Zingster Straße 25 - Sonya Schönberger - E-Book

Zingster Straße 25 E-Book

Sonya Schönberger

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Beschreibung

Um die Bevölkerung mit dringend benötigtem Wohnraum zu versorgen, setzte die DDR-Regierung ab Mitte der 1950er Jahre auf die industrielle Plattenbauweise. An den Stadträndern entstanden Neubausiedlungen, deren Wohnungen sich aufgrund ihrer modernen Ausstattung großer Beliebtheit erfreuten. Eine der zuletzt errichteten Großsiedlungen Ost-Berlins ist Neu-Hohenschönhausen. Erich Honecker selbst legte im Februar 1984 den Grundstein. Bereits 1987 konnten viele mehrstöckige Gebäude bezogen werden, darunter das Wohnhochhaus in der Zingster Straße 25. Drei Jahrzehnte später fragt die Künstlerin Sonya Schönberger, was aus den Erstbewohner*innen des Hauses geworden ist. Wer ist noch da? Wer ist hinzugekommen? Die auf Interviews basierenden Geschichten dieses Heftes geben Einblick in unterschiedliche, jedoch durch die äußere Hülle der ‚Platte‘ miteinander verbundene Lebenswirklichkeiten. Sie erzählen auf sehr persönliche Weise vom Alltag in der DDR, vom Wechsel der politischen Systeme und von der Gegenwart im wiedervereinten Deutschland.

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Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #6

Zingster Straße 25

Sonya Schönberger

Um die Bevölkerung mit dringend benötigtem Wohnraum zu versorgen, setzte die DDR-Regierung ab Mitte der 1950er Jahre auf die industrielle Plattenbauweise. An den Stadträndern entstanden Neubausiedlungen, deren Wohnungen sich aufgrund ihrer modernen Ausstattung großer Beliebtheit erfreuten. Eine der zuletzt errichteten Großsiedlungen Ost-Berlins ist Neu-Hohenschönhausen. Erich Honecker selbst legte im Februar 1984 den Grundstein. Bereits 1987 konnten viele mehrstöckige Gebäude bezogen werden, darunter das Wohnhochhaus in der Zingster Straße 25.

Drei Jahrzehnte später fragt die Künstlerin Sonya Schönberger, was aus den Erstbewohner*innen des Hauses geworden ist. Wer ist noch da? Wer ist hinzugekommen? Die auf Interviews basierenden Geschichten dieses Heftes geben Einblick in unterschiedliche, jedoch durch die äußere Hülle der ‚Platte‘ miteinander verbundene Lebenswirklichkeiten. Sie erzählen auf sehr persönliche Weise vom Alltag in der DDR, vom Wechsel der politischen Systeme und von der Gegenwart im wiedervereinten Deutschland.

Inhalt

Berliner Mietshaus mit Vollkomfort

Interviews

Glossar

Impressum

Berliner Mietshaus mit Vollkomfort

Sonya Schönberger

Auf dem VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (→ SED) 1971 verkündete der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR Erich → Honecker das Vorhaben, durch die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik das materielle und kulturelle Lebensniveau der Menschen zu erhöhen. Dazu gehörte auch ein Wohnungsbauprogramm, das bis 1990 angemessenen Wohnraum für alle DDR-Bürger*innen schaffen sollte. Mittels industrieller Technologien wie der → Plattenbauweise wurden bessere materielle Voraussetzungen für eine höhere Bauleistung geschaffen und die benötigte soziale Infrastruktur für die neu entstehenden Bezirke von Anfang an mitgeplant. In der Folge dieser Planung entstand auch Neu-Hohenschönhausen. Am 9. Februar 1984 legte Honecker in der Barther Straße 3 den Grundstein zu der neuen Großsiedlung. Damals war das Gebiet zwischen den nördlich gelegenen Dörfern Falkenberg, Malchow und Wartenberg und dem südlichen Alt-Hohenschönhausen eine Gegend mit → Rieselfeldern und bot viel Raum für den versprochenen Einsatz gegen die Wohnungsnot. Rund 30.000 Wohnungen für 90.000 Menschen entstanden in den fünf Folgejahren.

Das Wohnhochhaus (WHH) in der Zingster Straße 25 ist Teil der Siedlung und wurde 1987 bezugsfertig. Die Architektur des Hauses entspricht dem Hochhaus-Typ WHH GT 84/85, der 1984/85 in Vorbereitung zur 750-Jahr-Feier Berlins für die Wohnanlage am → Ernst-Thälmann-Park in Berlin-Prenzlauer Berg entworfen worden war. Er besteht aus 20 Stockwerken mit insgesamt 144 Wohnungen und ist 61,6 Meter hoch. Neu bei diesem Typ war, dass es sich nicht um einen reinen Kubus handelte, sondern um einen gefächerten Grundriss. Im Erdgeschoss des Hauses Zingster Straße 25 befinden sich heute ein Friseurgeschäft sowie die kommunale Galerie studio im HOCHHAUS. Die Obergeschosse 1–18 bestehen aus je acht Wohneinheiten mit Ein- bis Vierraumwohnungen: zwei Einraumwohnungen mit 34,08 qm, zwei kleine Zweiraumwohnungen mit 54,80 qm und zwei große Zweiraumwohnungen mit 62,92 qm; des Weiteren gibt es eine Dreiraumwohnung mit 67,24 qm sowie eine Vierraumwohnung mit 83,13 qm. Es gibt zwei Aufzüge und ein Treppenhaus mit Müllschlucker. Die Küchen mit Durchreiche und die Bäder sind fensterlos und liegen nach innen gerichtet. Da das Gebäude nicht unterkellert ist, steht in den Wohnungen ein Abstellraum zur Verfügung. Im Dachaufbau befinden sich Lagerflächen für die Einraumwohnungen, die nicht mit einem internen Abstellraum ausgestattet sind.

Bis auf die Einraumwohnungen erhielten die Wohnungen dreieckige Balkone, welche die gefächerte Fassade zusätzlich gliedern. Die Brüstungen wurden mit vertikal strukturiertem Sichtbeton und Fliesung gestaltet. Mitte der 1990er Jahre begann die erste Sanierungsphase der Wohnungsbestände in Neu-Hohenschönhausen, in deren Folge die Fassaden mit Dämmschutz verkleidet wurden, was die Optik auch farblich – von Betongrau zu Weiß mit Pastelltönen – veränderte.

So die Fakten zum Haus Zingster Straße 25, in dem ich im Sommer 2017 Interviews mit Bewohner*innen führte.

In Berlin-Kreuzberg wohnend, war ich sehr neugierig auf Neu-Hohenschönhausen, das für mich weit im Osten lag und von dem ich nur die Silhouette kannte: Wie lebt man dort, wie fühlt man sich in Bezug auf den Rest der Stadt, wie begegnen sich dort die Generationen und verschiedenen Kulturen, wie erinnert man die DDR und wie hatte man die Wende erlebt? Für mich war es wie ein Ausflug in die Fremde, in einen unbekannten Teil der Stadt, in der ich seit zwei Jahrzehnten lebe.

Ein Haus verbindet die Menschen, die in ihm wohnen, durch die äußere Hülle. Es verwebt ihre Geschichten miteinander, denn man lebt unter-, über- oder nebeneinander, man beeinflusst sich und wird beeinflusst, auch wenn das nicht als bewusster Vorgang wahrgenommen wird. Irina Liebmann schreibt in ihrem Buch Berliner Mietshaus von 1982: „Was über ein Haus zu erfahren ist, entnimmt seinen Anteil aus der Geschichte des Landes, Ortes, Stadtteils und setzt sich zusammen aus den Lebensgeschichten der Menschen, die seine zeitweiligen Bewohner sind. Vergangene und bestehende, öffentliche und private, erlebte und erzählte Wirklichkeit wechseln ständig ineinander.“ Während sich die Schriftstellerin mit dem Ostberliner Altbau Anfang der 1980er Jahre und den Erfahrungen und Träumen der Menschen, die zu einer anderen Zeit in einer völlig anderen Wohnform zusammenlebten, auseinandergesetzt hat, wollte ich wissen, wie es den Menschen heute ging, die einen Umzug aus dem Altbau in die ‚Vollkomfortwohnung’ vollzogen hatten. Das nachkriegsgebeutelte Berlin bot einst graue Fassaden, Außentoiletten und Kohleöfen. Neu-Hohenschönhausen war anders: „Warmwasser aus Wand, Licht aus Decke“ und viel Grün drumherum. Obwohl für die Bewohner*innen in der Zwischenzeit wahrlich einiges passiert ist, auf privater als auch auf gesellschaftlicher Ebene, hat sich die Zufriedenheit, welche die Befragten beim Einzug empfanden, für die meisten bis heute erhalten.

25 Interviews habe ich führen können. Die meisten fanden in den Wohnungen der Interviewten statt, manche auch im studio im HOCHHAUS. Die Menschen haben mir von sich erzählt, von ihrer Vergangenheit und Gegenwart, von ihren Ängsten und Hoffnungen, und ich danke ihnen für ihre Offenheit. Diese ist nicht selbstverständlich, denn oft genug spürte ich auch Misstrauen und Ablehnung. Während Irina Liebmann noch direkt an den Wohnungstüren in der Pappelallee im Prenzlauer Berg klopfte und fast immer eingelassen wurde, scheint diese Art der Kontaktaufnahme 35 Jahre später in einem vereinten Berlin, vielleicht in ganz Deutschland, unvorstellbar. Ich entschied mich also, die Bewohner*innen vor dem Haus anzusprechen. So konnten sie sich infolge des Eindrucks, den sie von mir bekamen, und einer Schilderung meines Vorhabens für oder gegen ein Gespräch entscheiden. Die Gespräche hatten eine unterschiedliche Dauer und auch eine unterschiedliche Tiefe. Die Interviewten erzählten so viel von sich, wie sie bereit waren. Alle Gespräche wurden für diese Publikation anonymisiert.

Bedanken möchte ich mich ganz herzlich bei Uwe Jonas, dem Kurator der kommunalen Galerie studio im HOCHHAUS, der sich mutig und neugierig auf meine Idee und diese Zusammenarbeit eingelassen hat. Der Leiterin der Galerie, Martina Zimmermann, gilt mein ganz besonderer Dank, denn durch ihre offene und herzliche Art wurde sie eine unverzichtbare Unterstützung bei der Kontaktaufnahme.

Interviews

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Frau W.

Die große Wohnung ist schön. Das einzige Manko an dieser Wohnung ist ja die kleine Küche. Die ist bei jedem so, die ist von der Einraum- bis zur Vierraumwohnung gleich. Das ist ein Überlegungsfaktor gewesen, ob wir die Wohnung nehmen oder nicht.

Seit ’81 wohnen wir im Neubau. Von ’63 – da haben wir geheiratet – bis ’81 haben wir im Altbau gewohnt. Da sind wir oft umgezogen. Erst haben wir in Halle gewohnt, in so einem Altbauviertel, was dann abgerissen wurde, mit der Stadterneuerung. Dann haben wir sieben Jahre auf dem Dorf gewohnt, weil wir nach dem Studium dort hingegangen sind. Das war so üblich, dass man sich nach dem Studium – wir sind ja beide Lehrer von Beruf – verpflichtet hat, erst mal dorthin zu gehen, wo man gebraucht wird.

Mein Mann ist später dann noch mal zum Studium nach Berlin. Aber das war kein Problem. Wir hatten viele Jahre eine Fernbeziehung. Ich bin noch zwei Jahre dort geblieben, und dann bekam er eine Anforderung nach Berlin. Meine Mutter war als junges Mädchen in Berlin in Stellung, wie man das Anfang des 20. Jahrhunderts hatte, die hat gesagt: „Mensch, Berlin ist eine schöne Stadt, da wirst du dich dran gewöhnen.“ Aber ich habe Probleme gehabt, das war ’72. Als Kind hatte ich das Stadtbild von Berlin kennengelernt, aber ich hatte es nicht lieben gelernt. Dieser Menschenschlag hat mir am Anfang natürlich … Ja, aber dann hab ich Berlin schätzen und lieben gelernt, vor allem über die schönen Möglichkeiten der Kultur, der Kunst, ich bin ja auch Deutschlehrer von Beruf.

Mein Mann wurde ins Ministerium für Volksbildung geholt, da hat man junge Leute, die noch unter 30 waren, geholt, um ein bisschen, ich sag mal, bisschen Auffrischung zu haben. Berlin hat auch Lehrer gesucht oder gebraucht. Aber die Schule hab ich mir nicht ausgesucht, die Schule kriegte ich zugewiesen in Berlin-Mitte. Das war die Heine-Schule, sie heißt auch heute noch so, genau an der Mauer. Aber wirklich an der Mauer, der Grenzübergang war Heinrich-Heine-Straße. Ich bin ’72 dorthin, da waren am hinteren Ausgang der Turnhalle die Grenztruppen stationiert. Wenn ich aus dem Klassenzimmer rausgeguckt habe – die Fenster gingen alle nach dem Westen –, da liefen unten die Grenzer noch mit Hunden, bevor die zweite Mauer gebaut wurde. Die Kinder, die dort zur Schule gingen, aus diesem Wohngebiet, Sebastianstraße, die kannten das nicht anders. Die sind mit dieser Mauer groß geworden. Die Gegend war vorwiegend von Leuten bewohnt, die für den Staatsapparat tätig waren. Weniger von der → Staatssicherheit, das war ja auch nicht bekannt. Man wusste ja nicht, wo die Leute gearbeitet haben. In den Klassenbüchern stand ja häufig nur der Begriff ‚Angestellte‘, das war ja durchgängig.

Man kann insgesamt die Art der Erziehung, die Art und Weise des Unterrichtens, auch der Freizeitgeschichte, nicht mehr mit heute vergleichen. Die Leute haben ihre Kinder ordentlich erzogen. Viele Kinder kamen ja auch aus nicht gerade bildungsfernen Elternhäusern. Da hat auch keiner in irgendeiner Weise versucht, sich daraus Recht zu nehmen, also: „Na, warte mal, mein Vater kommt“ oder so. Ich hab’s eigentlich an dieser Schule gar nicht gemerkt. An der zweiten Schule nachher, an der Wallstraße, wo ich Schuldirektorin war, da hat’s so zwei, drei Leute gegeben. Aber die kamen aus der Kunst, das waren Schauspieler. Ein relativ bekannter. Der hatte einen Jungen, der war nicht ganz so gut erzogen, der hat mir einmal eine Tür im Chemieraum eingetreten. Und dann hat dieser Künstler mir erklärt, dass ich mir das doch wohl nicht wagen würde, dem Sohn einen Verweis zu geben. Dann hab ich gesagt: „Das wag ich mir.“ So ein Verweis war ja die höchste Strafe, die es an der Schule außer einer Strafversetzung geben konnte. Der hat dann auf dem Hof gestanden, aber war ganz friedlich.

An der 15. Oberschule Fürstenberg, da bin ich Schuldirektorin geworden. Man gehörte zu diesen Lehrern, wo sie der Meinung waren, dass die ihre Sache oder ihr Handwerk gut verstehen. Dann hatte ich eine Berufung zum Forschungslehrer der→ Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, da ging es um methodische und didaktische Probleme der Unterrichtsgestaltung. Es ging damals vor allem um die Frage, wie kann man den Oberstufen-unterricht in den 9. und 10. Klassen modernisieren und auch ein bisschen anpassen, damit der Übergang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen leichter würde. Und die wollten gerne, dass ich promoviere, die APW. Da hab ich gesagt, mach ich nicht, das ist nicht so mein Ding, ich will lieber unmittelbar an der Schule arbeiten. Das war ein großes Gespräch beim Schulrat in Mitte, und dann sagt er: „Und hättest du Lust, Schuldirektor zu werden?“ Ich sage: „Das würd’ ich schon eher machen, weil ich ja da noch unterrichten kann.“ Als Direktor musste man auch unterrichten, oder durfte unterrichten. Dann wurde die Direktorin dieser Schule schwer krank, und da brauchten sie jemanden, und so kam ich da hin. Das war ’76, da war ich 34 Jahre alt. Unser Sohn war damals 12, die Tochter war 8, und mein Mann arbeitete zu diesem Zeitpunkt eigentlich wieder in Berlin, aber dann doch wieder im Bezirk Erfurt. Aber die Kinder waren selbstständig, die haben sich versorgt. Damals lebten wir noch in Lichtenberg, dort am Theater der Freundschaft in der Parkaue. So bin ich Schuldirektor geworden. Aber es ging ja noch weiter. Dann bin ich in die Abteilung Volksbildung, da wurde ich Leiterin der Schulinspektion. Und 1985, mit der Gründung dieses Stadtbezirks, wurde ich Stadtbezirksrätin von Hohenschönhausen. Das war Schritt für Schritt, also nicht nach oben geschossen. Ich war zehn Jahre Klassenlehrer, ich hab da nicht nur Staub gewischt. Dann war ich noch mal von ’79 bis ’85 Leiter der Schulinspektion, also auch sechs Jahre. Und dann Schulrat. Und das Ende war dann die Wende.

Sie haben mich entlassen aus dem öffentlichen Dienst. Sehr direkt. Man ist ja als Stadtschulrat in diesem Status der Kreisschulräte gewesen. Alle die, die länger im Amt waren, wurden entlassen. Das gehörte zum → Einheitsvertrag. Es gab bestimmte leitende → Kader, die wurden einfach entlassen. Die Stellvertreter hat man in der Regel behalten, wenn sie nicht eine direkte → Stasi-Verstrickung hatten. Denn da waren sie clever genug, dass sie immer noch die belassen haben – wie sagt man so schön? –, dass es weiter funktioniert.

Für mich persönlich war das schlimm. Ich habe bis zu dieser Wahl 1990 als Schulrat fungiert. Hab dann aber gesagt, so was kommt für mich nicht mehr infrage. Dann war man ja mit dieser Wahl im Prinzip auch abgewählt. Es gab aber zu diesem Zeitpunkt noch DDR-Recht. Da hat man mir eine Arbeit an der Schule angeboten. Ich kannte ja die Besetzung der Schulen in Hohenschönhausen auch fachgerecht gut. Hab in diesem Gespräch damals gesagt, ich gehe an die Schule, aber ich nehme keinem anderen Deutschlehrer die Stelle weg. Das war mir einfach zu blöd. Ich hätte keinem anderen Lehrer, bloß damit ich dorthin komme, die Stelle weggenommen. Das war einfach nicht meine Moral. Und man brauchte zu diesem Zeitpunkt Horterzieher. Da hab ich gesagt, das hab ich zwar noch nicht gemacht, aber ich bin ja ausgebildeter Pädagoge, ich geh in den Schulhort. Und das ging bis zum 3. Oktober. Da hab ich direkt noch mal einen Arbeitsvertrag gehabt, also einen geänderten Arbeitsvertrag, ist klar. Hat man in Deutschland immer Wert drauf gelegt – als Schulrat war ich ja abgewählt. Hatte dann mit der Volksbildung einen Arbeitsvertrag als Einsatzort Horterzieher. Dann gab’s den 3. Oktober, und am 5. Oktober wurde ich hinbestellt und fristlos entlassen, beurlaubt. Ich habe die Lage subjektiv richtig eingeschätzt. Ich war ja kein Traumtänzer. Aber dass dann Leute Sie entlassen haben, die Sie vorher anders eingeschätzt haben, wo man dann im Volksmund auch ‚Wendehälse‘ dazu gesagt hat, das hat mich schon in gewisser Weise gekränkt, aber hat mir meinen Stolz nicht genommen. Man hat mich beurlaubt, sofort, und dann entlassen. Ich bin ja nicht persönlich gescheitert in dem Beruf. Allein in Hohenschönhausen habe ich 25 Schulen in Gang gesetzt, die ganzen Kindergärten, es gehörten ja Schulen und Kindergärten dazu. Die wurden neu gebaut, und die mussten ja beginnen zu funktionieren, mit allem Drum und Dran. Also vom Hausmeister über Lehrer, die Lehrer brauchten Wohnungen – also das war schon … Sie brauchten ja auch die entsprechenden Lehrer, sie brauchten sowohl die Mathe- als auch die Deutschlehrer. Ich bin also nicht persönlich gescheitert. Als Stadtbezirksschulrat war man ja auch gewähltes Ratsmitglied, ich hatte auch einen Wahlkreis hier vorne. Die Leute kannten mich, ob ich wollte oder nicht. Mich hat nicht ein einziger Mensch in der Kaufhalle blöd angemacht. Hinter oder neben mir haben auch keine Leute abfällige Bemerkungen gemacht. Mich haben die Leute hier im Haus weiter gegrüßt, das war so. Am 3. Oktober haben sie mich beurlaubt, und dann haben sie mich – das haben sie mir zugestanden, nach deutschem Recht – ein halbes Jahr vom Dienst suspendiert und dann entlassen, fristlos entlassen.

Ich war 48. Und dann habe ich wie alle anderen erst mal beim Arbeitsgericht gegen diese Entscheidung geklagt. Da kriegte ich in der ersten Instanz recht. Da war der Arbeitsrichter der Meinung: Ist nicht. Dann ist natürlich der Arbeitgeber, der Stadtbezirk, in Berufung gegangen, und dann musste ich vors Landesarbeitsgericht. Und die haben dann das Urteil geändert, indem sie mich entlassen haben, und haben mir bestätigt, intelligent genug wäre ich ja gewesen, ich hätte das ganze System und den Staat durchschauen müssen und hätte nicht für ihn arbeiten brauchen. Na ja, das hab ich mir einmal durchgelesen und weggetan, das war’s dann. Nachdem sie mich erfolgreich rausgeschmissen hatten, haben sie meinen Mann rausgeschmissen. Dann haben wir gesagt, wer zuerst entlassen wird – ich war die, die zuerst entlassen wurde –, der kümmert sich um die Umschulung. Und da habe ich gedacht, was kannst du? Im Büro nehmen sie dich nicht, da bist du viel zu alt, ist völlig klar. Technik kannst du nicht. Das Einzige, was du kannst, du kannst mit Menschen arbeiten. Altenpfleger gab es ja in der DDR nicht als Beruf. Die Voraussetzungen für eine Umschulung hatte ich vom Arbeitsamt, das musste ja auch einer bezahlen. Und dann hab ich mir eine Altenpflegeschule gesucht. Erst mal bin ich zu einigen sozialen Trägern in West-Berlin gegangen und hab versucht, mich insgesamt zu bewerben. Aber bei den großen Vereinen wie Arbeiterwohlfahrt hatte ich mit meiner Biografie so was wie null Chance. Und dann habe ich eine Bewerbung abgegeben – da gab es in West-Berlin das Institut für angewandte Gerontologie am Olivaer Platz, das ist eine Privatschule mit staatlicher Anerkennung. Der hat mich eingeladen, und der hat mit mir geredet. Der war richtig gut, der war nett. Dann hab ich zu ihm gesagt: „Sagen Sie mal, und wo finde ich Arbeit? Wenn ich fertig bin, bin ich über 50.“ Da hat er gesagt: „Arbeit finden Sie in der Altenpflege. Altenpflege wird gebraucht, und Leute, die Lesen und Schreiben können, braucht man in Berlin vor allen Dingen. Was wir bisher haben, sind Hauptschüler.“ Dann hab ich mich noch mal drei Jahre auf die Schulbank gesetzt, richtig drei Jahre die Ausbildung gemacht zur Altenpflegerin.

Das erste Praktikum in der Pflege ging leicht, da ist man ja eine billige Arbeitskraft. Aber beim zweiten Praktikum, Beratung und Betreuung, hatte ich Schwierigkeiten. Als ich hingekommen bin, haben sie meine Unterlagen gelesen – ich musste ja auch einen Lebenslauf abgeben, da stand ja drin, dass ich Schulrat war. Ja, und dann bin ich aber zu einem kleinen Träger gegangen, dem Humanistischen Verband. Die saßen damals noch als Freidenker in Neukölln, am Hermannplatz. Und die gaben mir erst mal die Chance, dass ich da meine Praktika machen kann, und haben mir dann auch Arbeit angeboten. Da hab ich gearbeitet bis voriges Jahr.

Ich komme aus einer Familie mit vier Kindern. Viele Politiker sagen ja heute: „Ich komme aus einfachen Verhältnissen.“ Ich komme auch aus einfachen Verhältnissen. Ich hatte den Vorteil, ein Arbeiterkind zu sein, und hatte demzufolge auch alle Entwicklungsmöglichkeiten, die man, wenn man auch dazu den entsprechenden Geist hatte, in der DDR wahrnehmen konnte. In meiner Familie war ich die Einzige, die einen akademischen Abschluss hat. Arbeit schändet nicht, und nur wer nicht arbeitet, ist asozial, das war so das Credo. Ja, das war das Erste, dass ich also auch immer gewöhnt war, zu arbeiten. Dann hab ich auch gesagt, ich lass mich von euch nicht kleinkriegen. Solange ich gesund bin und zwei Hände zum Arbeiten habe und der Kopf funktioniert, lass ich mich von euch nicht in die Ecke stecken. Aber ich hatte eben Glück, in der Form, dass ich mich noch zu der Zeit für eine Umschulung beworben hatte, wo sie noch nicht die Altersgrenze hatten. Später wurde die ja runtergesetzt. Und dann auch in einem Beruf, den sie dringend brauchten für die demografische Entwicklung.

Ich musste jeden Tag bis zum Savignyplatz fahren, also ich war den ganzen Tag unterwegs. Ich hatte andere Inhalte, ich musste ja den neuen Beruf von der Pike auf lernen. Und das neue System außerdem.

In meiner Klasse waren ganz viele Ossis. Das waren vorwiegend Frauen, ist klar, auch mittleren Alters mit den unterschiedlichsten Berufen. Vom Justiziar über den Archäologen, ganz viele Frauen mit Hochschulabschluss. Das war natürlich für die Schule ein Gewinn, denn die Frauen wollten ja alle. Die meisten hatten in der Familie arbeitslose Männer oder welche, die auf der Kippe standen. Und die konnten alle lesen und schreiben. Damit bestand die Frage Wessi/Ossi eher in dieser Form, dass dann einige von den Mitschülern ein bisschen geguckt hatten, was dann so die Ergebnisse waren.

Im Oktober ’87 sind wir hier eingezogen, Erstbezug. Ich hatte kein Problem damit, hier reinzuziehen. Und ich hatte gehört, dass das sehr schöne Wohnungen sein sollen. Dann haben wir uns die Wohnung angucken dürfen und da gab es eine für unsere Begriffe furchtbare Tapete, solche großen dunklen Muster. Die haben die Wohnungen einfach durchtapeziert mit der Tapete, die sie hatten. Die sah grauenvoll aus. Manche Leute haben gedacht, ich spinn, aber ich hab gesagt, in die Wohnung mit der Tapete ziehe ich nicht ein. Mein Mann und mein Sohn haben dann diese Tapete einfach überstrichen.

Die Leute im Haus waren im Prinzip alle 30 Jahre jünger. Die haben alle gearbeitet. Wenn man sich sah, hat man sich gegrüßt. Und ansonsten gab es ganz normal „Guten Tag“, „Guten Weg“ und, und, und. Erst im Laufe der Jahre, so was muss ja auch wachsen, hat man sich dann mit diesen oder jenen angefreundet.

Es haben in diesem Haus auch einige gewohnt, die bei der Armee waren, denk ich mal. Da sind schon welche nach der Wende arbeitslos geworden. Es sind auch einige Familien aus den Vierraumwohnungen weggezogen. Ja, und die Einraumwohnungen hatten einen relativ häufigen Wechsel. Bei uns auf der Etage war ein Nachbar arbeitslos, mein Mann arbeitslos, die jungen Leute neben dem Fahrstuhl waren beide vorübergehend arbeitslos. Es hat schon viele getroffen. Viele haben auch über Monate damit zu kämpfen gehabt, wie die → Gauck-Behörde sie überprüft hat. So nach der Devise: Darf ich bleiben oder darf ich nicht bleiben? Und es ging auch immer darum, von der Moral, dass jemand gesagt hat: Hauptsache, einer bleibt in Lohn und Brot. Und es war die gängige Frage, bis weit in die neunziger Jahre rein, an Bekannte, Familien, auch im Haus: „Hast du Arbeit?“ Also gar nicht: „Wie geht’s dir?“ Sondern die erste Frage war: „Hast du Arbeit?“ Das hat im Prinzip die Leute alle beschäftigt. Als ich nachher in der Hauskrankenpflege gearbeitet habe, hab ich ja dieses Elend in Mitte auch gesehen. Da hab ich manchmal zu den Leuten gesagt: „Ich kann mich in Sie reinversetzen, ich hab zu Hause auch einen Mann, auch mein Sohn … Also ich weiß selber, wie das ist.“ Also das war die dominierende Frage. Mancher hat sich dann auch ganz schnell in seine Wohnung wieder zurückgezogen, und irgendwann kommt jetzt aber die Zeit, seit einigen Jahren, dass Leute miteinander Kontakt haben, die einfach viele Jahre von den 30 Jahren ja nur „Guten Tag“ und „Guten Weg“ gesagt haben oder mal gesagt haben: „Ach, heute ist kein schönes Wetter“ oder so. Aber das hat was mit dem Alter zu tun, auch mit den fehlenden Kontakten. Dann guckt man doch so im Umfeld, ob man da doch noch jemanden hat oder findet, der eigentlich immer ganz nett war, ob man da nicht mal ein bisschen Freizeit miteinander verbringen kann.

Ich wollte anfangs mal nach der Wende wegziehen, aber mein Mann war der Meinung, er zieht hier nicht aus. Das war nur ein kurzes Gespräch. Ich wusste am Anfang nicht, ob wir diese Wohnung finanziell halten können. Die haben dann ’98 umfassend saniert, das hat uns natürlich durchaus gefallen, im Ergebnis. Und dann haben wir gesagt, wir haben jetzt hier alle Bedingungen, die wir brauchen, und ich bin im Nachhinein froh. Mein Mann hat ja den Rollstuhl und einen Rollator, es ist hier auf eine Art behindertengerecht. Das war damals nicht die Überlegung, aber jetzt ist es positiv.

Mir hat unmittelbar nach der Wende wirklich keiner in irgendeiner Weise … weder etwas in den Briefkasten noch mich angehauen oder böse über mich geredet. Sicherlich, wenn Sie Entscheidungen treffen, müssen Sie ja immer jemandem auf die Füße treten, und das Auf-die-Füße-Treten war ja manchmal, dass eben doch dieses oder jenes Elternteil für das Kind keine Zulassung für die → EOS gekriegt hat. Wir hatten ein Kontingent, das war begrenzt, weil das ja auch abhängig war von den möglichen Studienplätzen und späteren Arbeitsplätzen. Dann gab es eine interne Regelung – zu der hab ich aber gestanden, obwohl ich selber eine Frau bin –, dass wenigstens die Hälfte der Schüler Jungens sein müssen, auch in der DDR. Da geh ich einmal aus von der Arbeit damals – auch eine DDR kann es sich auf Dauer nicht leisten, dass die ganze Intelligenz und Führungskader nur aus Frauen besteht. Wir hatten ja schon Berufe, wo vorwiegend Frauen waren. Ich hatte ja manchmal Schulen, da waren nur drei oder vier Männer. Dann gab es natürlich auch ein Interesse daran, dass auch Jungens zur EOS delegiert wurden, die den Offizierswunsch hatten. Heute wirbt man für die Bundeswehr auch überall. Und wenn die Jungen ordentliche Leistungen hatten – davon musste man ja ausgehen, man hat ja auch keine Idioten da hingeschickt –, aber wenn die eben vielleicht doch zwei oder drei Zweier mehr hatten als ein Mädchen, da haben die natürlich auch eine Zulassung zur EOS gekriegt. Da hat man hier oder da jemandem auf die Füße getreten.

Ich habe persönlich eigentlich einen Strich unter die DDR gemacht, indem ich gesagt habe: Das war mein Leben, das hab ich bewusst gelebt, das bereue ich auch nicht. Ich bin dankbar für die Möglichkeiten, die ich für eine berufliche Entwicklung in diesem Land hatte. Ich konnte damit leben, dass ich nicht reisen konnte. Andere konnten es nicht. Das ist ja auch unterschiedlich.

Und dann ist dieses Leben in der DDR einfach so beendet worden, wie es passiert ist. Die Mehrheit der Leute in der DDR wollte so nicht mehr leben, das musste man irgendwo respektieren oder tolerieren. Viele wussten, denke ich, nicht, was sie machen. Die haben gedacht, sie kriegen die Reisefreiheit und die D-Mark, und wussten nicht, dass sie den ganzen Kapitalismus kriegen. Aber dafür bin ich nicht verantwortlich, da müssen sie jetzt selber durch. Ich hab mir einfach den Platz in diesem Land gesucht. Ich habe mich durchaus mit dem Grundgesetz beschäftigt. Ich bin der Meinung, so ein Grundgesetz, wie wir es haben, gibt es auf dieser Welt nicht noch mal, im positiven Sinne. Das ist meine ehrliche Überzeugung. Ich habe in diesen Jahren nach dieser Umschulung noch einmal eine ordentliche Arbeit gehabt. Sicherlich war ich einer der höchstqualifizierten Altenpfleger. Aber ich hab mich mit der Arbeit identifiziert, ich hab die gern gemacht. Ich bin jahrelang frühmorgens hier um halb vier aufgestanden und hab um halb sechs am Bett von alten Leuten gestanden und hab die, im wahrsten Sinne des Wortes, gewindelt. Die Leute waren alle nett, mit denen bin ich gut klargekommen, ich habe mich nützlich gefühlt. Ich hab keine Pseudoarbeit gemacht.

Mein Mann hat die Wende nicht verkraftet. Der wurde immer in sich gekehrter, er hat jetzt auch Depressionen. Mein Mann hat im Prinzip alle Krankheiten gekriegt, die man so kriegen kann. Hat leider dann auch angefangen zu trinken. Wie das viele gemacht haben, still und heimlich. Hat keinem was getan, aber hat damit auch noch seine Gesundheit ruiniert. Das ist alles vorbei, aber gesundheitlich ist er eben ein Wrack. Er hat auch Pflegegrad 3 und würde alleine nicht mehr klarkommen. Das ist eigentlich das, was mich mehr traurig macht.

Nein, ich wünsche mir die DDR nicht zurück. Einiges ja, da gehöre ich zu den Leuten, die sagen – das ist ja nun schon fast eine Floskel: Es wäre gut gewesen, von beiden Seiten das Beste zu nehmen. Aber das geht gar nicht. Und ich bin auch der festen Überzeugung, wenn das der → Kohl nicht im Herbst ’90 durchgezogen hätte mit der Einheit, ein oder zwei Jahre später wäre das schwieriger geworden. Wenn die Leute den Kapitalismus erst so richtig gespürt hätten, wäre es schwieriger geworden. Aber das war genau für diese Geschichte, und nun ist es auch gut so. Und gut ist es, dass wir es nicht wie die Jugoslawen gemacht haben.

Es war sichtbar ab 1988, wenn man mit offenen Augen durch die Welt ging, dass etwas passieren musste. Weil vieles schöngeredet wurde, vor allem die wirtschaftlichen Erfolge. Sie haben aber gesehen in den Geschäften, dass es schwierig war, was zu kriegen.

Das war die eine Seite. Und die zweite Seite war das Kontrollsystem. Für Dinge, die funktionierten – da kann ich jetzt nur von der Volksbildung reden –, wurde das immer engmaschiger. Es war dann zum Schluss so, dass Sie für jeden Strohhalm als Schulrat verantwortlich waren. Und dann gab es ja auch einige Leute, die sich geäußert haben, und wenn man sich mit Leuten unterhalten hat – man hat schon gemerkt, dass es an bestimmten Stellen so nicht mehr funktionieren kann. Dass es aber dann so schnell ging … Aber in dem Moment, als das hier im Oktober war, konnte man nur froh sein, dass das noch halbwegs friedlich abging. Und als die Mauer fiel, war klar, was Sache ist. Aber dieses letzte Jahr DDR-Existenz war schon ein bisschen … da hat man es schon gespürt.

Hier in unserem Bezirk wohnen fast keine Westler. Ich denke, das kommt daher, dass diese Randstadtbezirke, Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen, von Anfang an gleich mit der ersten Wahl als die roten Stadtbezirke abgestempelt wurden. Hier gab es ja auch noch ein hohes Potenzial der Linkswähler. Unser Wahlkreis war ja bei der letzten Bundestagswahl der röteste, mit Steigerung von Rot, aus der ganzen Bundesrepublik. 1990 und aufwärts, bei den ganzen Wahlen wurde hier ganz viel links gewählt. Das hat etwas mit der Zusammensetzung der Bevölkerung zu tun. Viele wurden für die staatlichen Einrichtungen aller Art, die in der Hauptstadt waren, aus der DDR nach Berlin geholt und kriegten natürlich dort Wohnungen, wo es welche gab, also in den Neubaugebieten.

Man hat diese Stadtbezirke von Anfang an niedergeredet, das war das Erste. Dann hat man die → Platte niedergeredet. Also es war ja das Letzte, in der Platte zu wohnen, das war schon asozial. Bis einige auf die Idee gekommen sind, sich doch mal solche Plattenbauten anzugucken, und dann gesehen haben, als sie saniert waren, so schlecht sind die wohl gar nicht. Aber das hat gedauert. Das, denke ich, sind die Hauptgründe. Und dann die Peripherie, dass manche doch lieber zentral wohnen wollen, wenn sie eine Mietwohnung haben.

Dieses Haus ist insgesamt recht ruhig, nach wie vor. Die Leute, die hier drin wohnen, benehmen sich in der Regel ordentlich. Ab und an tritt mal unten jemand die Tür ein, vielleicht weil er besoffen ist, das hat man sicherlich in jedem Haus. Die → HOWOGE bemüht sich, wenn irgendwas kaputt ist, schnell Handwerker zu schicken, da geben sie sich große Mühe. Auch, um ihre Stamm-Mieter doch ein bisschen zu halten. Es geht ja auch um die soziale Mischung in so einem Haus. Sie vermieten gerne an Rentner, weil sie wissen, dass die ordentlich sind und ihre Miete bezahlen. Sie legen schon Wert drauf, dass das so ein bisschen vom sozialen Gefüge passt. Und ansonsten merken Sie, außer manchmal unten, nicht, dass Sie in so einem großen Haus wohnen. Ich bin ja nun jetzt auch den ganzen Tag zu Hause – früher, als ich gearbeitet habe, hatte man sowieso noch einen anderen Blick.

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Herr D.

Die Gesellschaft in einer solchen Gegend, in einem solchen Haus, war gemischt. Heute ist das nicht mehr so. Mischung entsteht ja auch aus Einkommen. Und Besitz. Und das Orientierende in einem kapitalistischen Land ist Besitz. Das ist das Hauptkriterium. Bei einer gewissen Schicht, um zu überleben, und bei einer gewissen Schicht, um sich zu bereichern oder sich ein schönes Leben zu machen. Das ist einfach so. Aber in der DDR, da war das Einkommen sehr angenähert. Also wenn man als Architekt und Ingenieur die Arbeit begann, da hatte man weniger als ein Bauarbeiter auf dem Bau. Der arbeitet schwer, von früh bis abends, und so weiter und so fort. Als Assistent an der Bauhochschule – nach einem Studium, das ich immerhin mit Eins abgeschlossen hatte, sonst hätten sie mich nicht als Assistent an eine andere Schule geholt –, da bekam ich 550 Mark-Ost. Das wurde dann sukzessive über die Jahre erhöht – ich war fünf Jahre dort, das war die Zeit, die einem für eine Doktorarbeit gegeben wurde –, da bekam ich dann 650. Und als der große Zuschlag war, nachdem ich promoviert hatte 1968, bekam ich 750 Mark der DDR. Das war nun wirklich nicht allzu viel, während ein Bauarbeiter doch schon 1.000 oder mehr verdiente. Also das war nicht sehr günstig. Aber wir haben uns trotzdem nicht so viele Gedanken gemacht. Ich hab ja idiotischerweise schon im zweiten Studienjahr geheiratet. Zu meiner Schande muss ich sagen, ich bin geheiratet worden. In meiner gutbürgerlichen Erziehung dachte ich, wenn man mit einer Frau geschlafen hat, dann muss das sein. Ich war 22. Und in der Straßenbahn: „Willst du mich nicht heiraten?“ Das war eine Kommilitonin. Aber damals heiratete man so zeitig in der DDR. Das Essen war billig, die Miete war billig, man konnte also zeitig schon eine Familie gründen. Das war die Situation.

Und dann wollten sie mich beim Rat der Stadt, beim Chefarchitekten haben. Es wurde ein neues, großes Büro für Städtebau und Architektur gebildet, mit dem jungen Chef, mit 32 Jahren, der auch sehr schnell schon eine Professur bekam, und das waren über 100 Leute, für die Stadtplanung, die Stadtentwicklung. Heute kann man davon nur träumen. Da ging’s um die Gestaltung der einzelnen Bereiche, dass die ästhetisch sind und so weiter. Die wollten mich haben dort für die Aufgaben der Rekonstruktion, wie das hieß, also der Altbausanierung. Ja, und da kriegte ich 1.200. Das war richtig viel. Dann hab ich auch in der Zeit meine zweite Frau kennengelernt. Ich war inzwischen geschieden, weil das einfach nicht funktioniert hat. Schon wegen der Situation, wie das da entstanden war. Ja, und da kam dann ’66 das erste Kind, ’68 das zweite Kind, da kriegte man auch eine ganz hübsche Altbauwohnung in Leipzig. Es gab absolut keine Differenzierung in Klassenhinsicht. Es gab keine Klassenschichtung. Konkurrenz gab es schon, innerhalb des jeweiligen Anstellungsbereiches, aber es gab keine gesellschaftliche Konkurrenz in dem Sinne. Man wollte sich nicht über den anderen erheben. Man hatte auch Freunde aus der Arbeiterschicht, weil man ja ziemlich nahe zusammen war. Das war wirklich eine ausgeglichene Gesellschaft, eine gleiche Gesellschaft. Teilweise manchmal zu gleich, weil eben doch sozusagen die Leistungswerte nicht differenziert wurden. Auch im Sinne von Anregung, sich zu entwickeln, aber die gab’s auch dahingehend, sich in ideeller Weise zu entwickeln, weil man mehr schaffen wollte. So war das eben, und heute ist das eben so, dass die Gesellschaft sich ausdifferenziert. So wie in den USA. Und das zeigt sich hier insofern, dass im Verlaufe der letzten 20 Jahre hier die sogenannten Aufstocker sich in den Randgebieten – in Spandau gibt’s solche Fälle, und auch hier in den Außengebieten von Lichtenberg … Es gab einen großen Artikel über eine Studie, die gemacht wurde, der wurde vor einem Jahr in der Berliner Zeitung veröffentlicht, dass sich in den letzten Jahren der Anteil der Aufstocker, wie man so sagt, also diejenigen, die nur leben können, indem sie vom Staat unterstützt werden, sich auf fast 25 % hier in Hohenschönhausen entwickelt hat. Das ist eine Ausgliederung bestimmter Teile der Bevölkerung, und das ist nicht in Ordnung. Und das zeigt sich eben auch hier. Man diskutiert ja durchaus in der Politik, dass es einen großen Armutsbereich gibt. Auch gerade in letzter Zeit hier, und dieser Armutsbereich sortiert sich dann eben dort, wo die Lebensbedingungen nicht so gut sind, und dort, wo die Mieten billiger sind, eben weil die Lebensbedingungen nicht so gut sind. Das hat sich hier verändert, weil die Leute mit der gleichen Besitzlage weggestorben sind. Wir sind jetzt 27 Jahre nach der Wende, und das waren hier teilweise schon ältere Leute. Es sind nur noch wenige wie ich, oder auch ein paar andere Familien sind noch da, aber die sind alle über 70. Und die frei werdenden Wohnungen werden dann an jüngere Leute, Familien vergeben, die sich nur diese Mieten leisten können. In gewissem Sinne gehören auch wir Ostrentner dazu, obwohl ich noch zehn Jahre nach der Wende im Bundesbauministerium gearbeitet habe. Übrigens in nicht ganz unwichtiger Position, wenn auch nicht als Referatsleiter, obwohl mir das angeboten worden war, ich wollte aber nicht, weil ich vor allem Rechtsfragen hätte bearbeiten müssen. Die meisten Referatsleiter in der Nachwende-Bundesrepublik sind Juristen, weil es hier um Rechtsfragen geht, und keine Fachleute. Mir hat geholfen, dass ich ein Fachmann war, und es ging um Fragen, die fachmännische Beratung erforderlich machten. Und ich hatte das Glück, dass ich für diejenigen, die für die Übernahme zuständig waren, ideologisch offen war. Obwohl ich wie viele, über zwei Millionen in der DDR, Genosse gewesen war. Die gingen nach den Leistungspotenzialen, weshalb sie, als sie uns dann näher kennenlernten, auch sagten: „Die können das.“ Deshalb war auch die gesamte Stadterneuerung des Ostens, die Substanzerneuerung des Ostens, unter der Leitung von Ost-Mitarbeitern. Das waren sogar teilweise 14 Leute für diesen ganzen riesigen Bereich. Und wir hatten immerhin im Jahr 1991 erreicht – da war ich nicht ganz unschuldig daran, weil ich als Referatsleiter noch im Nachwende-Ost-Bauministerium, wo wir schon eng zusammengearbeitet hatten, gemeinsam mit meinen Leuten und aufgrund meiner Begründung –, dass wir über 1 Milliarde D-Mark für die Stadterneuerung im Osten erarbeitet hatten. Es gab ein Programm, das in der zweiten Regierung – es gab ja zwei Regierungen im Osten bis zur Einheit – entwickelt wurde, und die legten ein Investitionsprogramm von 5 Milliarden D-Mark auf. Und von diesem Kuchen konnten wir eben hier 1 Milliarde Mark für die Stadterneuerung im Osten bekommen. Deshalb sehen viele kleine Mittelstädte jetzt so schön aus. Dadurch konnte die Altstadterneuerung gemacht werden. Und dafür hatten wir ja auch Gründe geliefert, das so zu tun, wie es zu machen ist, und dass es gemacht wird. Und das merkten die. Das merkte auch mein immer noch befreundeter ehemaliger Abteilungsleiter als der Zuständige für die gesamte Baubeamten-Geschichte im Bundesbauministerium. Deswegen hat er mich und meine Abteilung – wir sagten in der DDR nicht Referat, sondern Abteilung – übernommen. Das war also der Hintergrund.

Meine Familie stammt aus Schlesien, aus Niederschlesien. Aus dem Kreise Waldenburg, das heißt heute Wałbrzych. Das ist ungefähr 60 km von Breslau, Wrocław, entfernt. Und dort hatte mein Urgroßvater angefangen, eine Zahnmedizin aufzubauen. Früher waren das die Friseure. Da hat er sich dann qualifiziert und hat bei anderen, schon vorhandenen, gelernt, wie man Zähne zieht. Es gab auch ganz wenige, es gab Mitte des 19. Jahrhunderts noch kein Zahnmedizin-Studium dort. Und dann hat er bei einem Goldschmied gelernt, wie man Zahnersatz macht und so was. Er hat eine größere Familie gegründet, es gab ja damals viele Kinder, und drei seiner Söhne haben den Beruf dann auch ergriffen. Ein Sohn davon war mein Großvater, und der hat drei Söhne gehabt. Mein Vater ist 1901 geboren und wurde auch Zahnarzt, das heißt er wurde erst mal Dentist, wie sie damals hießen.

Ich bin 1936 geboren, in → Wüstegiersdorf bei Waldenburg. In einem nicht so kleinen Dorf, 8.000 Einwohner, das war ein Industriedorf.