Zu perfekt, um glücklich zu sein - Amelie Morel - E-Book

Zu perfekt, um glücklich zu sein E-Book

Amelie Morel

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Beschreibung

Teil 1 Tauche ein in eine scheinbar perfekte Welt, in der Sorgen ein Fremdwort sind. Doch Vorsicht: Hinter der glänzenden Fassade lauert ein dunkles Geheimnis - und die Wahrheit wartet nur darauf, aufgedeckt zu werden. Bist du dabei? Dann findest du hier den Klappentext: Eine perfekte Welt. Eine perfekte Gesellschaft. Eine perfekte Liebe - oder? Die zwanzigjährige Marie kann ihr Glück kaum fassen. Das System hat ihren optimalen Partner ausgewählt - und das ist niemand Geringeres als Simon Altenburg, der Enkel des Mitbegründers ihrer sorglosen Welt. Die Freude über diese wunderbare Nachricht wird jedoch nicht von allen geteilt: Ihr Schützling, der sechsundneunzigjährige Helmuth, glaubt nicht, dass hinter all den lächelnden Gesichtern echtes Glück steckt. Die Sichtweisen der beiden scheinen unvereinbar, doch dann beginnt Marie, sich zu erinnern, und erkennt die Gefahr hinter der perfekten Fassade ihrer schönen, neuen Welt. (Triggerwarnung: Dieses Buch enthält Szenen von Gewalt, Manipulation, Ausgrenzung und Unterdrückung.)

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Seitenzahl: 275

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Der Weg zur Perfektion führt nicht zwangsläufig zum Glück.

Achtung: Auch wenn das Cover süß aussieht, ist es eine Dystopie. Die Zielgruppe ist 20 Jahre und älter.

Triggerwarnung: Dieses Buch enthält Szenen von Gewalt, Manipulation, Ausgrenzung und Unterdrückung.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Juli 2053

KAPITEL 1

Marie

KAPITEL 2

Marie

KAPITEL 3

Marie

KAPITEL 4

Marie

KAPITEL 5

Marie

KAPITEL 6

Marie

KAPITEL 7

Marie

Helmuth

Marie

KAPITEL 8

Marie

KAPITEL 9

Marie

KAPITEL 10

Marie

Helmuth

Marie

KAPITEL 11

Marie

Simon

KAPITEL 12

Marie

Simon

Helmuth

Simon

KAPITEL 13

Marie

KAPITEL 14

Marie

Simon

Marie

KAPITEL 15

Helmuth

Marie

KAPITEL 16

Simon

Marie

Simon

Marie

KAPITEL 17

Helmuth

Marie

KAPITEL 18

Marie

KAPITEL 19

Marie

KAPITEL 20

Marie

Simon

Marie

Simon

Marie

KAPITEL 21

Marie

Simon

Marie

EPILOG

Simon

Nils

BONUS

Für Helmuth

DANKSAGUNG

PROLOG

Juli 2053

»Öffnen Sie endlich die Tür! Sie wollen doch nicht, dass Ihr Kind ein Trauma erleidet.«

Das Baby in Marcus’ und Michaelas Armen schrie, während sie eng umschlungen hinter dem grauen Sofa im Wohnzimmer kauerten. Michaela versuchte, ihre kleine Tochter mit Küssen auf die Stirn zu beruhigen, doch jedes Mal, wenn die Stimme des unbekannten Mannes vor der Tür ertönte, schrie die Kleine lauter.

»Wir zählen jetzt bis drei. Wenn Sie bis dahin die Tür nicht geöffnet haben, schalten wir das System ab und stürmen die Wohnung.«

Michaelas Puls raste. Durch die heruntergelassene Außenjalousie konnte sie nicht sehen, wie viele Personen draußen standen.

»Drei, zwei, eins.«

Ein schrilles Piepen ertönte.

Der Mann hatte seine Drohung in die Tat umgesetzt und die Wohnung vom System genommen. Wie in Zeitlupe öffnete sich die Tür und die kräftige Julisonne schoss wie ein Blitz durch den dunklen Raum. Nun erblickte Michaela zum ersten Mal den Mann, der die ganze Zeit zu ihnen gesprochen hatte. Ihr fiel sofort sein markantes Gesicht auf. Als er die kleine Familie hinter dem Sofa sah, trafen sich ihre Blicke. Michaela fühlte sich von seinen eisblauen Augen wie eingefroren.

»Frau Frey. Bitte geben Sie auf. Überlassen Sie uns Ihr Baby und alles wird gut.«

Hinter ihm tauchten plötzlich zwei weitere Männer auf, die aussahen wie Menschen, die in der United World nicht mehr anzutreffen waren: böse.

Sie spürte, wie sich Marcus’ Arm schützend um sie legte, während sie regungslos die Szenerie beobachtete. Die Hand des Anführers berührte Michaelas Schulter.

»Frau Frey, geben Sie mir das Baby. Es wird es gut bei uns haben und die beste Ausbildung und medizinische Versorgung erhalten. Wir können die genetischen Defizite ausgleichen und es wird ein perfektes Leben wie alle anderen führen können. Sie brauchen sich nicht zu sorgen.«

Michaela konnte seinem hypnotischen Blick noch immer nicht ausweichen. Erst als einer seiner Männer Marcus mit voller Kraft von hinten überwältigte, schrie sie auf.

Diese Chance ließ er sich nicht entgehen und riss Michaela ihre Tochter aus den Armen.

»Ich kümmere mich um das Baby, nehmt die beiden mit!«, sagte er nun mit einer kalten, klaren Stimme, aus der jegliche Sympathie verflogen war.

Auf das Kommando packte der Dritte im Bunde Michaelas Arm und zog sie unsanft vom Boden hoch. Ein Schrei, als hätte man ihr bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen, hallte wie eine Sirene durch das leere Wohngebiet. Getrennt von Marcus und ihrer geliebten Tochter schubste der grobe Mitarbeiter sie in einen Transporter mit der Aufschrift Genüberwachung.

KAPITEL 1

Marie

August 2073

Der Leiter der Region West betrat in einem perfekt sitzenden Anzug die Bühne, die wie der gesamte Festplatz mit bunten Blumen geschmückt war. Hinter ihm leuchtete die Deutschland-Flagge, in dessen Mitte die Silhouette eines prächtigen Phönix prangte und stolz signalisierte: Wir sind ein Teil der United World.

Er klopfte mit seinem Zeigefinger drei Mal gegen das Mikrofon, um zu prüfen, ob der Ton funktionierte. Das Klatschen und Jubeln der knapp über tausend Besucher bestätigten seinen Test. Um die Menge zu beruhigen, deutete er seinen Gästen mit einer sich senkenden Armbewegung an, leiser zu sein. Brav gehorchten die Zuschauer und stellten die geräuschvolle Begrüßung ein. Nur die Vögel waren noch zu hören. Nach einer kurzen, spannungsvollen Pause ertönte seine euphorische Stimme über den ganzen Platz. »Herzlich willkommen, liebe Bürgerinnen und Bürger der Region West. Auch in diesem Jahr haben wir uns hier feierlich versammelt, um unsere Helden-Supporter in ihren ehrenvollen Dienst zu entlassen und ihnen ihre Helden zuzuweisen.«

Die Gäste fingen wieder an zu klatschen und ergänzten ihre Freude dieses Mal mit geräuschvollem Stampfen der Füße. Marie saß mit den anderen Absolventen der Supporter-Schule in der ersten Reihe und drehte sich stolz Richtung Menge. So viele Leute waren gekommen, um diesen ehrenvollen Tag gemeinsam mit ihnen zu feiern. Die Sonne strahlte für Ende August außergewöhnlich warm auf die Besucher herab und ließ die farbenfrohe Kleidung der Teilnehmer noch fröhlicher wirken.

Was gibt es Schöneres als so viele freudige Gesichter zwischen Unmengen von duftenden Blumen, die von summenden Hummeln und Bienen umgarnt werden?, dachte Marie und versuchte, jede Sekunde dieses Moments wie ein Schwamm aufzusaugen. Sie ließ ihren Blick weiter über den Platz schweifen und stoppte bei der kleinen Gruppe alter Helden, die neben dem Rednerpult des Regionalleiters saßen. Marie musterte ihre verschrumpelten Gesichter und fragte sich, was sie wohl bei dem Anblick dieser Feierlichkeit dachten. Damals, als diese Männer und Frauen jung gewesen waren, hatte es diese Art von Veranstaltungen nicht gegeben. Sicherlich waren sie von Sorgen zerfressen und in ihren Köpfen schwirrten Sätze wie: Wenn ich alt bin, bekomme ich weder Geld noch eine anständige Unterstützung. Doch heute saßen sie da und bekamen eine eigene Feier und eine persönliche Betreuung durch die bestausgebildeten Supporter, die sie sich vorstellen konnten. Auch wenn die Helden aktuell nicht so aussahen, als würden sie das zu schätzen wissen. Alle schauten desinteressiert in die Menge bis auf eine Dame, die wie hypnotisiert mit ihrem Digital Key – abgekürzt DK – spielte, der wie ein Fitnessarmband an ihrem rechten Arm hing. Marie musste kichern, da der Mann neben ihr genervt wirkte und sie mit seinem Blick förmlich aufforderte, endlich damit aufzuhören.

Um welchen dieser Helden darf ich mich ab heute kümmern? Sie beobachtete den alten Mann, der von seiner Nachbarin so genervt schien. Selbst den könnte ich wieder zum Lachen bringen, dachte sie motiviert.

Der Regionalleiter erhob seine Stimme und prompt verstummte die Menge.

»Wie jedes Jahr bin ich über die Auswahl unserer Supporter durch die Genüberwachung hoch erfreut. Ich kann in ihren motivierten Gesichtern sehen, dass sie diese besondere Herausforderung vorbildlich meistern werden.« Dann zeigte er auf die Gruppe alter Damen und Herren neben sich. »Die Helden, die Sie hinter mir sehen, sind nicht nur Helden, sie sind Grenzgänger. Sie sind die letzten Personen, die die Alte Welt miterlebten und für die der Wechsel in unsere neue, friedvolle Welt sicherlich am schwersten war.«

Ein ehrfürchtiges Raunen ertönte.

»Unsere Supporter haben einen intensiven Deutschkurs belegt, da die Sprache United nicht für alle Bürger selbstverständlich ist. Zusätzlich mussten sie viele Vokabeln erlernen, die die meisten von Ihnen gar nicht mehr kennen, zum Beispiel Plastik, Alkohol, Fast Food oder Bargeld. Das alles, um diese Bürger auf ihrer letzten Reise bestmöglich zu begleiten.« Er machte eine Pause, damit das Publikum seine Worte würdigen konnte. Dann sprach er weiter: »Kommen wir nun zum schönsten Teil dieses Tages. Ich freue mich, Ihnen endlich die Zuordnung unserer Supporter zu verkünden. Wie jedes Jahr beginnen wir mit den Absolventen, die unsere Schule mit einer Auszeichnung abgeschlossen haben.«

Marie rutschte voller Vorfreude auf ihrem Stuhl hin und her. Nervös schaute sie zu ihrem Klassenkameraden Nils, der neben ihr saß. Er war ebenfalls aufgeregt, wie die leichte Röte auf seinen Wangen verriet. Als sich ihre Blicke trafen, kribbelte es in Maries Bauch. Das Kribbeln war ein Teil der Vorfreude auf ihren neuen Lebensabschnitt, da war sie sich sicher.

»Wir beginnen mit einer herausragenden Schülerin, die in diesem Jahr den besten Abschluss erzielt hat. Lasst uns Marie Frey herzlich in ihrem neuen Dienst willkommen heißen!«

Marie erhob sich aus der jubelnden Menge. Voller Stolz ging sie Richtung Bühne. Ihr honigblondes Haar wippte locker über ihren Schultern, als sie die Stufen emporstieg. Oben angekommen, drehte sie sich schwungvoll zu den Besuchern, sodass sich ihr rosafarbenes Kleid mit drehte. Das warme Sonnenlicht betonte die kleinen Sommersprossen auf ihrer Stupsnase.

»Herzlichen Glückwunsch, Frau Frey«, sagte der Regionalleiter, während er ihr zur Begrüßung die Hand reichte. Marie wollte antworten, aber mehr als ein verlegenes Kichern kam nicht heraus.

»Dann wollen wir mal schauen, wer Ihr Held wird.« Mit einem Fingerschnippen aktivierte er die Supporter-Lizenz auf ihrem DK, der daraufhin auffällig blinkte, als würde er sich über die bevorstehende Zuweisung freuen. Die Gäste passten ihren Klatschrhythmus an das Leuchten des Armbandes an.

Neugierig schaute Marie zu den alten Helden, um zu sehen, wessen Gerät ebenfalls leuchtete. Es war der DK des Mannes, der eben noch genervt seine Sitznachbarin angestarrt hatte. Jetzt schaute er schockiert auf das Blinken an seinem Arm. Seine weißen Haare sträubten sich in alle Richtungen und verliehen ihm das Aussehen eines verwirrten Professors. Dann sah er zu Marie und fixierte sie mit seinen kleinen braunen Augen wie ein Raubtier. Sie lächelte ihn freudig an, doch seine Mundwinkel hingen weit herunter. Trotz seiner schwachen Erscheinung konnte sie die Energie in seinem Blick spüren.

»Marie Frey und Helmuth Schmidtke werden ein Team«, rief der Regionalleiter freudig aus.

Während der Applaus anhielt, ging Marie auf Helmuth zu und reichte ihm die Hand.

Sicherlich freut er sich, dass ich ihn von seiner nervigen Nachbarin befreie.

Er schaute Marie weiterhin grimmig an und rührte sich nicht. Als sie jedoch weiter auf ihn zukam, hatte er keine andere Wahl, als die Geste zu erwidern. Energisch schüttelte sie seine Hand und lächelte Richtung Menge, während seine Mundwinkel weiter nach unten wanderten.

Der Bereichsleiter flüsterte Marie unauffällig ins Ohr: »Sie haben einen ganz besonderen Helden bekommen. Helmuth kann nur von den Besten der Besten unterstützt werden. Sie können stolz sein, eine solch ehrenvolle Aufgabe zugeteilt zu bekommen.«

Marie schaute noch einmal zu Helmuth, der mit eingesacktem Oberkörper in seinem Rollstuhl saß.

»Das bin ich auch. Ich werde ihm die beste Zeit seines Lebens ermöglichen«, flüsterte sie zurück.

»Kommen Sie näher zusammen!«, rief der Fotograf.

Marie legte ihren Arm um Helmuths Schulter und der Bereichsleiter seinen um die von Marie. Alle bis auf Helmuth lächelten in die Kamera. Nach zig geschossenen Bildern konnte sich Helmuth aus der Umarmung befreien und atmete erleichtert auf.

»Ich entlasse nun das erste Team in seinen neuen Alltag und wünsche den beiden eine wundervolle Zeit«, wandte sich der Regionalleiter wieder zur Menge.

Marie winkte dem jubelnden Publikum ein letztes Mal zu, bevor sie die Griffe von Helmuths Rollstuhl umfasste und ihn von der Bühne schob. Sie bemerkte, dass er sich unwohl in der Situation fühlte. Sobald sie ein bisschen abseits der Menge waren, begrüßte Marie Helmuth noch einmal richtig. »Lieber Helmuth, ich hoffe, es geht dir gut. Ich habe gemerkt, dass du dich auf der Bühne nicht wohlgefühlt hast. Deswegen bringe ich dich jetzt in deine Unterkunft, dort kannst du dich ein bisschen erholen. Ich freue mich sehr, dass ich dich in den nächsten Jahren unterstützen darf.«

Helmuth hob seinen Kopf und schaute ihr direkt in die Augen. Seine Stimme war wesentlich fester, als sie bei seiner schwachen Erscheinung vermutet hätte.

»Hör doch auf mit dieser Show! Diese permanente Freundlichkeit und Heuchelei erträgt doch kein Mensch. Bring mich einfach nach Hause und lass mich in Ruhe schlafen.«

KAPITEL 2

Marie

Helmuth schlief mittlerweile friedlich in seinem Bett. Auf dem Rückweg hatte er kein Wort mit Marie gesprochen. Sie konnte sein Verhalten allerdings schnell analysieren: Helmuth glaubte nicht, dass die Hölle, in der er geboren worden war, nicht mehr existierte. Sein Vertrauen zu anderen Menschen war immer noch nicht wiederhergestellt. Kurz: Er litt glasklar unter AWD – Alte Welt Depression. Doch das stellte für Marie kein Problem dar. Sie war in ihrer Ausbildung bestens auf diese Situation vorbereitet worden. Endlich konnte sie all ihr Wissen anwenden und einem kranken Menschen helfen, in der United World anzukommen.

AWD war die einzige Krankheit, die noch nicht eliminiert werden konnte und befiel ausschließlich Grenzgänger. Die Verantwortung für die Gesundheit der Einwohner übernahm die Genüberwachung, die mit den Erkenntnissen ihrer jahrelangen Forschung das Leben eines jeden Einzelnen optimiert hatte.

Wahrscheinlich sind Helmuths Vitamine nicht richtig eingestellt. In so einem hohen Alter musste die Zusammensetzung öfter angepasst werden als in jungen Jahren. Aber jetzt hat er ja mich, die beste Absolventin des Jahrgangs 2073. Bald wird er genauso zufrieden sein wie alle anderen.

Sie freute sich bereits auf sein erstes Lächeln, das er ihr zeitnah schenken würde.

Das Knarzen von Helmuths Bett riss Marie aus ihren Gedanken. Mit prüfendem Blick schaute sie aus dem grünen Ohrensessel zu ihm hinüber. Er schien sich nur gedreht zu haben. Erleichtert strich sie mit den Fingerspitzen über die samtigen Armlehnen. Sie mochte diesen Sessel, obwohl sie so einen noch nie zuvor gesehen hatte. Er sah aus, als wäre er noch von Hand gefertigt worden und nicht mit dem 3D-Drucker.

Das Bett quietschte erneut. Obwohl es Helmuth nicht zu stören schien, tippte sie die Aufgabe Bett überprüfen in ihren DK. Es durfte nicht knarzen, ihr Held brauchte seinen erholsamen Schlaf. Um sicherzugehen, ob auch wirklich alles in Ordnung war, schlich sie auf Zehenspitzen zu ihm.

Seine Augen waren geschlossen und sein Mund offen. Das war ein gutes Zeichen. Sie tippelte zurück zum Sessel und rief seine Daten auf ihrem DK auf. Als Supporterin hatte sie Sonderrechte und konnte neben ihren eigenen Gesundheitswerten auch die ihres Schützlings einsehen. Zugang zu diesen Informationen verschaffte ihr ein kleiner Chip, den jeder Bewohner der United World im linken Unterarm trug.

Um sich einen schnellen Überblick über alles zu verschaffen, vergrößerte sie das Display ihres DKs, indem sie mit ihrem Finger die abgerundeten Kanten des Bildschirms nach außen zog. Nun hatte sie statt einer kleinen Übersicht eine acht Zoll große Anzeige. Interessiert studierte sie Helmuths Daten. Er war schon sechsundneunzig Jahre alt und am 18. November 2074 sollte er für immer einschlafen. Somit hatte er nur noch ein bisschen mehr als ein Jahr zu leben. Marie hoffte, dass sie ihn in dieser Zeit von seiner AWD befreien konnte. Sie scrollte weiter zu seinen Vitalwerten und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Wie sie vermutet hatte, sahen seine Werte nicht gut aus. Was ihr eigentlich bereits sein orangefarbenes Armband verraten hatte.

Marie löschte die Aufgabe Bett überprüfen. Das war jetzt nicht mehr wichtig. Dafür notierte sie die Aufgabe Vitamine checken. Wie es aussah, befand er sich kurz vor dem roten Bereich. Und das würde eine Warnung auslösen. Jeder DK war dauerhaft und untrennbar mit der Genüberwachung verbunden. Das Armband zeigte zur Sicherheit aller an, in welchem Zustand sich die Person befand. Grün stand für optimal, Orange für Vorsicht und Rot für gefährlich und war dringlichst zu vermeiden. Allein weil sich dann die Genüberwachung einschaltete.

Während Marie versuchte, mehr über Helmuths Verfassung herauszufinden, klingelte es an der Tür. Kurzerhand legte sie sein Profil als Favorit an, um seine Daten jederzeit überprüfen zu können.

»Das Abendessen ist da«, rief Marie fröhlich, doch als Antwort erhielt sie nur ein Grummeln. Sie flitzte zur Eingangstür, die schräg gegenüber von seinem Zimmer lag. Dort erwartete sie ein kleiner, eiförmiger Lieferroboter, der sie mit seinem digitalen Gesicht anlächelte. Zur Identifikation hielt sie ihren DK, den sie wieder auf die praktische Armbandgröße verkleinert hatte, an die Markierung auf seinem Bauch.

»Hallo Marie, ich wünsche einen guten Appetit«, sagte der Roboter mit der Stimme ihrer Präsidentin, die Marie in all ihren Profilen eingestellt hatte. Dann öffnete er sich in der Mitte und gab das Menü zur Entnahme frei.

»Vielen Dank. Den werden wir haben.«

Marie war ein großer Fan der United World und ein noch größerer Fan ihrer Präsidentin. Schließlich verbesserte sie gemeinsam mit den anderen Staatsoberhäuptern kontinuierlich die United World und handelte im Wohlwollen aller. Auch wenn Marie sie noch nie persönlich getroffen hatte, wollte sie eines Tages wie ihr Vorbild sein und wertvolle Entscheidungen für die Welt treffen. Immer wenn sie Zeit hatte, schrieb sie an ihrer zukünftigen Rede. Sie hatte bereits viele Visionen, wie sie das Leben für die vierzig Millionen Deutschen noch weiter perfektionieren könnte. Doch jetzt versorgte sie erst einmal ihren Helden. Freudig entnahm sie das Essen, und das digitale Gesicht änderte sich in ein trauriges, da sie für ihn kein schmutziges Geschirr als Retoure hatte.

»Beim nächsten Mal, Kleiner«, sagte Marie zu dem Roboter, als könnte er sie verstehen. Mit einem zustimmenden Piepton fuhr er davon. Zeitgleich erschien auf ihrem DK die Rechnung mit der Info, dass der Betrag bereits von ihrem Supporter-Konto abgebucht worden war.

Zur Feier des Tages hatte Marie Rinderrouladen bestellt. Sie schätzte Helmuth als einen Typ ein, der gern Fleisch aß. Doch als ihr der Geruch des Essens entgegenkam, hielt sie es angeekelt von sich weg. Fleisch gab es in der United World kaum noch. Die meisten Menschen waren Vegetarier oder aßen Insekten. Die massenhafte Tötung von Säugetieren passte nicht mehr in die Kultur des Friedens und der Einheit. Marie war sich sicher, dass mit dem Aussterben aller Grenzgänger auch der Fleischkonsum gegen null gehen würde. Heute war sie aber nicht die Vegetarierin, sondern die beste Supporterin der Region West, die mit einer saftigen Rinderroulade das Eis zwischen ihr und Helmuth brechen würde.

Stolz ging sie den Flur zurück, an dessen Ende sich die längliche Küche befand. Als sie das Essen vor sich sah, kamen ihr erste Zweifel. Sie hoffte, dass sich Helmuth über ihre Wahl freuen würde und bei dem Anblick des Fleisches nicht an die schlimmen Massentierhaltungen und Tötungen am Fließband denken musste, die es zu seiner Zeit gegeben hatte.

Nicht, dass er einen weiteren depressiven Schub bekommt.

Sie schob ihre Gedanken beiseite und balancierte die beiden Teller zu Helmuths Bett.

»Helmuth, bist du wach?«

»Leider ja«, antwortete er gequält.

»Was heißt denn hier leider? Vor dem 18. November 2074 wird dein Leben nicht zu Ende sein, also genieß die Zeit.«

Vorsichtig stellte sie sein Abendessen auf dem ausfahrbaren Tisch seines Bettes ab. Als alles sicher platziert war, trat sie einen Schritt zurück und erwartete mit einem breiten Lächeln seine ersten netten Worte. Ihr Herz schlug schneller, als er kritisch die beiden Gerichte begutachtete. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaute er langsam zu ihr auf.

»Du siehst nicht so aus, als würdest du Fleisch essen.«

Maries Lächeln verschwand. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. »Warum sollte ich kein Fleisch essen?« Sie tat so, als wäre es das Normalste der Welt.

»Weil du ein Freak auf Tabletten bist, der einer Gehirnwäsche unterzogen wurde.«

Geschockt schaute sie Helmuth an. Seine Depressionen schienen schlimmer zu sein als gedacht. Scheinbar hatte der Regionalleiter recht damit, dass Helmuth eine besondere Herausforderung war.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Marie. Den Begriff Gehirnwäsche hatten sie im Unterricht nicht behandelt.

Ohne auf ihre Frage einzugehen, wandte er sich dem Essen zu und schnitt sich ein Stück von der Roulade ab. Während er sich die Gabel in den Mund schob, bemerkte Marie ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.

»Möchtest du weiterhin das Essen nach Hause bekommen oder gehst du auch mal in ein Restaurant?«, versuchte sie, ein Gespräch mit ihm anzufangen.

»Nach Hause«, schmatzte Helmuth mit vollem Mund.

Tischmanieren scheint er auch nicht zu haben.

»Dann gebe ich schon einmal die Mahlzeiten für den Rest der Woche in meinen DK ein. Hast du irgendwelche besonderen Wünsche?«

»Fleisch.«

»Ich kann dir nicht jeden Tag Fleisch bestellen, Helmuth. Das ist nicht gut für deine Blutwerte. Dein DK lässt das nicht zu.«

»Dann bestell einfach, was das dumme Ding dir vorgibt. Warum fragst du überhaupt?«, motzte Helmuth. »Ist doch eh alles gesteuert. Nicht einmal Pommes kann ich essen, wenn ich Bock darauf habe.«

Was will er essen? Pommes? Frittierte Dinger, die seine Arterien verstopfen? Geht‘s noch? Am besten von Plastiktellern, die von unschuldigen Fischen gefressen werden, die dann elendig verenden. Das ist wie Selbstmord. Wenn er sein Leben lang nach dieser Einstellung gelebt hätte, wäre er nie sechsundneunzig geworden.

Marie versuchte, sich ihre Gedanken nicht anmerken zu lassen, und lächelte ihn starr an.

»Sei doch froh, dass die United World die Wahl des Essens übernimmt. So müssen wir nicht mehr kochen und vor allem nicht mehr einkaufen. Mehr Gesundheit und Freizeit für alle.« Jubelnd hob sie die Hände in die Luft, doch Helmuth aß unbeeindruckt weiter.

»Das kann nur jemand sagen, der noch nie Pommes gegessen hat.«

»Wahrscheinlich. Ich möchte aber auch gar nichts essen, was ungesund für mich ist und Übergewicht begünstigt. Wenn ich in der Schule richtig aufgepasst habe, war eure Ernährung nicht ganz unschuldig an sehr vielen Todesfällen.« Marie musterte ihn wie eine Lehrerin.

»Das mag sein, aber zum Leben gehört auch genießen. Immer das essen, was dieses dumme Ding vorgibt, zu Zeiten, die es ebenfalls bestimmt, macht keinen Spaß. Dann sterbe ich lieber zehn Jahre früher.«

Geschockt ließ Marie ihre Gabel fallen.

»Nicht der DK gibt vor, wann du essen darfst. Dein Körper signalisiert dem DK, wann er was braucht. Das ist ein sehr großer Unterschied und ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft.«

Helmuth ignorierte ihre Worte. »Kann ich deine Roulade auch noch essen? Du scheinst keinen Hunger zu haben.« Bevor sie antworten konnte, war seine Gabel bereits bedrohlich nah an ihrem Teller.

»Sicher, bediene dich.«

Vielleicht ist er dann ein bisschen besser drauf und ich muss die tierischen Fette nicht zu mir nehmen, dachte sie, ehe sie ihn fragte: »Sag mal, Helmuth, wo hast du eigentlich deine Vitamine?«

Nun lächelte er deutlich und zeigte auf eine Schublade in seinem Nachttisch, während er wie ein Tier das Fleisch in sich hineinstopfte. Marie öffnete das angezeigte Fach und ihr entfuhr ein kleiner Schrei. Es quillte nahezu über mit Vitaminen.

Er scheint seine Tabletten nie zu nehmen, erkannte sie panisch.

Helmuth kicherte. »Da staunst du, was? Ich bin völlig klar im Kopf im Gegensatz zu dir.«

»Helmuth, wenn das die Genüberwachung sieht!«, ermahnte sie ihn.

»Was dann? Denkst du, die schicken einen sechsundneunzig Jahre alten Mann, der eh nächstes Jahr abkratzt, ins Exil?« Er lachte weiter.

»Du könntest früher sterben als geplant!«

»Oh, da habe ich aber Angst. Nicht, dass ich schon am 17. November 2074 sterbe. Das wäre tragisch. Sechsundneunzig Jahre sind ja nicht schon lang genug, besonders wenn man sie in dieser langweiligen Welt hier verbringen muss.«

»Deine geistige Verfassung ist sehr bedenklich, Helmuth. Ich muss leider die Genüberwachung kontaktieren.«

»Viel Spaß dabei. Das hat deine Vorgängerin auch schon getan.«

Aufgeregt wählte sie den Kontakt der Genüberwachung auf ihrem DK und schilderte der Dame die Situation.

»Frau Frey, wir sind uns der Situation mit Herrn Schmidtke bewusst. Wir haben allerdings festgestellt, dass aufgrund seiner körperlichen Verfassung in den letzten Monaten keine Gefahr mehr von ihm ausgeht. Lediglich seine Verschwörungstheorien können befremdlich auf andere wirken. Deshalb haben wir Sie, als beste Absolventin, für seinen Support ausgewählt. Sorgen Sie dafür, dass Herr Schmidtke keinen Kontakt zu anderen Bürgern hat, und versuchen Sie, ihm unsere in seinen Augen schreckliche Welt so angenehm wie möglich zu gestalten.«

Marie wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. Selbst die Genüberwachung hatte ihn aufgegeben. Sie war allein mit einem Grenzgänger, der sich wie ein wildes Tier aufführte, und niemand konnte ihr helfen. Frustriert beendete sie den Anruf und ging zurück zu Helmuth, der unbeeindruckt auf seinem großen Bett saß und sich das Fett von der Roulade vom Mund wischte.

»Glaubst du mir jetzt, dass ich meine Psychopharmaka nicht nehmen muss? Vor einem alten Sack wie mir fürchtet sich niemand mehr.«

»Es sind keine Psychopharmaka, Helmuth. Die individuell angepassten Vitamine, die im Übrigen jeder seit dem Tag seiner Geburt erhält, stellen unsere Gesundheit sicher.«

Blitzschnell konterte er: »Nein, sie sorgen dafür, dass alle so verstrahlt sind wie du und nichts hinterfragen.«

Marie atmete schwer aus. »Du wirst am besten wissen, was für dich gut ist. Komm, ich helfe dir ins Bad. Du hast dich überall mit Fleischsoße eingeschmiert.«

Darauf hatte er keine Antwort parat. Marie spürte seine Verwirrung. Sicherlich hatte er erwartet, dass sie weiter auf ihn einreden würde, aber sie war die Beste ihres Jahrgangs.

Er wird schon noch merken, wie schön es hier ist.

KAPITEL 3

Marie

Helmuth schnarchte leise durch den offenen Mund. Ein dünner Faden Speichel, der sich den Weg über seine Wange bahnte, würde jeden Moment auf das Kopfkissen tropfen.

Marie hielt ihren DK an seinen. Tiefschlafphase, perfekt, stellte sie fest und schlich vorsichtig aus der Wohnung, um sich mit ihrer besten Freundin zu treffen. Da Helmuth glücklicherweise ihre Roulade verzehrt hatte, konnte sie jetzt etwas Gesundes zu sich nehmen. Mittlerweile war sie richtig hungrig. Das bestätigte auch ihr DK, indem er das Armband orange leuchten ließ. Bis sich die Anzeige rot färbte, hatte Marie zwar noch Zeit, aber sie sah sie am liebsten in einem saftigen Frühlingsgrün.

Draußen vor Helmuths Wohnung versuchte Marie die warmen Strahlen der Abendsonne, die durch die dichten Baumkronen drangen, zu genießen. Doch der Hunger ließ sie den Anblick der wunderschönen Allee voller Ahornbäume nicht auskosten. Die Blätter waren mittlerweile hellgrün und in ein paar Wochen würden sie sich in die typischen Herbsttöne färben. Marie freute sich schon auf das Farbspektakel aus gelb, orange und rot.

Plötzlich durchbrach ihr knurrender Magen die Stille. Sie überprüfte ihren DK, mit dem sie das Shuttle zum Restaurant gebucht hatte.

»In weniger als zwei Minuten bringt uns ein Shuttle ins Restaurant«, sagte sie zu ihrem Bauch, der nicht aufhören wollte zu grummeln. Sie prüfte, ob ihr DK die Fahrt an ihr Ziel bereits verknüpft hatte, damit er nicht Alarm schlug. Er hatte es erkannt. Und er zeigte auch an, dass ihr Shuttle bereits fast am Ziel war.

Als sie wieder aufblickte, kam es direkt vor ihren Füßen zum Stehen. Sie liebte die digitalisierte Welt und fragte sich, was Helmuth bloß so verbitterte. So gut konnten Pommes doch nicht schmecken, dass man bereit wäre alles aufzugeben, was die Neue Welt einem bot. Früher waren unzählige Menschen bei Verkehrsunfällen gestorben. Seit dem Einsatz der Ground Shuttles, die autonom fuhren, und vom natürlichen Magnetfeld der Erde angetrieben wurden, gab es keine Verkehrstoten mehr.

Verständnislos schüttelte sie den Kopf und stieg ein. Von den zehn Sitzen, die jedes Shuttle bot, war der vordere Teil komplett leer. Marie wollte sich gerade setzen, als hinter ihr eine Männerstimme ertönte.

»Hey, Marie.« Es war Nils, ihr ehemaliger Klassenkamerad aus der Supporter-Schule, der heute Morgen bei der Ehrung neben ihr gesessen hatte. Sofort spürte sie wieder dieses Kribbeln im Bauch. Marie hielt inne und versuchte, das Gefühl einzuordnen. Doch das Shuttle setzte sich schwebend in Bewegung. Schnell ging sie zu Nils und nahm neben ihm Platz.

»Alles gut bei dir?«, fragte Nils besorgt, während er auf ihr Armband schaute.

»Ja. Ich glaube, ich reagiere ein bisschen zu sehr auf den Stress. Immerhin war heute unser erster Arbeitstag und mein alter Held ist nicht gerade einfach.« Marie versuchte, mit einem gekünstelten Lächeln ihre Erlebnisse zu überspielen.

»Das glaube ich dir. Gewünscht hätte ich mir Helmuth auch nicht. Der wirkte bei der Feier sehr unzufrieden.«

»Allerdings. Er hasst unsere Welt. So stelle ich mir zumindest Hass vor. Nicht einmal die Genüberwachung kann mir helfen, da sie ihn bereits aufgegeben hat. Aber egal. Um wen darfst du dich kümmern?«

»Um Margot, die saß direkt neben Helmuth. Bis jetzt ist sie sehr gut drauf, auch wenn sie den ganzen Tag an ihrem DK hängt. Eigentlich braucht sie mich gar nicht. Sie ist DK-Profi und bestellt sogar ihr Essen selbst. Ich denke, meine Aufgabe ist es, sie ein bisschen vom Bildschirm weg und mehr in die Natur zu bringen.« Nils schaute sie ratlos an, was Marie zum Lachen brachte. Sie erinnerte sich an Helmuths genervten Blick heute Morgen, weil Margot ihre Finger nicht von dem kleinen Touch-Display lassen konnte.

»Ich glaube, unsere beiden Helden werden keine Freunde mehr. Helmuth braucht definitiv mehr Routine bei der Benutzung seines DKs. Er scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass er ohne ihn nicht überleben kann«, sagte Marie enttäuscht.

»Das klingt anstrengend. Aber sei froh, dass sich der DK wenigstens über Sonnen- sowie Körperwärme selbst auflädt. Dann musst du dich nicht darum kümmern.« Nils schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, dann fragte er: »Wo willst du eigentlich hin?«

»Ich bin mit meiner Freundin Sabine zum Essen verabredet. Wir wollen ins Peking.«

»Klingt gut. Ich gehe mit ein paar Fußballkollegen ins Universe. Kommt doch nach eurem Dinner auch vorbei. Wir haben heute angefangen zu arbeiten, das muss doch gefeiert werden.«

Marie überlegte kurz. Mit Nils noch was trinken zu gehen, hörte sich verlockend an, dennoch antwortete sie: »Ich weiß nicht, ob ich danach fit genug bin. Der Tag war sehr anstrengend.«

»Hui, dann trink mal lieber einen starken Smoothie, das gibt dir wieder ein wenig Energie.« Nils holte einen giftgrünen Saft aus der Minibar, über die jedes Shuttle verfügte. »Hier, der ist neu, mit extra viel Vitamin C.«

Marie nahm die Flasche und betrachtete sie skeptisch. Dann trank sie einen großen Schluck. Die ganzen Vitamine prickelten ihr auf der Zunge und sie musste sich schütteln.

»Haha, ist der dir zu stark?«, neckte Nils.

»Heute kann es gar nicht stark genug sein«, erwiderte sie und nahm noch einen Schluck. Das Shuttle stoppte und die bunten Lichter des Peking signalisierten ihr, dass dies ihre Haltestelle war.

»Oh, ich muss hier raus. Viel Spaß im Universe.« Schnell verband sie ihren DK mit dem von Nils und fügte hinzu: »Dann kannst du sehen, ob wir noch nachkommen. Vielleicht bis später.« Als sie aus dem Shuttle gestiegen war, drehte sie sich noch einmal zu Nils um und zwinkerte ihm zu. Tatsächlich hatte sie wieder mehr Energie. Auch wenn ihr orangefarbenes Armband das nicht zu bemerken schien.

Die traditionelle Musik Chinas erklang in ihren Ohren. Je weiter sie sich dem Restaurant näherte, desto deutlicher hörte sie die exotischen Klänge. Sie atmete tief ein. Der appetitliche Duft verschiedener Gewürze strömte durch ihre Nase und lockte sie förmlich an.

Maries Magen knurrte laut und auf ihrem DK startete ein blinkender Timer. Er erkannte, dass sie sich in der Nähe des Ziels befand, und würde die Phase des Hungerns nicht länger dulden. Nervös prüfte sie Sabines Ankunftszeit auf ihrem DK.

Zwei Minuten noch. Das passt in meinen Countdown.

Um sich von ihrem Hunger abzulenken, lief Marie den LED-Weg entlang, der sie zum Eingang führte. Die Illusion war perfekt. Es wirkte, als würde sie auf einem kleinen Steg aus Holz laufen, unter dem Koi-Karpfen zwischen weißen Seerosen schwammen – einfach wunderschön. Die Städte der United World leuchteten so herrlich. Nahezu alle öffentlichen Gebäude waren mit LED-Platten versehen, die ihnen einen individuellen Touch verliehen und die Welt auch im tristen Winter bunt erscheinen ließen. Den benötigten Strom produzierten die Einheiten überwiegend selbst. Zusätzliche Energie erzeugte Afrika mit hoch effizienten Solaranlagen für alle Länder der United World. So hatte jedes Mitglied der Gemeinschaft, zu der heute achtundneunzig Prozent der Weltbevölkerung gehörten, seine feste Aufgabe. Damit konnte allen eine faire Verteilung des Geldes zugesichert werden. Deutschland galt als die IT-Nation und war zuständig für die komplette Software der United World. Spanien verantwortete die Medikamentenproduktion und Frankreich organisierte den Bau der Ground Shuttles.

Marie stand jetzt direkt vor dem Restaurant, das aussah wie ein traditioneller chinesischer Tempel. Die prächtige Fassade war mit goldenen Verzierungen versehen und die Holzbalken mit farbenfrohen LED-Malereien verziert. Jeder Balken erzählte eine eigene Geschichte. Der obere über dem Eingang war mit kleinen Vögeln geschmückt, auf der linken Seite prangten Fische und rechts waren asiatische Blumen abgebildet. Sie konnte den Duft der Blüten riechen und die Vögel zwitschern hören. Sie fühlte sich, als wäre sie tatsächlich in China. Marie ließ das Plätschern des Wassers, das Gezwitscher der Tiere und die wohltuenden Gerüche auf all ihre Sinne wirken. Genüsslich schloss sie ihre Augen und entfloh mit ihren Gedanken in das fremde Land.

»Wartest du schon lang?«

Erschrocken öffnete Marie ihre Lider und entdeckte ihre beste Freundin vor sich. Ihre kurzen, braunen Haare ließen sie frech erscheinen, obwohl sie das nicht war. Mit ihren ein Meter fünfundsiebzig war sie gut einen Kopf größer als Marie.

»Nein, nur zwei Minuten. Alles gut. Komm, lass uns rein. Ich brauche dringend etwas zu essen.« Sie zeigte entschuldigend auf ihren Timer.

»Ist die Arbeit so anstrengend, dass du nicht mehr zum Essen kommst? Dann will ich meine Schule nicht beenden.«

Marie ging bereits durch die Tür.

»Erzähle ich dir gleich.«

Die Tür schloss sich hinter den beiden und schon befanden sie sich nicht mehr in Deutschland, sondern in China. Die Freundinnen standen in einer prachtvollen Illusion eines chinesischen Tempels. Die äußeren Wände streamten live das originale Restaurant in Peking. Wer am Rand saß, durfte einen Gast aus China seinen Tischnachbarn nennen. Über die DKs konnten sie sogar miteinander kommunizieren. Marie mochte sich kaum