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Band 2 (Band 1: Zu perfekt, um glücklich zu sein) Tauche ein in eine scheinbar perfekte Welt, in der Sorgen ein Fremdwort sind. Doch Vorsicht: Hinter der glänzenden Fassade lauert ein dunkles Geheimnis - und die Wahrheit wartet nur darauf, aufgedeckt zu werden. Bist du dabei? Dann findest du hier den Klappentext: Nach dem tragischen Verlust ihres einzig wahren Freundes flieht Marie aus dem manipulativen System in die Freiheit der Außenwelt. Dort begegnet sie Vanessa, die ihr Schicksal teilt, sowie dem faszinierenden Jason, der ihr Herz auf ungeahnte Weise berührt. Gemeinsam lassen sie sich auf einen alten Kontakt ein, um die Wahrheit über die vermeintlich perfekte Gesellschaft zu verbreiten. Doch je näher sie der Enthüllung kommen, desto mehr geliebte Menschen verschwinden auf mysteriöse Weise. Plötzlich taucht eine Person aus Maries Vergangenheit auf, von der sie nie Unterstützung erwartet hätte.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2024
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We are young and the sun is shining.
Rückblick
Kapitel 1
Maria
Kapitel 2
Maria
Kapitel 3
Maria
Nils
Philipp
Kapitel 4
Philipp
Nils
Maria
Kapitel 5
Nils
Philipp
Maria
Kapitel 6
Nils
Maria
Philipp
Kapitel 7
Marie
Nils
Philipp
Kapitel 8
Marie
Philipp
Nils
Kapitel 9
Marie
Philipp
Marie
Kapitel 10
Philipp
Marie
Kapitel 11
Philipp
Marie
Kapitel 12
Philipp
Marie
Kapitel 13
Philipp
Marie
Kapitel 14
Philipp
Kapitel 15
Philipp
Sabine
Kapitel 16
Marie
Sabine
Marie
Kapitel 17
Simon
Kapitel 18
Marie
Epilog
Bonus ... für die Liebe
Liebe Leserin, Lieber Leser.
Über die Autorin
Simon hatte seinen Plan in die Tat umgesetzt und Helmuth vor dem errechneten Todeszeitpunkt ermordet, nur um die Genwäsche an Marie ungehindert durchführen zu können. Als Ungeplante Person (Unpi) hatte sie für Simon keinen Platz in seiner vermeintlich perfekten Welt.
Doch Helmuth, der noch in der DDR aufgewachsen war, ließ sich nie von einem System vorschreiben, was er zu tun hatte. Sein letzter Wunsch war, dass Marie Freiheit und Glück erleben sollte. So schmiedete er noch zu Lebzeiten einen Plan, der es Marie ermöglichte, Simon zu entkommen und unter dem Namen Maria Schmidtke ein neues Leben in der Außenwelt zu beginnen.
Helmuths verfrühter Tod und Maries Verschwinden sorgten für Ungereimtheiten in der perfekten Berichterstattung der United World, die Maries ehemaligen Klassenkameraden Nils sowie Simons Forschungspartner Philipp stutzig werden ließen.
Die Sonnenstrahlen trafen Maria mit stechender Intensität in die Augen, als wären sie die unerbittlichen Verfolger ihrer Vergangenheit. Doch sie durfte nicht blinzeln. Die Botschafter der Genüberwachung konnten es sicher kaum erwarten, sie für Simon in Gewahrsam zu nehmen. Schützend hielt sie sich den Arm vor das Gesicht, aber es war zu spät. Helle Flecken tanzten bereits vor ihren Pupillen und nahmen ihr die Sicht. Dann bemerkte sie einen unangenehmen Geruch. Ein Schweißtropfen lief ihr den Rücken hinunter. Dann zwei, und in Sekundenschnelle war ihr komplettes Herbstoutfit durchnässt.
Was ist das für eine Luft? Die war auf meinen digitalen Reisen nie so unangenehm.
Mit schwerem Atem kämpfte sie sich aus dem viel zu warmen Pullover. Der feuchte Stoff klebte an ihrem Körper und ließ sich nur mühsam abstreifen. Während sie stöhnend die Arme hin und her bewegte, um sich aus der Hitze zu befreien, hörte sie plötzlich eine Frauenstimme: »Deutschland West bitte hier aufstellen.«
Maria zuckte zusammen und verharrte kurz in ihrem Pullovergefängnis. Obwohl sie niemanden sehen konnte, erkannte sie an der Lautstärke, dass die Stimme viel zu nah war. Ihr Herz begann zu rasen und mit einem Ruck zog sie sich den Pullover über den Kopf.
Die kurzzeitige Dunkelheit tat ihren Augen gut und sie konnte sich einen Überblick verschaffen: Vor ihr befand sich eine Treppe, die zum Rollfeld führte. Sie hatte während ihres Kampfes mit dem Pullover nicht bemerkt, dass sie bereits am Ausgang des Shuttles stand. Am liebsten hätte sie diesen Moment genossen. Zu ihrer Linken sah sie in der Ferne das türkisblaue Meer. Geradeaus säumten grüne Palmen das Gelände.
Was ist das?
Eine wedelnde Handfahne, an der eine zierliche Frau hing, trübte den schönen Anblick ihrer neuen Heimat. Maria konnte nicht glauben, dass eine so kräftige Stimme aus einer so zarten Person kam. Aber ihr forschender Blick verstärkte Marias Befürchtungen: Sie musste eine Botschafterin der Genüberwachung sein. Und sie war keine drei Meter vom Shuttle entfernt.
Obwohl Maria nur noch ein Shirt trug und die Frau alles andere als bedrohlich wirkte, bildeten sich wieder Schweißperlen auf ihrer Stirn. Dieses Mal waren sie kalt.
»Warum geht es nicht weiter?«, hörte Maria einige aus der Gruppe hinter sich ungeduldig fragen. Aber das war ihr in diesem Moment egal. Solange sie nicht wusste, wie sie unbemerkt an der Botschafterin vorbeikam, konnte sie das Shuttle nicht verlassen. Eine Flucht war eben kompliziert.
Sie scannte noch einmal die Umgebung: Links von der Treppe stand die Frau, bereit, sie zu Simon zurückzubringen. Geradeaus ein seltsam aussehendes Fahrzeug und überall dazwischen Menschen mit gelben Westen. Rechts ein großes Gebäude, dort musste irgendwo der Ausgang sein. Wo genau, konnte sie noch nicht erkennen.
Nun begannen die ersten, hinter ihr zu drängeln. Maria konnte nicht länger warten. Sie musste jetzt handeln. In aufrechter Haltung stolzierte sie die Treppe hinunter. Äußerlich wirkte sie wie eine selbstbewusste Frau, die sich in das Abenteuer ihres Lebens stürzte, aber innerlich war ihr Stresspegel hoch. Zum Glück funktionierte ihr Digital Key, kurz DK, nicht mehr. Er hätte längst Alarm geschlagen und wahrscheinlich angefangen zu rauchen, denn all ihre Vitalwerte waren auf dem Höchststand.
Unauffällig legte sie ihren Pullover über den Arm. Niemand sollte bemerken, dass sie den DK eines Toten trug.
Noch ein Schritt und ihre Füße berührten zum ersten Mal den Boden ihres neuen Zuhauses.
Ein Stoß gegen ihre Schultern brachte Maria ins Wanken. Sie rettete sich mit einem Sprung von der Treppe.
Dann folgten Schreie.
Panik stieg in ihr auf.
Was ist hier los? Haben sie mich entdeckt?
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie bemerkte, dass der junge Mann, der gerade noch so ungeduldig gedrängelt hatte, hinter ihr gestolpert war.
Das ist meine Chance!
Sie nutzte die Aufregung und versteckte sich hinter einem der seltsamen Fahrzeuge, die mit verschiedenen Koffern beladen waren. Von hier aus hatte sie alles im Blick. Auch der Verursacher der Unruhe hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden und ging mit hochrotem Kopf auf die Botschafterin zu. Wie eine Karawane folgten ihm die anderen Passagiere.
Was soll ich jetzt nur tun? Allein Richtung Ausgang rennen würde auffallen.
Inzwischen war ein weiteres Shuttle gelandet und rollte langsam auf seinen Parkplatz. Es war viel kleiner und wurde von Propellern angetrieben. Als es zum Stehen kam, öffneten sich die Türen. Die Menschen, die ausstiegen, lachten, unterhielten sich angeregt und strahlten pure Freude aus.
Maria blickte wieder zu ihrer Gruppe, die kalt und verunsichert wirkte. Die Personen aus dem anderen Shuttle schienen sich hier auszukennen. Sie gingen zielstrebig auf das Gebäude zu und verschwanden hinter einer großen Glasschiebetür.
Das muss der Ausgang sein.
Maria hörte, wie die durchdringende Stimme der zarten Frau jeden, der den Weg zu ihr fand, überschwänglich begrüßte. Diese Gelegenheit musste sie zur Flucht nutzen. Mit schnellen Schritten überquerte sie den großen Parkplatz und mischte sich unbemerkt unter die Gruppe der lachenden Menschen. Glück und Freude sollten schließlich ihre Zukunft sein.
Das Flughafengebäude war jetzt keine zehn Meter mehr von ihr entfernt. Mit jedem Schritt, den sie ihrem Ziel näherkam, schlug ihr Herz schneller.
Die Fassade aus Glas und Stahl wirkte fast unpersönlich, aber sie spürte, dass hinter den Mauern unzählige Geschichten verborgen lagen. Geschichten von Wiedersehen, Abschieden und der unbändigen Sehnsucht nach neuen Horizonten. Maria konnte es kaum erwarten zu erfahren, wie ihre eigene Geschichte in diesem neuen Kapitel ihres Lebens aussehen würde. Jetzt war sie nur noch drei Schritte davon entfernt und sie begann, wie bei einem Countdown herunterzuzählen:
Zwei.
Eins.
Wohoooo, rief sie innerlich, als sie die klimatisierte Ankunftshalle betrat. Ohne weiter nachzudenken, folgte Maria dem Strom, der sich zielstrebig in eine Richtung bewegte: Gepäckausgabe. Sie hatte kein Gepäck.
Die Freude, das Flughafengebäude erreicht zu haben, war so schnell verflogen, wie sie gekommen war.
Jetzt stand sie vor Band zwei. Die Infotafel zeigte an, dass die kleine Propellermaschine aus St. Lucia kam. Davon hatte sie noch nie etwas gehört.
Während die anderen geduldig auf ihr Gepäck warteten, suchte Maria nach einer Lösung. Es würde verdächtig wirken, ohne Gepäck hinauszugehen. Aber hier zu bleiben und auf ein Wunder zu hoffen, auch. Das Band eins zu ihrer Linken setzte sich in Bewegung. Auf der Tafel stand United World – Deutschland.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die anderen hier auftauchen würden.
Ihre Augen wanderten in Sekundenschnelle von einem Band zum anderen.
Was soll ich nur tun?
Darauf hatte sie keine Antwort.
Helmuth, was würdest du tun?, fragte sie sich.
Sie hörte seine Antwort klar und deutlich in ihrem Kopf: »Nimm einfach einen Koffer von Band eins. Die Bewohner der United World sind doch alle nett und merken eh nicht viel. Niemand wird dir das übelnehmen.«
Wie immer hatte er recht. Ein Koffer mit Blumenmuster rollte auf sie zu. Sobald er in Reichweite war, griff sie zu und sprintete los. Grüne Schilder wiesen ihr den Weg zum Ausgang. Sie passierte eine weitere Schiebetür und stand nun in einer großen Halle, in der sich noch mehr Menschen auf engstem Raum drängten. Sie hielten Schilder mit verschiedenen Namen in die Höhe oder versuchten auf andere Weise, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch Maria hatte keine Zeit, sich davon ablenken zu lassen. Sie musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Die gleißende Sonne erhellte die gläserne Ausgangstür wie eine Himmelspforte. Die Freude, die sie vorhin beim Betreten der Halle empfunden hatte, flammte wieder in ihr auf.
Helmuth, ich habe es geschafft. Ich hoffe, du siehst mich.
»Marie Frey bitte zu Gate eins. Marie Frey bitte zu Gate eins«, ertönte eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern.
Alle Augen waren plötzlich auf sie gerichtet. Wahrscheinlich sah sie für die Leute aus wie eine klassische Marie Frey.
Beruhige dich, du bist Maria Schmidtke. Die meinen nicht dich. Geh einfach selbstbewusst und cool an den Leuten vorbei.
Sie war ihrem Ziel so nahe, dass sie schon die Wärme der Sonne durch die großen Fensterscheiben spüren konnte. Ohne sich von dem Gemurmel der anderen beeinflussen zu lassen, ging sie weiter in Richtung Ausgang. Innerlich war sie angespannt und rechnete jede Sekunde damit, dass sie jemand packen und festhalten würde. Doch niemand hielt sie auf.
Plötzlich stand sie draußen auf der Straße.
Und jetzt?
Die Sonne, die sie eben noch als wohlig warm empfunden hatte, brannte nun unerträglich auf ihrer Haut. Sie sehnte sich nach Schatten und entdeckte hinter den Ground Shuttles, die in allen möglichen Formen und Größen vor ihr standen, eine grüne Fläche mit Palmen.
Da muss ich hin.
Auf dem Weg dorthin betrachtete sie die ungewöhnlichen Shuttles genauer. Staunend beobachtete sie, wie ein Mann am Steuer eines viel zu kleinen, roten Shuttles saß und das Gefährt startete.
Die fahren selbst?
Sie trat näher, um einen Blick ins Innere zu werfen, doch als sie durch die Scheibe spähte, überkam sie ein unangenehmer Geruch. Dann spürte sie ein Kratzen in den Atemwegen, das einen heftigen Hustenreiz auslöste.
O meine Eiche, hier stimmt etwas nicht.
Maria fuchtelte wild mit den Armen, um den Fahrer zu warnen, aber der ließ sich nicht stören und fuhr davon. Allein. Ohne ihr Signal zu beachten. Ihr wurde klar, dass sie sich geirrt hatte. Das waren keine Ground Shuttles, sondern Autos.
Als sie realisierte, dass sie gerade Abgase eingeatmet hatte, hielt sie sich panisch die Hand vor den Mund und versuchte, den Husten zu unterdrücken.
Wie lange habe ich noch zu leben? Eine Woche? Ein Jahr?
Verzweifelt tippte sie immer wieder auf den Bildschirm des DKs. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Daten zu überprüfen. Nie hätte sie gedacht, dass sie etwas aus der United World vermissen würde. Schon gar nicht nach so kurzer Zeit.
Die Palmen waren unwichtig geworden. Die Sonne, die Frau mit der penetranten Stimme, die Abgase – das alles war zu viel für sie. Sie musste sich so schnell wie möglich orientieren und sich in Sicherheit bringen.
Hinter der Grünfläche erstreckte sich ein weitläufiger Parkplatz und eine Straße. Sie rannte so schnell los, wie es der Rollkoffer zuließ.
Am Ende des Platzes saßen ein Mann und eine Frau auf dem Boden. Vor ihnen stand eine Schüssel mit Münzen. Ihre Kleidung war schmutzig und abgetragen. Sie sahen genauso erschöpft aus wie Maria. Neugierig ging sie auf die beiden zu, die ihr nun fröhlich die Schüssel entgegenhielten. Verwirrt blickte sie hinein.
Ist das ein Begrüßungsritual?
Sie formte aus ihrer Hand eine Schale und hielt sie ihnen ebenfalls entgegen, doch die beiden schüttelten den Kopf und konzentrierten sich auf andere Passanten, die ihren Weg kreuzten. Enttäuscht, aber auch erleichtert, dass ihr keine Gefahr drohte, ging Maria weiter die Straße entlang.
Sie näherte sich einem Kreisverkehr und immer mehr Autos fuhren an ihr vorbei. Instinktiv hielt sie sich die freie Hand vor den Mund, um sich vor der unsichtbaren Gefahr in der Luft zu schützen. Aber dann fielen ihr die kleinen, bunten Holzhäuser hinter dem Kreisverkehr auf. Staunend betrachtete sie die ungewöhnliche Architektur und die Abgase waren vergessen. Es schien, als hätten die Bewohner ihre Häuser einfach nur angemalt, anstatt moderne Visualisierungstechnologien zu nutzen. Eine simple und zugleich schöne Vorgehensweise.
Ein lautes Knacken riss sie aus ihrer Bewunderung. Sie blieb wie angewurzelt stehen und suchte nach der Ursache. Schließlich entdeckte sie auf dem Boden eine durchsichtige Flasche voller Dellen. Sie wunderte sich über die auffällige Form und trat vorsichtig mit dem Fuß darauf. Das Material gab nach und knackte erneut. In ihrem Kopf ratterte es.
Das muss Plastik sein.
Neugierig hob sie die Flasche vom Boden auf und wunderte sich, wie leicht die war. Das war eindeutig kein Glas. Aber die Freude verflog schnell, als sie daran dachte, wie schlecht Plastik für die Umwelt war – genau wie die Abgase, die sie gerade eingeatmet hatte. Sie sah sich um und bemerkte, dass die Straße von Feldern und verschiedenen Pflanzen gesäumt war.
Wie kann das im Einklang miteinander stehen?
Sie hob die Flasche auf, um sie später ordnungsgemäß zu entsorgen. Nun spürte sie erneut das Kratzen im Hals. Es wurde stärker und verwandelte sich in einen brennenden Durst. Die Sehnsucht nach Hilfe wuchs in ihr. Sie wollte weinen, doch dann hörte sie neben dem Motorendröhnen der vorbeifahrenden Autos plötzlich fröhlichen Gesang. Aufgeregt schaute sie sich um und bemerkte zwei Männer in einem rot-weißen Holzhaus direkt gegenüber dem Kreisverkehr. Der eine saß an einem Tisch auf der überdachten Veranda, der andere brachte ihm singend ein Getränk. Die Autos fuhren auch an ihnen vorbei, aber die beiden schienen sie gar nicht zu bemerken. Sie wirkten völlig entspannt und fröhlich. Obwohl Maria die beiden nicht kannte, empfand sie eine tiefe Sympathie für sie.
Der Mann am Tisch reichte dem anderen ein Stück Papier. Neugierig beobachtete sie das Geschehen, so gut es ihr aus der Ferne möglich war. Sie wollte alles über die beiden wissen. Vielleicht waren sie ihre Rettung.
Entschlossen ging sie auf das Haus zu. Mit ihrer hellen Haut und dem honigblonden Haar blieb sie nicht lang unbemerkt.
Der Mann, der das Getränk gebracht hatte, strahlte sie an und winkte sie zu sich.
Dankbar lief Maria auf ihre Retter zu.
»Hello beautiful girl«, begrüßte er sie und wiegte sich im Rhythmus entspannter Musik. Sein Schmuck an Armen und Hals raschelte, als er sich bewegte. Er schien aus verschiedenen Perlen, Muscheln und Samen zu bestehen. Sein nackter Oberkörper war mit verschiedenen Bildern verziert, die teilweise von langen schwarzen Filzzöpfen verdeckt wurden.
Wie ist das auf seine Haut gekommen? Und was sind das für Haare?
Maria war von seiner Erscheinung fasziniert. Sie wollte alles über ihn und seine Welt erfahren.
»Hello, how are you?«, fragte er nun.
Maria merkte, dass sie nicht geantwortet hatte, und dass sie nicht wusste, was er von ihr wollte. Helmuth hatte bei seinem Fluchtplan anscheinend vergessen, dass die Leute hier weder Deutsch noch United sprachen. »Hello«, antwortete Maria unsicher. Es klang wie Hallo und sollte dasselbe bedeuten.
»Do you want a coconut? They are very tasty!«
Der Verkäufer reichte ihr eine geöffnete Kokosnuss, und Maria sah, wie das erfrischende Wasser am Rand herunterlief. Ihr trockener Mund, der sich inzwischen anfühlte, als würde eine Wüste zur Untermiete wohnen, konnte es kaum erwarten, an die Flüssigkeit zu kommen. Doch ohne ihren DK konnte sie nicht bezahlen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Maria konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen und zeigte ihren deaktivierten DK. Der Verkäufer schaute sie fragend an. Dann bemerkte sie, dass er keinen trug. Er blickte zu seinem Freund, der genüsslich an seinem Getränk nippte.
Was habe ich mir nur dabei gedacht, spontan zu fliehen? Ich werde verdursten, obwohl die leckere Kokosnuss direkt vor meiner Nase ist.
Verzweifelt hielt sie ihm die zerdrückte Flasche hin. Vielleicht würde er ihr Umweltbewusstsein honorieren und ihr die Kokosnuss als Belohnung geben.
Jetzt fingen beide lauthals an zu lachen. Der sitzende Mann sagte nun zu ihr: »Girl, you need money. Five dollars.«
Sie wusste nicht, was die beiden wollten, aber ihr unbeschwertes Lachen war so ansteckend, dass auch Maria lachen musste. Die beiden strahlten eine unglaubliche Leichtigkeit aus. Sie kannte sie nicht und sie hatten ihr bisher auch nicht geholfen, aber Maria war froh, sie getroffen zu haben.
Sie erinnerte sich, dass der eine, nachdem er sein Getränk bekommen hatte, dem anderen Papier gegeben hatte. Das war wahrscheinlich money. Money musste Geld sein. Geld, das sie nicht hatte. Aber dann fiel ihr Helmuths Schatulle ein, die er ihr hinterlassen hatte. Voller Hoffnung öffnete sie den Deckel und alte Münzen aus Deutschland blitzten ihr entgegen. Ihr Herz hüpfte vor Freude.
Er hat doch an alles gedacht.
Überzeugt zeigte sie ihr Geld.
Der Mann mit den Bildern auf dem Oberkörper schüttelte den Kopf und zeigte ihr ein paar Scheine.
Maria sackte in sich zusammen. Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie das Eichenblatt um ihren Hals fest umklammerte und überlegte, was sie nun tun sollte.
»Don’t cry, beautiful girl. Where are you from?«
Maria verstand nicht und weinte weiter.
Jetzt lachten auch die beiden nicht mehr. Sorgenfalten zeichneten sich auf ihren Stirnen ab. In schnellem Englisch unterhielten sie sich, bis der Sitzende aufsprang und sich fröhlich an die kurzen Haare griff. Ihm schien eine Idee gekommen zu sein.
»Give me your money.« Er streckte Maria die Hand hin.
Money ist Geld.
Ohne zu zögern, gab sie ihm all ihre Münzen.
»Wow. It`s from old Germany. You are a German girl. We know someone from Germany: Vanessa.«
Die beiden nickten sich bestätigend zu.
»I will call her.« Er zog ein Gerät aus der Hosentasche und hielt es sich ans Ohr. Es schien eigenständig zu funktionieren und mit nichts anderem verbunden zu sein.
Interessiert schaute Maria ihm zu. Das Einzige, was sie verstand, war der Name Vanessa. Die Verfasserin des Artikels über die Außenwelt, den sie damals im Rahmen ihrer Recherche hatte anklicken wollen, hieß auch Vanessa. Ein plötzlicher Adrenalinschub durchfuhr ihren Körper und verdrängte augenblicklich ihre Erschöpfung. Sie konnte es kaum erwarten, zu erfahren, mit welcher Vanessa er sprach.
Während der mit den kurzen Haaren noch telefonierte, nahm der mit den Filzzöpfen Marias Hand und fasste sich mit der anderen an die Brust: »I am Jason. This is Malcolm.« Er deutete auf seinen Kollegen, der gerade mit Vanessa telefonierte. »What is your name?« Er zeigte mit dem Finger auf sie.
»Maria.«
Jason reichte ihr die Kokosnuss mit einem Lächeln, das sie für einen Moment ihre missliche Lage vergessen ließ, und sagte: »You are welcome, Maria.«
Dankbar nahm sie das Geschenk und trank das Wasser in hastigen Schlucken. Ihr erleichtertes Seufzen verriet, wie sehr sie die erfrischende Flüssigkeit gebraucht hatte.
Jason lachte. »Now you feel better.« Er fing wieder an, zur Musik zu tanzen und jedem zuzuwinken, der an seiner Bar vorbeikam. Er wirkte so entspannt, so frei, so lebensfroh. Maria bewunderte ihren Retter, bis ein lautes Knattern sie erschreckte.
Eine Frau kam auf einem motorisierten Zweirad angefahren. Ihre Haut war von der Sonne gebräunt, aber immer noch viel heller als die von Jason und Malcolm.
Das muss Vanessa sein.
Hektisch stellte sie ihren Roller ab und rannte zu Maria. »Hey, alles in Ordnung? Was ist passiert?«, fragte sie auf United.
Nun weinte Maria vor Glück. Eine Last, so schwer wie ein Einfamilienhaus, fiel von ihren Schultern, als sie ihre Muttersprache hörte.
Vanessa nahm sie in die Arme: »Alles wird gut. Beruhige dich, ich helfe dir.«
Maria öffnete langsam die Augen und fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Ein seltsamer Druck lastete auf ihrem Gesicht. Eine Welle der Panik überrollte sie. Sie versuchte aufzustehen, doch sie war zu schwach. Orientierungslos tastete sie ihre Umgebung ab.
Wo bin ich?
Sie mobilisierte all ihre Kräfte und richtete sich mit einem Ruck auf. Die Dunkelheit wich von ihr und der fremde Raum vor ihren Augen nahm langsam Gestalt an. Als sie das nasse Tuch auf ihrem Schoß sah, atmete sie erleichtert aus.
Sie befand sich in einer kleinen Wohnung mit orangefarbenen Wänden, dunklen Holzmöbeln und großen Fenstern, die den Blick auf Palmen und das endlose Meer freigaben. Sie war auf Barbados. In Vanessas Wohnung und lag auf einem beigen Sofa. Vanessa musste ihr das Tuch auf die Stirn gelegt haben, damit sie sich abkühlen und entspannen konnte. Beruhigt ließ sie sich zurück auf die Couch fallen.
Dann bemerkte sie ein leises, unheimliches Summen. Es unterschied sich deutlich von dem Brummen des kleinen Ventilators ihr gegenüber. Maria suchte nach der Quelle des Geräusches und erschrak, als sie auf Vanessas wachen Blick traf. Ihre Augen lugten hinter einer beeindruckenden Computerlandschaft am anderen Ende des Raumes hervor. Jetzt wusste sie, woher das unbekannte Summen kam.
»Ausgeschlafen?«, fragte Vanessa und rollte mit ihrem Schreibtischstuhl auf sie zu.
»Noch nicht ganz, aber es geht mir schon viel besser. Danke dir. Ohne dich wäre ich verloren gewesen.«
»Ach, keine Ursache. Vor ein paar Jahren ging es mir genauso wie dir.« Vanessas Stimme klang rau und dennoch sympathisch. Sie wirkte auf Maria wie eine Frau, die schon viel erlebt hatte. Viel Gutes. Lachfältchen umspielten ihre Augen und sonnengebleichte Locken umrahmten ihre hohen Wangenknochen. Maria schätzte Vanessa auf Ende dreißig und fragte sich, ob sie eines Tages auch aussehen würde, als hätte sie ein Leben voller Abenteuer geführt.
»Ich muss dich etwas fragen«, platzte es aus Maria heraus.
»Schieß los«, antwortete Vanessa gespannt.
»Bist du die Vanessa, die einen Artikel über die Außenwelt in die United World geschleust hat?«
»Du hast ihn gelesen?« Ihre Augen funkelten vor Aufregung. Dann sprang sie vom Stuhl, der hinter ihr wegrollte, und schlug wie ein Champion in die Luft.
»Nein, ich wollte es anklicken, aber dann hat die Genüberwachung meinen DK gesperrt, und da ich kurz zuvor schon unter Sonderbeobachtung stand, habe ich mich nicht getraut, weiter zu recherchieren«, gab Maria enttäuscht zu.
Vanessa stoppte ihren Freudentanz und ließ sich seufzend zu Maria aufs Sofa fallen.
»Eines muss ich den Psychopathen lassen: Sie haben eine hervorragende Firewall. Obwohl ich bei ihnen in der Ausbildung war, schaffe ich es nicht, sie zu durchbrechen. Aber dass der Artikel sichtbar war, ist schon ein großer Erfolg. Ich bin auf dem richtigen Weg. Bald werden alle die Wahrheit über die United World erfahren. Und du wirst mir dabei helfen.« Kämpferisch zwinkerte sie Maria zu.
Maria dachte einen Moment nach. Vanessa schien ebenfalls einen Groll gegen die Genüberwachung zu hegen. Sie wollte mehr über ihre neue Heldin erfahren und fragte vorsichtig: »Was meinst du mit Wahrheit? Hatten sie mit dir auch ein Experiment vor?« Eigentlich wollte sie nicht direkt mit der Tür ins Haus fallen, aber ihre Neugier war zu groß.
Vanessa runzelte die Stirn. »Ich rede von den verhaltensverändernden Vitaminen, die die Gesellschaft in gehorsame Roboter verwandelt. Von welcher Art Experiment redest du?«
Maria antwortete nicht sofort. Helmuth hatte die Menschen aus der United World auch immer Roboter genannt. Wie gern hätte sie ihn jetzt an ihrer Seite. Jede Erinnerung an ihn fühlte sich wie eine bittersüße Folter an.
»Hallo?« Vanessa schnippte mit den Fingern vor Marias Gesicht. »Ist da jemand? Was meinst du mit Experiment?«, wiederholte sie ihre Frage.
Zögernd begann Maria zu erzählen: »Mein Partner war kein Geringerer als Simon Altenburg. Doch, anstatt unsere gemeinsame Zukunft zu planen, wollte er lieber ein Genexperiment mit mir durchführen. Deshalb bin ich geflohen.«
Vanessa sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Simon Altenburg war mit einer Unpi zusammen? Ich kenne die Details nicht, aber das allein ist schon verdächtig.«
Maria sah sie erschrocken an und fragte sich, woher Vanessa wusste, dass sie eine Unpi war und ihre Eltern sie ohne Genehmigung gezeugt hatten. Sie hatte es nicht erwähnt.
»Ich habe es an deinen Sommersprossen erkannt. Die ‚Neuen Menschen‘ haben keine Hautveränderungen mehr. Einige von ihnen könnten bösartig werden«, erklärte Vanessa, als könnte sie ihre Gedanken lesen.
Nun stand Maria der Mund offen. Das war ihr noch nie aufgefallen.
»Keine Sorge, ich habe nichts gegen Menschen, die aus Liebe gezeugt wurden. Ganz im Gegenteil. Hier sind alle Unpis und ich feiere die Vielfalt der Menschen. Niemand prüft hier vor der Schwangerschaft, ob die Gene zusammenpassen, damit ein perfektes Kind entsteht. Du wirst dich hier sehr wohlfühlen.« Vanessa schenkte ihr ein warmes Lächeln.
»Das hoffe ich. Ich weiß nicht, wie ich hier allein überleben soll. Ich verstehe die Sprache nicht, ich habe kein Geld, keine Wohnung und ich habe nicht gelernt, wie ich mich um all das kümmern soll. Mein DK und die Genüberwachung haben bisher alles in meinem Leben organisiert.« Überfordert sackte Maria in sich zusammen.
Selbstbewusst verschränkte Vanessa die Arme vor der Brust. »Bist du geflohen, um jetzt deiner Fake-Welt nachzutrauern? Alles, was du bisher gefühlt hast, war nicht echt. Und in den Nachrichten werden auch nur Lügen verbreitet. Laut Genüberwachung bin ich Opfer eines grausamen Rituals geworden.« Vanessa stand auf und drehte sich vor Maria, als würde sie tanzen. »Wie du siehst, geht es mir bestens. Ich bin offensichtlich nicht Opfer eines Rituals geworden. Aber ich muss auch gestehen, dass ich nicht wie du geflohen bin. Bei mir war es eher ein glücklicher Zufall.«
Maria richtete sich wieder auf. »Ein Zufall?«
Vanessa begann, ihre Geschichte zu erzählen: »Als ich hier ankam, war ich wie du – ein perfekter Roboter der United World. Ich wollte unbedingt die Menschen der Außenwelt von unserem wundervollen Leben überzeugen, damit sie sich uns anschließen. Ich hatte nie geplant, hierzubleiben. Doch auf einer Party am Strand hat mir ein Typ meine Tasche mit meinen Vitaminen gestohlen. Ich weiß nicht, warum ich die gesamte Schachtel mitgenommen hatte. Vielleicht gab sie mir in der fremden Umgebung Sicherheit.«
Maria hielt sich geschockt die Hand vor den Mund.
»Das ist hier leider so. Es gibt Menschen mit viel Geld und Menschen mit wenig Geld. Die mit wenig Geld wollen am Ende des Tages auch nur etwas zu essen haben. Wie dem auch sei, ich traute mich nicht, den Vorfall zu melden. Also entschloss ich, ohne Vitamine zu leben. Nach ein paar Tagen ließ die Wirkung nach, und mein Körper begann, eigenständig Gefühle zu entwickeln. Zuerst hatte ich Angst, weil ich es nicht verstehen konnte, aber dann begann ich, all meine Gefühle zu lieben. Das Leben fühlte sich plötzlich ganz anders an, ich fühlte mich frei. Kurz darauf lernte ich Malcolm und Jason kennen. Ich verliebte mich sofort in ihre Fröhlichkeit, versteckte mich bei ihnen und kehrte nie mehr in die United World zurück.«
»Wow«, sagte Maria beeindruckt. Noch nie war ihr eine so starke und selbstbewusste Frau begegnet. So wollte sie auch sein.
Vanessa nahm Maria in die Arme. »Also mach dir keine Sorgen. Ich bin für dich da und zeige dir alles, was du wirklich wissen musst.«
Vor Dankbarkeit füllten sich Marias Augen mit Tränen. Vanessas Wärme und ihr gleichmäßiger Atem wirkten beruhigend. Sie verharrten in dieser Position, bis Vanessa fragte: »Bist du bereit, mir mehr über deine Geschichte zu erzählen?«
Eigentlich wollte Maria nie wieder über ihre Erlebnisse sprechen. Zu schmerzhaft war der Verlust ihrer Freunde, ihres Lebens und all dessen, woran sie immer geglaubt hatte. Aber sie wollte ihre neue Freundin nicht vor den Kopf stoßen. Also erzählte sie, wie sie im Internat der Genüberwachung aufgewachsen war, von Helmuth, der ihr die Augen geöffnet hatte, von ihrer besten Freundin und deren Verrat und von ihrer angeblichen Liebe zu Simon.
»Und nun bin ich hier«, sagte sie abschließend.
»Du kannst unfassbar stolz auf dich sein. Sei froh, dass du auf Helmuth gehört hast. Er hatte recht: Das hier ist die richtige Welt. Du kannst dankbar sein, dass du ihm begegnet bist. Er war nicht nur dein Held, er war dein Schicksal.«
Marias Augen füllten sich erneut mit Tränen.
»Weine nicht.« Vanessa wischte ihr eine Träne von der Wange. »Helmuth beobachtet dich. Ich will, dass er eine stolze Kämpferin sieht.«
»Meinst du, Simon wird mich suchen und zurückbringen?«, fragte Maria stotternd.
»Hör mir mal zu.« Vanessa wartete, bis Maria ihr in die Augen sah. »Simon hat vielleicht in deiner Welt etwas zu sagen. Aber hier ist er ein Niemand. Er hat keine Macht mehr über dich. Hier leben echte Menschen, die nicht von seinen Tabletten kontrolliert werden. Und falls du befürchtest, dass er seine vermeintlichen Botschafter auf dich hetzt – das wird nicht passieren. Wir leben hier im rauen Norden der Insel in einer kleinen Gemeinschaft. Niemand kommt hierher, der nicht hier lebt. Wir liegen gut versteckt zwischen den Bergen und dem Meer. Die Botschaft von der United World liegt auf der anderen Seite der Insel. Außerdem verlassen sie ihr Grundstück kaum. Die haben zu viel Angst vor den angeblichen Opferritualen.« Höhnisch lachte Vanessa auf. Dann fuhr sie fort: »Sie bieten jede Woche eine offene Sprechstunde an, in der sich Interessierte über das Modell United World informieren können. Das ist alles. Sei froh, dass du das nicht ein Jahr lang machen musst.«
Ein erleichtertes Lächeln huschte über Marias Lippen. Vanessa erzählte ihr noch mehr über das Programm, aber sie hörte nicht mehr zu.
Plötzlich fragte sie sich, wo ihre Eltern waren. Sie hoffte so sehr, dass sie auch ein glückliches Leben in der Außenwelt führten. Auch wenn das ohne ihre Tochter wahrscheinlich nicht möglich war. Die Tochter, die ihr ganzes Leben lang ihre Eltern verurteilt hatte. Maria spürte eine innere Unruhe, die ihr den Magen umdrehte, und sie wusste, dass sie ein neues Gefühl durchleben musste – Schuldgefühl. Bis sie ihre Eltern finden würde, um ihnen zu sagen, dass sie alles richtig gemacht hatten, würde sie damit leben müssen.
Gedankenverloren saß Maria an den Klippen und beobachtete fasziniert die Wellen, die geräuschvoll gegen die rauen Felsen schlugen. Das Wasser spritzte meterhoch und verbreitete sich wie ein zauberhafter Nebel in der Luft. Doch es war kein grauer, bedrückender Nebel, wie sie ihn aus Deutschland kannte. Die rote Morgensonne tauchte die feinen Wassertropfen in ein goldenes Licht, wodurch ein magischer Schimmer über der gesamten Bucht lag. Die kleine Gruppe von Häusern, die Maria nun ihr Zuhause nannte, verwandelte sich dadurch in ein verträumtes Märchendorf.
Maria fragte sich, ob Helmuth diesen Teil der Insel gekannt hatte. Die weißen, weichen Strände, von denen er geschwärmt hatte, waren hier nicht zu sehen.
Sie beschloss, Vanessa später danach zu fragen, aber die schlief noch tief und fest. Maria dagegen war bereits hellwach und hatte die Hitze in dem grünen Holzhaus als unerträglich empfunden. Auf der Suche nach frischer Luft war sie zu den Klippen gegangen. Aber auch draußen gab es keine Erleichterung. Die sengende Sonne und die drückende Schwüle ließen ihr kaum Luft zum Atmen. Sie sehnte sich danach, den feinen Sand unter ihren Füßen zu spüren und sich im kühlen Meer zu erfrischen. Diese besondere Erfahrung wollte sie unbedingt mit Helmuth teilen und für immer in Erinnerung behalten.
Vielleicht bist du alter Griesgram doch eine Palme und keine Trauerweide.
Sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf sagen: »Den Strand wirst du früh genug sehen. Probiere lieber den Rum. Der ist vorzüglich.«
Mit einem Lächeln im Gesicht legte sie den Kopf auf die angewinkelten Knie und starrte weiter auf das endlos scheinende Meer. Das morgendliche Rot war einem strahlenden Gelb gewichen und ließ das Wasser so intensiv glitzern, als wäre es mit unzähligen Diamanten besetzt. Es erinnerte sie an Jasons Lächeln, das sie gestern für einen kurzen Moment all ihren Kummer und Schmerz der Flucht hatte vergessen lassen.