fall.

»Wollt ihr vorbeikommen, wenn ihr schon mal da seid? Ihr stört überhaupt nicht!«, sagte Polly schnell, doch ich schüttelte den Kopf, obwohl sie das ja nicht sehen konnte.

»Wir können hier nicht weg, die beiden … also, sie veranstalten so eine … Sache.«

»Ach herrje, das hattest du mir ja erzählt! Eure Happy Together-Party, ist das zu fassen? Sind diese beiden nicht einfach zu komisch? Wir lachen hier auch immer viel.«

»Sehr komisch«, murmelte ich, und Polly gluckste.

»Jedenfalls sind die beiden sehr glücklich. Sie haben sich an meinem Küchentisch vertragen, nachdem ihr letztes Wochenende zurückgesprungen seid. Ach, es war süß, mit anzusehen, wie sie sich wieder zusammengerauft haben, wobei ich natürlich ein bisschen nachgeholfen habe, mit diesem speziellen Tee, den solltet ihr –«

»Vicky! Konstantin!«

Der Typ mit der Baseballkappe war ein Stück vor uns aufgetaucht und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Wir müssten weitermachen, Janine wird, äh … langsam ungeduldig.«

»Wir kommen«, sagte ich und raunte Tante Polly noch einen Abschiedsgruß zu, ehe ich das Handy wieder in die Tasche meiner Jeans schob.

Konstantin nahm meine Hand, und zusammen folgten wir Janines Regieassistenten. »Müssen wir jetzt wirklich mit diesem Shooting weitermachen?«, meckerte mein Freund leise in meine Richtung. »Die haben doch schon so viele coole Bilder.«

»Du fandest die Kussbilder cool?«

Er grinste ein wenig ertappt. »Ich wäre zwar selbst nie auf die Idee gekommen, aber … na ja. Schon irgendwie. Wenn ich die Bilder anschaue, will ich dich wieder küssen.«

»Vor Publikum?« Ich stolperte beinahe über meine eigenen Füße.

»Nein, natürlich nicht.«

»Tja, genau das steht uns wohl jetzt bevor.«

Konstantin drückte meine Hand. »Wir haben schon ganz andere Dinge geschafft.«

Und da hatte er recht. Wenn man diese ganze Weltenspringerei betrachtete – und alleine den Ärger, den wir mit Parallel-Finn gehabt hatten –, waren ein paar Fotos, bei denen wir uns küssten, vielleicht nicht das Allerschlimmste. Trotzdem war ich eher der private Typ.

Doch Janine ließ uns keine Wahl. Sie hatte die Kamera bereits auf einem Stativ befestigt, der Junge mit der Kappe schob die Softboxen nach ihren Anweisungen hin und her, und mitten im Pavillon, unter einer pink-lilafarbenen Girlande mit der Aufschrift Happy Together, war ein kleines Kreuz aus Klebeband auf den Boden geklebt.

»Stellt euch genau da hin, und dann fangen wir noch mal an.«

Konstantin nickte, zog mich hinter sich her und bugsierte uns beide auf die richtige Stelle. »Wir tanzen und küssen uns dann, oder?«

Ich konnte praktisch hören, wie Janine mit den Augen rollte. »Genau.«

»Wenn das ein Video wird, wird doch später sicher eine andere Tonspur drübergelegt, oder?«

»Ja, genau.« Jetzt klang sie wenigstens nicht mehr so pampig.

»Dann dürfen Vicky und ich zwischendrin leise miteinander flüstern? Das käme sicher gut rüber auf dem Film.«

Er schloss seine Arme um mich, und ich ließ mich von ihm an seine Brust ziehen. Dabei merkte ich selbst, wie ich mich verkrampfte. Ich war es weiß Gott nicht gewohnt, im Scheinwerferlicht zu stehen. Als ich mich noch einmal umsah, bemerkte ich zwar, dass die Statisten – unsere Freunde – mittlerweile alle eingewickelt in Decken auf unserer Terrasse saßen, Tee tranken und sich nicht um uns kümmerten. Aber trotzdem.

»Keine Angst, Vicky«, sagte Konstantin, als jemand wieder die Musik anstellte. »Ich bin ja bei dir.«

Ich seufzte und lehnte meinen Kopf kurz an seine Schulter, als Zeichen, wie dankbar ich ihm war.

»Pass auf, wir machen ein Spiel: Wir tun so, als ob hier keiner außer uns wäre. Als ob wir ganz alleine wären.«

Ich nickte langsam. »Okay. Und wo sind wir?«

»Nicht in dieser Parallelwelt, sondern zu Hause.« Langsam begann er, sich zu bewegen, aber es war kein echtes Tanzen, sondern nur ein sanftes Wiegen, was mir sehr entgegenkam. Ich hätte mich in dieser Situation vermutlich an keinen einzigen Tanzschritt mehr erinnert, den ich mal gelernt hatte.

»Stell dir einfach vor, wir beide stehen … irgendwo. Ganz allein, wo sonst niemand hinkommt.«

»Auf dem Zehnmeterturm«, sagte ich prompt, und weil wir uns so nah waren, spürte ich Konstantins Grinsen an meiner Wange.

»Ja, genau. Wie damals, weißt du noch?«

Wie könnte ich das vergessen? Als Konstantin und ich vor einer gefühlten Ewigkeit gemeinsam vom Zehnmeterturm gesprungen waren, Hand in Hand, war das der Anfang gewesen. Da hatte ich mich in ihn verliebt, spätestens. Und ihm war es genauso gegangen, wie er mir erzählt hatte.

»Okay, wir stehen also ganz oben.«

»Hm. Und was machen wir da?«, fragte ich ihn, und Konstantins Hand strich sanft meinen Rücken hinauf und wieder hinunter.

»Wir schmachten uns an.«

Ich schnaubte empört. »Ich schmachte nicht.«

»Aber ich. Manchmal, wenn ich glaube, du siehst es nicht.«

Mein Herz hüpfte, als er das sagte, trotzdem gab ich mich cool.

»Ist mir noch nie aufgefallen.«

Ich spürte sein Lächeln eher, als dass ich es sah. »Und mein anderes Ich macht es auch. Die Fotos eben lassen keinen Zweifel zu.«

Ja, da hatte er recht. »Die beiden müssen echt verliebt sein.«

Konstantin hob den Kopf ein winziges Stück, um mir in die Augen zu sehen. »Verliebter als wir?«

Ich erwiderte seinen Blick und versank beinahe in seinen Augen, die in der Abenddämmerung so blau wie der Nachthimmel wirkten. »Keine Ahnung.«

»Ich glaub nämlich, das geht gar nicht«, murmelte er, und bei diesen Worten hielt ich es nicht länger aus. Mit beiden Händen umfasste ich sein Gesicht, zog seinen Kopf zu mir herunter und küsste ihn.

Und plötzlich war es, als ob wir tatsächlich ganz alleine auf der Welt waren. Ich blendete alles um mich herum aus – die Leute, die meckernde Janine, den Beleuchter, meine Mutter, die Tatsache, dass wir uns in einer Parallelwelt befanden und dass hier irgendwo ein gemeingefährlicher Parallel-Finn herumlief.

War mir in diesem Moment alles komplett egal. Manchmal musste man das Hier und Jetzt genießen und ausnutzen und seinen Freund einfach in Grund und Boden küssen. Vor allem, wenn der so bereitwillig mitmachte.

Das Einzige, was irgendwann an meine Ohren drang, war ein »Schnitt! Danke, das war super, wir haben alles!« von Janine.

Doch Konstantin ließ mich nicht sofort los. Unsere Lippen lösten sich zwar voneinander, aber er presste seine Stirn an meine, so dass wir noch einen kleinen Augenblick in unserer Blase verharren konnten.

»Wie gut, dass sich die beiden wieder vertragen haben«, murmelte er mit rauer Stimme. »Ich hätte keine Lust gehabt, Funkstille zwischen uns zu faken.«

Ging mir genauso. »Meinst du, wir springen noch öfter in diese …«

Welt, wollte ich sagen, kam nur nicht dazu. Denn in diesem Moment umwehte uns einmal mehr der Zimtschneckengeruch, und wir verließen unsere anderen Körper, die immer noch eng umschlungen dastanden, und landeten in unseren eigenen.

 

Ich fand mich im gleichen Sessel wieder wie vorhin. Fast hätte ich erwartet, dass unsere Parallelversionen sofort wieder zueinandergerannt waren, was schon häufiger passiert war, aber bei einem Blick auf mein Handy stellte ich fest, dass sie es diesmal bei einem sehr, sehr ausführlichen Chat belassen hatten.

Puh.

Es war mittlerweile halb zehn, der Tatort näherte sich dem Showdown, und ich sah mich nach meinen Eltern um.

Die kuschelten nach wie vor auf der Couch, und zwar so entspannt, dass mein anderes Ich wohl sehr unauffällig geblieben war. Ein seltener Glücksfall, aber wahrscheinlich hatte sie überhaupt keine Zeit gehabt, sich zu bewegen, weil sie so viel in ihr Handy tippen musste.

Mum war mittlerweile eingeschlafen. Dad streichelte ihr mit einer Hand über den Rücken, mit der anderen machte er sich (noch? Wieder?) Notizen auf seinem Block, den er auf einem Knie balancierte.

Na, das hätte er sich sparen können. Die Challenge als Ermittlerin gegen ihn konnte ich heute ja nicht mehr gewinnen. Noch während ich überlegte, ob ich vielleicht gleich ins Bett gehen sollte, summte mein Handy in meiner Hand.

Eine Nachricht von Konstantin:

Das war schön eben.

Ich grinste, als ich zurücktippte.

Erstaunlicherweise schon.

Und die Bilder waren wirklich gut.

Hab schon gemerkt, dass sie dir gefallen haben.

Sollten wir bei uns auch mal solche machen?

Mit Janine, die uns rumkommandiert?

Alleine. Mit Selbstauslöser.

Mein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken. Und obwohl mein Körper ja hiergeblieben war, während Konstantin und ich eng umschlungen getanzt hatten, glaubte ich, seine warme Hand immer noch auf meinem Rücken zu spüren.

Jetzt gleich?

Konstantin antwortete mit einem Herzchen-Emoji.

Besser nicht, wo es mit deinem Dad gerade so gut läuft.

Ich seufzte leise. Ich war ja genau so froh, dass Dad sich langsam Konstantin gegenüber entspannte.

Gute Nacht, Konstantin.

Gute Nacht, Vicky.

2.

»Vicky! Kannst du mal eben die Tür aufhalten?«

»Mum? Was machst du denn hier?«

»Mir gleich einen Bruch heben«, presste meine Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie mit beiden Händen eine vollbepackte Gitterbox umklammerte. Ich beeilte mich, die schwere Eingangstür unserer Schule aufzudrücken.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich sie, als ich auf den gefährlich schwankenden Turm aus Kaffeebechern, einer geblümten Pumpthermoskanne und diversen Frischhaltebehältern schaute, den sie in der Box durch die Tür nach draußen balancierte.

»Geht schon«, ächzte sie, »wobei –« Sie sah sich um und steuerte dann eine der Sitzbänke an, die direkt neben dem Eingang standen, und setzte die Kiste ab. Es schepperte.

»Vorhin war das Zeug irgendwie leichter. Und das, obwohl Herr Gasske den Kuchen in solcher Geschwindigkeit inhaliert hat, dass wir einen Sonderpunkt Verpflegung bei den Elternbeiratstreffen in die Tagesordnung aufnehmen mussten.«

»Ah, heute war es ja wieder so weit«, bemerkte Pauline, die uns gefolgt war. Es war Dienstagmittag, der Unterricht war gerade zu Ende, und sie warf Mum einen schuldbewussten Blick zu. »Mein Papa wollte wirklich kommen, ganz bestimmt, aber dann wurde in seiner Firma dieses Meeting …« Ihre Stimme verlor sich.

»Meeting ist super«, meinte Mum und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Das hab ich das nächste Mal auch statt Elternbeirat. Wie war’s bei euch heute?«

»So mittel«, erwiderte ich. »Wir schreiben morgen einen Test in Geschichte. Aber meine liebste Pauline will später vorbeikommen und mir das Wichtigste noch mal erklären. Damit ich nicht total verloren bin.«

»Das ist gut. Ich muss gleich noch ins Rathaus, ich hab Frau Hollermann nach der Stadtratssitzung am Freitag versprochen, den Antrag der Bürgerinitiative Brunnenstraße auf Fällung des raumübergreifenden Großgrüns zu beantworten. Dann haben sich die Gäste noch Schokoladentarte gewünscht, deine Großeltern brauchen Hilfe bei der Steuer, Tante Pollys Orchideen muss ich auch noch tauchen, die sind schon superschlapp, ich hoffe, ich krieg die wieder hin, bis die beiden aus den Flitterwochen kommen, und …« Sie verstummte und sah mit gerunzelter Stirn in die Luft. »Und den Rest habe ich vergessen.«

Vielleicht ganz gut so.

»Was ist ein raumübergreifendes Großgrün?«, erkundigte sich Pauline.

»Ein Baum«, sagte meine Mutter erschöpft. »Die Bürgerinitiative behauptet, er nimmt ihnen die Sicht auf den Birkenhain dahinter. Ein Baum verdeckt … Bäume.«

»Mum«, sagte ich und sah sie besorgt an. »Sollen wir dir heute Nachmittag nicht lieber ein bisschen zur Hand gehen, wenn du so viel –«

»Ach was, ihr kümmert euch mal um Geschichte!«, sagte sie schnell. »Ich komm klar.« Sie setzte ein Lächeln auf und strich den Rock ihres Kleides über den Knien glatt. Aber mich konnte sie nicht täuschen. Sie war eindeutig überarbeitet, das hatte ich gestern beim Tatort schon gemerkt, denn normalerweise schläft sie nicht so schnell ein beim Fernsehen. Und sie hat auch nicht so dunkle Augenringe.

»Dann machen wir wenigstens gemeinsam Mittagspause bei den Ludwigs«, schlug ich vor. »So viel Zeit muss sein.«

Mum sah mich zweifelnd an, doch dann hellte sich ihr Blick auf. Sie stand auf und griff entschlossen nach der Box.

»Warten Sie, das mach ich für Sie«, ertönte da eine Stimme hinter uns. Wie aus dem Nichts war unser Klassenkamerad Finn aufgetaucht und trat lächelnd zu uns.

Es war immer noch ein komisches Gefühl, ihn zu sehen. Er war mit seiner Mutter und seinem Bruder vor ein paar Wochen neu in unsere Stadt gezogen, weil seine Eltern sich getrennt hatten. Im Gegensatz zu seinem fiesen zweiten Ich in der Parallelwelt hatte er mir noch nie Anlass gegeben, ihm zu misstrauen. Ganz im Gegenteil, er schien ein echt netter Kerl zu sein, und ein paar unserer Gespräche waren überraschend tiefgehend gewesen, als er mir von den Problemen mit seinem Vater erzählte. Und auch wenn ich die Erfahrung gemacht hatte, dass sich Persönlichkeiten in allen Welten meist ähnelten, war das bei ihm nicht der Fall, davon war ich inzwischen überzeugt.

Pauline allerdings sah das ganz anders. Sie machte sich gar nicht die Mühe, Finn kennenzulernen, sondern scherte alle Finns über einen Kamm. Diesen hier konnte sie genauso wenig leiden wie den Parallel-Fiesling.

Ich fand das unfair, aber mir war klar, dass ich dagegen nichts tun konnte. Abgesehen davon wurde das Finn-Schlamassel noch durch die Tatsache ergänzt, dass Finn mich … nun ja, ganz gut fand.

»Hey, Pauline«, sagte Finn, was meiner besten Freundin ein Augenrollen entlockte.

Ich knuffte sie in die Seite. Sie könnte wirklich etwas freundlicher zu ihm sein.

»Isst du heute gar nicht in der Kantine?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf, so dass seine blonden Haare lustig wippten. »Nein, ich muss gleich zum Handballtraining.« Er nahm meiner Mutter die Kiste ab. »Haben Sie Ihr Auto auf dem Lehrerparkplatz geparkt, Frau King? Dann trag ich die Sachen schnell dorthin.«

Mum nickte. »Du bist wirklich ein Schatz«, sagte sie und gab ihm den Autoschlüssel. »Es ist der alte Volvo gleich vorn.«

Das hier zeigte es mal wieder. Dieser Finn war wirklich ein Schatz. Er war hilfsbereit und lustig und ziemlich uneigennützig, und Pauline brauchte ihm gar nicht so düster hinterherzustarren. Der Blick wäre viel besser bei der Gestalt eingesetzt, die sich jetzt aus einem Pulk Schüler schälte und – o nein – direkt auf uns zusteuerte! Das war Vampi alias Herr Völke alias der unangenehmste Lehrer, den ich gerade hatte.

»Frau King, wie gut, dass ich Sie heute treffe«, rief er noch ein paar Meter entfernt.

»Herr Völke. Was kann ich für Sie tun?« Mum schaffte es, verbindlich zu lächeln, obwohl sie ebenfalls kein Fan von Vampi war. Freitag nach der Stadtratssitzung, wo er auch herumgeturnt war und sich offenbar ziemlich produziert hatte, hatte sie erstaunlich offen über ihn gelästert.

Mein Wirtschaftslehrer grinste und stemmte die Hände in die Hüften. Mir war vorher noch nie aufgefallen, wie raumgreifend Herr Völke war. Während er sich vor meiner Mutter aufbaute wie eins von diesen aufblasbaren Männchen, die manchmal an den Imbissständen standen, wich man reflexartig ein Stück zurück. Auch ich ertappte mich dabei, einen Schritt zur Seite zu gehen, so dass mein Lehrer im Zentrum der Aufmerksamkeit stand wie die Sonne, um die sich alles drehte.

»Also, nun ja … wenn Sie mich so fragen, dann gibt es durchaus etwas, was Sie für mich tun könnten. Das heißt, natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

Mum winkte ab. »Ach was, wofür bin ich schließlich Sprecherin der Elternschaft? Immer raus damit.«

Genau darauf schien er gewartet zu haben. »Wissen Sie, ich habe die ganzen Osterferien durchgearbeitet, um meinen Klassen den Stoff aus dem Lehrbuch so aufzubereiten, dass auch wirklich alle dem Unterricht folgen können. Denn gerade Ihnen ist ja sicher klar, dass es einige Schülerinnen und Schüler gibt, die ohne diese zusätzliche Hilfe ziemlich aufgeschmissen wären.«

Dass er bei seinen letzten Worten wie zufällig mich ansah, hätte mich eigentlich nicht wundern sollen. Umso überraschter war ich, dass es mich trotzdem traf. Seit meiner missglückten Comic-Zeichen-Aktion vor ein paar Wochen, als ich ihn als Strichmännchen einen mehr oder weniger heldenhaften Tod hatte sterben lassen, hatte er mich auf dem Kieker.

»Und weil ich mich eben um manche besonders kümmern muss«, fuhr er fort, »schaffe ich die Beschlussvorlage der neuen Abfallsatzung leider doch nicht.« Ich hörte, wie Mum neben mir leise Luft holte. Es ging also gar nicht um Schulbelange, sondern um die Aufgabenverteilung der Stadtratsmitglieder.

Vampi sprach unbeirrt weiter. »Zumal ich ja schon die Rede zur Einweihung des neuen Radwegs übernommen haben, Sie wissen schon. Damit unsere Mitbürger mich als Bürgermeisterkandidaten auch ein bisschen näher kennenlernen.«

Jetzt war ich es, die nach Luft schnappte.

Hatte ich etwas verpasst, oder hatte Herr Völke uns gerade erzählt, dass er sich bei der Wahl aufstellen lassen würde? Die Bürgermeisterwahl war Thema Nummer eins im Ort, nachdem der Amtsinhaber sich bei Nacht und Nebel davongemacht hatte. Seitdem leitete Frau Hollermann als zweite Bürgermeisterin interimsmäßig die Geschicke unserer kleinen Stadt, aber die hatte überhaupt keine Lust auf den Job, sondern wollte sich lieber ihrer Bienenzucht widmen. Und deswegen war man verzweifelt auf der Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger. Allerdings hatten viele, die in Frage kamen, schon dankend abgelehnt, darunter mein Vater.

»Was denn, Sie auch?«, entfuhr es meiner Mum. »Wann ist das denn passiert?«

Vampi stutzte. »Was soll das heißen, Sie auch?« Er schien schwer beleidigt zu sein, warf sich allerdings schnell wieder in die Brust. »Aber ja, nach langem Überlegen habe ich mich tatsächlich dazu entschlossen, der Kommunalpolitik in diesem Städtchen ein wenig unter die Arme zu greifen. Ich bin sicher, dass ich Großartiges bewegen kann, schließlich bin ich einer der beliebtesten Lehrer dieser Schule.«

Blödsinn, hätte ich am liebsten gerufen, Ihnen geht es doch um was ganz anderes! Kontrolle zum Beispiel, eine Machtposition zu haben, die alle anderen unter ihm möglichst klein machte. Er wollte dasselbe im Rathaus wie hier in der Schule: dass alle nach seiner Pfeife tanzten, in sämtlichen Situationen des Lebens.

»Und was ist mit Herrn Schindewolf?«, fragte Mum. Der pensionierte Bierbrauer war der Einzige, der sich bisher hatte aufstellen lassen.

Völke schnaubte. »Mit Verlaub, möchten Sie, dass Herr Schindewolf über unser aller Zukunft in diesem Ort entscheidet?« Er sagte das so, als ob es um die Präsidentschaftswahl in den USA ging und nicht um die Wahl eines Kleinstadtbürgermeisters.

Ich fand Herrn Schindewolf jetzt nicht gerade hitmäßig, aber so schlimm war er nun auch nicht.

Vampi hatte sich wieder breitbeinig hingestellt, die Arme vor der Brust verschränkt, und fixierte Mum mit seinem stahlharten Lehrerblick, den er immer aufsetzte, wenn er jemanden um jeden Preis beim Abschreiben erwischen wollte. Dabei schaffte er es allerdings, dass das freundlich-schleimige Lächeln nie seine Lippen verließ.

»Frau King? Was ist denn nun?«

Ich kannte diesen Blick, und ich hasste ihn. Ich fühlte mich jedes Mal, als wäre ich sechs Jahre alt und würde von unserem damaligen Hausmeister zur Rede gestellt, warum ich den Hausschuh eines Mitschülers in den Papierkorb geworfen hätte, obwohl ich es gar nicht gewesen war.

Und tatsächlich fing auch Mum an zu stottern.

»Ich, äh … ich …«

»Wenn Sie natürlich keine Zeit haben, mir zu helfen, ist das schon in Ordnung«, meinte Vampi und warf mir wieder wie zufällig einen Blick zu. »Die Schüler werden es schon verstehen, dann müssen sie sich halt selbständig etwas mehr vom Stoff erarbeiten, das wird schon klappen. Muss ja. Na ja.«

Beinahe hätte ich diesen blöden Typen angeknurrt, denn er hatte genau die richtigen Knöpfchen bei Mum gefunden. Ihr Helfersyndrom und ihr riesiges Herz für uns Schülerinnen und Schüler ließen sie noch selbstloser werden, als sie sowieso schon war.

Sie seufzte schließlich und nickte. »Ich hab noch ein paar andere Sachen für Frau Hollermann zu erledigen, aber ich kann gerne die Beschlussvorlage mit übernehmen. Ist ja selbstverständlich. Wenn unsere Kinder davon profitieren. Das können Sie mir doch garantieren, Herr Völke, oder?«

Bei dem letzten Satz hatte sich ihre Stimme verändert. Die Erschöpfung war einer gewissen Härte gewichen. Vampi hatte es genau gemerkt, denn seine Augen wurden schmaler. Aber dann klatschte er in die Hände. »Absolut! Na, dann ist ja alles geklärt«, sagte er.

Ich lächelte Mum stolz zu. Punktgewinn für sie.

Völke sah auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt los, die Klassenarbeiten der Neunten korrigieren sich nicht von selbst. Ich maile Ihnen dann die Dokumente. Wobei, es sind recht viele, am besten holen Sie sich die Originale aus dem Rathaus ab.«

Mum nickte, wiederum genauso erschöpft wie eben noch. Und plötzlich war mir klar, dass der Punktgewinn bedeutungslos war. Denn die Runde war eindeutig an Völke gegangen.

 

»Schau, in der ersten Reihe ist etwas frei! Das ist ein Zeichen«, sagte ich zu Mum und bugsierte uns beide in Richtung der Ludwig’schen Bäckerei, die direkt neben Pollys und Franks Café lag. Die beiden teilten sich eine Terrasse.

Mum ließ sich auf den Korbstuhl mit dem weichen Polsterkissen sinken.

»Aber nur was trinken, für mehr hab ich eigentlich keine Zeit, und wir haben ja zu Hause eigentlich alles, was wir –«

Sie wurde jäh unterbrochen durch ein lautes Grollen.

Ich sah sie streng an, während sie unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutschte.

»War das etwa dein Magen?«, fragte ich ungläubig.

Mum zuckte verlegen mit den Achseln. »Herr Gasske hatte wirklich Hunger.«

Ich sah auf die Uhr am Kirchturm. »Du hast beim Beirat gar nichts gegessen? Es ist schon nach zwei! Das geht so nicht, sagst du ja selbst immer. Du bleibst hier, und ich frage drinnen, ob es noch was vom warmen Tagesgericht gibt. Keine Widerrede!«, setzte ich hinzu, als Mum den Mund aufklappte in einem letzten Versuch, ihren Hunger herunterzuspielen.

Ich bahnte mir meinen Weg zwischen den Tischen hindurch und lief in den Verkaufsraum.

An diesem Tag gab es Gemüsecremesuppe mit knusprigen Croûtons und Dinkelbaguette, und keine fünf Minuten später balancierte ich ein vollbepacktes Tablett nach draußen. Und obwohl Mum sich erst so geziert hatte, riss sie mir eine der hübschen Suppenschalen beinahe aus den Händen.

Blitzschnell schob sie sich ein Stück frisches Brot in den Mund. »Wie gut, dass du Mitarbeiterrabatt bekommst«, nuschelte sie und rührte mit ihrem Löffel andächtig in der Suppe.

»Wie gut, dass du dich hast überreden lassen«, meinte ich grinsend, und während ich noch die Croûtons einen nach dem anderen in die Suppe drückte, damit sie sich vollsogen, hatte meine Mutter schon die halbe Schüssel intus.

»Mum, du musst ein bisschen besser auf dich aufpassen.« Ich musterte sie besorgt. Ich hatte das Gefühl, dass sie schmaler war als sonst. Bei Tante Pollys Hochzeit hatte sie sich schon nicht gut gefühlt, der Stress war einfach zu viel für sie gewesen.

»Das ist lieb, aber es ist alles in Ordnung«, meinte sie und tupfte sich mit der Serviette den Mund. Tatsächlich schienen schon ein paar Bissen Wunder gewirkt zu haben, denn ihre Wangen waren sofort rosiger. »Die Gäste reisen morgen ab, und dann habe ich ein bisschen Pause.«

Ich nickte, auch wenn sich das Gespräch mit Vampi im Speziellen und ihr Perfektionismus im Allgemeinen nicht unbedingt mit dem Wort Pause vertrugen.

Genauso wenig übrigens wie die Tatsache, dass sie nicht schnell unter den Tisch flüchtete, als die sehr vereinnahmende Frau Hollermann quer über die Gemeindewiese kam und direkt auf uns zustrebte.

»Ach, Meg, wie schön, dass ich dich hier treffe. Hallo, Vicky«, sagte unsere zweite Bürgermeisterin und lächelte. »Ich darf mich doch kurz zu euch setzen, oder?«

Ehe Mum oder ich antworten konnten, hatte sie schon schwungvoll den freien Stuhl unter dem Tisch hervorgezogen, sich darauf fallen lassen und die Beine von sich gestreckt.

»Ach, ich bin dir immer noch so dankbar, Meg, du Liebe! Nachdem wir am Samstag auf dem Markt gesprochen haben, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen.«

Mum sah unruhig zur Seite. »Ja, das verstehe ich, obwohl du mir ruhig hättest erzählen können, dass Herr …« Sie brach ab. »Ach, lass uns da lieber später drüber reden, ich komm dann noch im Rathaus vorbei, okay?«

»Ach was! Du bist zu bescheiden! Ich sag dir, Meg, als ich heute Vormittag die Nachricht in der Mitarbeiterversammlung verkündet habe, waren alle begeistert, ein paar sind sogar in einen spontanen Jubel ausgebrochen, das gab es das letzte Mal, als Deutschland Fußballweltmeister wurde.«

Ich blinzelte verwirrt in die Sonne.

»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«, fragte ich.

Frau Hollermann, die sich gerade an den übrigen Scheiben Baguette in unserem Brotkorb bediente, sagte: »Ich meinte nur eben, dass alle ausgeflippt sind, als wir damals diesen Pokal geholt haben, in Brasilien. Das hättest du sehen sollen, ich muss mal fragen, ob das damals jemand aufgenommen hat.«

Ich warf Mum einen Blick zu, die allerdings sehr interessiert irgendetwas auf der Gemeindewiese beobachtete.

»Nein, ich meine, davor.«

»Davor? Oh, nun, dass der Samstag mein Glückstag war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welch Stein mir vom Herzen gefallen ist, als ich deine Mutter auf dem Wochenmarkt habe überreden können! Ihre Kandidatur als Bürgermeisterin war für uns eine solche Erleichterung, zumal sich Herr Völke nach der Stadtratssitzung auch noch hat aufstellen lassen. Unter uns« − sie beugte sich verschwörerisch vor −, »Meg ist da schon so was wie unsere Rettung. Aber was ich eigentlich von dir wollte, meine Liebe: Wir müssen natürlich jetzt Gas geben mit dem Wahlkampf. In knapp vier Wochen werden die Kandidierenden ja offiziell auf dem Bürgerfest vorgestellt, dafür müssen wir noch jede Menge vorbereiten. Vielleicht könntest du die Organisation der Hüpfburg übernehmen, und Bruno müssen wir noch fragen, ob …«

»Deine – Kandidatur???« Ich starrte Mum an, die wiederum Frau Hollermann anfunkelte.

»Ich komme gleich nachher in dein Büro, und dann bereden wir das dort!«

Frau Hollermann wollte schon etwas einwenden, nach einem kurzen Blick auf mich schien sie es sich jedoch anders zu überlegen. »Na schön. Aber bitte, du machst es heute noch möglich, oder? Ab morgen bin ich nämlich auf einer Tagung des deutschen Imkerverbandes, wenn ich Glück hab, wählen sie mich da in den Vorsitz, drückt mir die Daumen, bitte!«

Damit erhob sie sich, schnappte sich die letzte Scheibe Brot und ging winkend in Richtung Rathaus davon.

 

»Mum!«, sagte ich, sobald Frau Hollermann außer Hörweite war, und meine Mutter legte mir beruhigend die Hand auf den Arm.

»Es ist nichts, du hast da was falsch verstanden«, meinte sie, und ich zog eine Augenbraue nach oben.