Zum Sterben schön und leider tödlich - Andreas Zwengel - E-Book

Zum Sterben schön und leider tödlich E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Eine Augenzeugin droht zu erblinden. Ein tyrannischer Bürgermeister herrscht über ein hessisches Dorf. Eine Silvesterfeier im Kreis der Familie endet mit Mord und Totschlag. Ein chaotischer Detektiv ermittelt hinter den Kulissen einer Rockshow. Ein Schönheitschirurg arbeitet auf einer schwimmenden Klinik entlang des Rheins. Zwölf ungewöhnliche Thrillergeschichten: Spannend, makaber, überraschend und voller schwarzem Humor.

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ANDREAS ZWENGEL

ZUM STERBEN SCHÖN

UND LEIDER TÖDLICH

 

 

 

Die E-Books der Edition Adler erscheinen im Verlag Peter Hopf

 

Originalausgabe Oktober 2016

Copyright © 2016 by Andreas Zwengel

Copyright © 2016 der eBook-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Petershagen

Lektorat: Ilka Bredemeier

Titelbild und Umschlag: Mark Freier

Covermotiv: © Alan Webber - Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: Thomas Knip | Die Autoren-Manufaktur

ISBN ePub 978-3-86305-163-1

www.verlag-peter-hopf.de

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Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

 

ANDREAS ZWENGEL

Zum Sterben schön und leider tödlich

 

Erzählungen

Inhaltsverzeichnis
Zum Sterben schön und leider tödlich
Es bleibt in der Familie
Todesmelodie
Die Qual der Wahl
Prototyp
Das Paradies der Kühlschränke
Abblende
Panzerknacker
Zartbitter
Spuren im Schnee
Teufelsdreieck
Mit heiler Haut
Zum Sterben schön und leider tödlich
Der Autor
Quellen

 

 

Es bleibt in der Familie

 

In unregelmäßigem Takt glitten die Milchglastüren auseinander und mit der üblichen Palette europäischer Marokkoreisender – Neo-Hippies, Pauschaltouristen und ausgebrannten Lehrern – drängte Max Slabon in den Ankunftsbereich. Er war Anfang zwanzig, schlaksig und besaß eine beneidenswerte Sonnenbräune, die man nicht während eines Kurzurlaubes erwerben konnte. Unruhig hielt er Ausschau nach der versprochenen Mitfahrgelegenheit und machte einen dicken Kerl in Chauffeuruniform aus, der mit einem Becher Kaffee in der Hand an einer Wand lehnte und rauchte, neben ihm ein Pappschild mit Max' Namen. Als der Chauffeur ihn bemerkte, warf er die Kippe in den Kaffeebecher, wo sie zischend erlosch, und beides zusammen in den Mülleimer neben ihm. Dann stieß er sich mit den Schultern von der Wand ab und entblößte ein grellrotes Rauchverbotsschild.

Die Fahrt dauerte fast eine Stunde. Max sah teilnahmslos aus dem Fenster und rutschte auf den Ledersitzen herum. Nach drei Monaten im Kaftan musste er sich erst wieder an eng anliegende Kleidung gewöhnen. Und an Unterwäsche. Seit der Landung versuchte er, sich innerlich auf die Begegnung mit seiner Familie vorzubereiten. Ihre Nachricht hatte auf absolute Dringlichkeit gepocht, aber ansonsten keine Informationen enthalten. Das schwarze Schaf sollte schnellstmöglich zurückkehren. Der Verlierer, der es zu nichts gebracht hatte, der auf Familienfotos immer am Rand stand und meistens nicht mehr in den Bildausschnitt passte. Als er vor einem Jahr sein Jurastudium geschmissen hatte, überraschte dies niemanden in der Familie und der letzte Funken Interesse an ihm war erloschen. Sie schickten ihm seine monatlichen Schecks und interessierten sich nicht für sein selbst gewähltes Exil.

Der Fahrer brachte ihn nicht zum Familiensitz. Die Stadt lag längst hinter ihnen und um sie herum befand sich beinahe unberührte Natur. Der Wagen passierte das steinerne Tor einer Privatklinik und fuhr rasant durch die weitläufigen Grünanlagen. Hier hatte Max den empfohlenen Routinecheck machen lassen, bevor er nach Marokko gereist war. Hatten sie etwas Gravierendes gefunden, weil sie ihn holen ließen?

Der Wagen hielt auf einem Vorplatz mit Springbrunnen.

»Ist jemand krank?«, fragte Max, doch der Chauffeur zuckte nur mit den Schultern.

Am Ende eines Seitenflures wartete die Familie. Max wurde nervös. Sie standen ihm nicht wirklich nahe. Aber wenn sie alle zusammengefunden hatten und ihn in eine teure Privatklinik kommen ließen, dann konnte er ihnen nicht völlig gleichgültig sein. Andererseits bedeutete dies auch, dass es etwas wirklich Ernstes sein musste. Er sah die Anspannung auf den Gesichtern. Nur das seiner Schwester Kim fehlte. Ausgerechnet die Einzige in der ganzen Bande, die ihm etwas bedeutete. Wenn er sich nicht irrte, befand sie sich gerade auf Japan-Tournee.

»Max«, sagte sein Vater knapp und streckte ihm förmlich die Hand hin.

»Jetzt, wo du da bist, wird alles gut werden«, schniefte seine Mutter und strich ihm beiläufig über den Arm. Die Cousinen winkten ihm kurz zu und wandten sich sofort wieder den Displays ihrer Handys zu. Ihre Gefühle gaben sie nur per SMS weiter. Sein Großvater saß abseits in einem Sessel und fand es nicht einmal der Mühe wert, sich zu erheben. Stattdessen betrachtete er missbilligend seine Enkelinnen und kümmerte sich nicht weiter um Max.

Ein älterer Mann kam durch den Flur geeilt.

»Endlich«, keuchte Professor Knecht, Leiter der Klinik und gleichzeitig Hausarzt der Familie. Er war ein guter Freund seines Großvaters. In Max' Besorgnis mischte sich Reue, weil er so schlecht über seine Familie gedacht hatte. Seine Eltern, die ihm doch alle Möglichkeiten geboten hatten, sein Großvater, der ihn vor der Entdeckung von Kims Talent recht anständig behandelt hatte, und sein Onkel, der auch ihn unterstützen würde, gäbe es irgendetwas, das er vorzuweisen hätte. Hoffentlich musste Kim ihre Tournee nicht absagen, weil sie ihm beistehen wollte.

»Keine Sekunde zu früh, junger Mann.«

»Ist es so schlimm?«, krächzte Max.

»In solchen Fällen ist es wichtig, dass eine Familie zusammensteht und füreinander da ist. Das sehen Sie doch genauso?«

»Auf jeden Fall, aber was habe ich denn nun?«

»Es gehört Courage dazu, in der Blüte seines Lebens eine solche Entscheidung zu treffen. Das ist mutig und selbstlos und Ihre Familie kann zu Recht stolz auf Sie sein. Meine Hochachtung, junger Mann.«

»Wovon reden Sie bitte?«

Die Erkenntnis traf ihn ohne Deckung und die Wucht war durch die Rührung der letzten Minuten umso stärker. Er bemühte sich, keine Regung zu zeigen, doch als er Wut und Enttäuschung hinunterschlucken wollte, entstand ein Würgen in seiner Kehle. »Der Zustand Ihrer Schwester muss Ihnen doch aufgefallen sein«, sagte der Arzt mit einem vorwurfsvollen Unterton. Max' Zorn wich augenblicklich der Besorgnis. Natürlich hatte Kim schlecht ausgesehen. Das tat sie seit Jahren. Immer dann, wenn sie nicht gerade auf der Bühne stand.

Zuletzt hatte er sie nach einem Konzert in Bremen gesehen. Damals fand er, dass sie dringend Urlaub benötige. Sie war blass gewesen, hatte ständig gegähnt und sich gedankenverloren an den Armen gekratzt. Während ihres Gesprächs hatte sie Pillen geschluckt. Er hatte alles dem Stress und der Erschöpfung durch ihren gnadenlosen Terminplan zugeschrieben. Kim nahm Tabletten gegen Depressionen, Tabletten, um schlafen zu können, und Tabletten gegen Müdigkeit. Morgens Tabletten gegen schlechte Stimmung und um munter zu werden, mittags gegen Sodbrennen, Bluthochdruck und Kopfschmerzen, abends um zu entspannen und gegen die Übelkeit, die durch all die Medikamente ausgelöst wurde .

»Ihre Schwester leidet unter einer chronischen Niereninsuffizienz.«

»Wird sie sich wieder erholen?«

Der Arzt schien zu überlegen, ob er Max' Naivität mit einem sarkastischen Spruch parieren sollte, aber dann seufzte er mitfühlend und führte ihn ein Stück zur Seite, als wolle er ihm einen Gefühlsausbruch in Gegenwart der anderen ersparen.

»Chronisches Nierenversagen ist nicht rückgängig zu machen. Das zerstörte Gewebe lässt sich nicht wieder herstellen. Tut mir leid.«

Der Arzt sah ihn über den Rand seiner Lesebrille an.

»Sie sind mit den grundlegenden Funktionen der Nieren vertraut?«

Max nickte zögernd.

»Dann ist Ihnen klar, dass es für Ihre Schwester um Leben und Tod geht?«

Er nickte wieder.

»Wie sieht die Alternative aus?«, fragte Max.

»Dauerhafte Dialyse. Dreimal die Woche, jeweils vier bis fünf Stunden. Das bringt natürlich Einschränkungen für Lebensführung und Beruf mit sich.«

Max lachte bitter auf.

»Sie wissen, wer meine Schwester ist?«

»Natürlich.«

»Weiß meine Familie, was Sie mir gerade gesagt haben? Okay, vergessen Sie die Frage! Natürlich weiß sie es, sonst wäre ich nicht hier. Wann soll die Operation stattfinden?«

»Sobald Sie Ihre Einwilligung geben.«

Max betrachtete seine Familie. Sie mussten seine Eignung als Spender schon vor Jahren getestet haben.

»Eine Frage noch: Bin ich der einzige mögliche Spender?«

»Nein. Natürlich wären da auch andere, ihre Eltern beispielsweise. Wichtig ist, dass Blutgruppe und Gewebemerkmale möglichst optimal übereinstimmen.«

»Hat sich einer von ihnen testen lassen?«

»Äh, bisher noch nicht.«

»Danke.«

Sie hatten sich kein bisschen geändert. Seine Eltern lächelten verkrampft. Onkel Gregor wirkte ungeduldig und sein Großvater schien regelrecht verärgert zu sein. Der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte alles. Er hasste Max wegen der Zeitverzögerung, die das Leben seiner kostbaren Enkelin gefährdete. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man Max wohl an Ort und Stelle in Marokko die benötigten Organe entnommen und den Rest liegen gelassen. Max' Großvater, ein Patriarch alter Schule, der innerhalb der Familie die Zügel fest in der Hand hielt, war sehr empfindlich, was die Verschwendung wichtigen Lebens anging. Er hatte eine sehr klare Vorstellung, was die Bedeutung eines Lebens ausmachte: Erfolg. Wer erfolgreich war, war wertvoll – und Kim Slabon war sehr wertvoll. Sie war eine der erfolgreichsten Pianistinnen der Welt. Mit dreizehn hatte sie ihre erste CD aufgenommen, nachdem sie alle relevanten Nachwuchspreise gewonnen hatte. Inzwischen lebte die ganze Familie von Kim, und zwar sehr gut. Ihr Onkel war der Manager, Vater verwaltete treuhänderisch das Vermögen und Mutter kümmerte sich als ausgebildete Maskenbildnerin um Kims Make-up und die Garderobe. Der Großvater, selbst als Musiker gescheitert, erkannte in seiner Enkelin sein genetisches Erbe und erhob Anspruch auf ihren Erfolg. Sie hatten Kim in allen Belangen bevorzugt und Max seine Minderwertigkeit erklärt, als sei es eine wissenschaftlich bestätigte Tatsache. Diese Begünstigung durch die Familie hatte jedoch sein Verhältnis zu seiner kleinen Schwester nie getrübt.

»Wie geht es Kim? Kann ich sie sehen?«

»Sie schläft«, wiegelte seine Onkel ab.

»Verstehe. Dir wäre es am liebsten, wenn ich meine Niere am Hintereingang abgebe und dann wieder verschwinde.«

Seine Mutter machte einen Schritt vor.

»Bitte, Max, du weißt, wie viel wir in ihre Ausbildung und Karriere investiert haben. Das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein.«

»Sohn, ich befehle dir, deiner Schwester zu helfen«, dröhnte sein Vater. Max sah ihn geringschätzig an. Er war ein armseliges Würstchen, das sich widerstandslos von der Sippe manipulieren ließ. Unter anderen Umständen hätte die Familie ihn wahrscheinlich längst ausgebootet, aber er war nun einmal Kims Vater.

»Ich brauche einen Moment, um das zu verdauen.«

»Zeit ist genau das, was uns fehlt«, bemerkte der Arzt.

»Verdauen? Was gibt es da zu verdauen? Es geht um das Leben deiner Schwester!«, brüllte Onkel Gregor.

»Reden wir nicht lange drum herum«, tönte sein Großvater, »frag ihn, wie viel er verlangt!«

Max' Mutter schluchzte laut: »Du solltest dich schämen. Sieh dir an, was deine Schwester erreicht hat, und das willst du ihr kaputt machen? Aus purem Neid? Pfui Teufel!«

Sie dachten wahrscheinlich, dass er Geld aus der Sache herausschlagen oder sich rächen wollte. Möglichkeiten, die ihrem eigenen Charakter oder ihrem schlechten Gewissen entstammten. Auf die Idee, dass er seiner Schwester aus Liebe helfen könnte, kamen sie nicht. Max musste lachen.

»Ihr seid einfach unglaublich, wisst Ihr das?«

»Genug geredet«, sagte sein Onkel und legte ihm von hinten die Arme um die Brust. Max sträubte sich, gegen seinen Paten handgreiflich zu werden, andererseits hatte der nie etwas getan, um sich Max' Sympathie zu sichern. Er hob den Fuß und trat mit dem Absatz auf den Schuh seines Onkels. Professor Knecht hob aufgeregt die Arme.

»Sind Sie wahnsinnig? Der Mann muss für die Operation vorbereitet werden.«

»Er ist gleich so weit«, stieß Gregor hervor.

»Ich spreche von Voruntersuchungen. Das ist doch keine Metzgerei hier.«

»Hilf mir endlich, ich kann ihn nicht länger halten«, rief Gregor Slabon seinem Bruder zu und Max sah, wie sein Vater auf ihn zueilte. Er kam sich vor wie auf der Bühne eines Boulevardtheaters, nur leider wurde hier keine Komödie gegeben. Kraftvoll trat er ein zweites Mal zu und diesmal lockerte sich Gregors Griff. Max drehte sich um die eigene Achse und schüttelte seinen Onkel ab.

»Max.«

Kim stand in der Tür ihres Krankenzimmers, gestützt von ihren Cousinen. Ihre ohnehin blasse Haut schimmerte gelblich-grau, ihr Haar war fettig und unter den Augen hatte sie schwarze Ringe. Max bekam bei ihrem Anblick eine trockene Kehle. »Ich möchte mit Max sprechen. Allein.«

Ihr Onkel wollte protestieren, doch sie ließ ihn nicht ausreden. Ihre Hand war dünn und blass, als sie nach Max' Handgelenk griff.

»Hallo Schwesterchen«, sagte er endlich und folgte ihr ins Zimmer.

 

Zwanzig Stunden später, nach zahlreichen Untersuchungen, die Max geduldig über sich ergehen lassen hatte, fand die Operation statt. Als der Professor in den privaten Warteraum kam, erhoben sich alle Familienmitglieder gespannt von ihren Plätzen. Mutter Slabon klammerte sich an den Arm ihres Mannes und bohrte ihm ihre Fingernägel ins Fleisch. Die beiden Cousinen blickten von ihren Handys auf und hielten die Daumen in Warteposition, um die neuesten Nachrichten an die Verwandten zu Hause weitergeben zu können.

»Die Operation ist gut verlaufen.«

»Wann können wir hinein?«

»Das wird noch eine Weile dauern, aber wir halten Sie natürlich auf dem Laufenden. Sie sollten alle nach Hause gehen und versuchen, etwas Ruhe zu finden.«

»Wie geht es meinem Großvater?«, fragte Kim nervös. Die aufgeschminkten Krankheitssymptome hatte sie längst entfernt und sie sah so rosig und gesund aus, wie man sie von den Konzertplakaten kannte.

»Wir müssen abwarten. Der Körper betrachtet das neue Organ als Fremdkörper und attackiert es. Ihr Großvater wird lebenslang Medikamente nehmen müssen, um seine Immunabwehr zu unterdrücken. Dadurch wird er anfälliger für Infektionen sein als andere Menschen, aber seine Chancen stehen gut.«

Zufrieden verabschiedete sich die Familie. Gregor Slabon zog einen Umschlag aus seinem Jackett und reichte ihn dem Arzt.

»Da ist alles drin? Alle Negative? Es gibt keine weiteren Kopien?«

»Sie sind jetzt wieder ein unbescholtener Bürger, Herr Professor«, sagte Gregor und legte reichlich Verachtung in die Betonung des Titels. Der Arzt steckte den Umschlag erleichtert ein.

»Gönnen Sie Ihrem Vater in nächster Zeit etwas Ruhe.«

»Versteht sich von selbst.«

»Eine Herztransplantation ist in seinem Alter kein Zuckerschlecken.«

Gregor räusperte sich.

»Was ist mit der anderen Sache?«

»Der Totenschein ist fertig. Es wird keine Fragen geben. Die Beerdigung wird so schnell wie möglich abgewickelt werden.«

Gregor schüttelte ihm die Hand und folgte seiner Familie zum Ausgang.

»Herr Slabon?«, rief ihm der Arzt nach.

»Ja?«

»Mein aufrichtiges Beileid.«

 

 

Todesmelodie

 

»Das Beste an diesem Fall ist, dass du dich nicht einmal umziehen musst, um undercover zu arbeiten«, erklärte Hauptkommissar Faber mit einem breiten Grinsen, als sie vor dem Hotel hielten. Einige Fans warteten vor dem Eingang darauf, dass sich ein Mitglied der Band zeigte. Tristero-Rufe erklangen entlang des Absperrzaunes. Als Hauser ausstieg, brandete spontan Jubel auf, bis die Fans merkten, dass er kein Prominenter war.

»Es ist immer dasselbe. Zuerst hoffen sie, die Polizei löst den Fall. Wenn sie dann einen privaten Ermittler einschalten, nehmen sie garantiert den billigsten. Sie scheuen meine Preise, bis sie keine andere Wahl mehr haben, und dann ist es immer furchtbar eilig.«

»Du lässt deine Klienten für ihre Verzweiflung aber auch teuer bezahlen«, sagte Faber.

Hauser betrachtete die Tourplakate von Tristero's Empire, mit denen der Hoteleingang geschmückt war. Sie zeigten eine Zeichnung der Bandmitglieder mit muskelbepackten Oberkörpern, die ihre Lederwesten zu sprengen drohten und die man bei den Originalen vergeblich suchte. Vor einer urzeitlichen Kulisse mit Drachen und Vulkanausbrüchen schwenkten sie waffenähnliche Instrumente. Das reinste Kasperletheater, und Hauser war nicht der Einzige, der sich daran störte. Nach diversen Unfällen und ungewöhnlichen Zufällen war klar, dass es jemand auf die Band abgesehen hatte. Und derjenige hatte bisher fast alles versucht. Alles, außer Mord.

 

Als sich die Türen des Aufzugs öffneten, betraten Faber und Hauser die Etage der Band. Hauser ging vor. Langhaarig, strubbelbärtig, mit verspiegelter Sonnenbrille, Ringen und Ketten, Batikshirt und Cowboyhut. Nicht umsonst hatte ihn ein Journalist einst als Hippie-Holmes tituliert. Doch zum ersten Mal nahm niemand von ihm Notiz. Einige ähnlich gekleidete Männer musterten neugierig oder anerkennend seinen Schmuck, aber sonst fiel Hauser nicht weiter auf. Erst als er vor dem Manager der Band stand, erntete er die ersten skeptischen Blicke. Orell Wagner trug einen teuren Anzug, besaß eine gepflegte Frisur mit Mittelscheitel und machte den Eindruck, als wären ihm die Errungenschaften der Schönheitspflege nicht gänzlich fremd. Hauser hätte ihn eher hinter einem Bankschalter vermutet als im Gefolge einer Rockband.

»Ach herrje, soll das Ihre Tarnung sein?«, fragte Wagner zweifelnd.

»Ich sehe immer so aus.«

»Na ja, sollte man jemals den Film Cowboys der Karibik drehen und Johnny Depp hat keine Zeit …«

»Könnten wir über den Fall reden?«, brummte Hauser leicht genervt.

»Gerne. Es hat in den letzten sechs Wochen vier Anschläge auf die Mitglieder von Tristero's Empire gegeben. Die letzten drei davon galten ganz ohne Zweifel Rosko, dem Sänger der Band. Ich nehme an, er war auch das Ziel des ersten Anschlags, denn er erfolgte, kurz nachdem sich Rosko zu den Gerüchten über eine mögliche Solokarriere geäußert hatte. Ihr Job ist es, weitere Anschläge zu verhindern und den oder die Attentäter zu finden.«

Der Manager reichte Hauser einen Backstageausweis, den dieser an seine Umhängetasche heftete.

»Sie sind ab sofort der neue Roadie von Rosko. Das heißt, Sie sorgen dafür, dass er pünktlich zu seinem Auftritt erscheint, sich nicht mit den falschen Leuten abgibt und sich vor allem nicht selbst umbringt.«

Wagner reichte ihm einen Schnellhefter.

»Darin finden Sie alle wesentlichen Informationen über die Band und die bisherigen Anschläge. Lesen Sie es bei Gelegenheit.«

»Wie sind die Jungs denn sonst so drauf?«

»Arschlöcher und Idioten«, sagte Wagner barsch und meinte es auch so. Er nahm kein Blatt vor den Mund, und Hauser konnte sich ausmalen, was der Mann in seinem Job so alles durchmachen musste. Das Konzert am nächsten Abend sollte das bisher wichtigste in der Karriere der Band werden. Ein Livealbum, ein Best-of-Album und eine DVD würden zu Weihnachten erscheinen. Der totale Ausverkauf. Die Kritiken des letzten Albums waren durchweg vernichtend gewesen und Selbstplagiat noch das freundlichste Urteil. Ein weiteres Album war reines Wunschdenken, doch niemand wagte das so deutlich auszusprechen.

»Sie haben 24 Stunden Zeit bis zum Konzertbeginn. Hauptsache, der Auftritt findet wie geplant statt. Danach wäre ein Anschlag sogar verkaufsfördernd.«

Wagner dachte einen Moment nach.

»Wir müssten uns natürlich mit der Produktion der CD und der DVD beeilen, bevor die Sache aus den Medien ist.«

Hauser sah ihn ungläubig an.

»Natürlich würde es auch den Verkauf der alten Alben noch mal ankurbeln …«

»Die Band ist wirklich nicht besonders beliebt«, sagte Hauser.

Die erschreckende Fantasie des Managers hätte ihm bei jedem anderen Ermittler einen der vordersten Plätze auf der Liste der Verdächtigen gesichert, aber Hauser glaubte nicht an einfache Lösungen. Er spazierte zum Fenster und betrachtete die Fans unten auf der Straße. Wagner fasste Faber am Arm und teilte ihm flüsternd seine Zweifel in Bezug auf Hausers Kompetenz mit.

»Auf eine merkwürdige, nicht greifbare Art ist er schon genial. Aber man braucht eine ganze Weile, um es zu merken«, erklärte Faber amüsiert.

»Na, solange er es selbst weiß.«

 

Eine Gruppe Kellner schob mehrere Servierwagen in die weitläufige Suite, die der Band als eine Art Partyraum diente, und sofort flogen alle Türen auf. Leute, die niemand zuvor gesehen hatte, stürzten sich auf das Essen. Hauser hatte schnell einen Großteil der Band ausgemacht, auch wenn die Mitglieder gerade nicht ihre auffällige Bühnengarderobe trugen. Er bekam eine recht gute Vorstellung davon, was ihn in den nächsten vierundzwanzig Stunden erwartete: Das Durchleben aller gängigen Rock'n'Roll-Klischees an der Seite von drogensüchtigen Dreijährigen, deren Aufpasser er spielen sollte. Tristero's Empire, vormals The Beatless, vormals Popeye Doyle & The French Connection, hatten ihren Zenit längst überschritten, waren aber immer noch erfolgreich genug, um von Seiten der Plattenfirma nicht fallen gelassen zu werden.

Pille, der Gitarrist von Tristero's Empire, stellte mit beiden Händen sechs Gläser auf den Tisch und goss Champagner ein. Er war Anfang der Neunziger Gitarrist einer einflussreichen Indie-Band gewesen, die erst nach ihrem Auseinanderbrechen sehr erfolgreich wurde. Tantiemen kamen in den folgenden Jahren wegen der Tauschbörsen immer weniger rein, aber sein Ruhm hatte gelegentlich noch ausgereicht, um ein paar junge Fans ins Bett zu kriegen. Nach der Auflösung der Band war nur die Sängerin erfolgreich geworden und deshalb hatte sie eine Reunion nicht nötig. Angesichts seines schwindenden Kontostandes hatte Pille seine musikalischen Ansprüche reduziert und die Stelle bei Tristero's Empire angenommen, obwohl er nicht müde wurde zu beteuern, wie weit unter seinem Niveau er dort arbeitete.

Tankwart, der Drummer, hatte sich mit Koks die Nase ruiniert und konnte nichts mehr riechen, was eine passende Ergänzung zu seinem chronischen Tinnitus darstellte. Der Bassist, ein kleiner, quadratischer Giftzwerg namens Bulldog, machte Entziehungskuren wie andere Leute Wochenendausflüge und war nur wenige Stunden des Tages wirklich funktionsfähig. Lediglich den Sänger konnte Hauser nicht ausmachen, aber er hatte in der kurzen Vorbereitungszeit für diesen Auftrag genug über ihn gelesen. Rosko geriet immer wieder wegen seiner Sexskandale in die Schlagzeilen. Frauen aller erdenklichen Nationen und Kombinationen, zu dritt, zu viert, Zwillinge, Mutter-Tochter-Gespanne. Nichts war ihm fremd. Ihr Manager hatte alle Hände voll zu tun, ihn aus der Presse und dem Gefängnis herauszuhalten. Außerdem wollte Rosko unbedingt einen coolen Rock'n'Roll-Tod sterben. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere an der eigenen Kotze ersticken wie Bon Scott, an einer Überdosis wie Hendrix oder sich zu Tode fressen wie der King. Cool fand er auch, sich mit einer Schrotflinte den Kopf von den Schultern zu blasen. Aber nicht still und heimlich über der Garage, nein, auf offener Bühne musste es geschehen, als letzte Zugabe. Hauser hatte es nicht eilig, ihn kennenzulernen.

Mit getürkten Referenzen und frei erfundenen Anekdoten erschlich er sich rasch die Herzen der Crewmitglieder. Sie fachsimpelten über Städte, Konzertsäle, andere Bands, Technik und Groupies. Hauser konnte mit einem Fachwissen glänzen, das zwar angelesen, aber nichtsdestotrotz beeindruckend war. Er lehnte alle angebotenen Gläser, Pfeifen, Pillen und Röhrchen ab. Während eines Auftrages verkniff er sich alles, was seine Konzentration beeinträchtigen könnte. Stattdessen lenkte er das Gespräch auf die Band.

»Haben die Jungs Feinde?«

Schallendes Gelächter in der Runde.

»Sind einige davon in diesem Raum?«

Wieder Gelächter und heftiges Nicken.

Kurz nach Mitternacht tauchte Wagner auf und beendete die Party. Schroff scheuchte er die Crew aus der Suite und wandte sich dann an Hauser.

»Sie können Ihren Schützling jetzt in sein eigenes Bett bringen«, sagte er und wies auf eine der Schlafzimmertüren. Gemeinsam traten sie ein und sahen Rosko zwischen den Beinen einer Frau liegen. Er folgte mit seiner Nase einer Koksspur auf ihrem Oberschenkel.

»Hauser – Rosko. Rosko – Hauser. Gute Nacht«, sagte Wagner und machte auf dem Absatz kehrt. Der Sänger schien nicht weiter verwundert zu sein, anscheinend hatte er häufig wechselnde Betreuer. Er wies unsicher auf einen Bademantel, während er rückwärts aus dem Bett kletterte. Hauser musste ihn den ganzen Weg bis zu seinem Zimmer stützen und wurde dabei ungewollt in die ganz persönliche Weltanschauung des Sängers eingeweiht. Rosko fragte sich laut, ob er irgendwann dieses Lebens überdrüssig werden könnte. Die meisten Musiker in seinem Alter hatten den Drogen abgeschworen und sich dem Gesundheitswahn, dem Kampfsport oder der Religion zugewandt. Eine verrückte Vorstellung für ihn. Jede einzelne davon. Er wollte sich weiterhin von der Bühne in die Arme junger Mädchen stürzen. Er wollte blind aus einem riesigen Angebot williger Groupies wählen können. Er wollte jede berauschende Substanz einwerfen, die er in die Finger bekam. Er wollte jeden Tag neue Dinge ausprobieren, neue Erfahrungen machen, unbekannte Wege erforschen. Er wollte Tabus brechen, an seine Grenzen gehen und darüber hinaus. Er schimpfte über den Rest der Band, nannte sie einen Betonklotz an seinem Bein und verkündete lauthals den baldigen Beginn seiner Solokarriere. Wenn es darum ging, die Band zu zerstören, konnte man sich bequem zurücklehnen und brauchte den Mitgliedern nur etwas Zeit zu geben, denn das würden sie auch ganz alleine schaffen.

 

Im Zimmer angekommen, wurden sie bereits erwartet. Die beiden Mädchen waren dreizehn, höchstens vierzehn, und hielten sich bereits für ausgebuffte Groupies. Sie wollten zum Sänger. Sie wollten immer zum Sänger. Trish und Alice stellten sich als die größten lebenden Fans von Rosko vor, und die übel riechende Karikatur ihres Idols schien sie nicht zu schrecken. Sie versuchten, sich verrucht zu geben, doch es misslang kläglich. Man merkte ihnen ihre behütete Kindheit an. Dümmlich grinsend lag der Rockstar in einem Sessel und ließ sich verehren, während Hauser angewidert aus dem Fenster starrte. Obwohl Rosko kaum einen Satz verständlich an seiner Zunge vorbei bekam, konnte er den Mädchen klar machen, dass er erwartete, von ihnen unterhalten zu werden. Ohne Zögern legte Trish ihrer Freundin eine Hand in den Nacken und zog ihren Kopf zu sich heran. Ihre Zungenspitzen berührten sich und wirbelten wild durcheinander. Hauser sah fassungslos zu, wie sie ungelenk die Choreografie eines Hardcore-Videos nachahmten.

»Hört auf«, befahl er barsch vom Fenster aus, da Rosko längst eingeschlafen war. Während er den Sänger zuerst unter die Dusche stellte und anschließend ins Bett verfrachtete, hockten die Mädchen vor dem Fernseher und spielten mit der Playstation.

»Wo ist seine Gitarre?«, fragte Trish, als er zurückkam.

»Im Truck.«

»Muss er nicht Songs schreiben?«

»Nein.«

»Was ist, wenn er einen spontanen Einfall hat?«

»Hat er nicht.«

»Du bist ein Riesenarschloch«, zischte Trish.

»Möglich«, erwiderte Hauser und schmiss sie raus. Er schenkte sich den Rest aus einer Rumflasche in ein Glas, ließ sich stöhnend auf das Sofa fallen und zog Wagners Schnellhefter aus seiner Umhängetasche. Der Manager hatte bei der Zusammenstellung gute Arbeit geleistet. Für Hauser stand schnell fest, dass die bisherigen Anschläge von einem Insider begangen worden waren. Kein Außenstehender hätte die Möglichkeit gehabt, Scheinwerfer über der Bühne herabfallen zu lassen, Roskos Mikrofon unter Strom zu stellen und vergiftete Drinks in seiner Nähe zu platzieren. Letzteres fand Hauser beinahe amüsant. Der Kerl pumpte sich den ganzen Tag mit den tödlichsten Substanzen voll, und jemand machte sich tatsächlich die Mühe, ihn vergiften zu wollen. Zuletzt brach ein Feuer in seinem Hotelzimmer aus, aber das war vermutlich kein Anschlag, sondern Roskos eigene Dämlichkeit gewesen.

Es pochte energisch gegen die Tür. Hauser nahm schnell einen Schluck und stand auf. Kaum hatte er die Tür einen Spalt weit geöffnet, wurde er von Blitzlichtern überrascht. Dann stieß sie jemand mit Gewalt weiter auf und brüllte dabei: »Wo ist meine Tochter?« Hauser schloss geblendet die Augen und fühlte, wie er gepackt und etliche Handbreit über dem Boden gegen die Wand gestoßen wurde. Immer und immer wieder.

 

»Ein bedauerlicher Vorfall, aber immerhin haben Sie das Schlimmste verhindert, indem Sie die Mädchen vorher weggeschafft haben. Nicht auszudenken, welche Schlagzeilen das verursacht hätte.«

Wagner schob ihm einen Kaffee über den Tisch und Hauser nahm den Eisbeutel von seinem Hinterkopf.

»Eine Solokarriere unter seinem Namen hätte er vorerst vergessen können«, stimmte Hauser zu.

»Wie geht es unserem kleinen Prinzen?«

Als Hauser zuletzt nachgesehen hatte, lag Rosko schlafend in seinem Bett, mit einem zusammengerollten Geldschein in der Nase.

»Schwer zu sagen, ich kenne ihn ja nur in diesem Zustand. Wenn Sie mich fragen, ob er heute Abend auftreten kann, würde ich Ihnen nur wenig Hoffnung machen.«

»Ach was, eine Packung Aspirin und eine kalte Dusche, dann ist er wieder wie neu. Der Junge ist hart im Nehmen. Bringen Sie ihn nur sicher auf die Bühne.«

Ein Wirbelwind aus mieser Laune platzte in das Zimmer herein. Roskos Ehefrau Sofia war das dünnste Lebewesen, dem Hauser jemals begegnet war. Anscheinend versuchte sie sich wieder auf ihr Geburtsgewicht zu hungern. Die Presse hatte sie anfangs als Modeikone gefeiert, doch inzwischen wurde sie als gefährliches Vorbild für junge Mädchen verteufelt. Für Sofia unverständlich. Die Fotos in der Presse waren ihrer Meinung nach manipuliert, denn ihr Spiegel zeigte ihr ein völlig anderes Bild.

Aus der ersten aufgeregten Fassung konnten Hauser und Wagner lediglich heraushören, dass es einen weiteren Anschlag gegeben hatte und Sofia ihm um ein Haar zum Opfer gefallen wäre. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, berichtete sie die Details. Unbekannte hatten die Radmuttern an ihrem Wagen gelöst, und nachdem sie den ganzen Tag damit herumgefahren war, hatten nachts in der Garage alle vier Räder gleichzeitig nachgegeben.

»Orell, du musst etwas unternehmen!«, brüllte sie im Rausgehen.

»Die Anschläge auf ihren Mann hat sie besser verkraftet.«

»Benutzt sie öfters Roskos Wagen?«

»Die meiste Zeit. Ich könnte wohl nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich mir Rosko hinter dem Steuer eines Wagens vorstellen würde.«

Sofia ging es genauso wie den anderen Band-Ehefrauen, die genug von ihrem Schattendasein hatten. Sie hockten in ihren teuren Villen und mussten die Berichte über Orgien, Drogenexzesse und Ausschweifungen anderer Art verfolgen. Ihre Existenz wurde diskret verschwiegen, um die weiblichen Fans nicht zu verprellen. Als würden die sich tatsächlich für den Familienstand von abgehalfterten Enddreißigern interessieren.

 

Als Hauser vor der Konzerthalle aus dem Wagen stieg, flog eine leere Bierdose knapp an seinem Kopf vorbei. Er entdeckte Trish und einen älteren Mann, der wahrscheinlich ihr Vater war und gleichgültig mit den Achseln zuckte, während er eine neue Dose öffnete. Da der Absperrzaun einen soliden Eindruck machte, näherte er sich den beiden. Er wandte sich zuerst an den Vater, doch der winkte ab.

»Meine Tochter hat mir alles erzählt. Wahrscheinlich sollte ich dir danken.«

»Schon gut, ich hätte aber gerne gewusst, wer Sie zu dem Zimmer geschickt hat.«

»Als könnte ich euch Typen auseinanderhalten. Keine Ahnung, wer es war, jedenfalls hat er mir gesagt, wo ich meine Tochter finden kann.«

»Was war mit den Fotografen?«

»Denen bin ich erst im Aufzug begegnet, die hatten ebenfalls einen Tipp gekriegt.«

»Können Sie mir den Kerl beschreiben?«

»Ach Gott, groß, lang, ziemlich blass, sah irgendwie krank aus. Und er hatte eine tätowierte Träne unter dem linken Auge.«

»Das ist Pille, der Gitarrist«, erklärte Trish, als wäre es eine Blamage, ihn nicht zu kennen.«

»Bist du sicher?«, fragte Hauser.

»Klar, total cooler Typ, er hat uns doch in Roskos Zimmer gelassen.«

 

Hauser beobachtete die Bühnendekoration. Er fand die Monstershow ziemlich albern und hoffte, dass er nicht das gesamte Spektakel ansehen musste. Der Soundcheck wurde zum Fiasko und innerhalb kürzester Zeit war die Band heillos zerstritten. Brüllend standen sie sich gegenüber. Hauser blieb neben einem Mülleimer am Bühnenrand stehen und kramte lauschend in seiner Umhängetasche, die er ständig am Körper trug, so wie andere Leute Unterwäsche. Er warf eine halbvolle Wasserflasche, ein vollgeschriebenes Notizbuch, einen abgelaufenen Schokoriegel, eine Einwegkamera mit unwichtigen Schnappschüssen, eine zerbrochene Sonnenbrille, einige Bleistiftstümpfe, mehrere vertrocknete Kaugummis, zahlreiche Werbeflyer und die Post der letzten beiden Tage – ausnahmslos Mahnungen – in den Müll. Kurz darauf marschierten die Mitglieder von Tristero's Empire in verschiedene Himmelsrichtungen davon.

Hauser betrachtete die Kameras für die Aufzeichnung. Zwei auf Schienen vor der Bühne, eine an einem langen Gelenkarm über dem Publikum und zwei mobile Kameras auf der Bühne, die direkt auf die riesige Videoleinwand übertrugen. Egal, was heute dort oben geschah, es würde für die Nachwelt dokumentiert werden. Um seiner Rolle als Roadie einigermaßen gerecht zu werden, inspizierte er Roskos Mikrofon, ohne so recht zu wissen, was er da eigentlich tat. Rosko bestand auf ein altmodisches Mikrofon mit Kabel für seine Spielereien. Er machte Seilspringen, Stretchübungen, ließ es lasziv durch die Hände gleiten, spielte damit Luftgitarre oder wirbelte es über seinem Kopf. Wagner kam wütend auf die Bühne gestürmt.

»Warum sind Sie nicht bei Rosko?«

»Er hat sich in seiner Garderobe eingeschlossen, dort ist er relativ sicher.«

»Wissen Sie inzwischen, wer hinter allem steckt?«

»So weit bin ich noch nicht.«

»Gibt es Hinweise auf einen weiteren Anschlag?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Herrgott, in weniger als einer Stunde soll das Konzert beginnen.«

»Mehr als genug Zeit.«

»Wofür?«

Hauser rieb sich nachdenklich den Bart.

»Es passt nur noch nicht richtig zusammen.«

 

Die Musik setzte ein. Hauser fühlte sich augenblicklich zu alt für Rockkonzerte. Früher schon hatte er sich lieber im hinteren Teil des Zuschauerraumes aufgehalten, doch diesmal war sein Platz auf der Bühne. Hauptkommissar Richard Faber, ein erklärter Fan klassischer Musik, stand leidend neben ihm.

»Ich hoffe, du weißt es zu schätzen, dass ich mich dem hier aussetze.«

»Du wirst nicht mit leeren Händen nach Hause gehen«, versprach Hauser grinsend.

Vor ihnen schrien sich etwa fünftausend Fans die Seele aus dem Leib. Tristero's Empire spielte mit einer Energie, die den Beifallssturm rechtfertigte und die Hauser ihnen nach letzter Nacht niemals zugetraut hätte. Besonders Rosko hetzte unermüdlich über die Bühne, als würde er sich in der übrigen Zeit seines Lebens für diese wenigen Konzertstunden ausruhen. Die Pyrotechniker hatten ganze Arbeit geleistet, um die Bühne in ein Flammenmeer zu verwandeln, und Roskos Frisur steckte in einer Haarspraywolke, als wollte er sich ein eigenes Ozonloch schaffen.

Wagner und Sofia standen ebenfalls am Seitenrand der Bühne. Zwischen zwei Songs riss dem sichtlich nervösen Manager der Geduldsfaden.

»Reden Sie endlich, Hauser!«

Hauser nickte und wandte sich an Sofia.

»Dachten Sie wirklich, es würde so einfach sein?«

Wagner sah zuerst ihn, dann Sofia an.

»Sie wollten nicht nur den Tod Ihres Mannes, sondern auch noch daran verdienen.«

Faber trat neben Sofia und nickte ihr freundlich zu, während Hauser seine Ausführungen fortsetzte.

»Sie, Herr Wagner, haben mir bei unserer ersten Begegnung ein plausibles Motiv genannt. Mir war klar, dass dieses Szenario nicht in Ihrem Interesse sein konnte, aber der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Wie sich herausstellte, war das Motiv absolut richtig, aber ich hatte noch nicht den passenden Täter.«

»Aber wie wollte sie es tun?«

Hauser sah Sofia an.

»Möchten Sie es selbst erzählen?«

»Ich weiß nicht, wie Sie darauf gekommen sind. Man hat mir geschworen, dass dieses Gift außerhalb von Malaysia völlig unbekannt sei. Sobald das Handtuch seine Haut berührt hätte, wäre ihm nicht mal genug Zeit geblieben, zur Zugabe auf die Bühne zurückzukommen. Diesmal hätte es funktioniert.«

»Sie haben es gehört, beeilen Sie sich«, sagte Hauser an Wagner gerichtet, der sofort zwei Leute mit Handschuhen losschickte. Sofia sah den Detektiv zuerst erstaunt, dann hasserfüllt an.

»Sie haben den Fall tatsächlich gelöst«, sagte Wagner.

»Wir warten noch.«

»Wollen Sie damit sagen, es gibt in diesem Fall mehr als einen Täter?«

»Um genau zu sein, gibt es zwei Fälle.«

Nach dem sechsten Song, als die Nebelmaschine eine dichte Wolke ausstieß, war es soweit. Sofia begann zu husten, weil sie eine volle Ladung abbekommen hatte. Pille ging zu seinen Gitarren und holte eine Flasche Wasser dahinter hervor. Er warf sie Sofia zu und zwinkerte. Sie nickte dankbar und legte ihre Hand an den Verschluss, als Hauser ihr die Flasche entriss und sie an Faber weitergab. Pille erstarrte und verpasste den Einsatz für den nächsten Song. Rosko brüllte ihn wütend an, dann zählte Tankwart ein zweites Mal an.