Zivile Helden - Peter Jehle - E-Book

Zivile Helden E-Book

Peter Jehle

3,9

Beschreibung

"Sie sitzen schon, mit hohen Augenbrauen, / Gelassen da und möchten gern erstaunen", heißt es im FAUST. Doch die Wirklichkeit ist anders. Im Parterre gibt es keine Sitzplätze, die den Blick der Zuschauer zwangsläufig auf die Bühne ausrichten würden; ausschließlich männliche Zuschauer kommentieren lautstark das Geschehen und drehen der Bühne nicht selten den Rücken zu, weil hinten im Saal oder oben auf den Rängen gerade das interessantere Schauspiel stattfindet. Im 18. Jahrhundert sind wir noch weit entfernt von den Momenten vollkommener Illusion, die sich Stendhal gewünscht hat. Und doch wird gerade das Theater zu einem der Orte, an denen die Produktion eines neuen gesellschaftlichen Subjekts betrieben wird - eines zivilen Helden, der den adligen Müßiggänger wie den soldatischen Typus in den Schatten stellt. Der zivile Held bezieht sein Selbstverständnis aus nützlicher Tätigkeit - nützlich für die vielen, die von ihrer Arbeitskraft leben müssen. Wie Diderots Enzyklopädie den nützlichen Wissenschaften ein Forum geboten hat, so das Theater dem zivilen Helden, der eine neue Lebensweise vorführt. Zum Bahnbrecher der modernen Welt, wie Gramsci sagt, wird nicht derjenige, der sich vor allem mit den Beziehungen zwischen Höflingen beschäftigt, sondern derjenige, der "Ratschläge zur Erbauung des Typus des Bürgers in der Zivilgesellschaft" gibt.

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Peter Jehle

Zivile Helden

Theaterverhältnisse und kulturelle Hegemonie in der französischen und

Berliner Beiträge zur Kritischen Theorie Band 11

Argument Sonderband Neue Folge AS 306

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutsche Originalausgabe

© Argument Verlag 2010

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040 / 4018000 – Fax 040 / 40180020

www.argument.de

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549547

Erste Auflage 2010

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Teil I Frankreich

1 Die Eroberung des Theaters durch die Literatur

1.1 Die moralische Ökonomie des öffentlichen Platzes

1.2 Der Aufstieg des Schauspielers in die société civile

1.3 Die Konstitution des Zuschauers

1.4 Die Entwicklung des Spielortes zur Schaubühne

2 Das literarische Regime: Text und Aufführung

2.1 Das gegliederte Ganze des literarischen Theaters: Lehre – Werk – Aufführung

2.2 Der Autor als haftbares Subjekt

2.3 Die Installierung der doctrine classique

2.4 Die Festigung des neuen Kompetenzgefüges durch die Entmachtung der Sinne

3 Die umkämpfte Stellung des Lachens im Theater des Ancien Régime

3.1 Molière und die gesellschaftskritische Funktion des Lachens

3.2 Karnevaleskes und klassisches Lachen

3.3 Das Lachen als »Dokument« der Geschichte der subalternen Klassen

3.4 Die Dialektik von kirchlicher und bürgerlicher Theaterkritik

4 Kulturelle Hegemonie der bürgerlichen Gruppen: der Umbau des Theaters zur »moralischen Anstalt«

4.1 Das drame bourgeois als »Moral in Aktion«

4.2 Sensibilität und Kommerz

4.3 Das Patriarchat als Befreiungskonzept

4.4 Der Schauspieler als Künstler eines wissenschaftlichen Zeitalters

4.5 Das gesellschaftliche Dispositiv des drame bourgeois – bürgerliche und Zivilgesellschaft

4.6 Zur emanzipatorischen Funktion des Lachens bei Diderot

Teil II Spanien

1 Einleitung

2 Die Theaterverhältnisse zu Beginn des 17. Jahrhunderts

3 Das popular-nationale Theater im 18. Jahrhundert in der »kulturellen Ökonomie« des Volkes

3.1 Der theatrale Raum

3.2 Die komische Figur

3.3 Struktur der Aufführung und Illusionsproduktion

4 Die moralisch-intellektuelle Reform233 des neoklassischen Projekts

4.1 Die Produktion ziviler Helden

4.2 Die aufklärerische Entmischung von »vulgo/plebe« und »pueblo«

4.3 Das neue Subjekt und die Geschlechterverhältnisse

4.4 Die Literarisierung der Theaterverhältnisse

5 Ausbruch aus dem Intellektuellenzirkel – das Theater als Projekt einer Aufklärung von unten

5.1 Die intellektuelle und moralische Reform der Zweiten Republik

5.2 Das »Entstauben« des klassischen Theaters durch Federico García Lorca

Zitierte Literatur

Fußnoten

Über den Autor

Berliner Beiträge zur kritischen Theorie

Einleitung

Émile, der Held von Rousseaus pädagogischem Roman, soll ohne Bücher aufwachsen. Das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Zeitschriften und Wörterbücher, das dem Text eine sich von der Vormundschaft des »Buches der Bücher« emanzipierende Bedeutung gegeben hat, erscheint zugleich als eine von der Schrift beherrschte Gegenwart, der sich die Mündlichkeit als ein verlorenes Paradies des genuinen Gefühlsausdrucks entgegensetzt. Im Theater geraten die beiden Kulturen aneinander. Das Drama, das im Theater ein Publikum begeistert, kann als Text der literarischen Kritik anheimfallen. Wenn jenes sein Urteil ›vor Ort‹ unmissverständlich kundtut, so unterwirft diese das Stück einer Dogmatik, die im Bewusstsein der Regelhaftigkeit der Poetik, die zugleich eine Lehre des gesellschaftlich Gesollten ist, praktiziert wird. Das Lachen des Publikums ist ihr die unmaßgebliche Äußerung von Ignoranten. Wie die katholische Kirche notwendig immer zu spät kommt, wenn sie den langwierigen Prozess einer Heiligsprechung in Gang setzt, so eine Literaturgeschichtsschreibung, die ihr Geschäft als Applikation einer literarischen Werthaftigkeit betreibt und unter Umständen verwirft, was die Zeitgenossen begeistert hat. Houdar de la Mottes Inès de Castro, einer der größten Theatererfolge des 18. Jahrhunderts, konnte bei den Kritikern keine Gnade finden – hatten hier doch erstmals Kinder, »ganz unvernünftige kleine Geschöpfe […], die noch nichts besaßen als Empfindung« (Klemperer 1954, 106), das Gebiet der klassischen Tragödie betreten und die kommende Richtung aufs bürgerliche Drama angedeutet.

Die Konstitution der Theaterwissenschaft als Universitätsdisziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland markierte den »Bruch« mit einer Auffassung von Theater als »›textueller‹ Kunst« (Fischer-Lichte 2004, 42). Sie wurde als »Wissenschaft von der Aufführung« begründet und setzte die »Umkehr der Positionen von Text und Aufführung« voraus (ebd., 43). In Frankreich war es Pierre Mélèse, welcher der falschen Natürlichkeit der literarischen Kritik die Gefolgschaft gekündigt hat: »Si le théâtre du XVIIe siècle a suscité d’innombrables travaux, on peut observer […] que les critiques modernes considèrent ce théâtre du point de vue de la critique littéraire, c’est-à-dire comme une œuvre accomplie, intangible, dont on s’efforce de dégager l’essence, d’expliquer les intentions et de justifier l’intérêt éternel« (1934, IX). Damit war ein Wechsel der Aufmerksamkeit vollzogen, weg vom Monumentcharakter des literarischen Werks, das die Nachwelt bewundert, hin zum Verständnis eines lebendigen kommunikativen Prozesses, der von unterschiedlichen Instanzen, nicht nur einer akademisch geadelten Kritik, in Bewegung gesetzt wird. Mit den ›Theaterverhältnissen‹, dem neben ›kultureller Hegemonie‹ zweiten Schlüsselbegriff, der für diese Studie zentral ist, taucht das Ensemble der unterschiedlichen Instanzen auf, zu denen das Publikum ebenso gehört wie die Schauspieler, die Autoren oder die architektonische Anlage, in der das Stück zur Aufführung kommt. Vor allem das Publikum gewinnt in dieser Perspektive entscheidende Bedeutung. In Deutschland war es Erich Auerbach, der es, ein Jahr vor dem Erscheinen der Studie von Mélèse, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte.1 Der ›revolutionäre‹ Charakter dieser Studien hängt damit zusammen, dass die falsche Natürlichkeit des literarischen Theaters mit seinen befugten Interpreten, deren Autorität durch die Stellung im schulischen und universitären Apparat garantiert war, durchsichtig wurde. Indem das Publikum, unabhängig von der ›klassischen‹ Geltung der Texte, als eigenständige Instanz in den Theaterverhältnissen in den Blick kam, mithin die Aufführung ihren subalternen Status gegenüber der ›eigentlichen‹, literarischen Beschäftigung mit dem Text verlor, war die Fixierung aufs individuelle Schöpfertum abgesprengt und der Weg frei, um »das Vergangene in einem Stadium der noch nicht abgeschlossenen Geschichtlichkeit, als ein Werden […], als einen in fortschreitender Bewegung sich bildenden Prozess« zu begreifen (Krauss 1934/1997, 330). Die jüngsten Bestrebungen, die den Ereignischarakter von Theater und anderer Phänomene von Theatralität aus der Zerstreuung sammeln, um sie zu einer »Ästhetik des Performativen« auszuarbeiten (Fischer-Lichte 2004), können umgekehrt das Bewusstsein für den Prozess der Literarisierung der Theaterverhältnisse schärfen. Wolfgang Orlich hat am Beispiel des drame bourgeois gezeigt, dass der Umbau des Theaters zu einem perfekten Illusionsraum beide Seiten verändern muss: den Text wie die Aufführungspraxis. Es geht also darum, die »widersprüchliche Einheit und Veränderung von poetologischer Reflexion des Dramas und Theaterpraxis in ihrem gegenseitigen Bedingungsverhältnis« zu untersuchen (Orlich 1984, 432). Für den »Stückeschreiber« Brecht ist das Schreiben nur der erste Entwurf; die eigentliche Produktion des Stücks findet auf der Bühne statt.2

Bei der Suche nach einem Theaterkurs für ihren 12-jährigen Sohn musste Hélène Merlin-Kajman feststellen: »les cours insistent tous sur l’approche ludique du théâtre […], le corps constituant évidemment aux yeux de tous le vecteur d’un épanouissement spirituel. De texte, il est rarement question.« (2005, 13) Ausdrücklich wird den Eltern versichert, dass die Kinder weder mit Molière noch Racine traktiert werden. Es ist, als folgte auf die Privilegierung des Textes die Privilegierung des ›Körpers‹. Die Entgegensetzung von Körper und Text, die letzteren zu einem bloßen »prolongement spontané de cette présence corporelle immédiatement communicative« entwichtigt (ebd., 14), ist freilich auch bewusstloser Ausdruck einer medienvermittelten Wirklichkeit, in welcher der Text als nicht ablösbar von Stimme und Gestus, die sprechenden und gestikulierenden Körper selbst aber vor allem als auf Bildschirme gebannte Phantome wahrgenommen werden. Demgegenüber ist der Theaterkurs, in dem sich wirkliche Körper und Stimmen begegnen, der Sonntag im Alltag der Mattscheibe. Indem die vorliegende Arbeit die Literarisierung der Theaterverhältnisse in ihrer Geschichtlichkeit – und das heißt immer auch in ihrer Bedeutung für die Gegenwart – zu begreifen sucht, könnte sie dazu beitragen, einige der Einseitigkeiten abzubauen, die im Zuge der ›Kulturalisierung‹ und ›Anthropologisierung‹ der Literaturwissenschaften zum neuen Credo geworden sind.

I

Nach dem Untergang des mittelalterlichen Spielmanns waren die Schauspieler die wichtigsten Handlungsträger einer profanen Kultur der Mündlichkeit. Daher bietet gerade das Theater vielfältiges Anschauungsmaterial, um den Einschnitt, der die Mündlichkeit von der Schriftlichkeit trennt, in den Blick zu bekommen. Kein Zufall, dass der »Autor« auf diesem Gebiet über Jahrhunderte ein kümmerliches Dasein gefristet hat, allenfalls dem heutigen Drehbuchautor vergleichbar, der neben den Stars auf der Leinwand verblasst. Erst wenn der Text neben die Aufführung tritt und sich Respekt zu verschaffen versteht, erscheint das Theater als doppeltes Medium, das unterschiedlichen kulturellen Logiken gehorcht: Die Aufführung, Element einer Kultur der Mündlichkeit, kann in Widerspruch treten zum Text, der die Zuständigkeit des »Autors« und der »Gelehrten« überhaupt reklamiert und dessen Terrain die Schriftlichkeit ist. Das gilt auch für die Seite der Rezeption. Der Zuschauer hört, sieht und ist stets einer von vielen; der Leser ein Einzelner, auch wenn er seinem Geschäft im überfüllten Lesesaal einer modernen Bibliothek nachgeht, deren Geräuschkulisse ihm die abgeschiedene Studierstube als ein höchstes Gut erscheinen lässt. Die Kollektivität des Theaterzuschauers war über Jahrhunderte ein selbstverständliches Element seines Daseins, in dem sich sein Geschmack, seine Wünsche und Gewohnheiten bildeten. Erst die Modellierung der Aufführung durch den Text, der Umbau der Bühne zur vierten Wand, die Aufspaltung der zuschauenden Menge in einzelne Zuschauer – ihre Individualisierung – mittels Beleuchtung und Bestuhlung rückt die Rezeption im Theater in die Nähe der sinnverstehenden Aktivität des einsamen Lesens.

An der Querelle du Cid, die im Anschluss an die Aufführung von Corneilles Tragikomödie Le Cid 1637 die Anhänger des gespielten Stückes und die Kritiker des gedruckten Textes einander entgegensetzt, lässt sich der Vorgang exemplarisch studieren. Aufführung und Text treten antagonistisch auseinander und machen bewusst, dass eine Literaturwissenschaft, die sich für das Theater nur als Text – d. h. als Medium der Gebildeten, der »république des lettres« – interessiert, reduktionistisch verfährt. Die vielfach praktizierte kulturwissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft gewinnt auf diesem Terrain einen präzisen Sinn: Das materielle Dispositiv der Aufführung – öffentlicher Platz oder geschlossener Raum, die architektonische Gliederung in Bühnen- und Zuschauerraum, die Zerlegung des letzteren in verschiedene Zonen (Parterre, Logen, Sitzplätze auf der Bühne) – bestimmt eine Wirkung, die dem in Gestalt der »doctrine classique« installierten Regulationsmodus ästhetischer Produktivkraft in die Quere kommen kann: Den Zuschauern gefällt, was die Doktrin verurteilt und der Gelehrte, der sich in seiner Studierstube über den Text beugt, aufs Prokrustesbett der Poetik spannt.

Der Aufschwung der dramatischen Literatur im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Frankreich, dessen vorläufigen Höhepunkt der Cid markiert, schien im Widerspruch zum Fehlen eines festen Theaters in Paris zu stehen (Mongrédien 1966, 47). Diese Auffassung vergaß den Abgrund, durch den die Kulturen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Volkskultur und die humanistische Kultur einer an der Antike orientierten Gelehrsamkeit voneinander getrennt waren.3 Von diesem Standpunkt, für den feststeht, dass der Cid den Ausgangspunkt der klassischen Literatur bildet, stellt sich die Seite der Aufführung als defizient dar – nicht zu Unrecht, wenn man die Aufführung als bloße Applikation des Textes unterstellt. Davon geht auch Voltaire aus, wenn er immer wieder beklagt, dass in Frankreich zwar exzellente Theaterstücke geschrieben wurden, aber die materiellen Bedingungen fehlen, die ­ihnen Geltung verschaffen könnten.4 Was nützen die besten Verse, solange die petits-maîtres auf der Bühne ihnen den Respekt versagen? Die vorliegende Arbeit macht daher die Entstehung einer bestimmten Anordnung von Aufführung und Text zum Gegenstand. Die Zentralstellung des Textes, in seiner doppelten Gestalt als Lehre und Einzelwerk, ist als Vorgang der Literarisierung der Theaterverhältnisse zu untersuchen und in seinen Folgen für die Kämpfe um die kulturelle Hegemonie im Ancien Régime zu beurteilen.

Aber es ist nicht nur das Verhältnis von Aufführung und Text, die kulturellen Logiken von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, welche die Schauspieler den Autoren, die Kritiker den Zuschauern usw. entgegensetzt. Die Medien der Mündlichkeit und Schriftlichkeit bilden keineswegs kulturell homogene Räume. Wie das Lesen Element einer popular-kollektiven5, nicht nur einer gelehrt-individualistischen6 Kulturpraxis sein konnte, so umgekehrt das szenische Spiel Element einer abgeschotteten Gelehrtenkultur (Jesuitentheater). Was als Höhepunkt der deutschen Literatur gilt, kann seine Herkunft aus der Popularkultur nicht leugnen: Schon Hermann Reich hat bemerkt, dass in Goethes Faust, den der Dichter als Puppenspiel kennengelernt hat, »die alte Mischung der Sprache des Volkes und der Vornehmen« lebendig geblieben ist (1903, 883). Die Verbreitung der mündlich vorgetragenen Romanzen in losen Blättern (pliegos sueltos) oder in billigen Sammlungen (pliegos de cordel), die man bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts an Kiosken in Madrid – neben Feuerzeugen, Schnürsenkeln, Schuhcreme und anderen Dingen des Alltags – wohlfeil erwerben konnte (vgl. Caro Baroja 1969/1990, 13), stellte ihren popularen Charakter durchaus nicht in Frage. Erst vom Standpunkt einer ideologischen Ordnungsmacht wie der Inquisition, die die Reinheit der Lehre gegen unzulässige Vermischungen repräsentiert, stellt sich die Weltauffassung eines Müllers um 1600 als »explosive Mischung« von »schriftlichem Text und mündlicher Kultur« dar (Ginzburg 1983, 84). Die unzulässige Mischung ist nichts, was unabhängig von solcher Intervention existieren würde.

Die Schauspieler können mit den Zuschauern, die Textproduzenten mit den befugten Interpreten der in der »doctrine classique« verfügten Ordnung der Dinge in Konflikt geraten. Der Streit um den Cid bringt auch dieses Moment ins Bild und macht deutlich, dass mit der Formierung einer Lehre die Frage, wie der Raum des Ästhetischen von den Textproduzenten genutzt wird, keineswegs ein für alle Mal entschieden ist, im Gegenteil: Die Formierung eines Jenseits literarischer Werthaftigkeit, aus dem konkrete Regulationen der Schreibpraxis abgeleitet werden, stellt die Auseinandersetzungen nicht still, sondern zwingt sie in eine bestimmte Form. Gelungene ästhetische Handlungsfähigkeit beziffert sich nunmehr darauf, die eigenen Produkte als mit dem Jenseits der Werte kompatibel zu erweisen. Wie der durch den ästhetischen Regulationsmodus der doctrine classique bestimmte Raum von den Textproduzenten genutzt wird, steht nicht fest. Auch dort, wo die Theorie präskriptiv auftritt und bestimmte Formen mit besonderer Autorität ausstattet, ist eine Dialektik von Zwang und Ermöglichung am Werk: In der Zeit vor und während der Französischen Revolution erlebt die klassizistische Tragödie einen Aufschwung und wird zum »Vehikel revolutionär-patriotischer Ideologie« (Rieger 1984, 1). Freilich war dies nur möglich vor dem Hintergrund der »Herausbildung eines nationalen neben dem klassischen Kanon«, die Franz Walter Müller auf die Generation Dancourts beziffert (1959, 123).

Diese Dialektik wird verfehlt, wenn man einerseits die »Institutionalisierung der doctrine classique« als »das Resultat eines höfisch-­absolutistischen Kulturprogramms« fasst (Bürger 1979, 56), andererseits ihre Wirkung auf die Befreiung »von der Abhängigkeit von fremden Gesetzlichkeiten« reduziert (Sick 1993, 262). Die Formierung eines nach eigenen Gesetzen organisierten Reiches der Kunst bedeutet ja durchaus keine Stillstellung der Kämpfe, keine ideale Unabhängigkeit von Politik, Moral, Philosophie oder wie immer man die auf dem »neuen diskursiven Feld« (Sick) intervenierenden ideologischen Mächte bezeichnen will, sondern eher eine neue Form der Auseinandersetzung, deren Logik die Akteure, wenn sie erfolgreich sein wollen, sich aneignen und bedienen müssen. Américo Castros Beobachtung, dass mit der aristotelischen Abspaltung der Dichtung von der Geschichte eine Position gewonnen war, von der aus die Gegenreformation ihre moralischen Vorstöße ins Reich der Kunst bestens organisieren konnte, ist ebenso triftig wie die dazu kongruente Beobachtung, dass das Ideal stets in Gefahr war, »den Abhang des Komischen« (la vertiente de lo cómico, Castro 1925/1972, 28 u. 30) hinuntergestürzt zu werden. Daher das Interesse der vorliegenden Arbeit an der Frage, wie die Installierung des in der ›doctrine classique‹ repräsentierten Wertehimmels als verbindliches – und daher viele verbindendes – Bezugssystem die Logik der kulturellen Kämpfe bestimmt. Bourdieu hat dafür den Sinn geschärft: Dass das Feld der kulturellen Produktion stets als ein »Ort von Kämpfen« zu begreifen ist, der keine endgültigen Grenzverläufe kennt, auch nicht in Gestalt der ›Autonomie‹, die als historisch bestimmte Form zu fassen ist, in der diese Kämpfe ausgetragen werden (Bourdieu 1997, 57).

Zwischen den Antagonisten existieren keine chinesischen Mauern. Im Handgemenge sind sie oft nicht deutlich zu unterscheiden. Das Feld selbst und die in ihm akkreditierten Maßstäbe stehen immer wieder neu zur Disposition. Das wird exemplarisch an den Einschnitten und Umbrüchen deutlich, die – wie die Querelle du Cid – blitzartig die Szene beleuchten. Die Rekonstruktion der Perspektive »von unten« ist dabei ein schwieriges Unterfangen. Da die subalternen Klassen kaum Dokumente hinterlassen haben, die für eine auf literarische Formen angewiesene Geschichtsschreibung verwertbar sind, dominiert wie selbstverständlich der Blick vom Standpunkt der gelehrten Kultur. Selbst ein Lope de Vega, der Verfasser hunderter von Stücken im Geist und Geschmack des »vulgo«, scheint sich dort, wo er über Theater theoretisch handelt, in einen »poeta doctus« (Ingenschay 1988, 213) zu verwandeln, der seine eigene Produktion an den Wertetafeln der humanistischen Tradition misst und sie als »escritos bárbaros« verdammt (Arte nuevo).

II

Die Theaterverhältnisse in Madrid bieten im 18. Jahrhundert ein ähnliches Bild wie ein Jahrhundert früher in Paris. Zwar war auch in Spanien die Diskussion um die Regeln so alt wie in Frankreich, hatte doch bereits Cervantes den canónigo, der sich nicht dem »confuso juicio del des­vanecido vulgo« unterwerfen wollte, zum Fürsprecher der Regeln gemacht (Don Quijote I, Kap. 48), aber erst im Bündnis mit der absolutistischen Reformbewegung kommt es im 18. Jahrhundert zu jener Konstellation von institutionalisierter Protektion, regelgeleiteter Textproduktion und einer den Text respektierenden Aufführungspraxis, die – wie der canónigo sich wünscht –, den Behörden die Unannehmlichkeit ersparen soll, strafend einzugreifen. Der Wunsch, die Theaterverhältnisse mögen – in selbsttätiger Regie der beteiligten Instanzen (Autoren, Schauspieler und Publikum) – als eine »lícita recreación« zum Besten des Gemeinwesens organisiert sein, ist so deutlich, dass Fritz Fries den Eindruck hatte, man entnehme den Diskussionen im 18. Jahrhundert »nichts Neues« (1964, 277). Es ist auch kein Zufall, dass die Jesuiten keineswegs ästhetische, sondern stets moralische Gründe gegen das Thea­ter mobilisierten (in der Regel den unmoralischen Lebenswandel der Schauspielerinnen – ein ›Argument‹, das noch die antirepublikanische Presse gegen Lorcas Studententheater La Barraca in Anschlag bringt).

Die neoklassische Bewegung könnte also verstanden werden als ein Versuch, das Theater zu rehabilitieren, indem das moralische durch ein ästhetisches Paradigma ersetzt und so eine neue In/Kompetenz-Struktur etabliert wird. Zuständig für die Unterscheidung von richtigem und falschem Theater sind dann nicht mehr Kleriker, sondern die Neoklassizisten selbst, als Spezialisten für die Interpretation der in diesem Bereich geltenden Regeln. Wie die französischen Vertreter der doctrine classique stützten sie sich auf die Autoritäten der Antike. Dass sie selbst es sind, die diese Regeln allererst »erfinden«, ist weniger wichtig als der Versuch, der bestimmten Regelhaftigkeit Anerkennung zu verschaffen. Ihre Durchsetzung definiert ein neues Terrain der Auseinandersetzung: Es genügt nicht mehr, das Theater in toto als Erregung unsittlicher Leidenschaften zu verdammen, sondern die neue Differenz zu respektieren, diejenige zwischen dem schlechten und dem guten Theater, zwischen dem »gusto del vulgo« und dem »buen gusto«. Das neoklassische Paradigma betrifft die Theaterverhältnisse insgesamt: die Textproduktion so gut wie die Aufführung, die Autoren ebenso wie die Schauspieler und die Zuschauer, deren Rezeptionsgewohnheiten durch den neuen »Stil« enttäuscht werden und die sich deshalb auf das neue Theater nicht einlassen. Die Erfolge Moratíns sind die Ausnahme.

Vom Standpunkt der Neoklassiker erscheinen die Theaterverhältnisse bestimmt durch eine chaotische Ansammlung unregelmäßiger Stücke, über deren Erfolg ein ungebildetes Publikum entscheidet. Indes findet sich ›Aufklärung‹, wie Jorge Campos gezeigt hat, auch auf der Seite der von den neoclasicistas im Namen ihres ästhetischen Kanons bekämpften Werke eines Comella oder Francisco Durán, die die neue bürgerliche Arbeitsmoral vertreten. Ist, was vom Standpunkt der neoclasicistas als hoffnungslose Traditionsgebundenheit des »vulgo« erscheint, nicht gerade das Fundament einer Haltung, die nicht klein beigibt? Bedeutet, was sich als bloßes »Festhalten« am Alten darstellt (Krömer 1968, 34), nicht auch Protest gegen eine Elite, deren Bevormundung man sich nicht gefallen lässt? Ähnlich wie in Deutschland die Frontstellung gegen die französische Tragödie der ins Kulturelle gebannte Protest gegen eine französisch parlierende, selbstherrlich agierende aristokratische Oberschicht war? Die spanische Aufklärungsbewegung glaubte im Neoklassizismus die Muster und Formen des kulturellen Zements zu besitzen, mit dem sich der neue geschichtliche Block formieren konnte. Dieser Zement verlor mit dem Ankommen jenseits der Pyrenäen seine Bindekraft. Die Achse Intellektuelle/Volk kommt nicht zustande, weil in Spanien – anders als in Frankreich – das neue Theater sich nicht als Bewegung für eine neue Welt- und Lebensauffassung zu akkreditieren vermag. Fritz Rudolf Fries, der vom Misserfolg der neoclasicistas überzeugt ist, meint jedenfalls, dass dieser nicht auf »ästhetische Ursachen« zurückgeführt werden darf. Dass die Reform nicht gelang, darin will Fries überhaupt einen Schlüssel sehen für das »Versagen der Aufklärung in Spanien«, die scheitern musste, »solange sie nur in den Köpfen einzelner« existierte und »nicht von der historisch vorbereiteten Situation getragen« wurde (1964, 286). Was die Massen ergriff, das seien die Vorstellungen von Spaniens Ruhm und Größe gewesen, einer Vorstellungswelt, der die Stilgrenzen nicht standhielten.

Andererseits ist die neoklassizistische Theaterreform im Bündnis mit der Aufklärung doch auch eine kulturelle Tatsache. Wo immer auf dieser Linie erfolgreiche Stücke geschaffen wurden und man die Kraft zur Veränderung der Theaterpraxis aufbrachte, war weniger Konformität mit der poetischen Theorie der Grund, als vielmehr die Gestaltung von aus der spanischen Geschichte genommenen Stoffen. Selbst ein radikaler Neoklassizist wie Montiano fesselte das Theater an die »Historie […], aus der es Luzán befreien wollte« (Krömer 1968, 90). Indem die spanische Tragödie ihre Themen der nationalen Geschichte entnimmt (vgl. Caso González 1972, 28), wird die Bühne aufnahmefähig für die Darstellung von Möglichkeiten und Formen des Zusammenlebens; »auch als Tragödienautoren wollen sie […] als veränderbar erweisen, was lange als schicksalhaft verstanden wurde, und so setzen sie der blind waltenden fortuna der Geschichte die virtus des bewusst handelnden Menschen […] entgegen« (Lope 1992, 273). So bringe etwa García de la Huertas Raquel die »Notwendigkeit des kontrollierten Aufbegehrens gegen einen unfähigen Herrscher« auf die Bühne: das kontrollierte Aufbegehren ist nicht nur Einengung, Begrenzung, ein Sich-Bescheiden im Gegebenen, sondern eben auch Ermöglichung, Probehandeln, letztlich Einübung von Politikfähigkeit auf Seiten der Subalternen. Es ist, als deute diese Orientierung an Geschichtlichkeit mehr nach England oder Deutschland7 als nach Frankreich. Indes ist die dort erfundene weinerliche Komödie ein Genre, das in Spanien im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts große Erfolge feiert. Ausgerechnet Luzán, der dem Neoklassizismus das theoretische Brevier geschrieben hat, ist vom Erfinder des Genres, Nivelle de la Chaussée, so beeindruckt, dass er dessen Le préjugé à la mode übersetzt. Was Luzán theoretisch bekämpft, die Vermischung von Komödie und Tragödie, die ernsthafte Darstellung alltäglicher Begebenheiten, begeistert ihn praktisch: ein Werk, das mit der klassischen Entmischung der Genres gerade bricht. Die Personen, die bei Moratín auftreten, sind denn auch weder Könige noch Leute vom Dorf, sondern Stadtbewohner, die wesentlich der »clase media« entstammen.

Wenn Spanien als ›Land ohne Aufklärung‹ von der politischen Rechten lange Zeit positiv akzentuiert werden konnte, so deshalb weil die neue Achse Intellektuelle / Volk tatsächlich nicht zustande gekommen war und die Aufklärung als Bruch mit den Traditionen des Volkes präsentiert werden konnte – eines »Volkes«, dessen Begriff selbst traditionalistisch war und in der Vorstellung einem natürlichen Gewächs näher stand als dem aufklärerischen Begriff einer sich zum Souverän konstituierenden politischen Körperschaft. Die Voraussetzung eines Zusammenkommens von popular-nationaler Tradition und Aufklärung ist die Republik. Die Erfahrung von García Lorcas Theaterunternehmen gewinnt von daher eine paradigmatische Bedeutung.

III

Als Anton Reiser einmal auf der Straße vom Direktor des Lyzeums überraschend angeredet wurde, ob er nicht »Reiserus« heiße, war dies für den begabten, von den Eltern missachteten und in materieller und moralischer Bedrückung lebenden Knaben wie eine zweite Geburt. Der latinisierte Name, ausgesprochen von einer Person höchster Autorität, war wie das Versprechen einer von Misere freien Existenz, die sich ihm als künftigem Bewohner einer übers Latein integrierten universalen Bildungswelt bieten würde. In Karl Philipp Moritz’ Roman (1785) fungiert das Kulturelle als ein ›Gelobtes Land‹ für jene, die in der höfischen Gesellschaft als Dritter Stand für subalterne Funktionen vorgesehen sind. Es wird zum Medium der Ausarbeitung einer neuen Welt- und Lebensauffassung, die den bürgerlichen Gruppen das Bewusstsein ihrer spezifischen Differenz verleiht. Während jedoch in Deutschland die Kompetenz im Kulturellen, die Leistungen in Philosophie und Musik, »mit dem Mangel der gesellschaftlichen Entwicklung […] auf das genaueste zusammenhängt« (Plessner 1959/1988, 14)8, wird sie in Frankreich zur Triebkraft der politischen Emanzipation des Dritten Standes. Wenn ­Marie-Antoinette am Vorabend der Revolution gar die »comédie poissarde« zu schätzen beginnt (Larthomas 1989, 33), so ist das weder eine nur individuelle Geschmacksverirrung, noch gar der Hinweis auf die Dekadenz eines ganzen Standes. Die Fischverkäuferinnen, die der Gattung den Namen geben, sind zwar nicht die dominierende stilbildende Kraft, aber ›die Stadt‹ hat die Blickrichtung auf den Hof aufgegeben und verfügt über eigene kulturelle Muster, die auf andere Gruppen ausstrahlen. Das Kräftegleichgewicht zwischen ›la cour et la ville‹, auf das die Monarchie ihre Stabilität gründete, hat sich im Laufe des Jahrhunderts zugunsten der Stadt verschoben. Das Theater ist eines der Felder, auf denen dieser Prozess kultureller Hegemoniebildung gestaltet wird.

Die spanische Entwicklung wiederum lehrt, dass populare kulturelle Formen, etwa der »majismo«, zwar stilbildende Kraft gewinnen, indem sie von der aristokratisch-aufgeklärten Schicht nachgeahmt werden, doch bleibt diese zugleich dem französischen Vorbild verpflichtet. Der »petimetre«, der nur am ästhetischen Ausdruck des plebejischen majo interessiert ist, wird den »petit-maître« nicht los. Umgekehrt geht der vor allem wegen seiner »carga erótica« (Martín Gaite 1987, 302) geschätzte »majismo« mit Bildungs- und Frauenverachtung einher. Er lässt sich in jene ›nationale‹ Kraft einschmelzen, die Napoleon vertreibt. Aber abgespalten von der Aufklärung, die den mit dem Besatzer gemeinsame Sache machenden ›afrancesados‹ überlassen bleibt, handelt das Volk ­reaktionär. »Auf der einen Seite standen die Afrancesados […], und auf der anderen stand die Nation.« (Marx, MEW 10, 444)9 In Spanien kann die klassische Entmischung von Komischem und Tragischem nicht Fuß fassen. Das neoklassische Theater, das mit dem Dynastiewechsel zu den Bourbonen den französischen kulturellen Einfluss repräsentiert, vermag das Publikum, das an rasche Ortswechsel und phantastische Handlungsumschwünge gewöhnt ist, nicht zu überzeugen. Aber den ­ästhetischen Formen kommt nicht per se ein fortschrittliches oder reaktionäres Wesen zu. Wie die Tragödien Voltaires empfänglich sind für die Sache der Aufklärung, so auch die ›reißerischen‹ Stücke eines Comella, die dem klassischen Geschmack ein Greuel sind. Die neuen »zivilen Helden«, die die alten Subjekttypen des Conquistador und Mönch ebenso in Frage stellen wie den plebejischen Typ des Majo, werden auf beiden Seiten des ästhetischen Gegensatzes zwischen Regelpoetik und ›regelloser‹ popular-nationaler Tradition hervorgebracht: Ihr sozialer Ort ist die »clase media«, deren Konturen sich im patriotischen Pulverdampf des nationalen Befreiungskrieges gegen die französische Besatzung alsbald wieder verlieren.

IV

Die Berliner Volksbühne hat im Januar 2005 zu einem Ein-Euro-Abend eingeladen. Ein bei jungen Leuten beliebter Radiomoderator teilte dem zahlreich erschienenen Publikum mit, das Theater könne der neuen sozialen Wirklichkeit nur beikommen, indem die Zuschauer selbst aktiv werden: Für eine Stunde Warten vor leerer Bühne wurde an der Kasse ein Euro ausbezahlt, der anschließend bei einer »sozialkritischen Diskothek« in Bier angelegt werden konnte. Die große Mehrheit blieb sitzen. War es »Willfährigkeit gegenüber neoliberalen Zumutungen«, oder war es die »Bedeutungsmaschine Theater, die denen, die sich ihr ausliefern, auch dann noch Sinn spendet, wenn sie gar nichts eigenes produziert«, fragte Mark Siemons und verstand das Ereignis als Experiment auf die »Macht des Kunstversprechens über die Seelen« (FAZ, 22.1.2005, 33). Wäre es so, müsste man annehmen, dass das sinnverstehende Zuschauen auch dann noch funktioniert, wenn es gar nichts zu sehen gibt. Was den Ort als Theater definiert, ist eben die materielle Anordnung von Bühne und Zuschauerraum, die nicht dadurch zu suspendieren ist, dass die Bühne leer bleibt. Die Veranstaltung hatte ausschließlich performativen Charakter, d. h. sie war mit dem Vorgang selbst identisch, der die Zuschauer in sich hineinnimmt. Aber auch wenn kein Text zur Aufführung kommt, heißt das nicht, dass die soziale Situation, in die sich die Zuschauer – wenn auch nur als symbolisch Handelnde – versetzt sehen, nicht allererst ›verstanden‹ werden müsste. Das heißt auch: das Zeug hat, sie zu ›Verstehenden‹ zu machen. Die Auszahlung eines Euros am Ende der Performance rückte den Un/Sinn einer Gesellschaft ins Bewusstsein, die solche Veranstaltungen nötig hat.

Was Fischer-Lichte als das Neue beschreibt, das einzig durch eine »Ästhetik des Performativen« adäquat zu verstehen sei, beherrscht das Theater bis zu dem Moment, da die Literarisierung die Aufführung erreicht und diejenige Rezeptionsform verallgemeinert, die das Zuschauen zur sinnverstehenden Aktivität macht. Solange das Theater selbst ein Ereignis war, bei dem der zur Aufführung kommende Text, mithin sein literarischer Anteil weder von der Seite der Schauspieler (die lieber improvisierten als eine Rolle auswendig lernten) noch von der der Zuschauer im Mittelpunkt stand, galt auch hier, was Fischer-Lichte für die moderne Performanz-Kunst konstatiert, dass »der Körper- bzw. Materialstatus den Signifikantenstatus« überlagerte (2004, 24). Wenn Performance- und Aktionskunst seit den 1960er Jahren als das unerhörte Neue erscheinen können, so deshalb, weil das Dispositiv des literarischen Theaters – trotz der immer wieder vorgetragenen Angriffe seit Beginn des 20. Jahrhunderts – Theatralität auf die mit ihm selbst unauflöslich verbundenen Erscheinungsformen festlegte und alle übrigen Formen als defizitär, illegitim, seinen hochkulturellen Anspruch verfehlend abqualifizierte. Die »Ästhetik des Performativen« geht gewissermaßen den Weg zurück vom literarischen Theater zum Theater als Ereignis, dem keine von seinem ›Schöpfer‹ unabhängige Existenz zukommt und in dem das Gezeigte sich im Vorgang des Zeigens selbst verzehrt. Die Trennung von Schauspielern und Zuschauern, die das literarische Theater voraussetzt, um die Zeichenhaftigkeit der auf der Bühne dargestellten Welt entziffern zu können, wird überflüssig, wo die körperliche Präsenz der Akteure dem Zuschauer auf den Leib rückt und weniger ein ›Verstehen‹ als ein ›Erfahren‹ provoziert (vgl. ebd., 19). Die Ästhetik des Performativen trägt die Elemente zusammen, die seit 150 Jahren unter der Dominanz des literarischen Theaters zu einer Randexistenz verurteilt waren. Es ist, als hätten sich Schauspieler und Zuschauer nach so langer Zeit der Trennung durch die ›vierte Wand‹ allererst ihrer wechselseitigen Präsenz wieder versichern müssen. Der »Performativierungsschub« (Fischer-Lichte 2004, 25), den das Theater – aber auch musikalische Aufführungen oder Lesungen – seit den 1960er Jahren erfuhr, etwa in Handkes Publikumsbeschimpfung10, bezeugt dieses Bedürfnis.

Wenn man der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung zu Recht vorwerfen konnte, sie reduziere Kulturelles auf Artefakte, die den Sprung in die literarische Existenzform geschafft haben, so tendiert eine Ästhetik des Performativen dazu, überall ›Kunst‹ zu entdecken und Wirklichkeit nur mehr als inszenierte gelten zu lassen. Die Abstraktion des Literarischen setzte ein Gefüge voraus, in dem der Text und damit die Kompetenz, Texte auszulegen, als oberste Instanz institutionalisiert war. Wie sich das Auslegen von Texten nicht außerhalb der Materialität von Institutionen, Praxen und Diskursen bewegt, die ein ›hermeneutisches Dispositiv‹ bilden, in dem sich der ›Sinn‹, d. h. die geschichtliche Geltung einer Aussage oder Auffassung konstituiert, so die Abstraktion des Performativen. Die Privilegierung des Ereignishaften, mittels einer englischen Vokabel zum ›event‹ gesteigert, ist unverkennbar Reaktion auf einen Zustand, in dem die real existierende Kluft zwischen Ereignis und Dabeisein immer größer geworden ist, auch wenn (oder gerade weil) die Bilder in Echtzeit übertragen werden und der heimische Bildschirm die Dimensionen einer mittelgroßen Leinwand angenommen hat. Die Figur des befugten Interpreten, der immer neue Texte, Kommentare, Erläuterungen lieferte (vgl. Jehle/Orozco 2004), wird im neuen Paradigma durch den Reporter abgelöst, der mit der Kamera, dem Repräsentanten des Zuschauers, die Welt durchstreift und immer neue Ereignisse liefert.

Die Metaphorisierung des Theater-Begriffs, die ihre Evidenz aus ­einer »Theatralisierung und Ästhetisierung unserer Lebenswelt« (Fischer-Lichte 2004, 316) bezieht, läuft Gefahr, die inszenierten Wirklichkeiten als »Wiederverzauberung der Welt« (315) zu verklären, in der sich die »›Eigenbedeutung‹ von Mensch und Dingen« enthüllt (325). Wo aber die ›kulturelle Wende der Geisteswissenschaften‹ die Begriffe Herrschaft und Ideologie durch Kultur oder, noch kurzatmiger, durchs ›Ereignis‹ substituiert, statt in der Kultur die Spuren und Modi der Auseinandersetzung um Herrschaft, um Herrschaftssicherung von oben bzw. um die Erweiterung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit von unten zu entziffern, können die wirklichen Kämpfe, die in einer Gesellschaft ausgetragen werden, nicht in den Blick kommen. Die vorliegende Studie versteht sich dagegen als Beitrag zu einer sozialgeschichtlich fundierten Kulturwissenschaft, die die Herkunft ihrer Maßstäbe aus einer ideologiekritischen Sicht der Gegenwart nicht verleugnet.

V

Ich danke Thomas Barfuss, Ruedi Graf und Manfred Naumann für wertvolle Anregungen und die aufmerksame Lektüre des Typoskripts. Das theoretische Fundament zu dieser Studie ist durch das Projekt Ideologie-Theorie gelegt worden. Wenn sich die Früchte meiner damaligen Bemühungen, eine Studie zur Entstehung des französischen Staats­theaters, die im letzten Band der PIT-Reihe erschienen ist (AS 111, Der innere Staat des Bürgertums, 1986), auch nach Jahren noch als genießbar erwiesen haben, so zeigt das nicht zuletzt, wie viel die neue Arbeit dem alten Projektzusammenhang, insbesondere Wolfgang Fritz Haug und Jan Rehmann, verdankt.

Teil I

Frankreich

1 Die Eroberung des Theaters durch die Literatur

Einer Zeit, in der eine global organisierte Illusionsindustrie ihre Bilder vom besseren Leben bis in die Wellblechhütten ohne Wasser-, aber mit Fernsehanschluss sendet, muss das Theater des 18. Jahrhunderts als ein lächerlich mangelhaftes Produkt zur Befriedigung der Schaulust erscheinen. Mehrere Hundert im Parterre frei umherschweifende, ausschließlich männliche Zuschauer, die der Bühne nicht selten den Rücken zukehren, weil hinten im Saal gerade das interessantere Schauspiel stattfindet; Sitzplätze auf der Bühne, dem Lieblingsaufenthalt eingebildeter »petits-maîtres«, die alles tun, um sich selbst in Szene zu setzen; die rechteckige Form des Saales, die denjenigen Logenbesuchern, die tatsächlich das Bühnengeschehen verfolgen wollen, einen steifen Hals beschert11; schließlich eine Luft zum Schneiden und eine Saalbeleuchtung, die jedes Gesicht in einen Halbschatten taucht, »qui détourne l’attention et impose à chaque individu l’existence de ses voisins« (­Lagrave 1972, 417) – wir sind im 18. Jahrhundert noch weit entfernt von jenen Momenten »vollkommener Illusion«, die sich Stendhal gewünscht und auf deren Erlebnis er das »dramatische Vergnügen« beziffert hat.12 Claude-Nicolas Ledoux spricht die Erfahrung eines ganzen Lebens aus: »Nos théâtres […] sont encore dans l’enfance de l’art et laissent beaucoup à désirer« (1804, 222). Die aus langgestreckten Ballspielsälen hervorgegangene Bauweise versagt genau in dem Punkt, auf den es ankommt: »de voir par-tout et d’être bien vu« (222). Es genügt, sich von dem Schauspiel anregen zu lassen, das sich auf den öffentlichen Plätzen bietet: »Traversez la place publique, que voyez-vous? Un charlatan qui attire la curiosité des passants, et les appelle au son des clairons […]. Ses bruyants accords amassent la multitude qui se pelotte en foule autour de lui. On l’entoure de rayons égaux; le plus fort l’approche de plus près; le plus faible est plus éloigné. Toutes les places sont bonnes; toutes tendent à un seul point.« (223) Der Halbkreis, den die Menge um den Marktschreier bildet, ist zugleich die einzige Form, »qui laisse la possibilité de découvrir toutes les scènes du théâtre« (ebd.). Doch vorerst ist das Stehparkett ein »parc moutonnier […] où nos semblables, où l’espèce la moins favorisée de la fortune, est tellement saccadée, comprimée, qu’elle sue le sang; elle répand autour d’elle une vapeur homicide« (219).

Erst wenn der Nachbar zu einem die Wahrnehmung nicht länger tangierenden Moment geschrumpft ist, wenn das Geschehen auf der Bühne allein die Aufmerksamkeit der auf Sitzplätze gebannten Zuschauer zu fesseln vermag, wenn die Beleuchtung ausschließlich dem Bühnenraum gilt und das von den Zuschauern geforderte sinnverstehende Dabeisein unterstützt, wird das Theater zu dem Illusionsraum, der etwas anderes als sich selbst vorstellen kann. Die rezeptive Gestimmtheit der Zuschauer, die Öffnung der Sinne für das von den Schauspielern Gebotene, mithin eine »bereits geformte und empfangsbereite Theateröffentlichkeit«, deren früheste Spuren Erich Auerbach in die 30er Jahre des 17. Jahrhunderts zurückverfolgt hat (1933a, 5), ist nicht zuletzt das Resultat einer Erziehung durch die materiellen Umstände. Ein »höfisch-absolutistisches Kulturprogramm«, auf das Peter Bürger die Institutionalisierung der doctrine classique zurückgeführt hat (1979, 56), wäre als isolierte Aktion einer Kulturpolitik-von-oben zum Scheitern verurteilt gewesen; eine solche konnte nur greifen, wenn sie die Materialität der Theaterverhältnisse in Rechnung stellte und planmäßig in Richtung des sinnverstehenden Zuschauens zu entwickeln suchte. Voltaire war lebhaft bewusst, dass es daran fehlte. Nicht an hervorragenden Stücken, sondern am Vermögen der Schauspieler und an der Einrichtung der Spielorte mangelte es nach seiner Meinung. Allein schon die Zuschauer auf der Bühne genügten, um die poetische Kunst noch der besten Autoren zu Fall zu bringen.13

Es überrascht kaum, dass der Schriftsteller Voltaire den literarischen Anteil am theatralen Ereignis als den einzig gelungenen präsentiert, von dem aus alles andere als defizitär sich darstellt. Schon d’Aubignac konstatierte um die Mitte des 17. Jahrhunderts, dass die Ablehnung des Thea­ters wegen der mangelhaften Qualität der Stücke für die »­Modernes qui ont établi leur estime par beaucoup d’Ouvrages excellents« jeder Grundlage entbehrt (Projet, 701). Die Eroberung des Thea­ters durch die Literatur ist indes ein langwieriger Prozess, denn noch ein La ­Harpe konzipierte Theaterkritik als rein literarische Stilübung, die in der Stille des Studierzimmers zu erfolgen hat.14 Sie wagt sich nicht in die Höhle des Löwen, wo eine Stimmung herrscht wie heute bei Fußballspielen (vgl. hierzu Teil II, Kap. 3.1).15 Freilich ist La Harpes Haltung erst in zweiter Linie die Marotte eines gelehrten Pedanten; zunächst ist die literarische Theaterkritik die Folge einer Konstellation, die zwar die Beurteilung von Theaterstücken als eine allein den Gelehrten zukommende literarische Kompetenz zu installieren vermag, das theatrale Ereignis selbst aber noch kaum erreicht. D’Aubignac hat zwar mit seinen Reformvorschlägen vor allem dieses im Blick und tut so, als handelte es sich um ein bloßes »rétablissement«, ein Zurück zu einem früheren Zustand, der noch gekennzeichnet war durch die »soins et […] libéralités de feu Monsieur le Cardinal de Richelieu« (Projet, 698), doch auf den komplexen Zusammenhang, den Schauspieler, Publikum und architektonische Anlage bilden, in dem das Theater Ereignis wird, vermögen sie kaum einzuwirken. Obwohl seine Pratique du Théâtre, wie der Titel anzeigt, schon unverkennbar mit diesem Anspruch auftritt und, über die habituelle Auslegung der aristotelischen Regeln hinausgehend, bereits Elemente einer »Ästhetik des Performativen« (Fischer-Lichte 2004) enthält16, bleibt die Modellierung des Theaters durch die literarische Wertform prekär. Dieser Begriff, der an den der »ideologischen Wertförmigkeit« anschließt17, richtet das Erkenntnisinteresse auf die Rekonstruktion eines gegliederten Ganzen, eines Ensembles unterschiedlicher Instanzen, Praxen und Zuständigkeiten, in dem die vielstimmig und kontrovers betriebene Reform sich materialisiert und worin ihre ›Ideen‹ Kraft gewinnen und zirkulieren. Wenn von ihnen konkrete Regulationen der Theaterverhältnisse abgeleitet werden, so heißt das nicht, dass ›die Ideen‹ herrschen. Ihre Wirksamkeit ist an die Autorität der Instanzen gebunden, von denen aus gesprochen wird. Die wichtigsten Elemente der von d’Aubignac propagierten Reform sind: Vertikalisierung der Kompetenzen durch Einsetzung eines Intendanten; Professionalisierung der Schauspieler; Individualisierung der Zuschauer; Polizierung des Spielortes (Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols); schließlich die Forderung nach einem Neubau »où les sièges des Spectateurs soient distingués, sans que les personnes de condition y soient mêlées avec le menu peuple« (Projet, 705f). Dass es auf diese Entmischung von Vornehmen und ›kleinen Leuten‹ überhaupt ankommt, erweist die Hartnäckigkeit, mit der sich das Theater als Element der Popularkultur behaupten kann, aber umgekehrt auch keine Kraft findet, auf die ›Nation‹ auszustrahlen und, mit Gramsci zu sprechen, »popular-national« zu werden.

Die vertikale Struktur, die sich zwischen Lehre und Aufführung konstituiert und die der doctrine classique und ihren gelehrten Adepten den Resonanzraum sichert, besteht im 18. Jahrhundert fort.18 Zwar kann sich die 1637 gegründete Académie Française in der Querelle du Cid als Ordnungsmacht im Kulturellen präsentieren, aber das gilt nur für dessen schmale literarische Zone, die in den Werken der Literarhistoriker meist allein ausgeleuchtet und mit ›dem Kulturellen‹ schlechthin verwechselt wird. Mehr noch: Es ist genau die Trennung vom Theater als Ereignis, die der doctrine classique die Definitionsmacht über den obersten literarischen Wert einräumt. Mit ihrer Vorherrschaft geht es zu Ende, sobald der literarische Anspruch ›popular‹ wird, d. h. sich mit dem wirklichen Theater verbindet. Daher die paradigmatische Bedeutung des drame bourgeois, mit dem nicht nur eine literarische Form entsteht, in der das Bürgertum seine Welt- und Lebensauffassung erproben kann, sondern mit dem sich erstmals eine umfangreichere Reflexion über Schauspielkunst, Dekoration, Kostümierung usw. verbindet. Indem, wie bei ­Diderot, die genuin theatralen Anteile entwickelt werden, erweist sich der immer wieder neu ansetzende Kommentar der aristotelischen Regeln als ein verknöcherter Ritus, der kein Gemeinsames mehr zu stiften vermag. Wenn Félix Gaiffe an den Theoretikern des bürgerlichen Dramas kein gutes Haar lässt, um allein die Überlegungen zur szenischen Gestaltung als Pluspunkt zu buchen19, so verkennt er, dass eben damit das materielle Dispositiv des klassizistischen Theaters insgesamt revolutioniert wird: Theater wird als theatrales Ereignis entwickelt, ohne den Anspruch auf eine neue Form der höheren (literarischen) Kultur aufzugeben. Was in der klassizistischen Über-/Unterordnungsstruktur auf verschiedene kulturelle Kontinente verteilt war, auf literarische und Popularkultur (deren Hegemonie sich auf den Moment der Aufführung beschränkte)20, wird jetzt zusammengebracht und resultiert in einer szenischen Neuerfindung des Theaters, die die literarische Wertform für ihre Sache, d. h. die Sache der »Nation« mobilisiert. Nicht nur wird die Ständeklausel durchbrochen und ist der Bürger keine bloß komische Figur mehr21, auch in der Art und Weise, wie er auftritt und spricht22, wie sein In-der-Welt-Sein zur Darstellung gebracht wird, steckt ein revolutionäres Moment. »Pflegen die Prinzen und Könige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende?«, fragt die Favoritin, Diderots Alter Ego in Les bijoux indiscrets (38. Kap., zit. n. Lessing, HD 85). Dieselbe Forderung nach ›Natürlichkeit‹, die die Physiokraten die Vorzüge des Ackerbaus vor aller gewerblichen Luxusproduktion rühmen lässt, verweist den Deklamierstil auf der Bühne unter die überlebten Gestalten höfischer Kultur.

1.1 Die moralische Ökonomie des öffentlichen Platzes

In London, das zur Zeit Shakespeares etwa 160 000 Einwohner hatte, traten bisweilen fünf Gruppen gleichzeitig auf, mit rasch wechselndem Programm. Man spielte bei Tageslicht, unter freiem Himmel. Einzelne Theater fassten, wie in Madrid, 2000 Zuschauer. In der ­Theatersaison 1605 suchten wöchentlich etwa 21 000 Londoner die Theater auf. »In Scharen mussten sie über die Themse nach Bankside übersetzen und nach den Finsbury-Feldern pilgern, denn die puritanisch gesinnten, thea­terfeindlichen Stadtbehörden duldeten […] kein öffentliches Schauspielhaus im Stadtinnern.« (Weimann 1964, 194) Die Blüte des Theaters, der die Puritaner 1642 ein Ende bereiten, verdanke sich einer »vorkapitalistischen Ökonomie und Lebensweise« (195). Seine Besucher waren noch nicht »Opfer industrieller Arbeitsintensität und abstumpfender Arbeitsteilung«; noch keine »innerweltliche Askese« habe den Sinn für folk-drama, Maispiele und Schwertertanz verhunzt. Auch wenn Weimanns Blick auf das Theater Shakespeares durch einen romantischen Antikapitalismus getrübt ist, der die Ausbeutung der Arbeitskraft allein auf Seiten des Industriesystems wahrnimmt, als habe es in den vorindustriellen Verhältnissen keine gegeben, so ist doch der Versuch triftig, das Anderssein dieses Theaters durch seine Verwurzelung in der Tradition des Volkstheaters zu erklären. »Hofmann und Handwerker, Lehrling und Student, Kaufmann und Edelmann« (196) trafen sich ungeachtet des Abstandes, der sie im wirklichen Leben trennte.

Zwar ist auch in Paris das öffentliche Theater bereits seit Beginn des 17. Jahrhunderts zu einer dauerhaften Einrichtung geworden, aber ein fester Spielort allein garantiert nicht automatisch ein sicheres Auskommen. Das Hôtel de Bourgogne, das erste ständige Theater in ­Paris, musste an durchziehende Wandertruppen vermietet werden, bevor sich hier ab 1629 eine Truppe festsetzen konnte. Die Schwierigkeiten, sesshaft zu werden, hängen unter anderem damit zusammen, dass das öffentliche Theater noch kaum auf ein festes »Publikum« an einem Ort zählen kann. Es ist daher das Theater, das zu den Leuten kommen muss; die Schauspieler gehen an die Orte, wo viele zusammenkommen. Entsprechend ist Theater noch kaum ein ›autonomes‹ Ereignis: »la représentation […] est une manifestation collective de la vie de la cité, à laquelle tous participent« (Descotes 1964, 25). Die Schauspieler begleiten die Anlässe, zu denen die Straßen und Plätze von der Volksmenge in Besitz genommen werden: die kirchlichen Festtage, den Karneval sowie die Jahrmärkte und Messen, in denen der frühkapitalistische Waren- und Nachrichtenverkehr einen seiner Knotenpunkte hat. Während die Amateure der verschiedenen Bruderschaften (confréries) ihre Kunst ausschließlich im Rahmen der Liturgie oder der Feste ausüben, die sie mit ihren Späßen begleiten, gewinne der »Schauspieler« erst mit den zentralisierten Monarchien eine ›autonome‹ gesellschaftliche Funktion, unabhängig von den Anlässen des Alltagslebens (vgl. Duvignaud 1973, 44f). Die Priester selbst behalten sich die Rolle Jesu vor23, während die Spaßmacher und ›Narren‹, zumal die am Hof, zwar auf Dauer an ihre Funktion gebunden sind, diese ihnen jedoch kaum Spielraum lässt. Als eine Art »confesseur laïc« des Königs ist der Narr verpflichtet, diesem ein gutes Gewissen zu verschaffen (ebd., 48).

In Paris kann man einen Teil des Jahres auf der Messe verbringen. Die Foire Saint-Germain dauert in der Regel zwei Monate und beginnt am 3. Februar, zur Zeit des Karnevals; die Foire Saint-Laurent dauert etwa gleich lang und endet gewöhnlich am 29. September (vgl. Lagrave 1972, 32). Der ökonomische Kontext des Warenaustauschs findet sich wieder in Ausdrücken, die uns heute vor allem in Bezug auf das Theater geläufig sind: So heißt der Platz, wo sich die Kaufleute zum Geschäftsabschluss versammeln, »la Loge« (von ital. loggia); in den Niederlanden nennt man ihn »Börse« – nach der Patrizierfamilie van der Burse, die in ihrem Wappen drei Geldbeutel führte (ter buerse; vgl. Kulischer 1976, II 316). Die Börse macht aus der periodisch stattfindenden die »ewige, immerwährende Messe« (ebd., 314). Die Loge ist der den Kaufleuten speziell vorbehaltene Platz, der für die Dauer der Versammlungen abgesperrt wird, bevor man, in Lyon 1653, in ein eigenständiges Börsengebäude umzieht (ebd., 315). Und auch innerhalb des Theatergebäudes formieren die über einen separaten Eingang erreichbaren Logen – oft dauerhaft vermietet und abschließbar – eine Öffentlichkeit in der Öffentlichkeit. Sie trennen die ›bessere‹ Gesellschaft von der im Parterre sich tummelnden Menge. Im Theater wie an der Börse ist das Tragen von Waffen verboten.

Der Reichtum, den der Warenaustausch den Kaufleuten verschafft, geht mit dem Elend der Vielen einher. Die Schauspieler unterscheiden sich kaum von den Zauberkünstlern, Kraftmenschen, Akrobaten, Jongleuren, Arznei­verkäufern und Zahnausreißern, kurz, all denen, die ihre besonderen Fähigkeiten oder Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen suchen. So wie die Schauspieler oft gezwungen sind, sich als Pillendreher und Verkäufer sonstiger Medizin durchzuschlagen (vgl. Mongrédien 1966, 26), so agieren die Zauberkünstler und Kraftmenschen zugleich als »Schauspieler«. Als der junge Jean-Baptiste Poquelin seine Tätigkeit als Anwalt nach kurzer Zeit abbrach, sich um 1642 endgültig dem Theater zuwandte und der Vater ihm jede Unterstützung entzog, nahm er eine Beschäftigung bei dem »opérateur« Barry an, dessen Elixiere er auf öffentlichen Plätzen schluckte, um vor einer staunenden Menge ihre Wirksamkeit unter Beweis zu stellen (vgl. Adam III, 210). Dieser arme »mangeur de vipères« – wie ihn die Gebrüder ­Béjart nannten –, der spätere Molière, kannte also das unsichere Los der Schausteller, als er – nach langen Wanderjahren in der Provinz – der Protektion des jungen Ludwig teilhaftig wurde und sich in Paris, gegen die Konkurrenz der anderen Truppen, festsetzen konnte.24

Schauspielerische Qualitäten sind nötig, wo immer es darum geht, Bekanntschaften zu machen, um ein karges Auskommen zu finden. »Tous les acteurs qui jouent leur rôle sur ce grand et mobile théâtre [Paris] vous forcent à devenir acteur vous-même.« (Mercier, Tableau, 147) Die Schausteller auf den Jahrmärkten, die gegen eine zahlreiche Konkurrenz die Aufmerksamkeit der Passanten erregen müssen, um ihnen etwas zu verkaufen, das sie nicht brauchen, bewegen sich in der Nachbarschaft der Vielen, die der endemischen Arbeitslosigkeit auf dem Land zu entkommen und auf der Straße ihren Lebensunterhalt zu finden suchen. Es herrscht hier eine »poétique« eigener Art (Farge 1992, 21), in der »les va-et-vient incessants de la foule, le bruit assourdissant, la saleté malodorante et la brutalité« (16) eine unentwirrbare Gemengelage bilden. Wie der Zuschauersaal im Theater ein gegliedertes Ganzes unterschiedlicher Räume darstellt, die nicht allen zugänglich sind, so die Stadt, in der der »canaille« der Zugang etwa zum Jardin des Tuileries, der den Reichen und Schönen vorbehalten ist, verschlossen bleibt (vgl. ebd., 71). Hingegen beherrscht sie die »cabarets«, d. h. die Kneipen, »prolongement évident du boulevard […], espace à la fois clos et ouvert, où se rencontrent ceux qui n’ont pas d’autre endroit pour prendre le plaisir d’être ensemble« (ebd., 73). Das Wirtshaus, dessen Hof nicht selten den Rahmen hergibt, in dem die Bühne für ein paar Tage aufgeschlagen wird, ist zugleich der Durchgangsort par excellence der Wandertruppen. Das Leben auf der Straße und an Orten, an denen dieses seine Fixpunkte hat, ist gekennzeichnet durch eine Gewalt, die unvermutet und jederzeit ausbrechen kann. Sie ist ein »phénomène massif, constant et surprenant par l’intensité de sa brutalité«, kennzeichnend für die kleinen Leute, die ihre Konflikte »sur le champ, à coups de poings, de pieds, ou avec les outils de son travail« austragen (124). Diese populare Form der Gewalt ist selten aktenkundig geworden, da sie sich innerhalb der Stände- und Klassenschranken hielt und nur dort zum Austrag kam, »où se joue un subtil rapport de forces entre les partenaires« (125): zwischen Käufern und Verkäufern, Mietern und Vermietern, Männern und Frauen.

Noch Goethe konfrontiert seinen Wilhelm Meister in Deutschland mit einer den Lebensbedingungen der Straße ähnlichen Situation: »Ist wohl ein kümmerlicheres, unsichereres und mühlseligeres Stückchen Brot in der Welt? Beinahe wäre es eben so gut, es vor den Türen zu betteln. Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen, von der Parteilichkeit des Direktors, von der Übeln Laune des Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär, der in der Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt und ge­prügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und Pöbel zu tanzen.« (Sendung, 2. Buch, 7. Kap.)25 Mit Wilhelm Meister präsentiert Goethe, bezogen auf die deutschen Verhältnisse, die Gestalt, die eine Perspektive der Befreiung des Theaters aus der Nachbarschaft von »Affen und Hunden« entwickeln und den Schauspieler mit der zivilen Welt vereinbar zeigen kann. Aber hier wie im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich wird es nur wenigen gelingen, sich in die »gute« Gesellschaft hinaufzuarbeiten.

Inmitten der alltäglichen Notwendigkeiten des Sich-Durchschlagens finden wir auf den öffentlichen Plätzen zugleich die Elemente einer popularen Gegenordnung zu dem Block aus Reichtum, Macht und Privilegien. Seit Bachtins grundlegender Untersuchung über Rabelais und die Volkskultur im 16. Jahrhundert wissen wir, dass die öffentlichen Plätze in der »moralischen Ökonomie« des Volkes, d. h. in dessen »fest umrissenen und leidenschaftlich vertretenen Vorstellungen vom Gemeinwohl« (Thompson 1980, 70), eine besondere Rolle spielen: »La place publique était le point de convergence de tout ce qui n’était pas ­officiel, elle jouissait en quelque sorte d’un droit ›d’exterritorialité‹ dans le monde de l’ordre et de l’idéologie officiels, et le peuple y avait toujours le dernier mot.« (Bachtin 1970, 156) Mercier, 350 Jahre nach ­Rabelais, klärt uns freilich darüber auf, dass gerade während des Karnevals die Polizei ein Heer »informeller Mitarbeiter« unterhielt, die im Faubourg Saint-Antoine eine »allégresse publique, fausse et mensongère« entfachten (Tableau, 298).

Der Gedanke der Exterritorialität verweist darauf, dass die ideologischen Mächte, Kirche und Staat, aber auch die repressiven Mächte, Polizei und Armee, nicht überall und zu jeder Zeit gleichermaßen präsent sind. Welche Territorien von wem besetzt gehalten werden, steht nicht fest. An vielen Festtagen ziehen sich Staat und Kirche aus ›ihren‹ Stellungen zurück und überlassen die Herrschaft dem ›verrückt‹ gewordenen Volk und seinen Repräsentanten, den Narrenkönigen und -bischö­fen. Umgekehrt werden die öffentlichen Plätze zur Inszenierung staatlicher Herrschaft genutzt, etwa bei Hinrichtungen, bei denen es sich um ein Ritual handelt »pour reconstituer la souveraineté un instant blessé« (Foucault 1975, 52). Das Volkstheater der öffentlichen Plätze hat sein Gegenstück im »Theater des Schreckens« (van Dülmen 1985). Was aber als gerecht zu gelten hat, bleibt der Obrigkeit nicht kampflos überlassen. Die im Volk lebendigen Rechtsvorstellungen können in Widerspruch geraten zur Strafpraxis der Obrigkeit. Das Militär vermag den Scharfrichter vor der aufgebrachten Menge nicht immer zu schützen: das Volk kann den Delinquenten unter Umständen selbst zur Strecke bringen und so seine Kompetenzen ›überschreiten‹, indem es sich mit den von der Obrigkeit ihm zugestandenen Anteil – dem Beschimpfen, Verhöhnen und Bespucken des Opfers – nicht zufrieden gibt. Es geht nicht nur darum, den Verbrecher an einer Flucht zu hindern, auch das Volk muss daran gehindert werden, den Verurteilten zu retten oder ihn selbst zu töten.26 Entscheidend ist, dass das Volk nur zuschaut. Aber selbst dann, wenn der öffentliche Platz zur Insze­nierung des staatlichen Schreckenstheaters dient, ist nicht von vornherein entschieden, wer das letzte Wort haben wird.

Die öffentlichen Plätze sind strategische Orte der Hegemoniebildung – ein Aspekt, der bei Bachtin unterbelichtet bleibt, weil er die populare hegemoniale Gegenordnung weniger als einen Prozess im Handgemenge mit dem Gegner denn als fertigen Ausgangspunkt im Blick hat. Die Orte, an denen etwa die Jahrmärkte stattfinden, sind nicht nur Schauplatz einer karnevalesken Gegenordnung, sondern zugleich ein Karneval des Kommerzes.27 Immer wieder werden Jahrmärkte verboten oder in ihrer Dauer beschnitten, vor allem wenn die Obrigkeit den Eindruck hat, dass die kommerziellen Aktivitäten gegenüber den Volksbelustigungen wie etwa dem Marionettentheater, in dem kein Blatt vor den Mund genommen wird, ins Hintertreffen geraten (vgl. Starsmore 1975, 13). Indem das Volk dem von der Staatsmacht inszenierten Schreckenstheater beiwohnt, wird es an der Strafverfolgung, die in der Hand des Souveräns konzentriert ist, imaginär beteiligt. Die ›Wiederherstellung‹ der Ordnung wird ihm bildhaft vor Augen geführt. Aber wie bei allen ideologischen, auf die Beteiligung und Aktivierung der Subjekte setzenden Einbindungsstrategien, kann es zu einer Dynamik kommen, welche die Schranken durchbricht: Ob der Verbrecher gerettet oder durch das Volk selbst hingerichtet wird – in beiden Fällen wird die Auslagerung der Strafverfolgungskompetenz aus dem Gemeinwesen eingezogen und von unten wieder angeeignet.

Freilich stellt solche Aneignung das Gesellschaftssystem selbst nicht in Frage. Was hier als Volk den Ton angibt, entspricht weitgehend dem, was Hobsbawm als Verhaltensweisen des »Mob« – der ›kleinen Leute‹, ›menu peuple‹, ›popolo minuto‹ – in den vorindustriellen Großstädten analysiert hat, insbesondere denjenigen, die von einer höfischen Residenz lebten oder von einem Fürsten regiert wurden. Hier fand der »volkstümliche Legitimismus« (1959/1979, 158) den geeigneten Nährboden. Der Herrscher konnte mit enthusiastischer Gefolgschaft rechnen, wenn sein Handeln ›gerecht‹ war, d. h. wenn er den kleinen Leuten, die mit Gelegenheitsarbeiten eine prekäre Existenz bestreiten mussten, ein Auskommen sicherte. Daher das »merkwürdige Verhältnis« zum Herrscher, »das gleichermaßen von Parasitismus wie von Aufständen bestimmt war« (153). Die Zerlumpten und Elenden, die in unmittelbarer Nachbarschaft der Paläste ihr Leben fristeten, sahen im Glanz der Reichen durchaus keinen Grund für ihre Misere. Wenn fürs Existenzminimum gesorgt war, war alles in Ordnung. Der Aufstand dient dazu, das gestörte symbiotische Verhältnis wieder ins Lot zu bringen; man verlangt einen König, der seine Pflicht tut, so wie der popolo minuto von Neapel von seinem Heiligen verlangt, dass er ihn unterstützt. Die Aspirationen des kleinen Mannes sind nicht darauf gerichtet, »die Bedürfnisse und die Erfordernisse produktiver Klassen zu befriedigen« (Gramsci, Gef 9, H. 22, § 2, 2065). Mit der Dialektik von Aufstand und Parasitismus, Enthusiasmus der Kritik und Enthusiasmus der Zustimmung ist es erst vorbei, wenn mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die den ›Tagedieb‹ in den Verkäufer seiner Arbeitskraft verwandeln, eine neue, ›politische‹ Strategie gelernt werden muss: Die modernen Arbeiterbewegungen treten an mit der Überzeugung, dass allein Organisation und Solidarität28 die Lebensverhältnisse nachhaltig und dauerhaft verbessern können.

Aus der komplementären Zuordnung von Alltag und Fest holt die Obrigkeit einen Teil des ideologischen Zements, der ihre Herrschaft sichert: Die Eroberung der Staatsmacht von unten ist in die zeitlichen Schranken der Narrenherrschaft verschoben; die Verrücktheit des Volkes, die imaginäre Entmachtung der Herren, wird zu einem Stützpunkt ihrer Führung. Dennoch sind alle diese zeitlich begrenzten und verschobenen Formen der Wiederaneignung von Vergesellschaftungskompetenzen umkämpft. Sie können, in einer Situation sozialer Notlage, zu Kristallisationspunkten von Widerstand werden. Schlechte Ernten hatten die Bauern und die städtischen Handwerker von Romans 1580 dazu gebracht, die Entrichtung des Zehnten und der taille zu verweigern, die besonders verhasst war, weil der Grundherr sie nach freiem Ermessen bestimmen konnte (vgl. Kulischer I/121). Sie bewaffneten sich und warfen die Grundbücher ins Feuer. Der Karneval wird in diesem Kontext zum Widerstand gegen die Obrigkeit: Paumier, der Anführer der Aufständischen, saß »mit einem Bärenfell bekleidet im Sessel des Bürgermeisters und verzehrte Delikatessen« (Kamen 1982, 133). In dem Bild sind die Überwindung des Hungers und die Ablehnung der schlechten Obrigkeit, die ihrer Pflicht gegenüber den kleinen Leuten nicht nachkommt, miteinander verdichtet. Am Vorabend des Fastnachtsdienstages werden die Führer der Aufständischen und ein Großteil ihrer Gefolgschaft massakriert. Der Alltag repressiver Herrschaftssicherung setzt dem kurzen Sonntag der Anarchie ein jähes Ende.

Am Beispiel von Hungerrevolten im 18. Jahrhundert in England hat Thompson gezeigt, dass es sich hier nicht nur um blinde Reaktionen, einen tumultartigen Aufstand handelt, der die Wiederherstellung der Ordnung von oben erwartet. Es geht auch um die Wiederaneignung der den kleinen Leuten entzogenen Kompetenzen, etwa derjenigen der Preisfestsetzung. Die Proteste »be­wegten sich im Rahmen eines volkstümlichen Konsenses darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei« (Thompson 1980, 69). Im Kern ging es, worauf auch Hobsbawm hinweist, um die Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Die Spitzenwirker in Horniton, »die 1766, nachdem sie den Farmern das Korn weggenommen und zu einem volkstümlichen Preis auf dem Markt verkauft hatten«, brachten »diesen nicht nur das Geld, sondern auch die Säcke zurück« (ebd., 103). Was gerecht ist, wird nicht nur mit Worten gefordert, sondern praktisch vorgeführt. Die Aufständischen inkarnieren eine Welt, in der die Preise gerecht sind und alle ihr Auskommen finden. Im Moment des Aufstands wird die Utopie Wirklichkeit.

Das Theater der Wandertruppen ist eine Einrichtung, in der die imaginäre Herrschaft des Volkes zur Zeit des Karnevals oder des Aufstands übers Jahr hinweg erinnert wird. Seine zentrale Gestalt ist deshalb der Narr, der zu seinem »eisernen Bestand« gehört (Weimann 1967, 48). Er konzentriert in sich die Situation der verkehrten Welt, in der alle