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Der Gedichtband "Zur Unzeit, gegeigt" von Rudolph Bauer gehört zur Kategorie Politische Lyrik. Diese knüpft an bei Vorläufern wie Heinrich Heine und Kurt Tucholsky, Bert Brecht und Günter Eich, Peter Hacks und Pablo Neruda. Die Nennung solcher Protagonisten kann irreführende Erwartungen wecken. Wie bei ihnen erhebt sich die poetische Stimme des Autors auch heute wieder "zur Unzeit". Aber sie hat einen unverkennbar eigenen, eigenwilligen, eigensinnigen Klang. Ihr Sound - poetisch "gegeigt" - ist unterfüttert mit historischer Kenntnis, politischer Klarheit und kritischer Schärfe. Die Gedichtsammlung umfasst sechs Kapitel mit jeweils fünf Texten. Diese handeln von brandaktuellen Ereignissen wie dem militärischen Nato- und US-Manöver Defender Europe 2020. Sie erinnern an revolutionäre Aufbrüche in der Geschichte der Arbeiterbewegung und an die reaktionären Massaker durch Polizei und die preußische Soldateska. Zum Teil reichen sie auch zurück in die Antike. Oder sie nehmen politische Entscheidungen und Parteien zum Anlass - unseren Alltag, das heutige und das frühere Europa, Zeitungsnotizen, den Tod eines Künstler-Freundes. Die Gedichtsammlung ist vielstimmig und stimmgewaltig. Sie lässt schroffe Verzweiflung spüren und heiße Wut, sarkastischen Zorn und schmerzliche Bitternis. Aber sie ist auch nicht ohne Hoffnung, nicht ohne den Ausblick auf Frieden und Glück. Zusätzlich zu den Gedichten enthält der Band politisch motivierte Bildmontagen des Autors. Dadurch erlangt die Gedicht- und Bildersammlung den Rang eines zeitgenössischen Anti-Dokuments - sich behauptend jenseits des herrschenden, bis zum Geschmack- und Belanglosen eingeebneten Plateaus von gesellschaftspolitischer Gleichgültigkeit und ästhetischer Affirmation in Literatur und Bildender Kunst.
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Seitenzahl: 63
Veröffentlichungsjahr: 2020
Rudolph Bauer: Zur Unzeit, gegeigt
Rudolph Bauer
Zur Unzeit, gegeigt
Politische Lyrik und Bildmontagen
I.
Eirene, Friedensgöttin
Artemis, Täler liebte sie
Marmor, Schlüssel
Xenophons Reitkunst
Yggdrasil, der Weltenbaum
II.
Novemberrevolution 1918
Deutsche Neunte November
März 1920, acht Sonette
Parteigeschichte
Zur Unzeit gegeigt
III.
Feierabend
Lob den Deserteuren
Renitenz
Blutrot, Mitte der sechziger Jahre
Immergrün, ein Gleichnis
IV.
Deutsches Narrativ
Das Erbe (Totentanz-Ode)
Charaktermaske
Leistungsgesellschaft
Europa, Schlachtfeld
V.
Rassismus 2.0
Schimpf und Schande
Kein Blut für Öl
Aufstehen
Neues Europa. Ode
VI.
Abschied
Kunst, Wahrheit und Politik
Quittenmund
Nachricht von der Nähe des Paradieses
Unser Schwert
VII.
Anti-Defender. Protestreime
Anti-Defender. Schnaderhüpferl
Die „junge Welt“ berichtet
Neues Manifest for future
Eine Zeitungsnotiz lesend
IIX.
Erläuterungen
Zum Autor und Bildmonteur
Auszüge aus Pressestimmen zur politischen Lyrik
Auszüge aus Pressestimmen zu den Bildmontagen
Impressum
Nach vielen Zeugnissen der Alten war Poesie
bei ihnen vom stärksten Einflusse auf die Sitten.
Sie, die Tochter des Himmels, soll den Stab
der Macht gehabt haben, Tiere zu bändigen,
Steine zu beleben, den Seelen der Menschen
einzuhauchen, was man wollte.
Herder
Eirene, Friedensgöttin
eirene
göttin des friedens
mit dem horn einer ziege
der amme des zeus
eirene
göttin des friedens
mit dem füllhorn von glück
mit früchten geschmückt
eirene
göttin des friedens
mit dem reichtum der ernte
im goldherbst
eirene
mit den duftleuchtenden
knopsen der flora
im frühling des friedens
Artemis, Täler liebte sie
vom fieber derjagd
auf python den drachen
gegen die macht der giganten
ergriffen sind artemis
göttin des mondes
und bruder apoll der lichtgott
täler liebte sie
wiesen quellen und flüsse
alles wild ist ihr lieb und geweiht
welch ein schuft
aber hat
aus ihr dann
die göttin des krieges geschmiedet
als kind auf den knien
des vaters beim spiel
erbat sie von zeus
sich kretische nymphen
zum tanz ozeanische töchter
reinheit bogen und pfeil
welch ein schuft
aber hat
aus ihr dann
die göttin des krieges geschmiedet
sie wünschte sich
eine einzige stadt
den frauen zu helfen bei der geburt
und berge um dort
zu wohnen zu leben zu tanzen
zu spielen zu nehmen ein bad
welch ein schuft
aber hat
aus ihr dann
die göttin des krieges geschmiedet
Marmor, Schlüssel
der schlüssel unter einem stein
der marmor ist und eine stufe war
zu einem heiligtum zu einem tempel
zu einem vestibül von priesterinnen
von hetären wo kieselmosaike
wasserpferde zeigen vielleicht auch
eine säule ein siegesobelisk das tor
zu den gefängnissen zu höllenqualen
ein pflasterstein auf der agora zu athen
das bruchstück eines grabmals
beim schiffstransport im sturm
gekentert und versunken dann
vom meer an land gespült
wo eine hütte steht verschlossen
wie dein mund dein herz
die friedenspforte
für die der schlüssel unter einem stein
der marmor ist und eine stufe war
zu einem heiligtum …
Xenophons Reitkunst
als jugendlicher folgte xenophon dem sokrates
der fragte ihn zuerst wo man sich essen besorgt
dann aber wie der mensch edel wird und wodurch
tüchtig
xenophon im heerzug von kyros dem perser
kam mit zehntausenden griechischen söldnern
ins reich jener achämeniden zu der geflügelten
sphinx
die truppen wurden geschlagen zogen zurück
ans schwarze meer unerwünscht von den athenern
dient xenophon sparta das ihn mit einem landgut
belehnt
dort lebte xenophon glücklich und schreibend
werke der philosophie geschichte und wirtschaft
verfasser eines schmalen aufsatzes über die
reitkunst
nur diese schrift besitzt heute noch geltung
nicht die söldner und der heerzug kyros des
persers
nicht erwünscht zu sein von athen und die anderen
werke
Yggdrasil, der Weltenbaum
ein adler
namenlos sitzt im geäst
der krone die den himmel trägt
den habicht zwischen seinen augen
am fuße mit drei nornen
der brunnen
zwei schlangen saugen an den wurzeln
an einer nagt der drach
eichhörnchen klettert
mit böser nachricht
zwischen drach und adler
und unter seinen zweigen
tagt das gericht der götter
um über menschenschicksal zu bestimmen
der weltenbaum
der lebensbaum
der opferbaum
der wissensbaum
der schreckensbaum
der friedensbaum
der galgen ross
und der gehängte reiter
bedenkt das weltenende wenn sie bebt
Die Kriegs- und Friedensposaune lassen also
gern alle neun Musen liegen und
beweinen höchstens Blutvergießen,
Hunger, Krankheiten und gekränkte Rechte
der Menschheit von beiden Seiten.
Herder
Novemberrevolution 1918
die matrosen in kiel wilhelmshaven stade und emden
weigerten sich auszulaufen
mit den kriegsschiffen in den nassen den sicheren tod
die soldaten im feld an der front in schützengräben
weigerten sich zu fallen
in glitschigem matsch aus blut urin und gedärmen
die arbeiter in den fabriken fleißig am fließband
weigerten sich herzustellen
waffen und kriegsgeräte statt töpfe und pfannen
die arbeiter auf den werften und an der drehbank
weigerten sich schiffe
zu bauen und kanonen zu bohren aus kruppstahl
ihre schuftenden hungrigen frauen hinter der front
weigerten sich zu gebären
neue soldaten und neue mädchen für neue soldaten
in den dörfern die bauern auf äckern feldern und wiesen
verweigerten abzuliefern
die ernte die rinder und schweine die knechte fürs heer
matrosen soldaten arbeiter frauen die bauern das volk
statt fortzusetzen befohlenes
morden jubelten laut lang lebe der frieden die freiheit
matrosen soldaten arbeiter frauen die bauern das volk
verjagten den deutschen kaiser
verschonten sträflich jedoch generale richter und chefs
matrosen soldaten arbeiter frauen die bauern das volk
vertrauten den noskes
diese begrüßten den aufstand und befahlen sodann
die mutigen kämpfer und frauen der roten revolution
niedermetzeln zu lassen
zur wiederherstellung angeblich von ruhe und ordnung
zur wiederherstellung von ruhe und ordnung das heißt
um den weg frei zu schießen
für den aufstieg und sieg des imperialismus und der
faschisten
Deutsche Neunte November
kein tag wie jeder andere
an dem in deutschland revoltierten
soldaten arbeiter matrosen
die bauern und die weiber standen auf
sie siegten dann
kein tag wie jeder andere
an dem die nazi-grätze synagogen
und judenläden lynchte
auf befehl von oben und devot
im führerwahn
kein tag wie jeder andere
an dem die grenze die gemauert
trennte ost und west
sich als schimäre hat erwiesen
für bananen
kein tag wie jeder andere
an dem die deutsche staatsräson
mit reichskristallgedenken
den sieg der freiheit überglänzt
des friedens glück
kein tag wie jeder andere
an dem das geldvereinte deutschland
mit dumpfen böllerschüssen
das glück des friedens überdröhnt
der freiheit sieg
kein tag wie jeder andere
an dem weil rebellion erfolgreich
war und rote räte siegten
ihr scheitern hochgejubelt wird
ersäuft im blut
kein tag wie jeder andere
an dem ein falsch erinnern wabert
welches die mörder-bande
feiger burschenschafter zum retter
hochstilisiert
kein tag wie jeder andere
an dem man eines „unrechtsstaats“
gedenkt und des pogroms
die freikorps-schlächter aber laufen lässt
liebknecht ist tot
kein tag wie jeder andere
an dem der herbst die blätter färbt
die nächte finster sind
indes vom lichterglanz des friedens
geschwiegen wird
kein tag wie jeder andere
während das jahr dem ende zu geht
die nächte länger sind
bleibt unsre sehnsucht unsre kraft
die rebellion
März 1920, acht Sonette
1.
im märz des jahres neunzehnzwanzig
ein herr kapp zu regieren fand sich
es putschten preussische reaktionäre
dem hollenzoller wilhelm zur ehre
der hat sich nach holland verkrochen
von den ruhrindustriellen bestochen
besetzten freikorps der marinebrigade
die hauptstadt berlin sie zogen zu rate
armeegeneräle wie walter von lüttwitz
marschierten auf mit kanonengeschütz
hakenkreuz und faschistisch verrohten
mörderbanden um zu töten die roten
um auszulöschen die hoffnung auf die
neue proletarische demokratie
2.
ein klassenbündnis hatten beschlossen
gewerkschaftskollegen und genossen
aus U.S.P.D. S.P.D. kommunisten
angestellten und werktätigen christen
selbst bürger begrüßten mutig nicht feig
die massenbewegung zum generalstreik
in den rheinisch-westfälischen industrien
in thüringen mecklenburg und in berlin
im kohlenpott auch unter den sachsen
ist die wut auf die reaktionäre gewachsen