Zum Leuchtturm - Virginia Woolf - E-Book

Zum Leuchtturm E-Book

Virginia Woolf

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Beschreibung

Das Ehepaar Ramsay, ihre acht Kinder und mehrere Hausgäste verbringen den Sommer in ihrem Landhaus auf der schottischen Isle of Skye. James, der Jüngste, wünscht sich nichts sehnlicher, als mit dem Boot Zum Leuchtturm hinauszufahren. »Natürlich, wenn es schön wird«, versichert Mrs Ramsay. »Aber es wird nicht schön«, erklärt Mr Ramsay – und macht alle Hoffnung des Sechsjährigen erbarmungslos zunichte. Zehn Jahre und der ganze Erste Weltkrieg vergehen, bis die Fahrt stattfinden kann.In Zum Leuchtturm zeichnet Virginia Woolf auf meisterhafte Weise das innere Erleben von einer Handvoll Figuren an wenigen Tagen in den Jahren 1910 und 1920 nach, erforscht Machtverhältnisse in Familienbeziehungen und zwischen den Geschlechtern und nähert sich ihren eigenen Kindheitserinnerungen.

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Seitenzahl: 345

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Virginia Woolf

Zum Leuchtturm

Roman

Aus dem Englischen von Karl Lerbs und Cornelia Künne

Kampa

IDas Fenster

1

»Ja, natürlich, wenn es morgen schön ist«, sagte Mrs Ramsay. »Aber dann musst du zeitig aus den Federn«, fügte sie hinzu.

Für ihren Sohn waren diese Worte eine außerordentliche Freude, als stünde damit fest, dass die Unternehmung stattfinden würde und das Wunderbare, nach dem er sich, seit Jahren und Jahren, so schien es ihm, gesehnt hatte, nun, nach dem Dunkel einer Nacht und einem Tag Bootsfahrt, zum Greifen nahe wäre. Und da er schon jetzt, mit seinen sechs Jahren, zur großen Sippe derer gehörte, die ein Gefühl nicht vom anderen zu trennen wissen und hinnehmen müssen, dass Zukunftsaussichten mit ihren Freuden und Kümmernissen die nächsten Dinge des täglichen Lebens überschatten, da für solche Menschen schon in frühester Kindheit jede Drehung im Räderwerk der Empfindungen die Kraft besitzt, den Augenblick, den sie verdüsternd oder lichtstrahlend trifft, ganz und gar zu durchdringen und erstarren zu lassen, verlieh James Ramsay, der auf dem Fußboden saß und Bilder aus dem Katalog der Army & Navy Stores ausschnitt, bei den Worten seiner Mutter dem Bild eines Kühlschranks himmlische Glückseligkeit. Es wurde von Freude umhüllt. Die Schubkarre, der Rasenmäher, das Rauschen der Pappeln, gilbende Blätter vor dem Regen, das Krächzen von Krähen, das Tappen von Besen, Kleidergeraschel – all das war so farbig und deutlich in seiner Vorstellung, dass er schon seinen privaten Code, seine Geheimsprache, hatte, obwohl er mit seiner hohen Stirn und den zornig funkelnden blauen Augen, makellos ehrlich und rein, das Abbild starrer und unnachgiebiger Ernsthaftigkeit zu sein schien und beim Anblick menschlicher Unzulänglichkeit oftmals die Stirn runzelte, sodass seine Mutter, als sie ihn säuberlich die Schere um den Kühlschrank herumführen sah, ihn sich ganz in Rot und Hermelin auf dem Richterstuhl vorstellte oder als Leiter einer ebenso ernsten wie bedeutsamen Mission in einer Staatskrise.

»Es wird aber«, sagte sein Vater, als er vor der Fenstertür stehen blieb, »nicht schön sein.«

Wäre eine Axt zur Hand gewesen, ein Feuerhaken oder sonst irgendeine Waffe, die ein Loch in seines Vaters Brust hätte reißen und ihn töten können, jetzt auf der Stelle, James hätte danach gegriffen. So enorm waren die Empfindungen, die Mr Ramsay durch seine bloße Gegenwart in seinen Kindern auslöste, wenn er wie jetzt, schmal wie ein Messer und scharf wie dessen Schneide, spöttisch grinsend dastand, nicht nur weil es ihm Spaß machte, seinen Sohn zu enttäuschen und seine Frau lächerlich zu machen, die doch in jeglicher Hinsicht zehntausendmal besser war als er (dachte James), sondern auch aus verstohlenem Stolz auf die Treffsicherheit seines Urteils. Was er sagte, war richtig. Es war immer richtig. Er war keiner Unwahrheit fähig, deutelte niemals an Tatsachen herum, änderte niemals ein unangenehmes Wort zur Freude oder zu Gefallen irgendeines sterblichen Wesens, schon gar nicht seiner eigenen Kinder, die, da sie seinen Lenden entsprungen waren, von klein auf begreifen sollten, dass das Leben schwierig war, Tatsachen nicht mit sich handeln ließen und die Fahrt zu jenem sagenhaften Land, auf der unsere hellsten Hoffnungen erlöschen und unsere gebrechlichen Schiffe im Finstern zerschellen (hier straffte sich Mr Ramsay und richtete seine zusammengekniffenen kleinen blauen Augen auf den Horizont), vor allem anderen Mut, Wahrhaftigkeit und Hartnäckigkeit brauchte.

»Vielleicht wird es ja doch schön – ich glaube, dass es schön wird«, sagte Mrs Ramsay und drehte den rötlich braunen Strumpf, an dem sie strickte, ungeduldig zu einer Spirale. Wenn sie ihn heute Abend fertigbekam und sie morgen schließlich doch zum Leuchtturm fuhren, sollte ihn der Leuchtturmwärter für seinen kleinen Jungen haben, bei dem Verdacht auf Hüfttuberkulose bestand; zusammen mit einem Packen alter Zeitschriften, etwas Tabak und was sie sonst noch finden konnte an Dingen, die niemand brauchte, die bloß im Zimmer herumlagen, um sie diesen armen Kerlen zu schenken, die sich doch zu Tode langweilen mussten, wenn sie den ganzen Tag so dasaßen und nichts zu tun hatten, als die Lampe blank zu reiben, den Docht zu stutzen und ihr winziges Fleckchen Garten zu harken; etwas also, um sie aufzumuntern. Denn wie würde man selbst das wohl finden, einen ganzen Monat lang und vielleicht noch länger bei stürmischem Wetter an einen Felsen, nicht größer als ein Tennisplatz, gefesselt zu sein?, fragte Mrs Ramsay, weder Briefe noch Zeitungen zu bekommen und keine Menschenseele zu erblicken; sofern man verheiratet ist, seine Frau nicht zu sehen und nicht zu wissen, wie es den Kindern geht – ob sie womöglich krank sind, ob sie hingefallen sind und sich Arme oder Beine gebrochen haben; immer nur zu sehen, wie sich die gleichen öden Wellen brechen, Woche um Woche, und dann, wie ein furchtbarer Sturm aufkommt und die Fenster mit Gischt bedeckt sind und Vögel gegen die Lampe geschleudert werden und der ganze Turm schwankt und man nicht mal die Nase hinausstecken mag, aus Angst, ins Meer gefegt zu werden? Wie würde man selbst das wohl finden?, fragte sie und meinte damit vor allem ihre Töchter. Deshalb, fügte sie in merklich verändertem Ton hinzu, müsse man ihnen mitbringen, was man nur könne, um ihnen das Leben angenehmer zu machen.

»Genau nach Westen«, sagte der Atheist Tansley und hielt seine dürren Finger gespreizt, sodass der Wind hindurchblasen konnte; denn er nahm an Mr Ramsays Abendspaziergang teil, auf und ab, auf und ab über die Terrasse. Das hieß, dass der Wind aus einer Richtung kam, die für die Landung am Leuchtturm denkbar ungünstig war. Er sagte, das gestand Mrs Ramsay sich ein, meist unangenehme Dinge; es war gehässig von ihm, die Bemerkung einzustreuen und James nur noch mehr zu enttäuschen; trotzdem duldete sie nicht, dass man sich über ihn lustig machte. Den »Atheisten« nannten sie ihn; den »kleinen Atheisten«. Rose machte sich über ihn lustig; Prue machte sich über ihn lustig; Andrew, Jasper, Roger machten sich über ihn lustig; sogar der alte Badger, der keinen einzigen Zahn mehr hatte, schnappte nach ihm, weil er (wie Nancy es ausdrückte) der hundertzehnte junge Mann war, der ihnen bis hinauf zu den Hebriden nachgelaufen war, wo es doch so viel netter war, unter sich zu bleiben.

»Unsinn«, sagte Mrs Ramsay in strengem Ton. Abgesehen von der Angewohnheit zu übertreiben, die die Kinder von ihr hatten, und der stillschweigenden Feststellung (die berechtigt war), dass sie zu viele Leute einlud und nun sogar einige im Ort unterbringen musste, konnte sie Unhöflichkeit gegen ihre Gäste nicht vertragen, besonders gegen junge Männer nicht, die arm wie Kirchenmäuse waren, »ungemein fähig«, wie ihr Gatte sagte, große Bewunderer von ihm, und für die Ferien herkamen. Tatsächlich nahm sie das ganze andere Geschlecht unter ihre Fittiche; aus Gründen, die sie nicht erklären konnte, weil sie ritterlich waren und tapfer, weil sie Verträge aushandelten, in Indien herrschten, das Finanzwesen kontrollierten; schließlich auch, weil sie ihr gegenüber eine Haltung einnahmen, die jede Frau als angenehm empfinden musste, irgendwie vertrauensvoll, kindlich, ehrerbietig, was eine alte Frau bei einem jungen Mann akzeptieren konnte, ohne ihre Würde zu verlieren, und der Himmel strafe das Mädchen – gebe Gott, dass ein solches nicht unter ihren Töchtern war! –, das nicht dessen Wert und alles, was dazugehörte, bis ins Mark spürte.

Mit Strenge wandte sie sich Nancy zu. Er sei ihnen nicht nachgelaufen, sagte sie, er sei eingeladen worden.

Es musste ein Ausweg aus alldem gefunden werden. Vielleicht, so sagte sie sich seufzend, gab es einen einfacheren Weg, einen weniger beschwerlichen. Wenn sie in den Spiegel blickte und ihr graues Haar sah, die eingefallenen Wangen, mit fünfzig, dachte sie, vielleicht hätte sie geschickter mit allem umgehen können – mit ihrem Mann, mit dem Geld, mit seinen Büchern. Aber was sie selbst betraf, so würde sie nie auch nur für eine einzige Sekunde ihre Entscheidung bereuen, Schwierigkeiten ausweichen oder ihre Pflichten vernachlässigen. Sie war nun furchterregend anzusehen, und nachdem sie so streng über Charles Tansley gesprochen hatte, wagten ihre Töchter – Prue, Nancy, Rose – nur verstohlen von ihren Tellern aufzublicken und mit den ketzerischen Vorstellungen zu liebäugeln, die sie sich für ihr eigenes Leben erdacht hatten, das anders wäre als ihres; ein Leben in Paris etwa; ein wilderes Leben; nicht von der Rücksicht auf einen Mann bestimmt; denn in ihrer aller Gedanken war ein Zweifel an Ehrerbietung und Ritterlichkeit, an der Bank of England, der Herrschaft in Indien, an beringten Fingern und Spitze; wenn auch alldem für sie etwas vom Wesen der Schönheit anhaftete, die sich in ihren Mädchenherzen mit dem Eindruck von Männlichkeit verband, sodass sie, wenn sie unter den Augen ihrer Mutter bei Tisch saßen, voll Ehrfurcht auf diese seltsame Strenge blickten, diese maßlose Höflichkeit – so hebt eine Königin den schmutzigen Fuß eines Bettlers aus dem Kot, um ihn zu waschen –, während ihre Mutter sie so ungeheuer streng wegen dieses elenden Atheisten schalt, der ihnen bis hinauf zur Isle of Skye nachgelaufen war – oder, um es genau auszudrücken, dorthin eingeladen worden war.

»Morgen kann man nicht anlegen beim Leuchtturm«, sagte Charles Tansley, der mit ihrem Gatten vor der Fenstertür stand, und schlug die Hände zusammen. Jetzt hatte er wirklich genug gesagt. Sie wünschte, die beiden möchten James und sie in Frieden lassen und ihr Gespräch wieder aufnehmen. Sie sah ihn an. So ein kümmerliches Exemplar, fanden die Kinder, nur Haut und Knochen. Er könne nicht Kricket spielen; er tapse; er watschele. Er sei eine gallige Bestie, sagte Andrew. Sie wüssten genau, was er am liebsten tue – immer nur auf und ab, auf und ab gehen mit Mr Ramsay und sagen, wer diesen und wer jenen Preis gewonnen habe, wer ein »erstrangiger Könner« in lateinischen Versen sei, wen er für »einen Blender, aber stockfaul« halte, wer »zweifellos der fähigste Kopf am Balliol« sei, wer sein Licht zeitweilig in Bristol oder Bedford unter den Scheffel stellen müsse – doch werde man gewiss noch von ihm hören, später, wenn seine Prolegomena zu irgendeinem Teilbereich der Mathematik oder der Philosophie – Mr Tansley hatte die ersten Seiten bei sich; falls Mr Ramsay sie anschauen wolle – das Licht der Welt erblickten. Über solche Sachen würden sie reden.

Manchmal musste auch sie lachen. Neulich hatte sie einmal von »haushohen Wellen« gesprochen. Ja, sagte Charles Tansley, die See sei etwas unruhig. »Sind Sie nicht bis auf die Haut durchnässt?«, hatte sie gefragt. »Feucht, aber nicht durch und durch nass«, hatte Mr Tansley gesagt, seinen Ärmel prüfend zwischen zwei Finger genommen, seine Socken befühlt.

Aber nicht das sei es, worüber sie sich ärgerten, sagten die Kinder. Es sei nicht sein Gesicht; es sei nicht sein Betragen. Er selbst sei es – seine Einstellung. Wenn sie über irgendetwas Interessantes redeten, über andere Leute, Musik, Geschichte, ganz gleich worüber, selbst wenn sie nur sagten, dass es ein schöner Abend sei und weshalb man eigentlich nicht im Freien sitzen wolle, ergebe sich alsbald Anlass, über Charles Tansley zu klagen: Er sei nicht eher zufrieden, ehe er die Angelegenheit um und um gedreht habe, um sich selbst darin zu spiegeln, sie aber herabzusetzen; er bringe sie alle miteinander zur Weißglut durch die beißende Art, mit der er alles bis auf die Knochen auseinandernehme. Er sei imstande, sagten sie, in eine Gemäldegalerie zu gehen und zu fragen, ob einem seine Krawatte gefalle – weiß Gott nicht, sagte Rose.

Heimlich wie die Hirsche verschwanden die acht Söhne und Töchter von Mr und Mrs Ramsay, sobald die Mahlzeit beendet war, vom Esstisch in ihre Schlafzimmer, ihre Schlupfwinkel in diesem Haus, wo es sonst keinen Winkel gab, um etwas, um alles zu bereden: Tansleys Krawatte; die Durchsetzung der Reform Bill; Seevögel und Schmetterlinge; andere Leute; während die Sonne hereinströmte in jene Dachkammern – die nur durch eine Bretterwand voneinander getrennt waren, sodass man jeden Schritt deutlich hörte und das Schluchzen des Schweizer Mädchens, dessen Vater gerade in einem Graubündner Tal an Krebs starb – und Kricketschläger, flanellene Kleidungsstücke, Strohhüte, Tintenfässer, Farbtöpfe, Käfer und die Schädel kleiner Vögel erhellte und den langen krausen Strähnen Seetang, die an der Wand befestigt waren, den Geruch von Salz und Tang entlockte, den auch die Handtücher hatten, die vom Baden noch voller Sand waren.

Streit, Zwietracht, Meinungsverschiedenheiten, Vorurteile, die in die Fasern des Seins geflochten waren – ach, Mrs Ramsay beklagte es, dass sie so früh schon beginnen sollten. Sie waren so kritisch, ihre Kinder. Sie redeten solchen Unsinn. Mrs Ramsay verließ das Esszimmer, James an der Hand, denn er wollte nicht mit den anderen gehen. Es erschien ihr so unsinnig – Unterschiede auszuklügeln, wenn die Menschen doch weiß Gott auch so schon verschieden genug waren. Die wirklichen Unterschiede, dachte sie, als sie an der Fenstertür stand, reichten aus, reichten vollkommen aus. Was ihr im Augenblick einfiel, war: Reich und Arm, Hoch und Niedrig; wobei sie den Hochgeborenen halb widerwillig einige Achtung zollte, denn floss nicht in ihren eigenen Adern das Blut jenes erlauchten, wenngleich ein wenig sagenhaften italienischen Hauses, dessen Töchter, im neunzehnten Jahrhundert über die englischen Salons verstreut, so entzückend gelispelt und so heftig gewütet hatten; stammten nicht all ihr Witz und ihre Haltung und ihr Temperament von ihnen und nicht von den trägen Engländern oder den kalten Schotten? Gründlicher aber schlug sie sich mit dem anderen Problem herum, Reich und Arm, und mit den Dingen, die sie mit eigenen Augen sah, wöchentlich, täglich, hier oder in London, wenn sie Witwen oder sich abplackende Ehefrauen aufsuchte, eine Tasche am Arm, Notizbuch und Bleistift in der Hand, um in sorgsam gezeichnete Spalten Einkünfte und Ausgaben, Lohnarbeit und Arbeitslosigkeit einzutragen, in der Hoffnung, dass es ihr so gelingen würde, eines Tages nicht mehr eine Privatperson zu sein, deren Wohltätigkeit halb Beschwichtigung ihrer eigenen Empörung, halb Befriedigung ihrer eigenen Neugier war, sondern das, was ihr unausgebildeter Geist so sehr bewunderte: eine Forscherin, die Klarheit in die soziale Frage brachte.

Unlösbare Fragen waren das, so schien ihr, als sie dort stand, James an der Hand haltend. Er war ihr ins Wohnzimmer gefolgt, der junge Mann, über den sie lachten; er stand am Tisch, fingerte an irgendetwas herum, zappelig, linkisch, und fühlte sich ausgeschlossen, wie sie wusste, ohne zu ihm hinzusehen. Alle waren weg – die Kinder; Minta Doyle und Paul Rayley; Augustus Carmichael; ihr Mann – alle waren weg. So wandte sie sich also mit einem Seufzer um und sagte: »Wollen Sie mich begleiten, Mr Tansley, oder ist Ihnen das zu langweilig?«

Sie habe etwas Uninteressantes im Ort zu erledigen; sie müsse noch ein, zwei Briefe schreiben; sie werde vielleicht zehn Minuten brauchen; dann werde sie ihren Hut aufsetzen. Da war sie auch schon wieder, nach zehn Minuten, mit Korb und Sonnenschirm, und sie machte den Eindruck, als sei sie bereit, für einen Ausflug gerüstet, den sie allerdings für einen Augenblick unterbrechen musste, als sie am Tennisplatz vorüberkamen, um Mr Carmichael, der sich da sonnte, die gelben Katzenaugen halb geöffnet, sodass sie wie die einer Katze die schwankenden Zweige oder die ziehenden Wolken zu spiegeln schienen, niemals aber die geringste Spur seiner Gedanken oder Empfindungen, zu fragen, ob er etwas brauche.

Sie seien nämlich auf großer Expedition, sagte sie lachend. Sie gingen in den Ort. »Briefmarken, Briefpapier, Tabak?«, fragte sie, als sie neben ihm stehen blieb. Nein, nein, er brauche nichts. Seine Hände falteten sich fest über seinem ausladenden Bauch, und seine Augen zwinkerten, als hätte er auf ihre Freundlichkeit (sie war verführerisch, aber ein wenig nervös) gern ebenso freundlich geantwortet, könne es aber nicht, da er in einer graugrünen Dämmerseligkeit versunken war, einer unendlich freundlichen und unendlich trägen Wohlgesinntheit, die sie alle umfasst hielt, ohne der Worte zu bedürfen; das ganze Haus; die ganze Welt; alle Menschen darauf; denn er hatte beim Frühstück verstohlen ein paar Tropfen von irgendwas in sein Glas getan, was, so meinten die Kinder, die Streifen munteren Kanariengelbs in seinem schlohweißen Schnurr- und Kinnbart erkläre. Nein, brummte er, er brauche nichts.

Er hätte ein großer Philosoph werden können, sagte Mrs Ramsay, als sie die Straße hinab zum Fischerdorf gingen, habe jedoch voreilig geheiratet. Während sie ihren schwarzen Sonnenschirm sehr gerade hielt und mit unbeschreibbar erwartungsvoller Miene dahinschritt, als rechnete sie damit, gleich hinter der nächsten Ecke jemanden zu treffen, erzählte sie die Geschichte: Eine Affäre mit irgendeinem Mädchen in Oxford; frühe Heirat; Armut; dann nach Indien; ein paar Lyrikübersetzungen, »sehr schön, glaube ich«; wollte den Jungen Persisch und Hindi beibringen – doch wozu? –, ja, und nun lag er da, wie sie ihn eben gesehen hatten, auf dem Rasen.

Charles Tansley fühlte sich geschmeichelt; nachdem man ihm die kalte Schulter gezeigt hatte, empfand er es als Wohltat, dass Mrs Ramsay ihm das erzählte. Er lebte wieder auf. Da sie obendrein die Größe des männlichen Geistes, selbst im Verfall noch, und die Unterordnung aller Ehefrauen – nicht dass sie dem Mädchen einen Vorwurf machen wolle, die Ehe sei, glaube sie, durchaus glücklich gewesen – unter die Arbeit ihrer Männer begrüßte, war er zufriedener mit sich selbst als bislang, und hätten sie jetzt, zum Beispiel, eine Droschke genommen, wäre er nur allzu bereit gewesen, die Fahrt zu bezahlen. Ja, und ihre kleine Tasche – ob er die nicht tragen dürfe? Nein, nein, sagte sie, die trage sie immer selbst. Und das tat sie auch. Ja, er spürte, dass es ihrem Wesen entsprach. Er spürte überhaupt mancherlei, darunter etwas, was ihn besonders erregte und verstörte, aus Gründen, die er nicht hätte benennen können. Er verspürte den Wunsch, dass sie ihn sehen möge, wie er in Talar und Barett in einer Prozession einherschritt. Eine Privatdozentur, eine Professur – zu allem fühlte er sich fähig und sah sich im Geiste schon –, aber was betrachtete sie da? Einen Mann, der ein Plakat anklebte. Das riesige flatternde Blatt glättete sich, und jeder Bürstenstrich enthüllte noch mehr Beine, Reifen, Pferde, strahlendes Rot und Blau, hübsch glatt, bis die Anzeige eines Zirkus die halbe Mauer bedeckte; hundert Reiter, zwanzig Seehunde, Löwen, Tiger … Mit vorgerecktem Kopf, denn sie war kurzsichtig, las sie vor, dass all dies »in diese Stadt kommen wird«. Das sei aber eine schrecklich gefährliche Arbeit für einen einarmigen Mann, rief sie, da oben auf der Leiter zu stehen – der linke Arm war ihm vor zwei Jahren von einer Mähmaschine abgetrennt worden.

»Da gehen wir alle hin!«, rief sie und schritt weiter, als wäre sie durch alle diese Reiter und Pferde in kindliche Begeisterung geraten und hätte ihr Mitleid darüber vergessen.

»Da gehen wir hin«, wiederholte er ihre Worte, stieß sie aber mit einer derartigen Befangenheit hervor, dass sie zusammenzuckte. »Gehen wir in den Zirkus.« Nein, er konnte es nicht richtig sagen. Er konnte es nicht richtig fühlen. Aber warum nicht?, grübelte sie. Was stimmte nur nicht mit ihm? Sie empfand in diesem Augenblick warme Zuneigung für ihn. Ob man ihn denn, so fragte sie, als Kind nie in den Zirkus mitgenommen habe? Niemals, antwortete er, als hätte er genau diese Frage beantworten wollen; als hätte er sich all die Tage danach gesehnt zu sagen, dass sie niemals in einen Zirkus gegangen seien. Die Familie war groß, neun Brüder und Schwestern, und sein Vater ein Mann der Arbeit. »Mein Vater ist Drogist, Mrs Ramsay, er hat einen Laden.« Er selbst hatte schon mit dreizehn sein Brot verdienen müssen. Oft war er im Winter ohne Mantel gelaufen. Am College hatte er niemals die »Gastlichkeit erwidern« können (das waren seine dürren, steifen Worte). Bei ihm musste alles doppelt so lange halten wie bei anderen Leuten; er rauchte den billigsten Tabak, Shag, den auch die alten Männer am Kai rauchten. Er arbeitete hart – sieben Stunden am Tag; sein Thema war jetzt der Einfluss von irgendwas auf irgendwen; sie gingen weiter, und Mrs Ramsay erfasste den Sinn nicht ganz, nur einzelne Wörter: Dissertation … Privatdozentur … Dozentur … Professur. Sie konnte dem hässlichen akademischen Jargon nicht folgen, der da neben ihr abschnurrte; aber sie sagte sich, nun sei ihr klar, warum er wegen des Zirkusbesuchs dermaßen außer sich geraten war, der arme kleine Mann, und umgehend die ganze Geschichte von seinem Vater, seiner Mutter, seinen Brüdern und Schwestern vorbrachte; und sie wollte achtgeben, dass nicht mehr über ihn gelacht wurde; sie würde mit Prue darüber sprechen. Wenn er erzählen könnte, er hätte mit uns ein Stück von Ibsen gesehen – ja, das würde ihm wohl gefallen, dachte sie. Er war doch ein grässlicher Pedant – o ja, ein unerträglicher Langweiler. Denn obwohl sie jetzt im Städtchen waren und durch die Hauptstraße gingen, wo die schweren Wagen über das Kopfsteinpflaster knirschten, redete er immer noch: über Anstellungen, das Lehramt und die arbeitende Bevölkerung, darüber, dass man seiner eigenen Schicht helfen müsse, und über Vorlesungen, bis ihr klar wurde, dass er sein Selbstvertrauen völlig zurückgewonnen, sich vom Zirkus erholt hatte und kurz davor stand (und jetzt empfand sie wieder warme Zuneigung für ihn), ihr zu erzählen – aber da wichen zur Rechten wie zur Linken die Häuser zurück, sie kamen zum Kai, und die Bucht breitete sich vor ihnen aus, und Mrs Ramsay konnte nicht anders als ausrufen: »Oh, wie schön!« Denn vor ihr lag die große Schüssel blauen Wassers; der eisgraue Leuchtturm, fern, streng, in ihrer Mitte; und zur Rechten, so weit der Blick reichte, verdämmernd und abfallend in sanften, niedrigen Bodenfalten, waren die grünen Dünen mit dem wild wogenden Gras, die immerzu davonzulaufen schienen, in irgendein Mondland, wo es keine Menschen gab.

Das sei der Blick, sagte sie und blieb stehen, und ihre Augen wurden grauer, den ihr Mann so liebe.

Sie schwieg einen Moment. Aber jetzt seien, sagte sie, Künstler hier aufgetaucht. Und richtig, da stand schon einer, nur ein paar Schritte entfernt, mit Panamahut und gelben Stiefeln, der ernsthaft, schwärmerisch, entrückt, obwohl zehn kleine Jungen ihm zusahen, mit einem Ausdruck tiefer Befriedigung auf dem runden roten Gesicht fixierte, und nachdem er fixiert hatte, eintauchte; die Spitze seines Pinsels in ein weiches Häufchen aus Grün oder Rosa stippte. Seit vor drei Jahren Mr Paunceforte hier gewesen sei, sähen alle Bilder so aus, sagte sie: grün und grau, mit zitronenfarbenen Segelbooten und rosa Frauen am Strand.

Welche Mühen hingegen, sagte sie mit einem Seitenblick im Vorübergehen, hätten die Freunde ihrer Großmutter auf sich genommen; erst hätten sie ihre Farben selbst gemörsert und gemischt und dann nasse Tücher darübergelegt, um sie feucht zu halten.

Dem entnahm Mr Tansley, dass sie ihm sagen wollte, das Bild des Mannes sei Pfusch. Sagte man so? Die Farben seien nicht solide? Sagte man so? Unter dem Einfluss jener enormen Erregung, die während des Spaziergangs immer größer geworden war, im Garten begonnen hatte, als er ihre Tasche hatte tragen wollen, in der Stadt gewachsen war, als er ihr alles über sich hatte sagen wollen, fing er an, sich selbst und alles, was er je erlebt hatte, ein wenig verzerrt zu sehen. Es war schrecklich merkwürdig.

Da stand er nun im Wohnzimmer des muffigen kleinen Hauses, in das sie ihn mitgenommen hatte, und wartete auf sie, während sie für einen Augenblick nach oben ging, um eine Frau zu besuchen. Er hörte ihren raschen Schritt über sich; hörte ihre Stimme – erst fröhlich, dann gedämpft; sah sich die Läufer an, die Teewagen, die Lampenschirme; wartete ziemlich ungeduldig; dachte mit gespannter Vorfreude an den Heimweg, entschlossen, ihre Tasche zu tragen; hörte sie dann herauskommen; eine Tür schließen; sagen, sie sollten die Fenster offen und die Türen geschlossen halten; vorbeikommen, wenn sie irgendetwas brauchten (sie musste mit einem Kind sprechen), worauf sie, plötzlich, hereinkam, einen Augenblick stumm dastand (als hätte sie da oben eine Rolle spielen müssen und könnte nun einen Augenblick sie selbst sein), ganz reglos einen Augenblick vor einem Bild der Königin Victoria stand, die die blaue Schärpe des Hosenbandordens trug; und mit einem Mal wusste er, dies war es: Dies war es – sie war der schönste Mensch, den er je gesehen hatte.

Mit Sternen in den Augen und Schleiern im Haar, mit Zyklamen und wilden Veilchen – was für einen Unsinn dachte er da? Sie war mindestens fünfzig; sie hatte acht Kinder. Sie schritt durch Blütenfelder und barg Knospen, die geknickt waren, an ihrer Brust, Lämmer, die gestrauchelt waren; Sterne in ihren Augen und Wind in ihrem Haar … Er nahm ihre Tasche.

»Auf Wiedersehen, Elsie«, sagte sie, und sie gingen die Straße hinauf, sie hielt ihren Sonnenschirm sehr gerade und schritt mit erwartungsvoller Miene dahin, als rechnete sie damit, gleich hinter der nächsten Ecke jemanden zu treffen, während Charles Tansley sich zum ersten Mal in seinem Leben außerordentlich stolz fühlte; ein Mann, der in einem Straßengraben schaufelte, hörte zu schaufeln auf und sah sie an; ließ die Arme sinken und sah sie an; Charles Tansley fühlte sich außerordentlich stolz; fühlte den Wind und die Zyklamen und die Veilchen, denn er ging zum ersten Mal in seinem Leben neben einer schönen Frau. Und er hatte die Macht über ihre Tasche.

2

»Aus der Fahrt zum Leuchtturm wird nichts, James«, sagte er, an der Fenstertür stehend; er platzte ungeschickt damit heraus, gab sich aber aus Rücksicht auf Mrs Ramsay Mühe, seinen Ton so weit zu mäßigen, dass wenigstens ein Anschein von Freundlichkeit gewahrt blieb.

Abscheulicher kleiner Mann, dachte Mrs Ramsay, warum muss er das immer wieder sagen?

3

»Vielleicht scheint ja die Sonne, wenn du morgen früh aufwachst, und die Vögel singen«, sagte sie mitfühlend und strich ihrem kleinen Jungen das Haar glatt, denn sie sah, dass die hämische Äußerung ihres Mannes, es werde nicht schön sein, ihm alle Freude genommen hatte. Diese Fahrt zum Leuchtturm war ihm zur Leidenschaft geworden, das sah sie, und nun, als hätte ihr Gatte nicht schon genug gesagt, mit seiner hämischen Äußerung, es werde morgen nicht schön sein, musste dieser abscheuliche kleine Mann es ihm noch einmal unter die Nase reiben.

»Vielleicht wird es morgen ja schön«, sagte sie und strich ihm das Haar glatt.

Sie konnte jetzt nichts weiter tun, als den Kühlschrank zu bewundern und die Seiten des Stores-Katalog umzublättern, in der Hoffnung, dass sie vielleicht so etwas wie einen Rechen oder eine Mähmaschine fand, die mit ihren Zinken und Stielen allergrößte Sorgfalt und Geschicklichkeit beim Ausschneiden verlangten. All diese jungen Männer äfften doch, dachte sie, ihren Mann nach; er sagte, es werde regnen; sie sagten, es werde einen regelrechten Wirbelsturm geben.

Hier aber wurde, als sie gerade eine Seite umblätterte, ihre Suche nach dem Bild eines Rechens oder einer Mähmaschine plötzlich gestört. Das brummende Gemurmel, in unregelmäßigen Abständen unterbrochen, wenn sie die Pfeife aus dem Mund nahmen oder in den Mund steckten, dem sie (während sie in der Fenstertür saß) zu ihrer Beruhigung entnommen hatte, dass die Männer noch immer behaglich redeten, wenn sie auch nicht verstehen konnte, was sie sagten; dieses Geräusch, das eine halbe Stunde gedauert und sich sänftigend in die Skala der andringenden Geräusche eingefügt hatte, wie das Aufprallen von Bällen auf Schläger und das jähe, scharfe, bellende »Ha, da! Ha, da!« der Kinder beim Kricket, war verstummt; sodass das monotone Anbranden der Wellen am Strand, die sonst meist einen gemessenen, beschwichtigenden Takt zu ihren Gedanken schlugen und, wenn sie bei den Kindern saß, die Worte eines alten Wiegenliedes zu wiederholen schienen, das die Natur murmelte: »Ich beschütze dich – ich bin deine Zuflucht«, manchmal jedoch plötzlich und unerwartet, besonders dann, wenn ihre Gedanken sich etwas von dem lösten, womit sie gerade beschäftigt war, nicht solch freundliche Bedeutung hatten, sondern gleichsam als gespenstisches Trommelrollen unbarmherzig den Takt des Lebens schlugen, einen an die Zerstörung der Insel und ihr Versinken im Meer denken ließen und sie, deren Tag in lauter hastigen Verrichtungen verging, daran erinnerten, dass alles flüchtig sei wie ein Regenbogen – dieses Geräusch nun, das von anderen Geräuschen verdeckt und überlagert worden war, dröhnte ihr plötzlich hohl in den Ohren und ließ sie schaudernd auffahren.

Sie hatten aufgehört zu reden; das war die Erklärung. In einer Sekunde fiel sie aus der Spannung, die sie gepackt hatte, in die entgegengesetzte Stimmung, die, als sollte sie für ihren unnötigen Gefühlsaufwand entschädigt werden, kühl, belustigt, ja gar ein wenig bösartig war: Der arme Charles Tansley musste abgeschüttelt worden sein. Das machte ihr wenig aus. Wenn ihr Mann Opfer verlangte (und das tat er), so warf sie ihm mit Freuden Charles Tansley hin, der ihrem kleinen Jungen so zugesetzt hatte.

Einen Augenblick noch lauschte sie mit erhobenem Kopf, als wartete sie auf ein vertrautes Geräusch, ein gewohntes und regelmäßiges Geräusch; als sie dann hörte, dass im Garten, wo ihr Mann auf der Terrasse auf und ab lief, so etwas wie rhythmischer Sprechgesang einsetzte, etwas zwischen Krächzen und Singen, war sie wieder einmal beruhigt, denn nun wusste sie, dass alles in Ordnung war, blickte auf den Katalog in ihrem Schoß und fand das Bild eines Taschenmessers mit sechs Klingen, das James nur ausschneiden konnte, wenn er sehr behutsam war.

Plötzlich ein lauter Schrei, wie von einem Schlafwandler, einem halbwachen, etwas wie:

Bestürmt von der Kugeln und Bomben Wut …,

der ihr mit äußerster Heftigkeit ins Ohr drang, worauf sie sich besorgt umsah, um zu schauen, ob noch jemand ihn hörte. Nur Lily Briscoe, stellte sie beruhigt fest; und das machte nichts. Aber beim Anblick des Mädchens, das malend am Rand des Rasens stand, fiel ihr ein: Sie sollte den Kopf möglichst in derselben Haltung lassen, für Lilys Bild. Lilys Bild! Mrs Ramsay lächelte. Lily Briscoe mit ihren chinesischen Äuglein und ihrem knittrigen Gesicht würde niemals heiraten; man konnte ihre Malerei nicht sehr ernst nehmen; aber sie war ein selbstständiges kleines Geschöpf, Mrs Ramsay hatte sie deshalb gern, und so senkte sie, ihres Versprechens eingedenk, den Kopf.

4

Er rannte tatsächlich fast ihre Staffelei um, als er mit rudernden Armen auf sie zustürmte und brüllte: »Wir ritten kühnlich und ritten gut«, aber gnädigerweise machte er eine scharfe Kurve und ritt davon, um, so vermutete sie, auf den Höhen von Balaklawa einen ruhmreichen Tod zu sterben. Kein Mensch war gleichzeitig so lächerlich und so beängstigend. Aber solange er damit weitermachte, herumruderte, brüllte, war sie in Sicherheit; da stand er nicht still und sah ihr Bild an. Und das war es, was Lily Briscoe nicht hätte ertragen können. Selbst wenn sie auf die Fläche, die Kontur, die Farbe, auf Mrs Ramsay achtgab, die mit James in der Fenstertür saß, überwachte sie ihre Umgebung, damit sich nicht jemand heranschleichen konnte und sie plötzlich erleben musste, dass ihr Bild betrachtet wurde. Nun aber, da sie, alle Sinne geschärft, angespannt schaute, bis die Farbe der Mauer und der Jackmanii darüber ihr in den Augen brannte, spürte sie, dass jemand aus dem Haus kam, auf sie zu; erahnte jedoch am Klang der Schritte, dass es William Bankes war; weshalb sie, obgleich ihr Pinsel zitterte, anders als wäre es Mr Tansley, Paul Rayley, Minta Doyle oder nahezu irgendwer sonst gewesen, ihre Leinwand nicht umgedreht ins Gras legte, sondern stehen ließ. William Bankes stand neben ihr.

Sie wohnten beide im Ort, und so hatten sie, auf dem Hinweg, auf dem Rückweg, wenn sie spät abends vor den Zimmertüren auseinandergingen, ein paar Worte miteinander gewechselt, über die Suppe, über die Kinder, über dies und das, was sie zu Verbündeten machte; sodass sie jetzt, als er nun in seiner abwägenden Art neben ihr stand (er war alt genug, um ihr Vater zu sein, Botaniker, Witwer, roch nach Seife, war äußerst umsichtig und reinlich), bloß dastand. Er stand bloß da. Ihre Schuhe waren vorzüglich, stellte er fest. Sie ließen den Zehen ihren natürlichen Spielraum. Da er im selben Haus wohnte wie sie, war ihm auch nicht entgangen, wie regelmäßig sie lebte, vor dem Frühstück aus dem Haus zum Malen, allein, glaubte er: vermutlich arm und zweifellos nicht mit dem Teint oder dem Liebreiz von Miss Doyle gesegnet, aber mit gesundem Menschenverstand, was sie in seinen Augen vor jener jungen Dame auszeichnete. Jetzt zum Beispiel, als Ramsay brüllend und fuchtelnd auf sie zugestürmt kam, da verstand Miss Briscoe, dessen war er gewiss.

Einer hatte sich geirrt.

Mr Ramsay starrte sie an. Er starrte sie an, ohne dass er sie zu sehen schien. Das war nun irgendwie unbehaglich. Gemeinsam hatten sie etwas gesehen, was sie nicht hatten sehen sollen. Sie waren in die Privatsphäre eines anderen eingedrungen. Was ihm, so dachte Lily, wohl als Vorwand diente, um sich davonzumachen, außer Hörweite zu gelangen, was Mr Bankes zum Anlass nahm, fast unmittelbar darauf etwas zu sagen wie, dass es kühl sei, und ihr einen Spaziergang vorzuschlagen. Ja, sie komme mit. Doch es gelang ihr nur mit Mühe, den Blick von ihrem Bild zu lösen.

Die Jackmanii war leuchtend violett, die Mauer grellweiß. Es wäre ihr nicht ehrlich vorgekommen, das leuchtende Violett und das grelle Weiß zu verfälschen, da sie sie so sah, wenn es auch seit Mr Pauncefortes Aufenthalt Mode war, alles blass, elegant und halb transparent zu sehen. Dann war unter der Farbe die Form. Es war alles so klar, so zwingend, wenn sie hinsah: Erst wenn sie den Pinsel zur Hand nahm, wandelte sich alles. Im Vorüberfliegen dieses Augenblicks zwischen Bild und Leinwand kamen die Dämonen über sie, die sie oft an den Rand der Tränen trieben und diesen Übergang von der Auffassung zur Ausführung so furchtbar machten wie nur je den Weg durch einen dunklen Flur für ein Kind. Und genau so fühlte sie sich oft – als kämpfe sie gegen Mächte von furchtbarer Überlegenheit, um sich tapfer zu behaupten; um zu sagen: »Aber so sehe ich es; so sehe ich es«; um einen kläglichen Rest ihrer Vision an die Brust zu drücken, den tausend feindliche Kräfte ihr unbedingt entreißen wollten. Und so war es auch jetzt wieder gewesen, auf diesem kalten und windigen Weg, dass sich ihr, als sie zu malen begann, andere Dinge aufdrängten, ihre eigene Unzulänglichkeit, ihre Unbedeutendheit, dass sie in einer Seitenstraße der Brompton Road ihrem Vater den Haushalt führte und sich kaum zurückhalten konnte (bisher hatte sie sich, Gott sei Dank, noch zurückgehalten), vor Mrs Ramsay auf die Knie zu fallen und zu sagen – aber was konnte man schon zu Mrs Ramsay sagen? »Ich bin in Sie verliebt«? Nein, das stimmte nicht. »Ich bin in all das hier verliebt« – und dabei auf die Hecke, das Haus, die Kinder zu zeigen? Es war albern, es war unmöglich. Man konnte nicht sagen, was man meinte. Und so legte sie ihre Pinsel säuberlich nebeneinander in den Kasten und sagte zu William Bankes:

»Es wird mit einem Mal kalt. Die Sonne scheint nicht mehr so viel Wärme zu geben«, sagte sie und blickte um sich; denn es war doch noch strahlend hell, das Gras noch von sanftem, tiefem Grün, das Haus gleißte inmitten des Grüns mit seinen purpurnen Passionsblumen, und Krähen ließen kalte Schreie aus dem hohen Blau herabfallen. Aber etwas bewegte sich in der Luft, blitzte auf, tat einen silbernen Schwingenschlag. Schließlich war es September, Mitte September, und sechs Uhr abends vorbei. So schlenderten sie in der gewohnten Richtung durch den Garten, am Tennisplatz vorbei, am Pampasgras vorbei, zu jener Lücke in der dichten Hecke, die von glühend roten Fackellilien wie von hell brennenden Kohlenbecken bewacht war, zwischen denen das blaue Wasser der Bucht blauer wirkte denn je.

Sie kamen jeden Abend hierher, von irgendeinem Bedürfnis getrieben. Es war, als ob das Wasser Gedanken, die auf Grund gelaufen waren, flottmachte und ihren Körpern eine Art physischer Erleichterung verschaffte. Erst flutete das Pulsen der Farben die Bucht mit Blau, das Herz weitete sich, und der Körper schwamm; aber nur, um im nächsten Augenblick jäh gehemmt und abgekühlt zu werden durch die schuppige Schwärze auf den unruhigen Wogen. Dann sprühte hinter dem großen schwarzen Felsen fast jeden Abend eine weiße Wasserfontäne auf, jedoch nie zur gleichen Zeit, sodass man darauf warten musste und Freude empfand, wenn sie kam; und dann, während man darauf wartete, sah man, wie Welle um Welle wieder und wieder den blassen halbkreisförmigen Strand mit einer perlmutternen Glanzschicht überzog.

Sie lächelten beide, als sie dort standen. Sie empfanden eine gemeinsame Heiterkeit, die aus der Bewegung der Wellen wuchs; und aus der raschen Fahrt eines Segelboots, das in der Bucht einen Bogen beschrieben hatte und nun innehielt; erzitterte; seine Segel niedergleiten ließ; und dann blickten beide, aus dem natürlichen Antrieb, nach dieser raschen Bewegung das Bild abzurunden, auf die Dünen in weiter Ferne, und statt Freude empfanden sie Traurigkeit – zum Teil, weil das Bild vollendet war, zum Teil, weil solch weite Ausblicke den Betrachter um eine Jahrmillion (so dachte Lily) überdauerten und bereits mit einem Himmel zu verschmelzen schienen, für den die Erde vollkommen zum Stillstand gekommen war.

Als er die fernen Sandhügel betrachtete, dachte William Bankes an Ramsay: dachte an eine Landstraße in Westmorland, dachte an Ramsay, wie er allein auf dieser Landstraße dahinschritt, in jene Einsamkeit gehüllt, die sein natürliches Wesen schien. Diese wurde jedoch mit einem Mal, erinnerte sich William Bankes (und das musste an eine wahre Begebenheit anknüpfen), durch eine Henne gestört, die ihre Flügel schützend über ihre Kükenschar breitete, worauf Ramsay stehen blieb, mit dem Stock darauf deutete und sagte: »Hübsch – hübsch«; ein wunderlich erhellender Einblick in sein Herz, der, hatte Bankes damals gedacht, seine Schlichtheit, sein Gefühl für die kleinen Dinge offenbarte; doch kam es ihm vor, als hätte ihre Freundschaft dort, auf jener Landstraße, geendet. Danach hatte Ramsay geheiratet. Danach hatte, durch mancherlei kleine Anlässe, ihre Freundschaft ihren Kern verloren. Wer daran die Schuld trug, wusste William Bankes nicht zu sagen; nur war nach einiger Zeit die Erneuerung der Wiederholung gewichen. Zum Wiederholen trafen sie sich. In seinem stummen Zwiegespräch mit den Dünen blieb er aber dabei, dass seine Zuneigung für Ramsay sich in keiner Weise vermindert hatte; und doch lag, wie der Leichnam eines jungen Mannes, der mit frischer Röte auf den Lippen seit einem Jahrhundert im Moor aufgebahrt ist, seine Freundschaft in ihrer Zartheit und Wirklichkeit jenseits der Bucht in den Sandhügeln.

Er verspürte den dringenden Wunsch, um seiner Freundschaft willen und vielleicht auch, um sich vor sich selbst von dem Vorwurf zu befreien, vertrocknet und verdorrt zu sein – denn Ramsay lebte inmitten eines Gewimmels von Kindern, während Bankes kinderlos war und Witwer –, er verspürte den dringenden Wunsch, Lily Briscoe möge über Ramsay (auf seine Weise ein großer Mann) nicht wegwerfend urteilen und doch verstehen, wie die Dinge zwischen ihnen standen. Ihre Freundschaft, begonnen vor vielen Jahren, war auf einer Landstraße in Westmorland erloschen, als eine Henne die Flügel über ihre Küken breitete; wonach Ramsay geheiratet hatte, und da sie unterschiedliche Wege gegangen waren, hatte sich, gewiss ohne dass einer von ihnen die Schuld daran trug, eine Neigung zur Wiederholung gezeigt.

Ja. So war es. Er war fertig. Er wandte sich von der Aussicht ab. Und als er sich umdrehte, um auf dem anderen Weg, die Auffahrt hinauf, zurückzukehren, war Mr Bankes empfänglich für Dinge, die ihm nicht aufgefallen wären, hätten nicht die Dünen das Bild seiner Freundschaft in ihm wachgerufen, die mit roten Lippen im Moor aufgebahrt war – zum Beispiel Cam, das kleine Mädchen, Ramsays jüngste Tochter. Sie pflückte am Hang Butterblumen. Sie war hitzig und widerspenstig. Es fiel ihr nicht ein, »dem Herrn eine Blume zu geben«, wie das Kindermädchen verlangte. Nein! Nein! Nein!, sie wollte nicht. Sie ballte die Faust. Sie stampfte auf. Und Mr Bankes fühlte sich alt und traurig und irgendwie seiner Freundschaft wegen von ihr ins Unrecht gesetzt. Er musste vertrocknet und verdorrt sein.

Die Ramsays waren nicht reich, und es war ein Wunder, wie sie es fertigbrachten zurechtzukommen. Acht Kinder! Acht Kinder mit Philosophie zu ernähren. Da war noch eins, diesmal Jasper, der sich vorübertrollte, um einen Vogel zu schießen, wie er beiläufig sagte, als er im Vorbeigehen Lilys Hand wie einen Pumpenschwengel auf und ab schwingen ließ, was Mr Bankes zu der bitteren Bemerkung veranlasste, sie sei ja sehr beliebt. Ferner musste man inzwischen die Frage der Ausbildung bedenken (gut, Mrs Ramsay hatte da vielleicht so ihre eigenen Ansichten), ganz abgesehen von den Schuhen und Strümpfen, die diese »Prachtexemplare«, allesamt gut gewachsen, schlaksig, unerbittlich, täglich verschlissen und zerrissen. Im Übrigen blieb ihm ein Rätsel wer wer und wie die Reihenfolge war. Er benannte sie für sich nach den Königen und Königinnen von England: Cam die Böse, James der Gnadenlose, Andrew der Gerechte, Prue die Schöne – denn Prue musste schön sein, dachte er, ob sie wollte oder nicht, und Andrew klug. Während er die Auffahrt hinaufging und Lily Briscoe Ja und Nein sagte und seine Bemerkungen bloß zur Kenntnis nahm (denn sie war in die ganze Familie verliebt, verliebt in diese Welt), erwog er Ramsays Lage, bemitleidete ihn, beneidete ihn, als hätte er mitangesehen, wie Ramsay sich aller Glorie der Einsamkeit und strengen Härte entkleidete, die ihn in der Jugend geadelt hatte, um sich endgültig flatternden Flügeln und glucksender Häuslichkeit unterzuordnen. Sie gaben ihm etwas – William Bankes leugnete das nicht; es hätte ihm gefallen, wenn Cam ihm eine Blume ins Knopfloch gesteckt hätte oder ihm, wie sie es bei ihrem Vater machte, auf die Schulter geklettert wäre, um ein Bild vom Ausbruch des Vesuvs anzuschauen; sie hatten jedoch, was sein alter Freund natürlich spürte, auch etwas zerstört. Wie wohl ein Fremder darüber dächte? Was mochte diese Lily Briscoe denken? Konnte es einem entgehen, dass er Gewohnheiten annahm – Verschrobenheiten, vielleicht Schwächen? Es war erstaunlich, dass ein Mensch von seinem geistigen Format sich so erniedrigte – der Ausdruck war doch wohl zu hart –, sich so vom Lob anderer abhängig machte.

»Oh«, sagte Lily, »aber denken Sie nur an sein Werk!«

Wann immer sie »an sein Werk« dachte, sah sie deutlich einen großen Küchentisch vor sich. Dafür war Andrew verantwortlich. Sie hatte ihn gefragt, wovon die Bücher seines Vaters handelten. »Subjekt und Objekt und das Wesen der Wirklichkeit«, hatte Andrew geantwortet. Und als sie sagte, Gott im Himmel, sie habe keine Ahnung, was das bedeute, entgegnete er: »Dann stellen Sie sich einen Küchentisch vor, wenn Sie nicht da sind.«

So sah sie immer, wenn sie an Mr Ramsays Werk dachte, einen gescheuerten Küchentisch vor sich. Diesmal war er in der Astgabel eines Birnbaums untergebracht, denn sie waren im Obstgarten angelangt. Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, sich nicht auf die silbergebosselte Borke des Baumes oder seine fischförmigen Blätter, sondern auf die Vorstellung eines Küchentisches zu konzentrieren (eines jener gescheuerten Brettertische, mit Maserung und Astknoten, deren Vortrefflichkeit durch Jahre muskulärer Rechtschaffenheit bloßgelegt scheint), der nun dort feststeckte, alle viere