Zorn und Gnade - Sandra Gernt - E-Book

Zorn und Gnade E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Himmelhohe Berge, tiefe Täler: Die Welt könnte eine Idylle sein. Doch Wolf- und Drachenwandler stehen sich seit Generationen als Feinde gegenüber. Eine unversöhnliche Blutfehde wogt zwischen ihnen, das Leid auf beiden Seiten ist groß. Auch Joadrys, ein junger Drache, und der Wolf Ellyn begegnen sich in Hass und Misstrauen – nicht ahnend, dass von ihnen beiden die Zukunft ihrer Völker abhängt. Ca. 70.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 345 Seiten.

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Himmelhohe Berge, tiefe Täler: Die Welt könnte eine Idylle sein. Doch Wolf- und Drachenwandler stehen sich seit Generationen als Feinde gegenüber. Eine unversöhnliche Blutfehde wogt zwischen ihnen, das Leid auf beiden Seiten ist groß.

Auch Joadrys, ein junger Drache, und der Wolf Ellyn begegnen sich in Hass und Misstrauen – nicht ahnend, dass von ihnen beiden die Zukunft ihrer Völker abhängt.

 

Ca. 70.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 345 Seiten.

 

 

 

von

Sandra Gernt

Wer niemals Abschied nehmen musste, weiß nicht, wie wertvoll das Leben ist.

llyn starrte zu Boden.

Er wollte die Gruft nicht sehen.

Den weißen Marmor, das gähnende Loch in der Wand, das dazu gedacht war, den Körper seines Bruders zu verschlingen.

Zu viele, von denen er bereits Abschied genommen hatte. Zu viele, die hinter dicken Steinplatten ruhten, auf denen ihre Namen und Lebensjahre eingraviert wurden. Zu viele allein aus seiner engsten Familie.

Adyr war das jüngste Opfer der ewig schwärenden Blutfehde zwischen Wolfs- und Drachenwandlern. Sein Bruder würde neben ihrer Mutter zu liegen kommen und ihren SchwesternCira und Deleanna Gesellschaft leisten.

Cira war nur neun Jahre alt geworden. Eine Jungwölfin, die vom Feuer einiger jugendlicher Drachenwandler verletzt wurde, als sie Wasser holen wollte. Dabei war es strengstens untersagt, Kinder anzugreifen. Sie war nicht einmal verwandelt gewesen, und niemals – unter gar keinen Umständen! – durfte man in seiner Wandelgestalt einen Menschen angreifen. Höchstensfalls, um ein Neugeborenes zu beschützen. Menschen kämpften gegen Menschen. Wandler gegen Wandler.

Dieses Gesetz der Ehre hatte Cira nicht gerettet.

Der Drachenkönig persönlich hatte sich für diese abscheuliche Tat entschuldigt und die jungen Drachen hart bestraft. Es hatte weder die Fehde beendet noch den Hass ausgelöscht. Vier Tage hatte Cira gekämpft, bevor ihr schwarz verkohlter Körper aufgegeben hatte, bei dem auch der magische Heilschlaf versagte … Und nichts Gutes war aus ihren sinnlosen Qualen entstanden.

So grausam hatte Adyr nicht leiden müssen. Ellyn streichelte über den regungslosen Körper seines älteren und einzigen Bruders. In weiße Leinentücher gehüllt, einbalsamiert und bereit für den ewigen Schlaf lag er auf seiner Bahre.

Adyr hatte es von Kind an gehasst, schlafen zu müssen. Kaum vier Stunden hatte er sich zugestanden und die selten genug am Stück. Eine halbe Stunde hier, zwanzig Minuten da, das musste genügen. Immer bereit für den Kampf. Immer begierig, sein Volk zu verteidigen, Wachdienste zu übernehmen, auf Grenzpatrouillen Streit zu suchen.

„Schlafen werde ich, wenn ich tot bin!“ Wie oft hatte Adyr diese Worte gerufen und dabei gelacht, bevor er sich zum Wolf gewandelt hatte und hinaus in die Wälder gerannt war! Dort war sein Zuhause gewesen, nicht in den kühlen Mauern von Wargafels. Sein silberner Wolfspelz hatte manchmal noch zwischen den Baumstämmen geleuchtet, wenn Ellyn ihm von den Festungszinnen aus nachgeblickt hatte, im vollen Vertrauen darauf, dass Adyr heimkehren würde. Er war immer heimgekehrt, manchmal mit Blut im Fell und hinkend und dennoch lachend, sobald er sich zurückgewandelt hatte.

„Das war großartig! Ein Kämpfchen nach meinem Geschmack!“ Ein Krug voll Honigmet in den Rachen gestürzt, und schon konnte Adyr zur Erholung in sein Bett kriechen – oft genug in Begleitung. Wie viele Nachkommen er gezeugt hatte, wusste niemand. Vielleicht nicht einmal die Mondgöttin selbst, die mit so viel Liebe auf ihren ungestümen Wolfssohn herabzublicken schien. Denn gleichgültig, wie wild Adyr es trieb, wie viel Streit er sich bei den Drachen suchte, wie kalt und stürmisch die Nächte waren, in denen es ihn hinaus in die Wildnis drängte: Sie hatte ihn beschützt. Bis es vorbei war.

Es war falsch, ihn so still zu erleben. Die sehnigen Muskeln erschlafft unter den Fingerspitzen zu spüren. Den vertrauten Geruch seines Bruders verfremdet und schwindend und kalt unter Balsamierungsöl und Seife zu riechen.

Es hatte sehr viel Seife gebraucht, um das Blut fortzuwaschen, und sehr viel Garn, um die grauenhaften Wunden zu schließen …

Noch immer erwartete Ellyn, dass Adyr jeden Moment aufspringen und ihn auslachen würde, weil er auf den Streich hereingefallen war. Wie die tausende Male zuvor, wenn sein Bruder ihn ausgetrickst hatte. So an dem Tag, als Adyr getan hatte, als würde er von den höchsten Zinnen der Bergfestung abstürzen. Ein Seil hatte ihn gesichert, was Ellyn nicht bemerkt hatte, als er aufschreiend über den Rand der Mauer geblickt hatte, absolut überzeugt davon, mehr als hundert Schritt in der Tiefe Adyrs zerschlagenen Körper vorzufinden – und stattdessen in das lachende Gesicht seines Bruders schauen durfte. Warum sprang er also nicht endlich auf, befreite sich von seinen Totenbändern und machte sich über ihn lustig, wie sonst auch? Unvorstellbar, dass Ellyn nach all den Jahren, die ihn das Gegenteil gelehrt hatten, immer noch daran glauben konnte, dass irgendwann irgendjemand seinen Bruder aufhalten würde. Dass es ausgerechnet die Drachen sein mussten, die ihn zu Fall brachten und das Lachen verstummen ließen …

Die Lücke, die Adyr hinterließ, war nicht zu füllen. Wenn wenigstens ihre Mutter noch bei ihnen wäre! Sie hatte die Familie zusammengehalten. Mit ihrer Liebe, ihrer Kraft, ihrem unbeugsamen Mut, jedem Tag mit einem Lächeln zu begegnen, gleichgültig, welches Leid er ihr entgegenwarf. Vor Jahren war auch sie den Drachenwandlern zum Opfer gefallen – auf grausamste Weise, während Adyr schnell und gründlich von gewaltigen Tatzen zerfetzt worden war. Er war auf einem Patrouillengang in einen Hinterhalt geraten. Es galt eigentlich ein Waffenstillstand zwischen ihren Clans, und das schon seit rund zwanzig Jahren. Leider bestand dieser Frieden lediglich auf dem Papier.

„Reiß dich zusammen!“, wisperte plötzlich Beatrice in Ellyns Ohr. „Wag es nicht, mir schlapp zu machen!“

„Ist nicht meine Absicht“, antwortete er seiner älteren – und letzten – Schwester ebenso leise. Hier in der Familiengruft von Wargafels, im Herzen der Wolfswandlerfestung, waren sie unter sich. Ellyn, Beatrice und ihr Vater. Sie waren die letzten Überlebenden ihrer Familie, zumindest wenn man den engsten Kreis bedachte. Natürlich lebten noch Tanten, Onkel, Vettern und Cousinen. Die warteten respektvoll oben, zusammen mit dem Rest ihres Clans.

Viertausendzweihundertsiebzig.

Das war die vermutete Anzahl der Wolfswandler des Kón-Gebirges, von denen gut ein Drittel in Wargafels hauste, während der Rest sich in den umliegenden Tälern niedergelassen hatte. Die wahren Ausmaße der Bergfestung, die in das Gestein des Gebirges hineingemeißelt wurde, konnte man erst begreifen, wenn man sich diese Zahlen klarmachte. Rund eintausendvierhundert Wandler lebten hier. Jede Familie hatte einen eigenen Wohnbereich, es gab dem Gerücht nach mehr Treppenstufen als Sterne am Himmel, riesige Versammlungshallen, oberirdische, sonnendurchflutete Gartenterrassen, einen eigenen Fluss mit Wasserfall, der durch die Festung strömte – und die unterirdischen Hallen des Abschieds mit hunderten verschiedenen Familiengruften. In Wargafels konnte man leicht mehrere Stunden lang umherstreifen, ohne einer einzigen lebenden Seele zu begegnen.

Heute waren sämtliche Bewohner und zahllose Auswärtige Clanmitglieder in der Haupthalle versammelt. Sie warteten auf die Rückkehr von König Freyun, Ellyn und Beatrice, damit sie gemeinsam von Adyr Abschied nehmen konnten. Ihrem Kronprinzen. Die Hoffnung des Clans auf Fortbestand und Frieden.

Adyr …

Er war Ellyns großer Held gewesen. Sein unerschütterlicher Fels. Sein Leitstern. Alle hatten Adyr geliebt. Ihn für seinen Mut, seine Kampfkraft, seinen Gerechtigkeitssinn und noch tausend anderen Stärken bewundert. Ellyn wusste, dass er niemals diese Fußstapfen würde ausfüllen können. Niemand konnte das. Wenn er es doch gewesen wäre, den die Drachen geholt hatten! Diese Schuld brannte in seiner Brust und schmerzte bei jedem Atemzug. Ihn hätten sie zerfetzen müssen!

Nur zu gerne wäre er bereit, die Zeit zurückzudrehen, um Adyrs Platz beim Patrouillengang an sich zu reißen. Ihn überzeugen, dass er woanders dringender benötigt wurde. Zur Not würde er ihn einfach niederschlagen, bloß um ihn am Sterben zu hindern.

Dann würde Adyr nun hier stehen, all jene heißen Tränen weinen, die sich Ellyn hartnäckig verweigerten, starke Worte finden, um Beatrice und Vater über den Verlust des Jüngsten zu helfen. Trost spenden, auch den Rest des Clans darauf einschwören, dass das Leben weiterging. Und morgen wäre alles gut und Ellyn eine Erinnerung, ein Name an der Wand der Gruft …

Adyr hätte es mit Leichtigkeit geschafft, dass noch heute Nacht gelacht werden würde und sich niemand dafür geschämt hätte. Er war der Held. Ellyn eben bloß der Nachgeborene. Der Schwächling, der beständigen Schutz und ewige Rettung benötigte. Zwar auch schon vierundzwanzig Winter alt, doch als erwachsen und respektabel nahm ihn niemand wahr. Nicht einmal er selbst.

„Vater“, sagte Beatrice zu der gebeugten Gestalt, die mit versteinertem, eingefallenem Gesicht an der Wand lehnte und sich in der vergangenen Stunde kein einziges Mal gerührt hatte. War dieser Mann, der für Ellyn stets das Sinnbild des unbeugsamen Wolfkriegers und starken Königs war, schon immer derartig grau und zerbrechlich gewesen? Nicht einmal nach Mutters Tod war er so sehr in sich zusammengesunken. Erst vor einigen Tagen hatte Ellyn über die äußere Ähnlichkeit zwischen Adyr und Vater gestaunt. Beide waren groß, muskulös und besaßen langes, struppiges, silberfarbenes Haar und beeindruckende Vollbärte, die sie zu langen Zöpfen geflochten trugen und ihr ganzer Stolz darstellte. Ellyn hingegen kam eher nach seiner gestorbenen Mutter. Sein Haar war schwarz und glatt, es reichte ihm bis zur Schulter. Den Vollbart trug er kurz, er bedeckte kaum Wangen und Kinn. Auch er war hochgewachsenen, doch sehr viel schlanker als sein Bruder. Sehniger, so viel weniger mit Muskeln bepackt. Ihm mangelte es keineswegs an Kraft oder Ausdauer, dennoch wirkte er neben Adyr stets wie ein schlaksiger Jüngling. Beatrice hingegen war eine gelungene Mischung ihrer Eltern: Das hüftlange schwarze Haar war von schimmernden silbernen Strähnen durchzogen, die bei anderen Frauen wie ein Zeichen des Alters gewirkt hätten, bei ihr hingegen wunderschön aussah.

„Vater?“, fragte Beatrice erneut.

Adyr hatte ihm zur Seite gestanden, als Mutter getötet wurde. Tag und Nacht war er bei ihm geblieben, hatte dafür gesorgt, dass der Wolfskönig sich nicht in Hass verlor oder die Pflichten für das Wandlerrudel vollends vergaß. Es war Adyr, der einen blutigen Kriegsausbruch verhindert hatte, an dessen Ende zweifellos die vollständige Vernichtung der Wölfe gestanden hätte. Wenn die Drachen es wirklich darauf anlegten, könnten sie mit ihrem Feueratem sämtliche Wälder der Kón-Täler in Flammen aufgehen lassen und damit die Wolfswandler aushungern. Ja, in der Bergfestung könnten sie lange ausharren. Dennoch wäre ihr Untergang unausweichlich.

Und jetzt? Wer sollte Vater aufhalten? Ellyn war der Jüngste. Seine Stimme zählte nicht. Seine Existenz war bedeutungslos, seine Taten waren nie beachtet worden. Er konnte also nichts tun, um seinem Vater beizustehen. Das war Adyrs Aufgabe! Immer gewesen.

Ein großer, ein schrecklicher Fehler war geschehen. Das Schicksal hatte Ellyn mit Adyr verwechselt und ihn überleben lassen. Das war falsch. Wie sollte er leben, wenn das strahlende Licht der Hoffnung erloschen war? Wie sollte irgendjemand von ihnen überleben?

„Vater!“ Als Beatrice auch im dritten Versuch keinen Erfolg damit hatte, eine Reaktion zu provozieren, stieß sie Ellyn ungeduldig an.

„Tu was!“, zischte sie vorwurfsvoll.

„Vater, bitte“, flüsterte Ellyn. „Wir müssen ihn allmählich zum großen Schlaf niederlegen, meinst du nicht? Die Mondgöttin wartet.“

„Wranja wird einem alten Wolf verzeihen“, wisperte sein Vater mit gebrochener, lebloser Stimme. „Sie wird verstehen, wie müde ein Mann es werden kann, seine Kinder hergeben zu müssen …“

Wenigstens sprach er wieder. Ermutigt von diesem Erfolg trat Ellyn einen Schritt vor.

„Vater, ich …“

Eine schallende Ohrfeige traf ihn aus dem Nichts, brachte ihn zum Schweigen und seine Nase zum Bluten. Verblüfft über diese Attacke, die er nicht einmal hatte kommen sehen, taumelte Ellyn mehrere Schritte rückwärts, bis er gegen die Wand stieß.

„Du wagst es nicht, deine Stimme zu erheben!“, zischte sein Vater zornig. „Nutzlose Brut! Ein gewaltiger und unerreichbarer Krieger ist gefallen und nichts als ein feiger, nutzloser Welpe ist mir noch geblieben. Geh mir aus den Augen! Du wirst Adyr bei seinem Gang zur Göttin nicht beschmutzen!“

Zutiefst schockiert starrte Ellyn ihn an, bevor er langsam aus der Gruft hinauswankte. Es war die kalte Verachtung in den eisblauen Augen seines Vaters, der ihn hinaustrieb.

Er meint es nicht so, dachte er stumpf und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Vermutlich verschmierte er es bloß, es strömte weiterhin heftig aus seiner Nase. Ratlos schaute er auf seine blutbesudelte Hand, die er nicht an seinem Hemd abstreifen wollte. Natürlich war das sinnlos, denn das sprudelnde Blut fand allein den Weg über sein Kinn auf das Hemd. Um Fassung ringend ließ er sich im Schatten einer der zwanzig Schritt hohen Säulen fallen, die die Decke der Vorhalle zu ihrer Familiengruft stützten.

Nie zuvor hatte sein Vater ohne Grund die Hand gegen ihn erhoben! Das musste die Trauer sein, die ihn an den Rand des Wahnsinns trieb.

Als mit einem Mal Beatrice neben ihm hockte, fuhr Ellyn erschrocken zusammen. Er hatte nicht wahrgenommen, dass sie sich herangeschlichen hatte.

„Falls du glaubst, es wäre ein hartes Los, von nun an Adyrs Platz ausfüllen zu müssen, dann versuch mal, mit meinem Schweif zu wedeln“, flüsterte sie. „Du bist wenigstens unwürdig. Ich bin unsichtbar. Egal was ich sage oder tue, er ignoriert mich.“

Mit gefurchter Stirn blickte Ellyn seine ältere Schwester an. Einunddreißig Winter war sie alt. Drei Kinder hatte sie geboren und sich Vergnügen gesucht, ohne sich einen festen Gefährten zu nehmen. Letzteres war bereits ein Dorn in Vaters Augen, obwohl er nie etwas gegen Adyrs Ausschweifungen zu sagen gehabt hatte. Leider waren Beatrices Kinder alles Mädchen. Ein männlicher Enkel würde ihren Vater sicherlich friedlicher stimmen. Adyr hatte mit Sicherheit ein halbes Dutzend Söhne gezeugt, aber keinen von ihnen offiziell anerkannt. Es gab also keinen Stammhalter …

Nichts davon war im Moment wichtig. Sie waren hier, um Abschied zu nehmen. Dies war kein Wettstreit, wer die geringste Wertschätzung in dieser Familie erfuhr. Zudem: War es schlimmer, vollständig ignoriert oder geschlagen und von der Abschiedszeremonie für seinen eigenen Bruder fortgejagt zu werden? Ellyn wusste es nicht und es war ihm gerade gleichgültig.

Beatrice hatte ihn nie leiden können. Auch das hatte keine weitere Bedeutung, denn abgesehen von ihren Töchtern konnte Beatrice niemanden leiden. Nun gut – Adyr hatte sie zumindest respektiert.

Schwere Schritte erklangen. Ihr Vater hatte die Gruft verlassen.

„Beeil dich gefälligst!“, rief er in Ellyns Richtung. „Das Rudel wartet!“

Jeder Wolfwandler des Kón-Gebirges war gekommen, sofern er irgendwie lauffähig war. Selbst diejenigen, die in den weit entfernten Südtälern lebten.

Ellyn wischte sich weiter vergeblich über das klebrige Gesicht. Ihm war schwindelig, sein Kopf schmerzte, er schmeckte sein eigenes Blut auf der Zunge, zusammen mit vereinzelten bitteren Tränen. Nein, in seiner menschlichen Gestalt konnte er sich heute nicht mehr präsentieren. Also verwandelte er sich, in der Hoffnung, dass seine Nase aufhörte, wie ein Geysir zu sprudeln. Gehorsam trabte er hinter seinem Vater her. Beatrice folgte mit großem Abstand. Gemeinsam mit dem Großrudel würden sie gleich ihren Schmerz in den Himmel heulen. Die Halle des Abschieds besaß einen Zugang zu einem hohen, weitläufigen Felsplateau. In der heutigen wolkenlosen Nacht würden sie den aufgehenden Mond sehen. Es war der einzige Teil, den Ellyn an Bestattungen wirklich liebte. In der Gemeinschaft zusammenkommen und Wranja anrufen, die Göttin des Mondes, des Schlafs, der Träume und des Todes. Wranja führte die Lebenden in das Reich der Träume und wachte dort über sie. Die Seelen der Toten nahm sie zu sich, sobald deren Körper für den großen Schlaf niedergebettet waren, und ließ sie zum Teil des ewigen Schöpfungstraumes werden.

Leb wohl, Adyr, mein Bruder, dachte Ellyn, während er die endlosen Treppen der Festung emporstieg. Leb wohl, bis wir uns wiedersehen. Deine Geschichte ist erzählt.

 

 

Joadrys starrte in die verhasste Nacht hinaus.

„Die Wölfe heulen wieder“, sagte er zu Mybror, der mit ihm gemeinsam Wache hielt.

„Was du nicht sagst!“, brummte sein Vetter übellaunig. „Glaubst du, meine Ohren sind abgefallen und ich schlagartig ertaubt, ja? Vielleicht von deinen schrägen Schlachtengesängen?“

Joadrys verkniff sich ein Schmunzeln. Gestern hatten sie den vierundzwanzigsten Krönungstag seines Vaters gefeiert. Der Drachenkönig, dessen größter Verdienst es war, den Friedensvertrag mit den Wolfswandlern ausgehandelt zu haben.

Nun gut. Gestern Nacht hatte er dem Honigmet stärker zugesprochen, als es sinnvoll war und ja: Er hatte gesungen. Vermutlich nicht allzu schön.

Allerdings erinnerte er sich durchweg an das, was auf dieser Feier geschehen war und er hatte dafür gesorgt, dass er allein aufwachte.

An Angeboten hatte es dabei nicht gemangelt, als unvermählter Prinz, der dritte Sohn des Königs, war er durchaus begehrt. Männer wie Frauen machten ihm schöne Augen, da bekannt war, dass er sich in der Auswahl seiner Gefährten nicht festlegte. Es wurde recht entspannt hingenommen, wenn er sich einen Mann für die Nacht wählte, solange er Frauen nicht gänzlich verschmähte. Der Zeugungspflicht musste Genüge getan werden, amüsieren durfte er sich, wie er wollte. Letzte Nacht wollte er sich in dieser Hinsicht nicht amüsieren, lediglich betrinken, darum war ihm das Angebot gleichgültig gewesen …

In einem Drachenhort ihrer Größe, in dem sich an die dreitausend Wandler tummelten, gab es durchaus auch ein bisschen Auswahl. Und Platz. Wenn sie von allem so viel hätten wie Platz! Sie bewohnten die Gipfel des Kón-Gebirges. Vom höchstgelegenen Gletscher bis an den Rand der Baumgrenze gehörte das Land ihnen. Ihrem Clan.

Es war schwierig, sich zu ernähren, wenn man wenig Zugang zu den Früchten des Waldes hatte und eben kein natürlicher Drache war. Denn an Fleisch mangelte es nicht. Sie züchteten Bergziegen und konnten mehrere Seen, Bäche und Tümpel erreichen, wo es reichlich Fische und Wasservögel gab. Doch schon wenn es um Holz und anderes Brennmaterial ging, wurde es anstrengend. Als Wandler besaßen sie magische Heilkräfte. Manchmal aber waren die Verletzungen so tief, der Blutverlust derartig hoch, dass Heilpflanzen notwendig wurden, um diese Magie zu unterstützen. Die Frauen wollten bestimmte Moose für ihre monatlichen Blutungen und Kräuter, um den Milchfluss beim Stillen anzuregen. Seifenkraut, um Körper und Kleidung zu reinigen. Beeren und Pilze, Kernobst und Würzkräuter, um das Essen schmackhafter und abwechslungsreicher zu gestalten. Zumindest gelegentlich mal in ein frisch gebackenes Brot beißen zu können. Schafswolle, um noch andere Arten von Kleidung und Stoffen herzustellen und nicht allein auf Leder und Felle beschränkt zu bleiben. Und Honigmet! Verflucht, ein Mann wollte nicht ausschließlich Wasser und Tee in seinem Trinkbecher haben.

Dies erforderte Raubzüge, denn der Friedensvertrag verweigerte ihnen den Zugang zu den fruchtbaren Tälern, der ausschließlich den Wölfen gewährt wurde.

Diese Schmach, als stolze Drachen wie ein gewöhnlicher Strauchdieb von Überfällen und Mundraub abhängig zu sein!

Der Fehler lag im Friedensvertrag selbst. Er war damals überhastet aufgesetzt worden und hatte Konditionen festgelegt, die einen echten Frieden, Wohlstand und Entwicklung für die Drachen unmöglich machte – und damit zwangsläufig auch für die Wölfe, denen sie wegnehmen mussten, was diese sich in harter Arbeit schufen. Die beiden Könige waren damals jung gewesen, unerfahren und noch in Trauer, weil die Blutfehde jeweils ihre halbe Familie inklusive der Väter in den Tod gerissen hatte. Der Vertrag hatte den Ausbruch eines Vernichtungskampfes verhindert. Statt zuzugeben, dass dieser Vertrag neu angepasst werden müsste, beharrten beide steif darauf, dass er die wichtigste Errungenschaft ihrer Generation war und wiesen jede Kritik harsch zurück.

Und so wogte die Fehde weiter, Vergeltungsschlag folgte auf Vergeltungsschlag, Armut und Hunger drohte jeden von ihnen, wenn nur eine einzige Ernte der Wölfe fehlschlug. In diesem Fall mussten die Drachen vertragsentsprechend Fische und Ziegenfleisch abgeben und hassten die Wölfe für diesen Verlust. Nicht wenige plädierten dafür, die Wölfe einfach verrecken zu lassen und sich in den Tälern auszubreiten. Die Überlebenden könnte man versklaven, um das notwendige Wissen in Sachen Feldarbeit abzugreifen, und schon wäre man jedes denkbare Problem los …

Joadrys gehörte nicht zu denjenigen, die solche Gedanken hegten. Bei allem Hass, er wollte sich lieber selbst vom höchsten Gipfel stürzen, als sich am Mord an tausenden Lebewesen zu beteiligen. Leider war zu spüren, dass die Jugend verrohte und jegliche Hemmung in dieser Hinsicht vermissen ließ. Zumindest was das Gerede anging.

„Was klagen die dreckigen Flohpelze eigentlich schon wieder?“, fragte Mybror übellaunig. Er war einige Jahre älter als Joadrys, über dreißig Sommer zählte er – und damit ein altgedienter Kämpe mit Aussicht auf weitere neunzig Jahre. Drachenwandler starben in der Regel sehr jung oder sehr alt.

„Ich habe nichts davon gehört, dass eine der Patrouillen einen Wolf erwischt hat, geschweige denn, dass es Tote gab“, erwiderte Joadrys. „Vielleicht war es also ausnahmsweise ein natürlicher Tod, der einen der Zottelpelze hinweggerafft hat? So etwas soll gelegentlich vorkommen.“

„Das Gerücht habe ich ebenfalls vernommen, halte es allerdings für ein Kindermärchen“, grollte Mybror. „Ich frage nachher mal Taina. Das Mädel war bis Sonnenuntergang mit auf der Runde, vielleicht hat sie etwas mitbekommen. Andernfalls heulen die Wölfe wohl einfach, weil sie es können.“

Joadrys nickte vor sich hin. Es geschah selten, dass ein Drache verschwieg, wenn er einem Wolfswandler begegnete und diesen im Kampf besiegen konnte. Wenn, dann war es nie ein gutes Zeichen – es bedeutete in der Regel, dass der Kampf unter unehrenhaften Umständen stattgefunden hatte oder sich der vermeintliche Feind in Wolfsgestalt nach der Rückwandlung, die im Tod zwangsläufig erfolgte, als Frau ohne Kriegerrüstung, Schwangere oder sogar als Kind entpuppte.

Solche Fehler unterliefen immer wieder den heißblütigen Jungschupplern, die darauf brannten, endlich ihren ersten Feind töten zu können.

Die Vergeltungsschläge der Wölfe waren in diesen Fällen besonders hart und unerbittlich. Ein ewiger Kreislauf, der nicht durchbrochen werden konnte.

„Ich werde Vater fragen, ob er die Jungdrachen zügeln kann“, murmelte Joadrys.

„Sagtest du was? Ich habe dich nicht verstanden“, brummte Mybror geistesabwesend. Sein Blick war starr in die Finsternis gerichtet.

„Nichts Wichtiges“, versicherte Joadrys rasch. Er wusste, dass sein Vater nichts und niemanden zügeln wollte. Für ihn waren ausschließlich tote Wölfe gute Wölfe. Seit die dreckige Meute vor drei Jahren Joadrys‘ Mutter erwischt hatte, war es sinnlos geworden, auf Gnade oder Vernunft zu hoffen.

Joadrys suchte sich einen besseren Stand auf den Festungszinnen und nahm Drachengestalt an.

„Ich fliege eine kurze Kontrollrunde“, grollte er. „Besser einmal zu viel vorsichtig sein. Und ja, ich passe gut auf mich auf.“ Nachts zu fliegen war unangenehm. Mit Drachenaugen sah er in der Finsternis immer noch sehr viel mehr als mit menschlichen, er nahm sogar die Wärme von Lebewesen war. Und dennoch entsprach dies nicht einmal einem Bruchteil der überragenden Sehfähigkeit, die Drachenwandler am Tag besaßen. Es war ein Gefühl, als wäre man halbblind. Dazu waren sie für Wolfswandler weithin sichtbar. Nein, aus Freude flog er nicht in die Nacht hinaus, sondern weil er es für notwendig hielt. Nicht dass er glaubte, das Trauergeheul der Wölfe könnte ein Ablenkungsmanöver für einen Angriff sein. Aber es gab auch keinen Grund, unnötig leichtsinnig zu werden und zu denken, dass heute Nacht Stille und Frieden vorherrschen würde.

Jugendliche Wölfe waren keineswegs klüger als jugendliche Drachen. Zornig waren sie alle, jung wie alt, und es war zu viel Blut geflossen, um hoffen zu können, dass es jemals irgendwann echten Frieden gab. Nicht einmal die Ältesten konnten sich an eine Zeit ohne Blutfehde, Leid und böse Taten erinnern. In den Höhen und Tälern des Kón-Gebirges war also nur eines gewiss, und das war der Tod.

Wer nie dem Tod ins Auge blickte, weiß nichts von der Grenzenlosigkeit der Angst

 

llyn blieb in Wandlergestalt, als er die Halle betrat und sich von seinem Vater absetzte, der schweigend auf dem Thron an der Stirnseite Platz nahm. Sein Nasenbluten hatte aufgehört und er konnte sich unauffällig am Rand der Großversammlung halten – einige warfen ihm neugierige Blicke zu, man konnte deutlich riechen, dass er verletzt wurde. Da er nicht reagierte und keine offensichtliche Wunde sichtbar war, sprach ihn niemand an.

Die meisten Clanmitglieder standen in Gruppen als Menschen zusammen und diskutierten leise und mit zornigen Untertönen, wie man auf Adyrs Tod reagieren sollte. Verzweiflung, Schock und Ungläubigkeit herrschten vor. Nicht nur für Ellyn war Adyr das Sinnbild der Unzerstörbarkeit gewesen. Während sich die Minuten zu ganzen Äonen dahinzogen, sammelten sich unsichtbare Felsbrocken auf seinen Schultern, die ihn immer stärker niederzudrücken drohten, und ebensolche Steine in seinem Bauch. Etwas musste geschehen. Jemand musste zum Clan sprechen. Bis vor etwa zehn Jahren war es sein Vater gewesen, der diese Aufgabe übernommen hatte. Der die Klagenächte leitete, die Menschen in ihrer Trauer führte, ihnen Hoffnung und Kraft gab, den Verlust zu ertragen. Seither hatte Adyr es getan.

Die Aggressionen wurden mit jedem Atemzug schärfer, die Stimmen lauter, die Rachepläne blutiger. Etwas musste geschehen! Warum griff Vater nicht ein? Er war der König! Die Witterung der Gruppe war so stark von Zorn durchtränkt, dass Ellyn keine Möglichkeit mehr hatte, sich diesem Zwang zu entziehen. Sein Herz schlug hart genug gegen die Rippen, dass sie jeden Moment brechen würden und wenn er wüsste, wenn er bloß wüsste, ob er kämpfen oder fliehen wollte …

„Hör auf, dich zu verstecken!“ Es war Beatrice, die ihm diese Worte ins Ohr zischte. Ein nasses Tuch tauchte vor seinen Augen auf. „Nimm das. Wisch dein Gesicht ab und stell dich deiner neuen Verantwortung!“ Sie ließ das Tuch fallen und verschwand, um ihre Töchter an sich zu ziehen und aus dem Zentrum des Geschehens fortzudrängen. Dort war Phyllias inzwischen aufgesprungen und hielt eine energische Rede darüber, dass sie endlich die Drachen ausrotten mussten, bevor es zu spät war. Er war ein Wolfskriegerveteran, bereits an die fünfzig Winter alt und eine wichtige Stimme im Königsrat. Auch jetzt hörten ihm viele Wölfe zu und nickten zu seinen Worten.

Ellyn nahm menschliche Gestalt an, rubbelte sich über das Gesicht, bis er halbwegs sicher sein konnte, dass es nicht mehr länger von Blut verschmiert war, und versuchte auch seine Hand zu reinigen. Faszinierend, wie rasch sich Blut in sämtlichen Falten und unter den Nägeln und zwischen den Fingern verbreiten und hartnäckig kleben bleiben konnte … Es verschaffte ihm ein winziges bisschen mehr Zeit. Zeit, um den Kopf unten zu halten, sich im Schatten der Säulen herumzudrücken, fern von den Fackeln, die die Halle in ein unwirkliches Licht tauchten. Zeit, um auf den rohen Felsboden zu starren. In dieser Halle gab es keinen Zierrat, keine Teppiche, Statuen, Bodenmosaike. Solche Dinge wurden nicht benötigt. Worte fluteten über ihn hinweg. Worte des Zorns.

„… alle töten!“

„… Drachen, dieses Dreckspack …“

„… müssen ihnen zuvorkommen …“

„… Adyr hätte gewollt, dass wir ihn rächen.“

„Er ist hundert Drachen wert. Lasst uns nicht rasten noch ruhen, bis wir diese Zahl erreicht haben!“

„… nicht so weiter. Die Drachen glauben, sie wären die wahren Herrscher, aber …“

Ellyn richtete sich auf und ließ zugleich das blutbefleckte Tuch fallen. Etwas an seiner Art, sich zu bewegen, schien die Aufmerksamkeit des Clans zu fangen. Es wurde nach und nach stiller, das kriegsheischende Geschrei verstummte. Ihm war bewusst, wie er aussehen musste mit seinem besudelten Hemd, dem klebrigen Gesicht. Es spielte keine Rolle.

„Die Welt ist ärmer geworden“, sagte Ellyn leise, um das Zittern in seiner Stimme zu kontrollieren. „Ein Wolf ist gefallen. Mein Bruder ist tot. Wir haben uns versammelt, um ihn zu verabschieden. Um seiner Seele Geleit zu geben, damit die Göttin weiß, wie sehr er geliebt wurde. Wie wichtig es ist, dass sie ihn in ihren Armen wiegt, während er auf ewig schläft. Dies ist nicht die Stunde, um nach Rache und Blut zu schreien. Dies ist die Stunde unserer Trauer.“

Der Hass, der in zahllosen Augen gelodert hatte, als er zu sprechen begann, erlosch. Ein Kopf nach dem anderen sank tief herab. Nacheinander verwandelte sich jeder in einen Wolf und lief stumm ins Freie hinaus. Beatrice gehörte zu den Letzten. Sie nickte ihm zu, bevor sie die Gestalt wechselte. Ellyn atmete tief durch. Das war so viel besser gelaufen, als er befürchtet hatte! Auch wenn seine Hände unkontrollierbar bebten und Steine in seinem Bauch gegeneinanderrumpelten, er hatte es geschafft!

Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Beinahe hätte er seinen eigenen Vater vergessen, der bis gerade noch unbeweglich wie eine Statue auf seinem Thron gesessen hatte.

„Ich will, dass du gehst“, grollte er.

Verwirrt starrte Ellyn ihn an. „Wohin?“, fragte er. „Und warum?“

„Niemand ist auf Patrouille“, erwiderte sein Vater. „Niemand sorgt für unsere Sicherheit. Geh und kontrolliere die Ostgrenze. Sie ist am stärksten gefährdet, wie du weißt.“

Ellyn blickte auf die Tür, die ins Freie führte. Hinaus zum Plateau, auf dem sich der Clan versammelte.

„Adyr war mein Bruder, Vater. Ich habe ihn geliebt und verehrt“, flüsterte er. „Ich durfte nicht dabei sein, als du ihn zum großen Schlaf niedergelegt hast. Warum darf ich ihn nicht wenigstens im Kreis des Rudels verabschieden?“

„Auf die Knie, wenn dein König zu dir spricht!“, sagte sein Vater drohend. Ellyn zögerte nicht, er ließ sich sofort zu Boden fallen und senkte den Kopf. Nicht aus Respekt – er war wütend wie selten zuvor in seinem Leben. Es war ungerecht, er verstand nicht, was gerade geschah! Dennoch war es unmöglich, diesen Befehl zu verweigern. Darum gehorchte er und schwieg.

„Geh und sichere unsere Grenze. Du darfst trauern. Du darfst zum Mond heulen. Doch zuerst sorgst du dafür, dass die Drachen nicht übermütig werden.“

„Sie haben nie zuvor bei einer Trauerversammlung angegriffen“, wisperte Ellyn kaum hörbar. „Es lohnt sich nicht. Die Wargafestung einzunehmen würde sie einen untragbaren Preis kosten.“

„Sie haben auch nie zuvor gewagt, deinen Bruder zu attackieren. Grenzen fallen, Ellyn. Wer weiß, warum sie das tun? Was sie planen? Ich muss dir vertrauen. Dass ich die Sicherheit deines Volkes in deine schwächlichen Hände lege, ist eine Ehre, keine Strafe. Und nun hör auf zu jammern, sondern tue, was dir befohlen ist!“

Ellyn verwandelte sich, ohne noch länger zu zögern. Er witterte die Bitternis, den Schmerz, die unendliche Trauer seines Vaters. Da war kein Schleier der Lüge, nichts, was auf Täuschung hindeutete, auf Beschwichtigung. Sein Vater ehrte ihn tatsächlich mit dieser Entscheidung. Das war … schwierig zu verstehen. Ob es Adyr ähnlich ergangen war? Seltsame, brutal wirkende Befehle, die große Opfer von ihm verlangt hatten, um das Beste für den Clan erreichen zu können? Und sei es, dass er sich in Lebensgefahr begab, um allein auf Patrouille zu gehen statt im Schutz einer Gruppe? Darüber hatte sich Ellyn niemals Gedanken gemacht. Sein Leben war bis heute keineswegs einfach gewesen, doch in Adyrs Schatten hatte er Schutz und Privilegien genossen, ohne etwas davon zu ahnen. Noch während er die große Halle verließ und mit raumgreifenden Sprüngen durch den Tunnel hetzte, der ihn auf dem kürzesten Pfad ins Freie führen würde, hörte er das Heulen. Die Trauerklage hatte begonnen. Unwillkürlich stimmte er mit ein. Innerhalb der Festung konnte er sich sorglos gehen lassen, erst draußen in der Wildnis musste er Stillschweigen bewahren.

Wranja, große Göttin, nimm die Seele meines Bruders zu dir!, flehte er lauthals heulend und jaulend. Nimm sie zu dir …

 

 

Joadrys glitt auf den warmen Aufwinden der lauen Spätsommernacht dahin. Dank seiner dunkelgrünen Schuppen war er in der Dunkelheit kaum zu sehen, wenn er sich dicht über den Bäumen hielt. Auch wenn die Nacht wolkenlos war, stand der Mond weit entfernt am Himmel und war nur zur Hälfte sichtbar. Viel Licht brachte er also nicht mit sich. Dennoch könnten die Wolfswandler ihn bereits aus weiter Ferne sowohl sehen als auch wittern, darum hegte er keine Hoffnung in dieser Hinsicht. Zumal es nicht sein Ziel war, einen regelrechten Aufklärungsflug zu leisten. Das wäre zu gefährlich, auf Patrouille ging man niemals allein. Er wollte sich lediglich umschauen, sich überzeugen, dass kein Wolf die Gunst der Stunde nutzte.

Vermutlich waren sowieso alle in ihrer feinen Festung verbarrikadiert und heulten zu ihrer zornigen Göttin. Die Angriffe – sollte es welche geben – würden erst morgen beginnen. Es beunruhigte ihn, nicht zu wissen, was genau geschehen sein mochte. War ein Drache beteiligt? Hatte jemand einen Wolf getötet? Feige und hinterhältig einen der Unantastbaren, also ein Kind oder eine Schwangere umgebracht? Es wäre eine Katastrophe, nachdem sich die Fehde schon seit mehreren Monaten hochgeschaukelt hatte, wie es üblicherweise im Sommer geschah. Zu viel Hitze, zu kurze Nächte, das wirkte sich Jahr für Jahr schlecht auf die heißblütigen jungen Wolfs- und Drachenmännchen aus.

Joadrys seufzte innerlich. Er selbst gehörte eigentlich auch noch in diese Gruppe, er war vierundzwanzig Sommer alt. Im Jahr seiner Geburt hatte sein Vater den Drachenthron bestiegen. Und ja, mit sechzehn war er genauso versessen darauf gewesen, endlich den ersten feindlichen Wolf in Stücke zu reißen, wie jeder andere Jungschuppler auch. Bloß dass sich bei ihm diese Hitze sofort verflüchtigt hatte, als es soweit gewesen war und der tote Wolf sich in einen Menschen verwandelt hatte. Einen Mann, der kaum älter war als er selbst. Joadrys hatte es geschafft, sich nicht die Seele aus dem Leib zu kotzen. Dennoch träumte er bis heute von den leeren Augen des Jungen, die ihn anklagend anstarrten. Andere waren gefolgt. Jeder Einzelne von ihnen war in einem gerechten Kampf gestorben, in Notwehrsituationen. Joadrys würde nie verstehen, wie man sich am Töten berauschen konnte. Fast alle seiner Kameraden sprachen von diesem Glücksgefühl, diesem tosenden Sturm, dem Empfinden von Macht und Unsterblichkeit, wenn sie einen Gegner niedergerungen und seinen Lebenshauch gestohlen hatten. Sie sehnten sich nach mehr davon, nach viel, viel mehr. Er wünschte sich gelegentlich, dass es einen solchen Sturm auch für ihn geben könnte. Stattdessen war da stets eisiges Entsetzen und taubes Nichts, das irgendwann in einem nebulösen Schmerz zerfaserte. Darüber sprach er mit niemandem. Es musste keiner wissen, dass etwas in ihm kaputt war. Schließlich hinderte ihn der Schmerz und das Eis nicht daran, seiner Pflicht nachzukommen.

Joadrys stockte und stellte die Flügel breiter auf, sodass er auf der Stelle kreisen konnte. Dort unten bewegte sich etwas. Das könnte ein Wildtier sein, ein Hirsch vielleicht. Oder es war … Ja! Ein Wolf. Einer der Wandler streifte durch das Unterholz. Joadrys‘ Drachenaugen sahen sowohl die schemenhaften Bewegungen als auch die Wärme, die der Wandler ausstrahlte. Was machte er hier draußen, wenn das Großrudel zur Trauerklage zusammengekommen war? Gewiss, der Wolf drückte sich an der Ostgrenze herum, ohne sie zu überschreiten. Doch die Patrouillen waren stets mindestens zu viert unterwegs, eher zu sechst. Ein einzelner Wolf konnte nicht Wache halten. Fallen aufstellen hingegen schon …

Joadrys beobachtete das schlanke Raubtier, das sich langsam und lautlos durch das Unterholz bewegte. Der Wolf wusste, dass er entdeckt worden war und versuchte sich bergab auf die sichere Seite zu retten. Es gab dort vorne allerdings eine Engstelle. Hohe Findlinge, die den Weg versperrten und den Wolf zwingen würden, entweder näher an die Grenze zurückzukehren und den zweifelhaften Schutz der niedrigen Sträucher zu suchen, oder sich auf offene Fläche zu begeben. Wenn der Wolf auch nur eine Unze Verstand in seinem Schädel hatte, würde er die zweite Möglichkeit wählen. Lieber ungedeckt bleiben, dafür auf dem sichereren Pfad. Normalerweise würde Joadrys ihn ziehen lassen, selbst auf die Gefahr hin, dass dieser Kerl tatsächlich Drachenfallen aufgestellt hatte. Heute Nacht brauchte er allerdings Antworten, um die Gefahr für sein Volk besser einschätzen zu können. Darum stürzte er sich in die Tiefe, kaum dass der Wolf die Deckung verlassen hatte, landete haargenau auf der Grenzlinie, die mit Drachenfeuer in die Erde eingebrannt worden war, reckte sich, soweit es ihm möglich war – und erwischte den Wandler mit den Zähnen im Nacken.

Ruckartig zerrte er ihn am Nackenfell über den Boden, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu verletzen, bis er ihn vor sich liegen hatte. Ein Schwarzpelz war es, den er gepackt hatte und nun mit einer Pranke niederhielt. Der Wolf befand sich weiterhin in seinem eigenen Territorium, wenn auch dicht an der Grenze, und Joadrys achtete streng darauf, dass weder Krallen noch Ferse Wolfsland berührten, sondern ausschließlich den sehnigen Leib seines Feindes. Der atmete hektisch und starrte aus bernsteinfarbenen Augen zu ihm hoch. Joadrys wartete ab, wie sich der Gegner verhalten würde.

Nahezu alle Wolfswandler beherrschten eine dritte Gestaltsform, die sie Warga nannten. Es war ein Zwischenstadium, weder Wolf noch Mensch. Eine pelzbedeckte riesige Gestalt, die hoch aufgerichtet lief und über unmenschliche Kraft verfügte. In dieser Warga-Gestalt konnten sie sich einem Drachen zum Kampf stellen und tatsächlich auf Sieg hoffen, denn an Kraft waren sie dann ebenbürtig, dazu sehr viel schneller als ein Drache, sprunggewaltig und weitestgehend unempfindlich gegen Schmerz. Drachenfeuer tötete sie auch dann noch, allerdings dauerte es eine Weile, bis ein Drachenwandler bereit war, Flammen auszustoßen. Darum blieb dies eine Waffe des Überraschungsangriffs und war im Kampf selbst eher ungeeignet.

Sollte sein Feind kämpfen wollen, würde er sich jeden Moment verwandeln und zum Angriff übergehen. Joadrys beäugte ihn aufmerksam. Er hatte ein Männchen erwischt, wie erwartet. Der schlanken Gestalt nach ein eher jugendliches Exemplar – auch keine Überraschung. Dass er noch nicht längst verwandelt war und sich mit allem gegen ihn warf, was er aufbieten konnte, war das eigentliche Wunder im Moment …

Joadrys spannte sämtliche Muskeln an, als er das Zucken der Muskeln unter seiner Tatze spürte, die eine Verwandlung ankündigte. Doch sein Gegner wurde nicht zum Warga, sondern nahm menschliche Gestalt an, in schlichte schwarze Kleidung gehüllt, lediglich mit einem Messer bewaffnet. Keine Ausrüstung für Drachenfallen zu sehen, kein Spaten, keine Metallsporne. Kleidung wie auch Ausrüstung verwandelten sich stets mit und wurden zum Teil des Fells beziehungsweise der Drachenschuppen. Eine besonders praktische Facette der Magie.

Still blieb der Wolf unter ihm liegen, den Kopf hielt er abgewandt. Eine defensive Position, mit der er seine Niederlage verkündete. Joadrys blickte sich aufmerksam um. Das könnte eine Falle sein. Vielleicht schlichen sich gerade die Gefährten des Wolfes an, um ihn zu attackieren?

Nein. Die Nacht blieb erfüllt vom fernen Wolfsgeheul. Ansonsten war es ruhig.

Langsam senkte Joadrys den Kopf. Er konnte auch in dieser Gestalt mit menschlicher Stimme sprechen, darum verzichtete er auf eine Verwandlung und hielt seinen Gegner mit der Tatze niedergedrückt.

„Warum schleichst du dich durch die Wälder, statt mit den anderen zu heulen?“, grollte er.

„Ich patrouilliere“, erwiderte der Wolf. Er sprach ruhig, kontrollierte seine Angst. Joadrys korrigierte seine Vermutung. Dieser Mann war kein Jüngling mehr, sondern befand sich eher in seinem Alter.

„Du bist allein“, stellte er das Offensichtliche fest. „Wölfe gehen niemals allein auf Patrouille. Und niemals, wenn ihr euch zur Klage in eurer Festung zusammenfindet.“

„Die anderen trauern. Ich wurde ausgeschickt, um unsere Ostgrenze zu kontrollieren. Damit kein Drache die Stunde unserer Schwäche ausnutzt, in der wir laut verkünden, dass wir keine Wache halten.“

Das war irgendwie absurd. In ihrer Festung waren die Wölfe kaum angreifbar und sie wussten, dass Drachen es hassten, nachts zu fliegen und darum Angriffe und Raubzüge am Tag durchführten. Es war ja keineswegs so, als würden die Drachenwandler lediglich auf die bestmögliche Gelegenheit lauern, die Wölfe zu vernichten, im Gegenteil! Die Wölfe waren es, die keine Ehre kannten und vor nichts zurückschreckten. Woher also die Sorge? Und warum schickte man einen einzelnen Mann los? Beinahe glaubte er an eine Lüge, doch dafür wirkte sein Feind zu überzeugend.

„Warum trauert ihr?“, begann Joadrys, um sich an das heranzutasten, was er wirklich wissen wollte – was im Namen des Sonnengottes ging hier vor sich? Bevor er seine Frage ausformulieren konnte, ging ein Ruck durch den Wolfwandler. Mit einer energischen Bewegung, die Joadrys überrumpelte, glitt er unter der Tatze hervor, scherte sich nicht, dass er sich dabei an einer der Krallen selbst verletzte. Zorn loderte in seinem Blick, sprach aus seiner Haltung, den geballten Fäusten. Joadrys wappnete sich für den Angriff … Doch der Wolf blieb beherrscht, auch wenn er heftig atmete und nur für Drachenaugen sichtbare Hitzefunken versprühte.

„Feiert ihr gerade?“, spie ihm der Wolf entgegen. „Tanzt ihr dort oben in eurer Festung? Ihr müsst glücklich und zufrieden sein wie seit Jahrzehnten nicht mehr!“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte Joadrys vorsichtig. Er wollte die Wut seines Gegners nicht weiter anfeuern, um die Situation nicht doch noch eskalieren zu lassen.

Der Wolf sprang auf ihn zu, fing sich im letzten Moment, bevor er die Grenze überquerte und damit angreifbar machte, sank auf die Knie, warf den Kopf in den Nacken und schrie. Ein Laut der Verzweiflung war das, erfüllt von hilfloser Wut. Er vermischte sich mit dem Wolfsgeheul in der Ferne und war intensiv genug, dass Joadrys innerlich zu frösteln begann. Irgendetwas war geschehen. Etwas Schreckliches musste geschehen sein, das weit über das Übliche – ungefähr ein bis drei tote Krieger pro Monat, für beide Seiten zusammengenommen – hinausging. Unbeweglich beobachtete er den Wolfswandler, bereit zu reagieren, sollte es notwendig sein.

„Sprich zu mir“, bat er, als der Mann ruhiger wurde und seine Aura etwas abzukühlen begann. Der Wolf ließ den Kopf hängen, noch immer kniete er am Boden. Blut sickerte aus der Krallenwunde am Arm. Sie war nicht tief, musste dennoch schmerzhaft sein. „Keiner von uns tanzt“, versuchte Joadrys es weiter. „Mir ist nicht bekannt, dass einer von uns einen Wolf getötet hat.“

„Du lügst!“, zischte sein Feind und kam wieder auf die Beine. „Entweder das, oder du bist schon zu lange hier draußen, um die letzten Neuigkeiten gehört zu haben. Versuch nicht, mich zum Besten zu halten, Drache!“ Der Wolf bewegte sich ruhelos, getrieben von Zornimpulsen kam er der Grenze gefährlich nah. Joadrys wollte nichts riskieren. Wenn die Wolfswandler einen besonders schweren Verlust erlitten hatten, würde jedes weitere Ereignis noch mehr Öl ins Feuer gießen. Dieser Mann musste heil und unversehrt zu den Seinen heimkehren! Auch wenn er das Recht hatte, jeden Wolf zu töten oder zum Gefangenen zu nehmen, der die Grenze überquerte, lag es ihm fern, so etwas versuchen zu wollen. Darum langte er erneut mit der Pranke zu und warf seinen Feind nieder, bevor er unwillentlich die Grenze überqueren konnte. Schwer atmend lag er da und blickte zu Joadrys hoch. Ungeweinte Tränen glitzerten in seinen Augen. Es war auch für einen Drachen schwierig, in der Dunkelheit Farben zu unterscheiden, aber Joadrys hatte aus der Nähe das Empfinden, dass die Iriden seines Gegners blau-grün sein mussten. Das war ungewöhnlich, denn fast alle Wolfswandler besaßen in ihrer menschlichen Gestalt braune Augen. Die einzige ihm bekannte Ausnahme bildete die Königsfamilie, und dort gab es lediglich einen erwachsenen männlichen Nachkommen mit schwarzem Haar.

„Du bist Ellyn, nicht wahr?“, fragte er leise. Ein schwaches Nicken war die Antwort. Ellyn … Man wusste nicht viel über ihn. Der jüngste Königssproß galt als feige und dumm. Diesen Eindruck hatte Joadrys bislang nicht von seinem Feind gewonnen. Rasend vor Wut und Trauer, das ja. Feigheit hingegen war nicht zu bemerken und er versuchte zumindest tapfer, sich zu beherrschen.

„Was ist geschehen, Ellyn? Warum trauert dein Volk? Warum hat man dich allein auf Patrouille geschickt?“

„Du weißt es wirklich nicht. Ich kann keine Lüge, keine Täuschung an dir wittern“, murmelte Ellyn. Er drückte mit beiden Händen gegen die Pranke, die ihn niederhielt. Joadrys verringerte den Druck ein wenig, gab ihn allerdings nicht frei.

„Es ist Adyr“, flüsterte der Wolf. „Ihr habt meinen Bruder getötet.“

„Das muss ein Irrtum sein“, erwiderte Joadrys erschrocken. „Niemand von uns würde jemals eine Kralle gegen ihn erheben!

---ENDE DER LESEPROBE---