Zimtschnecken - Petra Schulz - E-Book

Zimtschnecken E-Book

Petra Schulz

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Beschreibung

Als Susanne dem Schweden Björn begegnet, ist es Liebe auf den ersten Blick. Schon bald folgt sie ihm in dessen Heimat und sieht sich am Ziel ihrer Träume. Einige Jahre später bekommt ihre Familie in Deutschland Zweifel an Susannes Glück, weil sie sich auffällig zurückzieht. Ihre Schwester Elke reist zusammen mit zwei Freunden nach Schweden, um diesem Verhalten auf den Grund zu gehen. Rasch machen sie eine beunruhigende Entdeckung ... Dieser Roman erzählt von ganz normalen Menschen, ihrer Suche nach Liebe - zwischen Romantik und ernüchternder Realität - und von einem zauberhaften Land.

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Seitenzahl: 305

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Zimtschnecken
Über die Autorin
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
Danksagung
Danksagung zur Neuauflage

Petra Schulz

Zimtschnecken

XOXO Verlag

Über die Autorin

Petra Schulz wurde 1963 in Duisburg geboren und wuchs in Dinslaken auf, das liegt an der Grenze zwischen Ruhrgebiet und Niederrhein. Sie studierte in Duisburg Wirtschaftswissenschaften, Anglistik, Pädagogik sowie Psychologie und ist als Lehrerin am Berufskolleg Wesel tätig. Seit ihrer Studienzeit interessiert sie sich für Skandinavien. Zusammen mit ihrer Familie verbringt sie seit vielen Jahren jeden Sommer in Schweden. ‚Zimtschnecken‘ ist ihr erster Roman.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-213-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-711-7

Copyright (2023) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 365271515, 2040486629

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29, 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Sie wusste nicht genau, wie lange sie gelaufen war. Die engen Gassen der Altstadt waren in bunten, unscharfen Bildern an ihr vorübergezogen. Weg, einfach nur weg! War er es wirklich – oder hatte sie nur ein Gespenst gesehen, einen Geist aus der Vergangenheit? Nur zaghaft hatte sie sich umgesehen und versucht, das Gesicht des Mannes genauer zu erkennen. Vergebens. Warum musste die Sonnenmarkise des Straßencafés ihn bloß halb verdecken? Er war es bestimmt, oder vielleicht nicht? Sie hatte sich nicht getraut, näher heranzugehen – aus Angst vor der Wahrheit und Angst vor Entdeckung. So wie sie nach der langen Reise aussah … Ihr Herz hatte bis zum Hals geklopft. Weg, weg, weg! Der Rhythmus ihrer schnellen, Raum greifenden Schritte hatte sie zur Ruhe kommen lassen sollen, aber diese Hoffnung war vergebens gewesen. Schwer atmend stand sie nun am Rand der Uferpromenade. Die Bluse klebte auf ihrer Haut, und das Haar fiel ihr zerzaust in die feuchte Stirn. Sie stützte sich auf das schmiedeeiserne Geländer und blickte aufs Wasser, mühsam um gleichmäßigen Atem und ruhigeren Herzschlag ringend. Ein leichter Wind kräuselte die Wasseroberfläche, die in allen Schattierungen von grau bis blaugrün schimmerte. Die kleinen Wellen schlugen sachte an die Ufermauer, und es klang wie ein leises

Nie … Nie … Nie …

Sie schlug die Hände vors Gesicht.

Kapitel 1

Zwanzig Jahre zuvor …

Noch immer sah sie die überlebensgroßen Bernsteinaugen aus ihrem Traum vor sich, die sie unbewegt musterten: kühl, kritisch, allwissend. Ihr Blick verfolgte sie, ließ sie nicht los. Selbst jetzt, nach dem Erwachen, fühlte sie sich beklommen.

Susanne seufzte und fuhr sich mit der rechten Hand über die Wange. Sie drehte sich im zerwühlten Bett, das wegen der zugezogenen Vorhänge in angenehmem Halbdunkel lag, zur Seite – bereit sich durch zärtliche Küsse von den Schatten der Nacht befreien zu lassen. Doch nur sein Kissen lag zerknautscht, leer und kalt neben ihr. Schlagartig war Susanne hellwach.

Sie angelte unter dem Bett nach ihren rosa Pantoletten, schlüpfte hinein und stand auf.

»Jens? Wo bist du?«, rief sie.

Doch anstatt einer Antwort fand sie nur einen Zettel auf dem Küchentisch, auf den er mit einem halb ausgetrockneten Filzstift geschrieben hatte:

»Guten Morgen, Süße! Musste schon los. Es war supergeil heute Nacht. Werde den ganzen Tag von deinen Titten träumen. Jens«

Susanne nahm den Zettel vom Tisch, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Einfach gehen und dann auch noch so eine billige Nachricht, dachte sie. Wenn er bloß nicht so

aufregend wäre.

Nachdenklich kochte sie sich Kaffee und bestrich eine Scheibe Rosinenstuten mit Butter.

Jens und sie – das war schon eine seltsame Geschichte. Susanne rührte langsam in ihrer großen Kaffeetasse mit den aufgemalten Rosen und sah aus dem Fenster.

Sie war jetzt schon fast zwei Jahre in Duisburg und studierte an der Universität Wirtschaftswissenschaft. Eine Vernunftwahl, denn eigentlich hätte sie viel lieber Archäologie oder etwas mit exotischen Sprachen studiert. Aber Lehrerin, wie ihre Schwester Elke, wollte sie erst recht nicht werden. Elke war deshalb ziemlich eingeschnappt gewesen. Ach ja, Elke… Susanne schob den Gedanken an ihre ältere Schwester schnell beiseite. Stattdessen zupfte sie Verblühtes von der Azalee, die auf der Fensterbank stand, und blickte aus ihrer Mansardenwohnung auf die Dächer von Duisburg herab. Susanne war gar nicht glücklich darüber gewesen, ausgerechnet hier einen Studienplatz zu bekommen.

Aber im Laufe der Zeit war ihr die Stadt ans Herz gewachsen – vor allem der Stadtteil, in dem sie wohnte. Hochfeld war ein altes Arbeiterviertel mit vielen Häusern aus der Gründerzeit, die zum Teil liebevoll restaurierte Fassaden hatten, manchmal aber auch schäbig und ärmlich wirkten. In Susannes Straße hatte man einige Häuser abgerissen. Die Lücken gaben der Häuserfront das Aussehen eines schadhaften Gebisses und lenkten den Blick auf stillgelegte oder teilweise abgebaute Industrieanlagen im Hintergrund. Die tiefen Wunden der Industrialisierung vernarbten allmählich unter neu angelegten kleinen Parkanlagen, deren zartes, frisches Grün gleichermaßen verletzlich und optimistisch wirkte. Hochfeld und seine Menschen berührten Susanne. Stunden über Stunden saß sie in der kleinen Grünanlage und beobachtete das Leben um sie herum: spielende Kinder, Stimmen und Musik in vielen verschiedenen Sprachen aus offenen Fenstern. An der Seitenwand eines uralten Hauses waren noch immer Überreste eines verschnörkelten Schriftzugs zu erahnen: ein großes J, daneben – fast abgeblättert, kaum noch zu erkennen – der Rest des Namenszuges und daneben das Wort »Kohlenhandlung«. Ein Gruß aus einer anderen Zeit.

Susanne stellte ihre Tasse und das Frühstücksbrettchen ins Spülbecken. Höchste Zeit. Zwanzig Minuten später machte sie sich auf den Weg zur Uni. Seit zwei Monaten arbeitete sie als studentische Hilfskraft für Professor Wagner. Papierkram ordnen, Fotokopien anfertigen und Bücher aus der Bibliothek holen erschien ihr sinnvoller als ein Wochenend-Fließbandjob in der Gurkenfabrik. Deshalb war sie sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, auch wenn Professor Wagner manchmal eine neugierige Nervensäge war. Außerdem war sie seit kurzem in der Beratungsgruppe für Studienanfänger und Austauschstudenten. Darauf war sie besonders stolz, denn wer zur Beratungsgruppe (dem Beratungsteam, wie sie sich selbst etwas hochtrabend nannten) gehörte, war jemand im Fachbereich Wirtschaft. Man wurde gegrüßt – sogar von den arrogantesten Professoren – und zählte zum inneren Kreis, wobei es nie ganz klar war, wodurch man sich diese Zugehörigkeit erworben hatte. Meistens spielten persönliche Beziehungen zu erfahreneren Gruppenmitgliedern dabei eine Rolle. Susanne war durch Jens in die Gruppe gekommen. Sie hatte ihn an ihrem ersten Tag an der Uni kennengelernt, als er an einem Info-Stand für Studienanfänger Sekt mit Orangensaft ausschenkte. Als er sie sah, hielt er ihr ein Glas entgegen.

»Hier, für dich. Du siehst aus, als könntest du das brauchen.«

Susanne war an jenem Tag wirklich abgekämpft gewesen. Die ganze Zeit war sie herumgelaufen, hatte alle Informationen aufzunehmen versucht, aber es war nur noch ein großes Durcheinander in ihrem Kopf. Wie sollte sie sich das alles merken? Das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden? Oder noch schwieriger: die Wichtigtuer von denen unterscheiden, die wirklich etwas zu sagen hatten? In dieser Situation kam der Sekt gerade recht. Während sie an ihrem Becher nippte, beobachtete sie Jens. Er war groß und schlank, hatte ein gewinnendes Lächeln und auffallend schöne Zähne. Intelligent sieht er aus, dachte Susanne, und lebenslustig und sinnlich. Der Sekt verschalte in ihrem Becher, während sie ihn gebannt musterte. Nur wenige Wochen später wusste Susanne, dass die von ihr vermuteten Eigenschaften auf Jens zutrafen. Seit einem regnerischen Nachmittag im November auch, wie sinnlich er war. Eigentlich waren sie verabredet gewesen, um eine Beratungsveranstaltung vorzubereiten, aber daraus wurde nichts. »Ich kann mich gar nicht mehr konzentrieren«, hatte er irgendwann gesagt, sein Schreibzeug zur Seite gelegt und sie mit seinen schönen grauen Augen zärtlich angesehen. Das war dann der Anfang. Wenig später lagen sie in Jens‘ Bett und Susanne erlebte Sex in einer für sie neuen Dimension. »Du kommst ja wie die Feuerwehr«, hatte Jens danach ziemlich beeindruckt gesagt. Aber Lust war das Eine und Liebe das Andere… Selbst nach den hemmungslosesten, heißesten Nächten gab es nicht die sanfte Zärtlichkeit, von der Susanne heimlich träumte. Nur kleine Zettel mit eher unromantischen Nachrichten.

Susanne seufzte, als sie jetzt – beladen mit einem Stapel Vorlesungsverzeichnisse und einem Becher Kaffee - das Gebäude betrat, in dem das Büro der Beratungsgruppe lag. Eigentlich war es nur ein kleiner Raum in einem abgelegenen Seitenflügel, der früher als Abstellraum für Aktenordner genutzt worden war. Dennoch waren die Studenten stolz auf ihr »Beratungsbüro«. (So stand es auf dem Türschild.)

Susanne stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und sah zwei Füße in mittelmäßig sauberen Socken auf einem der beiden Schreibtische.

»Hättest du mir nicht was abnehmen können? Verdammt nochmal. Du machst es dir ja ganz schön gemütlich hier.«

»Oh, Entschuldigung!«

Der junge Mann nahm ganz schnell seine Füße vom Schreibtisch und strich mit den Händen seine ausgewaschene Jeans glatt – als ob das sein Erscheinungsbild hätte verbessern können. Er sah übernächtigt aus.

Susanne stellte ihren Kaffee vorsichtig ab und wischte ein paar alte, fleckige Prospekte über den letztjährigen Internationalen Hochschultag zur Seite, um ein freies Plätzchen für die Vorlesungsverzeichnisse zu schaffen. Sie lächelte verlegen. Eigentlich hatte sie mit Jens gerechnet, weil er um die Mittagszeit immer hier war. Und dass sie jetzt einen wildfremden Menschen so angebellt hatte, war ihr peinlich – besonders als sie den Rucksack und die beiden Reisetaschen sah, die in der Nische neben dem großen Aktenschrank standen. Da kam also ein fremder Student ins Beratungsbüro, wartete geduldig, weil Jens wahrscheinlich mal wieder mit der Zicke aus der Bibliothek flirtete, um dann von ihr erstmal angeschnauzt zu werden. Na toll.

Sie hielt dem Fremden einen Kaffeebecher entgegen.

»Möchtest du? Ist noch warm. Ich bin übrigens Susanne.«

Er nahm ihn, prostete ihr mit einer angedeuteten Bewegung zu und lächelte sie über den Rand des Pappbechers an.

»Björn.«

»Warum bist du denn nicht mit den Anderen gekommen? Sie sind doch gestern schon aus Göteborg eingeflogen.«

»Ich bin mit dem Schiff gefahren. Dauert länger, aber ich wollte die Entfernung fühlen.«

Susanne sah ihn sich etwas genauer an. Darauf, dass er Schwede war, hätte sie eigentlich sofort kommen können. In ihrer Vorstellung sahen alle Schweden so aus wie er: groß, blond, blauäugig. Björn entsprach dem Klischee so genau, dass sie lachen musste.

»Was ist denn? Ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles okay.«

Meine Güte, was für ein hinreißender Akzent.

Ihr Blick ruhte auf Björn, der Kaffee trank und angespannt aussah. Die Universität in Göteborg entsandte jedes Jahr Studenten hierher. Sie konnten zwei Monate lang in Duisburg ihre Deutschkenntnisse verbessern und nebenbei auch Sommervorlesungen besuchen. Viele Studenten machten sich aber einfach nur eine schöne Zeit und konzentrierten sich eher auf Studien in angewandter Humanbiologie außerhalb der Uni, wie Jens es ausdrückte.

Aber er hier sieht ja ziemlich seriös aus, dachte Susanne. Nicht anzunehmen, dass er die Sau rauslässt.

»Weißt du schon, welches Zimmer du hast? Ich könnte dich hinbringen. Du willst dich doch sicher ausruhen.«

Björn stand sofort auf und griff nach seinen Gepäckstücken, als wäre er dankbar, endlich aus diesem Raum herauszukommen. Noch ehe er die Tür öffnen konnte, wurde sie von außen schwungvoll aufgerissen. Jens stürmte ins Büro, warf seine Aktenmappe auf einen leeren Mineralwasserkasten und ließ sich in den knarrenden Bürosessel fallen.

»Na, gerade aus Schweden gekommen? Willkommen in Duisburg!

Soll ich dich ins Studentenwohnheim bringen?«

Jens lächelte Björn aufmunternd zu, griff sich eine der Reisetaschen und ging hinaus auf den Flur.

»Danke für den Kaffee.« Björn sah sie freundlich an, hob die Hand zu einem lässigen Gruß und ging.

Plötzlich drehte sich Jens noch einmal um, als habe er etwas Wichtiges vergessen, ging auf Susanne zu und zog ein schmuddeliges und zerfleddertes Taschenbuch aus seiner Jackentasche.

»Hier, der BGB-Kommentar. Den brauchst du doch.«

Susanne nahm das Buch etwas angewidert entgegen. Als sie es in ihre überdimensionale braune Umhängetasche stecken wollte, die sie immer und überall dabei hatte, fiel ein kleiner grüner Zettel aus dem Buch auf den Fußboden. Sie hob ihn auf und las: »Essen gehen? Heute? Ruf dich nachher an.« Nanu, dachte Susanne amüsiert, du bist ja fast romantisch. Und dann spürte sie ein heftiges Kribbeln im Bauch.

Als sie auf die Straße hinaus ging, fühlte sie den warmen Frühsommerwind auf ihrer Haut. Susanne beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen und nicht wie sonst die Straßenbahn zu nehmen. Die Stadt lag staubig und schläfrig in der Nachmittagssonne. Schon einige hundert Meter abseits des Universitätsgeländes war außer einem Kopierladen und einer kleinen Studentenkneipe nicht mehr viel übrig von studentischem Flair.

Nach einer ganzen Weile bog sie in ihre Straße ein und sah schon von weitem Frau Michalke in einem ihrer bunten Baumwollkittel aus der kleinen Bäckerei kommen. Sie war Susannes Nachbarin und wohnte wie sie in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit Sitzbadewanne in der Küche und der Toilette eine halbe Treppe tiefer.

Susanne winkte Frau Michalke zu. Da kam ein aufgemotzter alter BMW aus einer Garagenausfahrt herausgeprescht. Susanne konnte sich mit einem Sprung zur Seite gerade noch retten. Frau Michalke kam auf ihren dürren Beinen herbeigelaufen und rief ihr schon aus einigen Metern zu: »Mensch, Frollein, da hätte dir der Mustafa doch bald die Futt abgefahren! - Ist denn alles in Ordnung?«

Susanne nickte. »Na, dann ist ja gut. Wenn Sie wollen, mach ich uns auf den Schreck erstmal einen Apfelpfannekuchen.«

»Das ist lieb von Ihnen, aber heute geht es leider nicht. Vielleicht gehe ich nachher noch essen.«

»Soooso.« Wenn Frau Michalke lächelte, sah sie aus wie ein schlauer kleiner Kobold.

Mit dem Restaurantbesuch wurde es an diesem Abend leider doch nichts, weil Jens einfiel, dass er einem Freund versprochen hatte, mit ihm zusammen einen Schrank bei dessen Oma aufzubauen. Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte Susanne. Sie stellte einen Stuhl auf die kleine ebene Dachfläche hinter ihrem Küchenfenster, die bei liebevoller Betrachtung als winzige Dachterrasse durchgehen konnte, und lauschte den Geräuschen der Stadt. Als der Tag allmählich zur Ruhe kam, kam die Erinnerung an ihren unangenehmen Traum von letzter Nacht zurück. Ganz deutlich sah sie wieder den strengen Blick aus bernsteinbraunen Augen vor sich. Jaja, knurrte sie innerlich, ich hab schon verstanden. Morgen rufe ich dich an. Bestimmt.

Etwas widerwillig tippte Susanne die Telefonnummer in ihr grünes Tastentelefon, das sie mit kleinen Hundeaufklebern verschönert hatte.

»Sperling«, tönte es durch den Hörer.

»Hallo Elke. Ich bin‘s. Susanne.«

»Hallo. Dass du dich auch mal wieder meldest.«

»Ja, ich hatte viel zu tun«, sagte Susanne schnell und strich mit einem Finger einen der kleinen Aufkleber auf dem Telefon glatt, »Kannste mir glauben.«

Ein kurzes, erstauntes Lachen am anderen Ende. »Warum sollte ich dir nicht glauben?«

Was quatsche ich für einen Blödsinn, schalt Susanne sich innerlich. Sie konnte den kritischen Blick aus den kühlen bernsteinfarbenen Augen ihrer Schwester fast körperlich spüren.

»Wie geht es dir denn so, Elke? Alles im Lack?«

Susanne bemühte sich um einen lockeren Ton und wickelte das Telefonkabel dabei spielerisch um den Zeigefinger.

»Jaaa«, kam es etwas gedehnt, »du weißt ja, dass ich gerade im Examen stecke. Bin echt froh, wenn das vorbei ist.«

Und dann, mit leiser Stimme: »Und Martin wahrscheinlich erst recht.«

»Oh, dann will ich dich nicht länger aufhalten.«

Susanne witterte eine Chance, den Fragen ihrer Schwester diesmal entkommen zu können. Aber sie hatte sich geirrt.

»Und bei dir? Was macht denn die Liebe?«

Eine kleine Pause entstand.

»Na, was ist denn jetzt mit diesem Jens? Ist er nun dein Freund oder nicht?« Elke klang ungeduldig. »Dass du daraus so ein Geheimnis machst … «

Susanne suchte nach einer nichtssagenden Antwort.

»Ja, also … «

Elke unterbrach sie.

»Mir ist ja egal, was du machst. Aber ich sag dir: Pass bloß auf, dass du dir bei dem Kerl keine blaue Nase holst. Ich glaube, der ist nicht gut für dich.«

»Ach, wer ist in deinen Augen schon gut genug für mich?« Susanne seufzte.

»Na ja, den größten Weitblick bei Männern hast du ja bisher nicht bewiesen … Wenn ich heute noch daran denke … «

»Jaja, schon gut«, sagte Susanne unbehaglich, »Ich pass schon auf mich auf. Echt.«

Elke lachte. »Klar, bist ja auch nicht mehr fünfzehn. - Sehen wir uns bald bei Mama und Papa?«

»Ich denke schon, Elke … Ähm, es knackt so in der Leitung. Ich glaube, ich mach‘ jetzt besser mal Schluss. Tschüss, mach‘s gut. Tschühüss.«

Hastig legte Susanne auf und atmete danach kräftig aus. Typisch Elke. ‚Pass bloß auf, dass du dir bei dem Kerl keine blaue Nase holst‘, äffte sie ihre Schwester lautlos nach. Und dann kam sie natürlich wieder mit einer Anspielung auf die alte Geschichte. Blöde Kuh.

Den ganzen Tag hatte es geregnet. Ausgerechnet heute. Der Himmel war bleigrau und versprach selbst den größten Optimisten keine Besserung bis zum Abend. Das Sommerfest der Wirtschafts-Studenten würde dieses Jahr wohl ins Wasser fallen. Die bunten Fähnchengirlanden tropften vor sich hin, der große Schwenkgrill neben dem verwaisten Grillstand sah aus wie eine überdimensionale Vogeltränke.

»So ein Mist! Ausgerechnet heute gießt es wie aus Eimern.«

Jens wischte mit dem Ärmel seiner Nylonjacke über eine der aufgestellten Bierzeltbänke und setzte sich.

»Und dafür haben wir jetzt alles aufgebaut. Bei dem Wetter kommt doch kein Mensch. Also kein Geld für unsere Kasse.«

Er und Jens hatten die letzten zwei Stunden mit dem Aufbau von Bierzeltgarnituren verbracht. Anfangs hatten sie bei jeder Regenpause erwartungsvoll in den Himmel geschaut und nach Wolkenlücken gesucht. Aber mittlerweile war ihre Laune an einem Tiefpunkt angelangt. Michael holte einen Tabaksbeutel aus seiner Jackentasche und drehte sich langsam und umständlich eine Zigarette.

Da kam Holger mit Schwung um die Ecke.

»Hallo Leute! Mein Onkel gibt uns Zelte. Dafür muss ich bloß diesen Sommer an ein paar Samstagen in seinem Getränkeladen Pfandflaschen sortieren.« Strahlend sah er die Anderen an.

Holger war in seinem Element. Er wuselte ständig herum, kannte an der Uni alle und jeden. Es gab keine Fete, an deren Organisation er nicht wenigstens am Rande beteiligt gewesen wäre. Nur eine Personengruppe war nicht sehr vertraut mit ihm – die Professoren. Er besuchte Vorlesungen und Seminare zwar einigermaßen regelmäßig, fiel aber nie durch besonders gute Leistungen auf. Nicht in der Uni selbst, sondern eher im studentischen Drumherum sah er den Mittelpunkt seines Lebens. Er wohnte in einem relativ kleinen Studentenwohnheim am Stadtrand. Jeder Student hatte ein eigenes Zimmer mit einem kleinen Bad, und in jeder Etage gab es eine große Gemeinschaftsküche. Normalerweise waren diese Küchen ein ständiger Zankapfel unter den Bewohnern, weil sich niemand für die Sauberkeit zuständig fühlte. Holgers Mitbewohner waren deshalb gar nicht traurig, als er eines Tages eine große Putz- und Entrümpelungsaktion startete, die Küche fortan mehr oder weniger für sich beanspruchte und die Anderen eher als Gäste in seiner Küche ansah. Seitdem war die Küche aufgeräumt und gemütlich. Hier liefen Holgers Organisationstalent und seine sprühende Kreativität öfters zur Hochform auf. Seit er über irgendwelche Umwege, die niemand nachvollziehen konnte, zum Beratungsteam gekommen war, lud er zu merkwürdigen Partys in diese Küche ein. Vor zwei Wochen hatte er die ganze Gruppe und jede Menge Bekannte zu einem – wie er es nannte – Überraschungsabend eingeladen. Es gab undefinierbare Mixgetränke und einen grauenhaften Eintopf, zusammengewürfelt aus einer bunten Kollektion von Konservendosen. Holger hatte ihn – ursprünglich wegen seiner Schärfe – Höllensuppe genannt. Den Gästen war noch eine andere Begründung für den Namen eingefallen …

Und heute wollte Holger also das Grillfest mit den Partyzelten retten. Die Anderen waren skeptisch. »Die Dinger sind doch gar nicht richtig regenfest. Das wird nichts, Holger.« Michael sah ihn bedauernd an. »Vielleicht sollten wir einfach gemütlich in der Sporthalle einen trinken.« In diesem Moment glitt ein Strahlen über Holgers Gesicht. »Mensch, Michael! Auf die Idee bin ich ja noch gar nicht gekommen!« Die Anderen starrten ihn verständnislos an. »Wir feiern einfach in der Sporthalle und benutzen die Partyzelte für den Futterstand.«

»Wie willst du denn die Erlaubnis dafür kriegen?« Susannes Stimme klang skeptisch.

»Lass mich mal machen. Ich kenne den Hausmeister ganz gut. Da kann ich sicher was drehen.«

Wie er es schaffte, den Hausmeister für die Idee zu gewinnen, blieb sein Geheimnis. Zwar gab es Vermutungen, dass dabei eine Einladung zu einer von Holgers berüchtigten Partys im Fahrradkeller des Studentenwohnheims eine Rolle gespielt haben könnte, aber ganz sicher war man sich nicht.

Die Party fand dann also in der Sporthalle statt - genauer gesagt in einem kleineren Nebengebäude, in dem alle möglichen Sportgeräte gelagert wurden - , und Holger war der Held des Abends, vor allem bei den schwedischen Austauschstudenten – der Schwedentruppe, wie er sie nannte.

Er war einer der Ersten gewesen, die sich um den Aufbau der Kooperation mit der Universität in Göteborg gekümmert hatten. Dafür waren allerdings keine akademischen Gründe ausschlaggebend gewesen, sondern eher Holgers Weltoffenheit und insbesondere seine Vorliebe für hübsche Frauen. Er hegte die Vorstellung von freizügigen Blondinen aus dem hohen Norden, wurde aber bisher enttäuscht – war doch der Anteil der aufregenden Blondinen nicht höher als unter den Duisburger Studentinnen. Wenn Holger auch bisher nicht die Frau seiner Träume gefunden hatte, so hatte der engere Kontakt mit den Schweden Holgers Leben doch einschneidend verändert: Er war zu einem glühenden Schweden-Verehrer geworden. »Du bist ja schwedophil!«, hatte Michael einmal entsetzt ausgerufen, als er Holgers Küche betrat und sah, dass er das ganze Zimmer mit gelb-blauen Flaggenfähnchen geschmückt hatte. Es war Juni, und Holger hatte zu einem Mittsommerfest eingeladen. Es gab Kartoffeln, Hering und frische Erdbeeren. »Fehlen nur noch die Volkslieder und die Elche.« war einer der netteren Kommentare zu dieser Feier gewesen. Holger zeigte sich ungerührt von dem Spott: Er lernte die Sprache mit Hilfe eines Kurses an der Volkshochschule, pflegte Brieffreundschaften zu ehemaligen Austauschstudenten und beschäftigte sich intensiv mit Kultur und Brauchtum des Landes seiner großen Sehnsucht. Es ging so weit, dass er nur noch schwedische Krimis las und im Supermarkt gezielt nach schwedischen Produkten Ausschau hielt. Eines Tages war es dann soweit, und Holger startete seine erste Schwedenreise. Von da an hatte es ihn endgültig gepackt: Er lebte er mit einem Bein in Duisburg, mit dem anderen in Schweden. Alles, was er im Getränkemarkt seines Onkels und in seinem Nebenjob in einer Imbissstube verdiente, floss in die Reisekasse.

Susanne war an dem verregneten Abend des Sommerfests für den Ausschank von alkoholfreien Getränken zuständig. Erwartungsgemäß hatte sie deshalb nicht viel zu tun. Mit einem Becher Cola in der Hand setzte sie sich auf eine leere Bank und sah sich um. Holgers Rettungsaktion war tatsächlich erfolgreich gewesen. Zwar waren weniger Gäste da als im vorigen Jahr, aber sie hatten mit einer Telefonkette noch so viele Leute zum Kommen überreden können, dass es keine peinliche Leere gab.

»Wie gut, dass wir uns nun doch nicht blamieren.« hörte Susanne jemanden sagen. Die Stimme gehörte Iris, einer Studienkollegin, mit der sie zusammen für Professor Wagner arbeitete.

»Das ist auch gut so, sonst hätte Wagner uns wieder mit Vorträgen darüber genervt, wie wichtig gute PR-Arbeit für das Image der Hochschule ist.«

»Als ob sich irgendwer für unsere Uni entscheiden würde, nur weil wir im Sommer bunte Fähnchen aufhängen und ein paar Würstchen grillen.« Iris schmunzelte.

»Na, für unsere internationalen Verbindungen scheint der Abend aber ganz nützlich zu sein.«

Susanne deutete mit dem Kinn auf die Ecke des Raumes, in der sich die Schweden niedergelassen hatten. Mittlerweile hatten sich auch einige deutsche Studenten zu dem fröhlichen Grüppchen gesetzt. Anscheinend waren sie gerade mit dem Lernen eines Trinkspruchs beschäftigt. Susanne hatte Björn zunächst gar nicht erkannt, weil er ganz anders aussah als bei ihrer ersten Begegnung. Gerade beugte er sich lächelnd über den Tisch, um mit seinem Gegenüber anzustoßen. Das Mädchen neben ihm berührte ihn am Arm, suchte offenbar seine Nähe. Er schien das nicht zu bemerken, war ganz gefangen von der Fröhlichkeit des Augenblicks. Vielleicht will er das auch einfach nicht merken, um keine Entscheidung treffen zu müssen, dachte sie und sah ihn sich genauer an. Es war kein Wunder, dass das Mädchen ihre Fühler nach ihm ausstreckte. Er sah wirklich gut aus mit seinem perfekt geschnittenen blonden Haar, dessen Leuchten von einem blauen Hemd noch betont wurde.

»Da sind ja ein paar echt Nette bei«, meinte Iris mit einem vielsagenden Blick in Susannes Richtung, als sie deren Blick gefolgt war.

»Klar, alles IKEA-Männer.« Susanne lachte, einen Hauch Verlegenheit abschüttelnd. »Kannst du mich hier mal ablösen? Limo will sowieso kaum jemand.«

Iris nickte und stellte sich neben Susanne.

»Kein Problem. Ich mach das hier schon. Geh ruhig zu Jens. Er wartet sicher schon auf dich.«

Jens rückte ein Stück zur Seite, als Susanne kam. Er saß mit einigen Studienkollegen zusammen, die offenbar größere Probleme wegen einer vermasselten Prüfung hatten. Alle blickten finster drein und schienen die Lösung irgendwo in den Tiefen ihrer Bierbecher zu suchen. Jens war gerade dabei, weitschweifig von einem ähnlichen Fall im vorangegangenen Semester zu berichten. Susanne hörte gar nicht zu. Sie nippte an ihrer Cola. Ihr Blick wanderte immer wieder zu der fröhlichen Schwedenecke. Sie hätte ohne weiteres aufstehen und sich dazusetzen können, aber irgend etwas hielt sie davon ab. Sie wickelte sich ihre Strickjacke enger um den Körper, als sei es kühl geworden, und lehnte sich an Jens‘ Schulter.

»Holger ist schon ein irrer Typ«, meinte Jens, als er und Susanne nach dem Fest um Fünf in der Frühe durch die nächtlichen Straßen schlenderten.

»Ja, aber ich mache mir manchmal Sorgen um ihn. Er lebt irgendwie dazwischen.«

»Wie meinst du das – dazwischen?«

»Na ja, er macht nichts richtig. Immer nur halbe Sachen. Soll er doch hier schnell zu Ende studieren und dann nach Schweden gehen, wenn er unbedingt will.«

»Ich glaube, er will gar nicht wirklich gehen. Er will eigentlich nur davon träumen, verstehst du?«

»Wie gut, dass wir hier und jetzt leben – und nicht in irgendeiner Traumwelt.« Susanne schmiegte sich an Jens und hakte sich bei ihm unter. Er zog sie fester an sich.

»Und hier und jetzt ist mir so richtig danach … «

Jens zog sie in einen unbeleuchteten Hauseingang und küsste sie.

»He, nicht hier … « Sie protestierte schwach, erwiderte aber seine Küsse und ließ es zu, dass er ihre Hüften umfasste und sie fest an sich drückte. Sie machte sich sanft von ihm los, nahm sein Gesicht in ihre Hände und streichelte ihn zärtlich. »Kommst du noch mit zu mir?«, fragte sie leise.

»Soll ich ihnen was vom Markt mitbringen, Frau Michalke?« Susanne sprach etwas lauter und formte die Laute mit den Lippen besonders deutlich. Frau Michalke war nämlich schwerhörig, aber der Meinung, dass sie nur deshalb nichts verstand, weil alle Anderen so undeutlich redeten.

»Nein, danke. Aber wenn Sie möchten, kann ich uns nachher ein paar Reibekuchen backen.«

Susanne kämpfte einen inneren Kampf: Frau Michalkes leckere Reibekuchen gegen ihre ziemlich eng gewordenen Jeans. Die Jeans gewannen.

»Die Reibekuchen möchte ich lieber ein andermal, aber einen Kaffee trinke ich gerne mit Ihnen. Vorher muss ich bloß noch für heute Abend eine Suppe kochen und danach meine Bude putzen. Ich komme dann einfach zu Ihnen und klingle an.« Frau Michalke winkte Susanne kurz zu und verschwand in ihrer Wohnung, die direkt unter der von Susanne lag.

Susanne war mit ihrer Entscheidung, in die kleine Zweizimmerwohnung ohne Badezimmer zu ziehen, bei all ihren Freunden auf Unverständnis gestoßen: »Wie kannst du denn in so einen alten Schuppen ziehen, und auch noch mit dem Klo eine halbe Treppe tiefer!« In stillen Minuten fragte sie sich oft, warum sie nicht ein Zimmer im Studentenwohnheim genommen hatte. Sicher hatte ihre Entscheidung mit Frau Michalke zu tun.

Als sie kurz vor Beginn ihres Studiums durch die Stadt lief und sich in der kleinen Bäckerei mit der gelb-rot gestreiften Markise ein Teilchen kaufen wollte, stand Frau Michalke vor ihr. Sie fiel ihr auf, weil sie einen altmodischen bunten Baumwollkittel trug. Einen solchen Kittel hatte Susanne seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Erinnerungen an ihre Großmutter wurden in ihr wach: eine liebe mollige Frau, die in den Kitteltaschen alles mit sich trug, was sie als kleines Mädchen gebraucht hatte – Geld für den Eismann, Karamellbonbons oder Taschentücher, je nach Lebenslage.

Noch bevor Susanne sich überlegen konnte, worauf sie am meisten Appetit hatte, drehte sich die kleine grauhaarige Frau plötzlich zu ihr um und hielt sich an ihrem Arm fest. »Entschuldigung, Frollein, aber mir ist auf einmal ganz schwummerig.« Sie versuchte entschuldigend zu lächeln, aber der Schreck stand ihr im Gesicht. »Frau Michalke, du lieber Gott! Sie hätten wirklich auf den Doktor hören sollen. Aber Sie haben ja immer Ihren eigenen Kopf«, rief die Verkäuferin besorgt und vorwurfsvoll zugleich. Sie kam mit einer Geschwindigkeit, die für ihre Körperfülle erstaunlich war, hinter der Theke hervor. »Setzen Sie sich mal hin. Ich sag meinem Kevin Bescheid, dass er Sie nach Hause bringen soll. Mit einer Grippe ist nicht zu spaßen!«

Susanne wusste selbst nicht, welcher Teufel sie eigentlich geritten hatte, als sie kurze Zeit später in Frau Michalkes Küche stand und den Wasserkessel – einen richtigen Flötenkessel – mit Teewasser auf den Herd setzte.

»Danke, dass Sie mir geholfen haben. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich.« Frau Michalke hatte es sich auf ihrem Sofa bequem gemacht und sah schon wieder etwas besser aus. »Ich wollte ja nur ein Brot kaufen, aber das war wohl keine gute Idee.« Und nach einer Pause: »Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir?«

Susanne seufzte leise. Da hab ich mir ja was eingebrockt, dachte sie, und das wegen dem Omakittel. Ich trinke jetzt noch den Tee und dann hau ich hier ab.

Aber dann kam es ganz anders. Susanne erfuhr, dass die Wohnung über Frau Michalke gerade frei geworden war, weil der junge Mann eine Stelle in einer anderen Stadt angenommen hatte.

»Und jetzt steht die Wohnung noch leer, obwohl sie eigentlich hübsch ist. Ich habe den Schlüssel zur Aufbewahrung. Soll ich Ihnen die Wohnung mal zeigen? Sie hat sogar eine kleine Dachterrasse.«

Die Dachterrasse war eigentlich gar keine. Es war nur eine ebene Dachfläche direkt hinter dem zweiflügeligen Küchenfenster, das bis zum Boden reichte. Bautechnisch ist das ja seltsam, dachte Susanne, aber es ist wie in einer Künstlerbude in Paris. Susanne konnte sich dem Charme der kleinen Dachwohnung mit der Beinahe-Dachterrasse, den altmodischen Flügelfenstern und den gemütlichen Dachschrägen nicht entziehen. Ich bin eine hoffnungslos romantische Kuh, dachte sie noch, als sie eine Woche darauf den Mietvertrag unterschrieb. Sie fand Gefallen an ihrem einfachen Viertel, war froh, sich nicht den ganzen Tag unter Studenten zu bewegen. »Ich will auch normale Leute sehen. Wenn ich immer nur im akademischen Saft schmore, dreh ich eines Tages durch«, erklärte sie Jens. »Aber da gibt es doch sicher nettere Viertel.« Jens wirkte irritiert. »Gehst du jetzt unter die Sozialromantiker, Susanne?«

»Nein, nur unter die Nostalgiker.«

Frau Michalkes Erzählungen bei ihrer gelegentlichen gemeinsamen Kaffeepause ließen die besseren Zeiten Hochfelds lebendig werden und tauchten das Viertel für Susanne in ein freundliches Licht.

»Früher waren hier jede Menge kleine Geschäfte und sogar ein Kino. Und hinten an der Ecke, wo früher ein Gemüseladen war, gab es auch einen Kohlenhändler. Als ich jung war, fuhr er sogar mit dem Pferdewagen los. Ja, das waren noch Zeiten!« Sie lachte ein kleines dünnes Lachen.

Den Hochfelder Wochenmarkt liebte Susanne besonders. Hier wohnten viele Türken, und deshalb war das Angebot an Obst und Gemüse, Gewürzen und Gebäck vielseitig und ein bisschen fremdländisch.

»Was möchten heute, junge Frau?« fragte die türkische Gemüsehändlerin freundlich und lächelte, so dass ihr Goldzahn kurz in der Sonne aufblinkte. Susanne kaufte jede Woche bei ihr ein; im Laufe der Zeit war sie zu einer Stammkundin geworden, die immer besonders zuvorkommend bedient wurde – und das, obwohl sie nur kleinere Mengen kaufte.

»Heute brauche ich Porree und Tomaten. Ich bekomme Besuch und möchte eine Porreesuppe kochen. Und vorher gibt es Tomaten mit Mozzarella.«

»Hört gut aus. Und am Ende gibt Erdbeeren.« Die Gemüsehändlerin lachte und reichte Susanne eine Schale Erdbeeren über die Auslagen hinweg an. »Aber…« Susanne wollte klarstellen, dass sie nur Gemüse kaufen wollte, doch die Türkin sagte nur. »Bitte. Für Sie. Sind schon bisschen tot.« Susanne lachte. Wenn doch Völkerverständigung immer so einfach wäre, überlegte sie, als sie einige Zeit später mit ihrem Einkaufskorb die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Also doch Sozialromantikerin? Jens würde jetzt wahrscheinlich die Stirn runzeln, ging ihr durch den Kopf.

Ich muss mich ein bisschen beeilen, wenn ich mit Frau Michalke noch einen Kaffee trinken will, dachte sie nach einem Blick auf die Uhr.

»Hallo Frau Michalke. Hier bin ich. Früher ging es nicht.« Sie lachte und pustete sich eine Strähne aus der Stirn.

»Ah, das macht nichts. Sie haben ja auch immer viel zu tun. Soll ich Ihnen mal zeigen, was ich Schönes gestrickt habe?«

Frau Michalke strickte leidenschaftlich gern. Leider waren die meisten Sachen aus schreiend buntem Acrylgarn angefertigt, sodass sich Susannes Begeisterung immer in Grenzen hielt.

»Das ist bestimmt schön warm im Winter.« sagte Susanne und schauderte beim Anblick der giftgrünen Strickjacke mit einem zweifellos komplizierten Zopfmuster.

Frau Michalke sah sie von der Seite an und lächelte. »Ihr jungen Dinger tragt ja nur immer so dünne Fummel. Aber ich hab lieber was Warmes an.«

Susanne wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, zumal sie befürchtete, dass Frau Michalke wieder das Thema Unterwäsche ansprechen könnte. Sie hatte ihr einmal einen leidenschaftlichen Vortrag über warme Unterwäsche und deren Bedeutung für die Erfüllung des Kinderwunsches gehalten, als Susanne gerade ihre winzigen Tangas von der Wäscheleine geholt hatte.

»Ich finde deine scharfen Höschen aber wesentlich interessanter im Hinblick auf den Fortpflanzungsvorgang«, hatte Jens vor ein paar Tagen grinsend gemurmelt und seine Hände unter ihren Rock geschoben. Er war absolut hingerissen gewesen von ihrem winzigen Spitzenhöschen und hatte sie zu sich auf den Stuhl gezogen, den er für ein Sonnenbad halb in das geöffnete Küchenfenster gestellt hatte. »Wir dürfen aber nicht laut sein«, flüsterte Susanne atemlos zwischen zwei wilden Küssen. Dann waren sie es aber doch. Und das bei offenem Küchenfenster. Susanne konnte sich noch gut daran erinnern, wie peinlich ihr am nächsten Morgen das Zusammentreffen mit Frau Michalke im Hausflur gewesen war – bis ihr einfiel, dass sie fast taub war. So ein Glück.

Susanne setzte ihre leere Kaffeetasse auf dem Küchentisch mit der geblümten Wachstuchtischdecke ab.

»So, jetzt muss ich aber los. Ich möchte mich noch schön machen, bevor mein Besuch kommt«, sagte Susanne und stand auf.

»Ach, kommt Ihr junger Mann gleich?« Frau Michalke lächelte schelmisch.

Als Jens klingelte, war sie gerade fertig angezogen. Nur ihr Haar glänzte noch etwas feucht.

»Bin ich zu früh?«

»Nein, alles okay. Du kannst mir noch ein bisschen helfen, wenn du magst.«

Er sah sie fragend an. »Was hast du denn noch zu tun? Wir wollen doch nur besprechen, was wir diesen Sommer mit den Schweden unternehmen wollen. Ist doch keine große Sache.«

Susanne druckste ein wenig herum. »Also, ich hab mir gedacht, dass wir ja auch mal schön zusammen essen können und so.«

»Hm.« Jens sah sich in der Küche um und zählte die Stühle um den ausgezogenen Küchentisch. »Wer kommt denn noch? Wir sind doch heute nur zu fünft verabredet.«

Susanne vermied es Jens anzusehen und öffnete umständlich eine Weinflasche.

»Ich habe noch einen von den Schweden eingeladen. Als Interessenvertreter für die Schwedentruppe sozusagen.«

»Das war aber nicht abgemacht. Vielleicht wollen wir ja auch mal was Internes besprechen. Also, das ist jetzt echt blöd, Susanne.«

Susanne zuckte nur mit den Schultern und sah Jens nicht an. Er hatte ja Recht.

Sie war heute Morgen auf dem Weg in die Bibliothek gewesen, als Björn ihr über den Weg lief.

»Hej Susanne. Du bist aber fleißig«, sagte er mit einem Blick auf ihren Bücherstapel und lachte sie strahlend an.

»Das täuscht. Ich will nur die Bücher für meinen Professor abgeben. Meine Klausuren habe ich alle schon geschrieben. Deshalb kann ich mich ganz eurem Kulturprogramm widmen.« Sie lachte.

»Ja, ich würde hier gerne viel sehen«, gab Björn freundlich zurück. Er stand da mit einem weißen T-Shirt und ausgeblichenen Jeans, wirkte uneitel und war gerade dadurch unwiderstehlich. Himmel, ist der toll, dachte Susanne, und bevor sie darüber nachdenken konnte, hatte sie ihn schon zu dem abendlichen Treffen der Beratungsgruppe, die sich auch um die Schweden kümmerte, eingeladen.

»Ich zeichne dir im Stadtplan ein, wo ich wohne. Es ist ganz leicht zu finden«, hatte sie ihm erklärt und ihm ihr gewinnendes Lächeln geschenkt.

Sie konnte Jens doch jetzt unmöglich sagen, dass sie deshalb so viel vorbereitet hatte, weil sie dem aufregenden fremden Typen imponieren wollte.

»Na ja, es war keine tolle Idee, aber ich habe mir nichts Böses dabei gedacht. Ehrlich«, beschwichtigte sie ihn, aber wohl in ihrer Haut fühlte sie sich nicht.